Die vermisste Schwester - Dinah Jefferies - E-Book
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Die vermisste Schwester E-Book

Dinah Jefferies

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Beschreibung

Burma 1936. Das schillernde Leben der jungen Belle ändert sich schlagartig mit einer Nachricht nach dem Tod ihrer Eltern: Sie hat eine Schwester, die als Baby unter mysteriösen Umständen verschwand.
Als Belle Nachforschungen anstellen will, scheint einzig der sympathische amerikanische Journalist Oliver auf ihrer Seite zu stehen. Doch dann erhält Belle eine anonyme Warnung. Wer will die Wahrheit vertuschen? Hat Belle überhaupt eine Chance, ihre Schwester jemals zu finden?

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Inhalt

 

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressum12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334353637383940414243444546474849505152Nachwort der AutorinDanksagung

Über dieses Buch

 

Burma 1936. Das schillernde Leben der jungen Belle ändert sich schlagartig mit einer Nachricht nach dem Tod ihrer Eltern: Sie hat eine Schwester, die als Baby unter mysteriösen Umständen verschwand.

Als Belle Nachforschungen anstellen will, scheint einzig der sympathische amerikanische Journalist Oliver auf ihrer Seite zu stehen. Doch dann erhält Belle eine anonyme Warnung. Wer will die Wahrheit vertuschen? Hat Belle überhaupt eine Chance, ihre Schwester jemals zu finden?

Über die Autorin

 

Dinah Jefferies wurde 1948 im malaiischen Malakka geboren. Acht Jahre später übersiedelte die Familie nach England. Dinah Jefferies studierte Theaterwissenschaft und Englische Literatur und arbeitete als Lehrerin, Fernsehmoderatorin und Künstlerin. Heute lebt sie mit ihrem Ehemann in Gloucestershire. Die Frau des Teehändlers ist ihr zweiter Roman.

Dinah Jefferies

Die vermisste Schwester

Roman

Übersetzung aus dem Englischen von Andrea Koonen

 

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der englischen Originalausgabe:

»The Missing Sister«

Für die Originalausgabe:

Copyright © Dinah Jefferies, 2019

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München unter Verwendung von Illustrationen von © shutterstock: David M. Schrader | BigganVi | manjik | COLOA Studio; © arcangel.com: Alexia Feltser

eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7325-9454-2

www.luebbe.de

www.lesejury.de

1

Rangun 1936

Belle straffte die Schultern und warf die langen rotblonden Haare zurück. Freudig erregt schaute sie dem Hafen von Rangun entgegen, dem sich das Schiff nun langsam näherte. Erstaunlich. Die Stadt der Träume, bislang nur eine geheimnisvolle Silhouette in der Ferne, trat allmählich aus dem Dunst hervor. Der Himmel schien mit seinem verblüffend lebhaften Blau weiter und höher als jeder andere zu sein, und das Meer, fast dunkelblau in seinen Tiefen, lag spiegelglatt da und glänzte wie flüssiger Lack, sodass man sich fast darin sehen konnte. Selbst die Luft funkelte, als hätte die Sonne aus der Feuchte über dem Wasser winzige Kristalle gebildet. Die lang gestreckte Bucht war gesprenkelt von Booten. Belle lachte über die Seevögel, die kreischend herabstießen und sich zankten. Die schrillen Laute störten sie nicht, vielmehr trugen sie zu dem Empfinden bei, dass diese Welt aufregend anders war. Sie hatte sich lange nach der Freiheit zu reisen gesehnt, und nun reiste sie tatsächlich.

Das Stimmengewirr der Passagiere in den Ohren, atmete sie tief ein, wie um den herrlichen Moment ganz und gar einzusaugen, und schloss ein Weilchen die Augen. Als sie wieder hinsah, keuchte sie vor Staunen. Aber nicht wegen des geschäftigen Betriebs im Hafen mit seinen hohen Kränen, den Teakholz-Frachtern, den schwerfälligen Öltankern, den Dampfern und kleinen Fischerbooten, die sich im Schatten der großen Schiffe sammelten. Auch nicht wegen der imposanten weißen Kolonialbauten, die ins Blickfeld kamen, sondern wegen des riesigen goldenen Bauwerks, das hinter alldem über der Stadt schwebte. Ja, es schwebte, so als hätte sich ein Teil eines unvorstellbaren Paradieses zur Erde herabgesenkt. Wie gebannt vom Anblick des schimmernden Goldes vor dem kobaltblauen Himmel, konnte Belle nicht wegsehen. Konnte es etwas Faszinierenderes geben? Ohne den Hauch eines Zweifels wusste sie, sie würde sich in Burma verlieben.

Es herrschte jedoch eine drückende Hitze, keine trockene, sondern eine feuchte, die an den Kleidern haftete. Auch das war etwas ganz Neues, aber sie würde sich daran gewöhnen, und an die Luft, die salzig und verbrannt roch und sich im Rachen niederschlug. Sie hörte ihren Namen und drehte den Kopf zur Seite. Gloria, die sie zu Beginn der Reise an Bord kennengelernt hatte, lehnte an der Reling mit einem breitkrempigen rosa Sonnenhut auf dem Kopf. Belle wollte sich gerade abwenden, als Gloria sie erneut rief. Sie hob eine weiß behandschuhte Hand und kam zu ihr.

»Nun, wie gefällt Ihnen die Shwedagon-Pagode?« Glorias glasklare Stimme machte Belles träumerischer Stimmung ein Ende. »Beeindruckend, oder?«

Belle nickte.

»Mit echtem Gold überzogen«, sagte Gloria. »Ein ulkiges Volk, die Burmesen. Im ganzen Land trifft man überall auf Tempel und goldene Pagoden. Wo man geht und steht, fällt man über einen Mönch.«

»Sie müssen brillant sein, um etwas so Wunderbares zu erschaffen.«

»Wie gesagt, Pagoden stehen überall. Mein Chauffeur wartet am Kai. Ich werde Sie zu unserem schönen Strand Hotel mitnehmen. Es steht unmittelbar am Fluss.«

Belle blickte auf die Haut rings um ihre tief liegenden dunklen Augen und fragte sich nicht zum ersten Mal, wie alt Gloria wohl war. Trotz der vielen Fältchen sah sie gut aus, eher bemerkenswert als schön. Sie hatte eine kräftige römische Nase, markante Wangenknochen, einen langen Hals und glatte dunkle Haare mit eleganter Außenlocke im Nacken. Wie alt sie war, konnte man nur raten. Vermutlich über fünfzig.

Gloria redete, als gehörte ihr die Stadt. Eine Frau mit einem Ruf, der gewahrt werden musste, ebenso wie ihr Gesicht. Belle fragte sich, wie sie wohl ohne die gekonnt aufgetragene Make-up-Schicht und ohne die sorgfältig nachgezogenen Brauen und Filmstar-Lippen aussah. Würde die viele Schminke nicht in der Hitze zerlaufen?

»Wenn es abends spät geworden ist, übernachte ich häufig im Strand Hotel, obwohl ich ein Haus im Golden Valley habe«, sagte Gloria.

»Golden Valley?« Belle konnte ihre Neugier nicht verbergen.

»Ja. Haben Sie davon gehört?«

Belle schüttelte den Kopf, und nach kurzem Zögern beschloss sie, nichts zu sagen. Es war ja nicht so, als würde sie es wirklich kennen, nicht wahr? Sie war nicht gewillt, mit einer flüchtigen Bekannten über Persönliches zu sprechen. »Nein. Überhaupt nicht. Ich finde nur den Namen interessant.«

Gloria schaute sie neugierig an, und Belle dachte an früher, obwohl sie entschlossen gewesen war, das nicht zu tun. Ein Jahr war seit dem Tod ihres Vaters vergangen, und sie hatte es schwer gehabt. Arbeit hatte sie nur in der Buchhandlung eines Freundes bekommen. Aber sie hatte sich jede Woche sofort nach Erscheinen in die neueste Ausgabe der Stage vertieft. Und dann, welche Freude, war ihr die Anzeige ins Auge gesprungen: Für angesehene Hotels in Singapur, Colombo und Rangun wurden Interpreten gesucht. Das Vorsingen hatte in London stattgefunden, wo sie zwei strapaziöse Tage verbracht und gespannt gewartet hatte, bis sie etwas hörte.

Belle hatte sich vor der Reise über Rangun informiert. Seit 1852 stand es unter britischer Herrschaft und hatte sich von einem Dorf aus schilfgedeckten Hütten zu einer Großstadt mit florierendem Hafen entwickelt, zu der sie nun gehören würde. Während Gloria sie auf imposante Regierungsgebäude, Privathäuser und Geschäfte aufmerksam machte, fühlte Belle die stickige Hitze im Auto und freute sich darauf, auszusteigen und die Luft an der Haut zu spüren. Gloria hatte recht gehabt. Die Mönche in ihren safranfarbenen Roben sah man überall unter den Passanten und auch einige Frauen, die von Kopf bis Fuß in blasses Rosa gekleidet waren.

»Nonnen«, erklärte Gloria unbeeindruckt. »Buddhistische Mönche und Nonnen. Letztere sind allerdings selten.«

Das Viertel rings um das Strand sei von den Briten als Erstes entwickelt worden, erzählte Gloria weiter, und außer dem Häuserblock an der Phayre Street sei das die beste Geschäftsadresse. Belle interessierte das nicht sonderlich. Später wäre noch Zeit genug, sich damit zu beschäftigen. Im Augenblick wollte sie nur etwas Kaltes trinken und festen Boden unter den Füßen spüren.

»Die Phayre Street wird Ihnen gefallen«, meinte Gloria. »Sie ist nach dem ersten Generalkommissar von Burma benannt. Geht am Fluss entlang, wo sich auch das Strand befindet. Am Straßenrand stehen die schönen Regenbäume, und vor allem gibt es da viele Juweliere und Seidengeschäfte.«

Belle bemerkte nichts dazu, sondern wischte sich die Schweißperlen von der Stirn, die vom Haaransatz herunterliefen.

»Da sind wir«, sagte Gloria, als der Chauffeur vor einem eleganten Portikus hielt, vor dem zu beiden Seiten eine große Palme stand. »Aber, allmächtiger Himmel, begeben wir uns schleunigst unter einen Ventilator!«

Zwei Hotelpagen nahmen ihnen wortlos die Koffer ab, und an den schweren Glastüren verbeugte sich ein Portier mit Turban und hielt sie ihnen auf. Drinnen im hohen Foyer war es erfrischend kühl.

»Ich liebe diesen Anblick gegenüber, wie der Fluss durch den hohen Bambus schimmert«, sagte Gloria, als sie sich zur Tür umdrehte. »Sehen Sie nur.«

Belle schaute.

»Ich nehme an, Sie sind in einem der kleinen Zimmer in dem neuen Anbau oder im Dachgeschoss untergebracht. Wie man hört, sollen der Pool abgerissen und mehr Zimmer gebaut werden, wissen Sie, aber da tut sich noch nichts, und ich hoffe, es wird dabei bleiben.«

Sie nahm ein Päckchen Lambert & Butler aus ihrer Krokodilledertasche und bot Belle eine Zigarette an.

Belle fasste sich an den Hals. »Ich darf nicht. Wegen meiner Stimme.«

»Natürlich. Wie dumm von mir.« Gloria zögerte einen Moment. »Ich möchte Sie warnen. Gehen Sie nicht in den Hafen und meiden Sie die schmalen Seitenstraßen am Flussufer, besonders wenn es dunkel ist. Dort leben die Chinesen in einem fürchterlichen Labyrinth von Gassen. Da ist es extrem gefährlich.«

Ein kleiner, stämmiger und diensteifrig wirkender Mann mit Menjoubärtchen und rötlichem Teint eilte heran, um Gloria zu begrüßen.

»Mrs de Clemente«, sagte er mit einer servilen Verbeugung und irgendeinem nördlichen Akzent, den er zu unterdrücken versuchte. »Und Ihre schöne Begleiterin. Ich bitte um Verzeihung, wenn ich mich einmische, aber wenn Ihre Begleiterin Hilfe benötigt, kann ich sofort für sie buchen.« Lächelnd wandte er sich an Belle.

»Oh nein«, widersprach sie, um seine irrige Annahme zu korrigieren. »Ich bin kein Hotelgast, sondern werde hier auftreten. Als Sängerin.«

Seine Miene verhärtete sich, und ohne Belle noch einmal anzusehen, sprach er mit Gloria. »Wie Sie sicherlich wissen, Mrs de Clemente, gibt es einen separaten Personaleingang. Ich möchte Ihre Begleiterin höflich bitten, ihn zu benutzen.«

Gloria zog die Brauen hoch und bedachte ihn mit einem gnädigen, aber eisigen Lächeln. »Mr Fowler, Miss Hatton gehört nicht zum Personal. Als Künstlerin, und als meine Freundin, möchte ich hinzufügen, hat sie gewisse Rechte. Ich erwarte, dass man die berücksichtigt.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging an die Rezeption.

Fowler war noch röter geworden und zischte Belle böse zu, sie möge ihm folgen.

»Es tut mir leid«, flüsterte sie und dachte sich schon, dass der kurze Wortwechsel nicht hilfreich sein würde.

Nachdem er sie aus dem Foyer geführt hatte, blieb er stehen und baute sich vor ihr auf. »Ich bin sicher, Sie werden eine Möglichkeit finden, das bei mir wiedergutzumachen. Bedenken Sie, ich bin der Direktionsassistent und als solcher Ihnen gegenüber weisungsbefugt.«

Während er das sagte, nahm Belle sich zusammen, um nicht über seine ungemein beweglichen Brauen zu schmunzeln, die jeden Moment ein Eigenleben entwickeln und davonkriechen mochten. Ihr war klar, dass er es nicht freundlich aufnähme, wenn man sich über ihn lustig machte, und es gelang ihr, ernst zu bleiben.

Er lächelte verkniffen. »Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, Augen im Hinterkopf zu haben. Mir entgeht nichts. Und Sie scheinen mir nicht der Typ für unser Unterhaltungsprogramm zu sein, wenn ich so sagen darf.«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Woher kommen Sie? Aus welcher Gegend?«

»Cheltenham.«

»Auch nicht typisch. Nun, ich weiß nicht, wie Sie mit den anderen zurechtkommen werden. Die meisten stammen aus dem Londoner East End. Ich hoffe, Sie halten sich nicht für etwas Besseres.«

Sie runzelte die Stirn. »Den anderen?«

»Den Tänzerinnen.« Er zog die Brauen hoch und blickte sie vielsagend an. »Mit Starallüren kommen Sie hier nicht weit.«

»Ich werde mich schon einfügen.« Sie wollte, dass er sie endlich in Ruhe ließ, und war froh, als er sich zum Gehen wandte.

»Nun, ich kann mich nicht noch länger damit aufhalten«, murmelte er, und damit bog er um eine Ecke und führte sie über eine schmale Personaltreppe in den dritten Stock hinauf, wo er in einem dunklen Gang vor der ersten von vier weiß gestrichenen Türen anhielt. »Hier wohnen Sie.« Er gab ihr einen Schlüssel. »Sie teilen sich das Zimmer mit Rebecca.«

Teilen? Belles gute Stimmung ließ ein wenig nach. Aber vielleicht kann das auch ganz lustig werden, dachte sie.

2

 

Erst am nächsten Morgen lernte Belle ihre Zimmergefährtin kennen. Am Abend hatte sie sich ins Bett gelegt und auf sie gewartet, war aber erschöpft eingeschlafen, um schließlich hochzuschrecken, weil es laut summte. Begierig, ihr neues Leben zu beginnen, setzte sie sich auf und schaute zum Fenster, wo zwei große Fliegen – sie hielt sie zumindest dafür – beharrlich gegen die Scheibe sausten. Ohne Bedenken warf sie die dünne Decke zurück, schwang die Füße auf den Boden und beugte sich über das andere Bett zum Fenster, um es zu öffnen.

Das Dachzimmer war weiß gestrichen und mit zwei schmalen Betten ausgestattet. Das unter dem kleinen Fenster hatte ihre Mitbewohnerin belegt, sodass Belle in dem anderen geschlafen hatte. Außerdem standen eine Kommode, ein kleiner Schreibtisch und ein Kleiderschrank im Zimmer. Als sie den öffnete, um ihre Kleider hineinzuhängen, stellte sie fest, dass er bereits vollgestopft war.

Sie wusch sich das Gesicht an dem Waschbecken in der Ecke und hoffte, die brutale burmesische Sonne würde ihre helle Haut nicht mit Sommersprossen überziehen. Sie hatte ein paar bezwingende Merkmale – blaugrüne Augen, ovales Gesicht, breiter Mund und gerade Nase –, durch die sie aus der Masse hervorstach und die ihr genützt hatten, als sie für dieses Engagement vorgesungen hatte. Noch im Nachthemd, bürstete sie sich die Haare, vermutlich das Schönste an ihr, und dachte an das Haar ihrer Mutter, das ein wenig dunkler gewesen war. Allerdings konnte sie nicht sagen, wie zuverlässig diese Erinnerung war. Es war sehr lange her.

Da ihre Mitbewohnerin noch nicht da war, öffnete sie erneut den Schrank und fragte sich, ob die Kleidung darin wohl etwas über ihren Charakter verriet. Da gab es schrecklich viel rote Seide, und sie zog ein knappes Kleidchen heraus, um es sich näher anzusehen.

Die Tür flog auf.

Belle drehte sich um. Eine blonde junge Frau war einen Schritt ins Zimmer getreten, die Hände in die Hüften gestemmt, und sah sie böse an.

»Gefällt dir, ja?«

»Ja. Es ist ganz nett«, antwortete Belle, und da sie entschlossen war, sich von dem feindseligen Benehmen nicht abschrecken zu lassen, lächelte sie sie breit an.

»Ganz nett? Es ist wahnsinnig schön. Hab einen ganzen Monat lang dafür gespart. Also ist es mir lieber, wenn du die Pfoten davon lässt, wenn ich bitten darf.«

Belle zögerte. »Entschuldigung. Ich …«

Ihre Zimmergefährtin kniff die Augen zusammen. »Am besten stellen wir gleich zu Anfang ein paar Dinge klar.«

»Ja, natürlich. Ich habe mich nur gefragt, wo ich meine Sachen aufhänge.«

Die junge Frau blickte zu Belles riesigem Koffer. »Mein lieber Schwan, hast du den ganzen Haushalt mitgebracht?«

Belle zuckte mit den Schultern. »Von meinem Vater«, murmelte sie sinnloserweise.

»Rebecca.« Sie streckte ihr die Hand hin.

Belle nahm sie. »Annabelle … alle nennen mich Belle.«

»Ich bin Tänzerin«, erklärte Rebecca. »Wir sind zu viert.«

Belle nickte und musterte die derangierte Erscheinung – das verschmierte Make-up rings um die großen blauen Augen, die Stupsnase, die rot geschminkten vollen Lippen und das enge Baumwollkleid, das nicht dazu angetan war, ihre üppige Figur zu verbergen.

»Du musst die neue Sängerin sein. Ich hoffe, du kannst überhaupt singen. Die letzte war ein Reinfall, hat ständig geheult, war todunglücklich und außerdem ein Langfinger. Ist auf und davon mit meinen Lieblingsohrringen.«

»Hatte sie Heimweh?«

»Woher soll ich das wissen? Und was geht’s mich an? Hoffe, du bist nicht auch so eine jammernde Mimose.« Sie forschte in Belles Gesicht nach Anzeichen dafür. »Zum ersten Mal von zu Hause weg?«

»Nein. Ich habe schon in Paris und London gelebt.«

Rebecca nickte. »Woher stammst du denn?«

»Südwesten. Cheltenham.«

»Nobel.«

Belle seufzte. Würde es immer so sein? Vielleicht hätte sie lügen und sagen sollen, sie käme aus Birmingham. Sie hatte dort für kurze Zeit gearbeitet.

»Hast du Familie?«, fragte Rebecca.

Belle schüttelte den Kopf.

»Du Glückliche. Bei uns zu Hause wimmelt es von Kindern, und ich bin die Älteste. Natürlich liebe ich sie alle, aber ich konnte es nicht erwarten, von da wegzukommen.«

»Vielleicht besuchen sie dich mal?«

Rebecca lachte. »Unwahrscheinlich. Haben nicht die Kohle dafür. Sind arm wie Kirchenmäuse.«

»Ach so.«

»Na, Hauptsache du mischst dich nicht in mein Leben ein. Deine Vorgängerin kam aus Solihull, hielt sich für was Besseres. Also, wenn ich eins nicht ausstehen kann … Wie auch immer, ich brauche jetzt eine Mütze voll Schlaf. Du gehst gerade?«

»Ich hatte eigentlich gehofft, ich könnte meinen Koffer auspacken.«

»Eigentlich gehofft, hm?« Sie ahmte Belles Tonfall nach. »Na, fantastisch. Lass mich ein, zwei Stunden schlafen und tu’s hinterher.«

»Na gut, aber ich muss mich waschen und anziehen, bevor ich ausgehen kann.«

Die junge Frau zuckte nur mit den Schultern.

»Ich bin gestern Abend aufgeblieben und habe auf dich gewartet«, sagte Belle. »Es erschien mir ein bisschen unhöflich, schlafen zu gehen, ohne dass wir uns miteinander bekannt gemacht haben. Wo warst du denn?«

Rebecca tippte sich an die Nase. »Je weniger du weißt, desto weniger kannst du verraten.«

»Ach, du meine Güte …«

»Also keine Petze?«

»Selbstverständlich nicht«, antwortete Belle gereizt.

»Wir werden sehen. Das Bad ist gegenüber. Du musst möglichst früh hinein. Wir teilen es uns zu fünft, und das heiße Wasser ist schnell verbraucht.«

Belle holte erschrocken Luft, weil eine Echse mit schlängelndem Schwanz die Wand hinauflief und hinter dem Schrank verschwand, wo sie unmenschliche Laute von sich gab.

Rebecca lachte. »Die leben im Haus und halten dich nachts wach. Man sieht hier auch Insekten, die viel größer sind als die zu Hause, und ab und zu ein Eichhörnchen.«

»Im Zimmer?«

Rebecca zog sich das Kleid aus, ließ es auf dem Boden liegen und schlüpfte in Unterwäsche ins Bett. Einen Moment später wollte Belle ins Bad gehen, als Rebecca noch mal den Kopf hob.

»Verdammt schöne Haare hast du, und ich wette, die sind nicht gefärbt.« Dann drehte sie sich zur Wand.

Belle lächelte. Vielleicht war es doch nicht so übel, sich mit Rebecca das Zimmer zu teilen.

Am Tag zuvor, kurz nach ihrer Ankunft, unternahm Mr Fowler, der vor Wichtigkeit platzte, mit ihr einen Rundgang durchs Haus. Von dem großen verspiegelten Foyer mit den dunklen Ledersofas, Glastischen und dem blanken Parkett führte er sie durch die vornehmen Speiseräume. Lampen mit hellrosa Seidenschirmen standen überall, und Ansichten von Burma hingen an den Wänden, dazwischen Porträts von ehrwürdigen Herren und ihren schmuckbehängten Gattinnen. Die Tische waren schon mit gestärktem Damast gedeckt.

Leise, aber wortreich gab Belle ihrer Bewunderung Ausdruck, um ihn zufriedenzustellen, und sie war auch ehrlich beeindruckt und überglücklich über ihr Engagement.

Er erzählte, das Hotel sei 1927 gründlich renoviert worden. »Natürlich war ich zu der Zeit noch nicht hier.«

»Wie lange arbeiten Sie hier schon?«

»Nicht lange.« Damit wischte er ihre Frage beiseite und fuhr fort: »Wir sind das komfortabelste, modernste Hotel in Rangun – wir haben sogar ein eigenes Postamt und ein Juweliergeschäft, eine Filiale von Hamid & Co., im Haus.«

Ein hübsch hergerichteter Raum folgte, in dem sowohl das Frühstück als auch später der Nachmittagstee eingenommen wurde, wie Mr Fowler erklärte. Belle betrachtete die Korbsessel und die zierlichen Gedecke. Es ist hübsch, dachte sie, nicht so steif wie der große Speisesaal. Das Haus sei berühmt für seinen Nachmittagstee, sagte er hörbar stolz.

»Manchmal bleibt Kuchen übrig fürs Personal«, fügte er großmütig lächelnd hinzu, als wäre der seine persönliche Spende.

Anschließend gingen sie durch die Lagerräume, dann durch eine große Küche mit hoher Decke und von dort in einen kleinen Raum, wo das Personal seine Mahlzeiten einnahm, und schließlich in den Konzertsaal des Strand hinter dem Anbau, zu dem ein Umkleideraum und ein kleiner Garten gehörten.

»Bisher haben wir uns auf Gastorchester und ebensolche Tänzerinnen und Sängerinnen verlassen. Erst seit Kurzem vergeben wir Festengagements. Ob das vorteilhaft ist, wird sich noch zeigen.«

»Kommen nur Engländer hierher?«

Er nickte. »Nun ja, auch Schotten. Viele Schotten.«

»Und wie steht es mit den Angestellten? Sind die alle Briten?«

»Natürlich nicht. Wir haben indische Küchenjungen, und Sie haben den Portier gesehen.«

»Keine Burmesen?«

Er schüttelte den Kopf. »Die Burmesen – die unteren Klassen, meine ich – möchten nicht arbeiten.«

»Gar nicht?«

»Nicht für uns.«

»Oh.«

»Es gibt viele gebildete Burmesen in unseren Regierungsbehörden.«

Wieder im Foyer des Haupthauses angelangt, deutete sie auf die breite, mit dickem Teppich ausgelegte Treppe, die in einem Bogen zu den oberen Etagen führte, doch er schüttelte den Kopf.

»Die Zimmer, Suiten und Salons der Gäste«, sagte er. »Die brauchen Sie nicht zu sehen.« Und sofort wünschte sie sich, dort hinaufzugehen.

Während er ihren neugierigen Gesichtsausdruck betrachtete, stieß er eine Schwingtür auf, hinter der ein dunkler Gang lag. Kaum hindurch, nahm er ihre rechte Hand und fasste sie an der Schulter. Als er sie rückwärtsschieben wollte, entwand Belle sich seinen Händen. »Für das richtige Mädchen ist es möglich, von Zeit zu Zeit ein unbenutztes Gästezimmer zu sehen, zwischen zwei Belegungen, wenn Sie verstehen. Sind Sie solch ein Mädchen, Miss Hatton?«

Sie trat zwei Schritte von ihm weg. »Das bezweifle ich, Mr Fowler.«

Er nickte und sah sie prüfend an. »Nun, das werden wir noch sehen, nicht wahr?«

Sie war nicht beunruhigt. Mit solchen Männern hatte sie schon zu tun gehabt.

Da sie nun offenbar einen Tag zur freien Verfügung hatte, würde sie sich einrichten und dann die Umgebung erkunden. Erst für den nächsten Tag war eine lange Probe angesetzt. Beim Verlassen des Hotels nickte Belle dem Portier zu und musste blinzeln, weil ihr der Staubdunst in den Augen brannte. Sie ging am Büro eines Hafenspediteurs vorbei, dann am Postamt, einem stark verzierten roten Backsteinbau, und machte kehrt, um die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen.

Tief atmete sie die schwüle Luft ein, die von exotischen Gerüchen geschwängert war. Was riecht da so aromatisch?, fragte sie sich. Dann blieb sie stehen und lauschte, weil ringsumher Tempelglocken läuteten. Sie ging weiter und musste in einem fort Rikschas, Radfahrern, Automobilen und Fußgängern ausweichen. Nach den Sprachen zu urteilen, die sie heraushörte, lebte hier ein buntes Völkergemisch. Die Inder erschienen geschäftig und lebhaft, die Chinesen versuchten eifrig, ihre Waren an den Mann zu bringen. Von den Burmesen jedoch war sie besonders angetan. Die Männer rauchten Stumpen und neigten den Kopf, wenn sie vorbeiging, und die Frauen in ihren makellosen rosa Seidenkleidern waren klein und zierlich und von puppenhafter Schönheit. Sie trugen die Haare straff hochgesteckt und mit einer Blüte geschmückt, und das Gesicht pflegten sie mit einer gelben Paste zu bemalen, wie Belle überrascht sah. Bezaubert von ihrem lieblichen Lächeln, lächelte sie zurück. Es faszinierte sie, dass Männer wie Frauen lange Röcke und kurze Jacken trugen. Der Rock hieß Longyi, so viel hatte sie schon erfahren, aber der Frauenrock war an der Taille stärker gerafft. Ihr fiel auch auf, dass die Männer allgemein rosa Turbane trugen, während sich viele Frauen einen durchsichtigen Seidenschal um die Schultern legten.

Ein Stück weiter mischte sich schwacher Abwassergeruch mit den charakteristischen Gewürzaromen von den verschiedenen Essensständen und Lebensmittelläden. Sie stand an einer Kreuzung und hörte die eisenbeschlagenen Räder der Gharrys, altmodischer Pferdekutschen, die man mieten konnte, und staunte über das Nebeneinander von Vergangenheit und Gegenwart auf den Straßen. Nach ein paar Augenblicken bog sie nach links in die Merchant Street ein.

Entlang der Strand Road und darüber hinaus war das Stadtbild von britischen Bauten geprägt, aber Belle sehnte sich nach etwas Aufregenderem als den Monumenten des Kolonialismus. Sie wandte sich nach rechts, wo sie an dem Gericht vorbeikam, in dem ihr Vater gearbeitet haben musste. Dann bog sie erneut ab und holte staunend Luft, denn vor ihr lag, was sie gesucht hatte. Das musste die Sule-Pagode sein, die kleiner war als die Shwedagon-Pagode, die sie schon vom Schiff aus gesehen hatte. Entzückt, im Zentrum Ranguns auf diese goldschimmernde Erscheinung zu stoßen, mitten im lärmenden Getriebe des Alltags, blieb Belle stehen und schaute. Der Hotelangestellte an der Rezeption hatte gesagt, sie sei zweitausendzweihundert Jahre alt und immer Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens gewesen.

Das Gold glänzte und schimmerte verlockend, aber ihr war bereits schwindlig von der sengenden Hitze, und deshalb sah sie sich um, ob sie irgendwo etwas trinken könnte. Sie hatte vergessen, einen Hut oder Schirm mitzunehmen. Während sie in einem fort Fliegen vor ihrem Gesicht wegschlug, musterte sie die Teestände am Straßenrand. Die kamen ihr nicht verlockend vor. Also wohin? Bei einem Blick über die Straße sah sie Gloria aus dem Rowe & Co. kommen, einem großen weiß-roten Kaufhaus mit einem Eckturm, geschwungenen Balkonen und verzierten Fenstern. Belle rief und winkte.

3

Cheltenham 1921

Endlich habe ich einen Brief von Simone bekommen. Ich freue mich so sehr, ich könnte durchs Zimmer tanzen. Ich sehe sie vor mir, ihre braunen Augen, ihre hellblonden Haare und die makellose Pfirsichhaut. Erinnere mich auch, was für einen Mordsspaß wir früher hatten. Die Frau meines Arztes und meine beste Freundin in Burma. Sie schreibt von ihrer Trauer, natürlich, denn ihr Mann Roger ist gestorben, aber auch, dass sie bald zurückkehrt und wieder in England leben will. Irgendwo in Oxfordshire, was nicht so weit weg ist. Ich laufe nach unten in den kleinen Flur an der Rückseite des Hauses, greife zu Gartenschere und Gartenkorb und springe kurz nach draußen, halte für einen Moment das Gesicht in die Sonne – ich spüre sie so gern auf der Haut – und schneide ein paar Rosen fürs Esszimmer ab.

Ich erinnere mich an die leuchtenden Blumen in Burma und mein Leben dort, mein Leben! Voller Aufregungen und guter Laune. Cocktail- und Dinnerpartys und diese nächtelangen verschwenderischen Gartenpartys. Die schiere Freude an einem Pariser Seidenkleid, das über meine Haut strich – und an meinen geliebten Mann, der mich so festhielt, dass ich mir vorkam, als wäre ich die Schönste. Dann nach zu viel Champagner die rosa und orangenen Laternen im Wind schaukeln sehen, während der Himmel kurz vor der Dämmerung indigoblau wurde.

Aber ach, der Garten mit den stark duftenden Blumen und den ausladenden Baumkronen, in denen sich die Affen von Ast zu Ast hangelten. Wir lachten immer, wenn wir sie sahen, Arm in Arm. Jung war ich damals noch und so sehr verliebt. Und unser einsamer Platz, wo niemand sehen konnte, was wir taten und wie sehr mein ernster, aufrechter Ehemann mich begehrte, so sehr, dass ihm der Atem stockte.

Schluss damit.

Denk nicht an den Garten.

4

 

Die Handtasche locker über dem Arm, überquerte Gloria breit lächelnd die Straße. Belle erwiderte das Lächeln, und Gloria hauchte ihr mit roten Filmstarlippen einen Kuss auf die Wange.

»Wie gefällt es unserem kleinen Singvogel in Rangun?«

»Hatte noch keine Zeit, mir viel anzusehen, doch so weit finde ich es sehr schön. Hier geht es so lebhaft zu.« Sie wischte sich über die Stirn. »Aber, du meine Güte, es ist unvorstellbar heiß! Ich habe gerade überlegt, wo ich wohl etwas trinken kann. Ich komme um vor Durst.«

»Ich wüsste etwas. Und da wir schon dabei sind, kaufen wir Ihnen auch gleich einen Hut. Im Rowe wird sich einer finden. Das ist genau das Richtige, denke ich. Sie müssen sich einen ihrer Kataloge mitnehmen. Man bekommt dort praktisch alles.«

»Das klingt grandios.«

»Und drinnen ist es sehr schön. Überall Ventilatoren, kühle schwarz-weiße Bodenfliesen und nur britische Bedienung. Das Harrods des Ostens, Liebes.«

Belle grinste. »Sie sind sehr freundlich.«

»Meine Liebe, da irren Sie sich. In Wirklichkeit finde ich Sie faszinierend. Wissen Sie, mir wird sehr schnell langweilig.« Wie zum Beweis gab sie einen langen, trägen Seufzer von sich. »Und mir scheint, als bräuchten Sie jemanden, der sich um Sie kümmert.«

Belle dachte, ihre Bekannte könnte sie als Spielzeug betrachten und nach kurzzeitigem Interesse plötzlich fallen lassen, und was das Kümmern betraf, so war sie es seit Langem gewohnt, diese Aufgabe selbst zu erfüllen. Aber wenn Gloria das annehmen wollte, bitte sehr. Sie passte sich deren Schritt an, und so durchquerten sie den Park des Fytche Square und kehrten auf die Merchant Road zurück.

»Was ist das gelbe Zeug, das sich die Frauen auf die Wangen schmieren?«, fragte Belle.

»Das ist Thanaka-Paste. Sie glauben, das sei gut für den Teint und schütze vor Sonnenbrand.«

»Es scheint die Haut schrecklich auszutrocknen. Haben Sie es mal ausprobiert?«

»Das ist nichts für mich, Liebes.«

Und Belle sah ihr an, dass ihre gemeißelten Wangen garantiert nie mit burmesischen Mitteln in Berührung kamen.

In der Bar bestellte Gloria zwei kalte Pimm’s Cup.

»Oh, keinen Alkohol«, sagte Belle. Der war ihr unheimlich. Er veränderte das Benehmen, mitunter zum Besseren, aber eben auch zum Schlechteren. Sie war es seit ihrem achten Lebensjahr gewohnt abzulehnen. Damals war ihr nämlich klar geworden, dass sie mit ein wenig Selbstbeherrschung einen Riegel Schokolade länger strecken konnte als jeder andere. »Es ist … noch recht früh«, erklärte sie. »Könnte ich eine Kanne Tee bekommen?«

Gloria lachte. »Tee! Der schmeckt hier widerlich, es sei denn, Sie mögen Kondensmilch. Manche kommen ja damit zurecht.«

»Wieso Kondensmilch?«

»Die Burmesen finden es abscheulich, eine Kuh zu melken. Wie dem auch sei, Sie brauchen etwas zu trinken, und da gibt es für mich nur eins.«

Belle blickte sie entschlossen an. »Nur Limonade. Ehrlich.«

Gloria schüttelte den Kopf und betrachtete sie mit einem gespielt traurigen Blick. »Da entgeht Ihnen etwas. Der Pimm’s Cup hier ist der beste in der Stadt. Aber egal, erzählen Sie mir, was Sie vorhatten.«

»Nicht viel. Ich wollte mich nur ein wenig mit der Umgebung vertraut machen.«

Gloria lächelte und wirkte dabei sehr mit sich zufrieden. »Nun, dann kann ich Ihnen etwas empfehlen, das Sie sicherlich interessiert.«

»Nur zu.«

Am nächsten Abend vor ihrem ersten Auftritt ging Belle, während sie sich in der hell beleuchteten Garderobe vor dem Spiegel schminkte, in Gedanken die Reihenfolge der Auftritte durch. Sie legte einen weinroten Lippenstift auf, der das Rotgold ihrer Haare betonte. Wie sie sie frisieren sollte, hatte sie noch nicht entschieden. Offen tragen oder hochstecken?

Hatte sie Lampenfieber? Ein bisschen. Aber sie hatte gelernt, es in Konzentration umzuwandeln. Noch wichtiger, sie verspürte ein wildes, neues Glücksgefühl und war absolut entschlossen, einen guten Eindruck zu machen. Sie würden loslegen mit einem ihrer Lieblingsstücke – ein gutes Omen. Sie mochte Billie Holiday natürlich, aber auch Bessie Smith, die »Kaiserin des Blues«. Alle Lieder von ihnen waren sichere Favoriten, doch Belle hatte sich für Nobody Knows You When Your’re Down and Out und Careless Love entschieden.

Sie hatte die hereinkommenden Tänzerinnen gegrüßt, die sich in der anderen Hälfte der Garderobe umzogen, und sie dann nicht mehr beachtet, weil sie sich konzentrierte. Aber nun fiel ihr Name. Er wurde recht laut geflüstert, höchstwahrscheinlich, damit sie es mitbekam. Sie ließ sich nichts anmerken und schminkte sich weiter.

Das Geflüster hielt an, und Belle hörte heraus, sie habe die Stelle nur aufgrund ihrer Verbindung zu Gloria de Clemente bekommen. Belle drehte sich um und schaute in die mürrischen Gesichter der vier Tänzerinnen.

»Ich kenne sie kaum«, erklärte sie lächelnd und hoffte, die schlechte Stimmung zu zerstreuen. »Wirklich.«

»Das musst du ja sagen, nicht wahr?« Rebecca blickte sie herausfordernd an. »Eigentlich sollte Annie die Stelle kriegen, und dann tauchst du plötzlich auf und kommst mit demselben Schiff wie Mrs de Clemente.«

»Und ich habe dich gestern mit ihr in einer Bar gesehen«, rief besagte Annie. »Da schient ihr dick befreundet zu sein.«

»Ich bin Gloria auf dem Schiff zum ersten Mal begegnet.«

»Gloria, ja? Wir dürfen sie nicht so nennen.«

Belle wurde ärgerlich und stand auf. »Du meine Güte, das ist zu albern! Ich habe das Stellenangebot in der Zeitung gesehen und mich beworben wie jeder andere.«

»Natürlich, und ich bin der König von England«, erwiderte Rebecca.

Annie prustete vor Lachen, und Belle biss sich auf die Lippe, bevor sie sich ihr zuwandte. »Vielleicht hast du die Stelle nicht bekommen, weil du nicht gut genug bist. Schon mal daran gedacht?«

»Das kann man leicht behaupten. Deine Sorte kennen wir …«

»Meine Sorte? Ihr wisst nichts über mich. Gar nichts!« Belle spürte, dass ihre Wangen heiß wurden, und zwang sich zur Ruhe. »Und nun, wenn ihr nichts dagegen habt, muss ich mich auf meinen Auftritt vorbereiten.«

Steif setzte sie sich wieder hin, versuchte, sich ihren Ärger nicht anmerken zu lassen und sich von den anderen jungen Frauen zu lösen. Mit den Gedanken abzuschweifen war immer ihre Art gewesen, einem Konflikt zu entkommen, und sie konnte das gut. Doch sie hatte gehofft, sich mit ihrer Zimmergefährtin freundschaftlich zu stellen, und der unerfreuliche Wortwechsel beunruhigte sie. Nach einigen ruhigen Atemzügen war sie wieder vollkommen beherrscht, aber ihre Verstimmung mochte sich dennoch auf ihren Auftritt auswirken, und das machte sie nervös. Natürlich hatten die Tänzerinnen es genau darauf angelegt. Nun, sie hatte nicht die weite Reise unternommen, um sich jetzt von ein paar rachsüchtigen, neidischen Hüpfern alles verderben zu lassen. Sie würde die Bühne betreten, ins Publikum lächeln und sich die Seele aus dem Leib singen.

5

Cheltenham 1921

Während ich aus dem Fenster in den Pittville Park schaue und die Tauben beobachte – kleine schwarze Gestalten in einer Reihe auf einem Dachfirst auf der anderen Seite des weiten Parks –, höre ich meine Tochter nach ihrem Vater rufen. Sicherlich hat sie Hunger. Tatendrang erfüllt mich, und so werfe ich mir den Morgenmantel über und eile die drei Treppen hinunter. Ich werde ihr Toaststreifen und weich gekochtes Ei anbieten, das isst sie am liebsten. Aber als ich in die Küche stürme, vor lauter Vorfreude beinahe stolpere, empfängt mich der Geruch von Rindergulasch, und ich erkenne, dass ich störe, als ich sie neben unserer Haushälterin Mrs Wilkes an dem gescheuerten Kieferntisch sitzen sehe. Sie sitzen eng zusammen und blicken mich entgeistert an. Ich schaue genauso überrascht und möchte darauf hinweisen, dass ich hierhergehöre. Dass ich am längsten in dem Haus lebe.

Meine Gedanken schweifen zu den alten Zeiten, als das Haus noch meinem Vater gehörte und dann mir, nachdem meine Mutter an der schrecklichen Influenza gestorben war. Mein Vater zog darauf nach Bantham in Devonshire, wo unser Sommersitz lag, und dorthin hat er sich zurückgezogen. Er vermisst meine Mutter, und ich habe ihn besucht, bis das Reisen zu kompliziert wurde. Aber als ich noch ein Kind war, bin ich in dem alten Haus glücklich gewesen.

Zu gern würde ich das Fenster in die viel sicherere Vergangenheit noch länger offen lassen, doch Mrs Wilkes steht auf, und dadurch schlägt sie es zu und reißt mich in die Gegenwart zurück.

»Ich bin länger geblieben. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, Madam, aber das Mädchen musste etwas essen.«

Ich nicke dazu, höre ihr jedoch an, dass sie mich verurteilt.

»Liebling«, sage ich zu meiner Tochter. »Soll ich dir heute deine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen?«

Sie hebt den Kopf und sieht mir in die Augen. »Nein, danke, Mummy. Daddy hat versprochen, es zu tun.«

Ich beiße mir auf die Lippe und schlucke. Dann drehe ich mich um und gehe zur Treppe. Meine Augen brennen von aufsteigenden Tränen.

Die Leute hier sehen mich besorgt an und sagen mir, das seien die Nerven. Einmal habe ich unsere Haushälterin mit dem Lieferjungen klatschen hören – mit dem Lieferjungen! »Sie leidet entsetzlich unter ihren Nerven.« Aber es sind nicht meine Nerven, ich fürchte die Stimme.

Wieder oben in meinem Zimmer höre ich den Regen gegen das Fenster schlagen, und der Park sieht düster aus, als die Dämmerung schwindet. Doch ich kann die Lichter in den Häusern gegenüber sehen wie ferne Leuchtfeuer, und die kleinen goldenen Rechtecke geben mir Hoffnung. Ich stelle mir dahinter glückliche Familien vor. Der Ehemann kommt von der Arbeit nach Hause, wirft den Hut an den Haken und umarmt seine Frau. Die Kinder, vielleicht drei, springen die Treppe hinunter und rufen: »Daddy, Daddy ist zu Hause!« Und die Frau scheucht sie ins Spielzimmer, damit Daddy in Ruhe seine frisch gebügelte Zeitung lesen und ein Glas Laphroaig genießen kann.

»Möchtest du etwas trinken, Liebling?«, wird sie fragen, ohne zu ahnen, wie zerbrechlich das Glück ist.

6

 

Am Abend ihres zweiten Auftritts, bevor die Tänzerinnen ihre beiden Tänze absolviert hatten und in die Garderobe zurückkamen, nahm Belle ihr Notizbuch aus der Tasche und zog die Zeitungsausschnitte zwischen den Seiten hervor. Beim ersten Lesen war sie äußerst neugierig gewesen, und sie musste zugeben, sie war es noch immer. Vor einem Jahr, nach dem Tod ihres Vaters, war ihr die nicht beneidenswerte Aufgabe zugefallen, seine große Bibliothek zusammenzupacken. Die vergilbten Zeitungsausschnitte hatten gut versteckt in einem staubigen Buch gelegen, und wenn sie nicht herausgerutscht wären, als sie mit Packen fertig wurde, hätte sie nie etwas von der Sache erfahren. Sie hatte die Ausschnitte dann erst einmal zwischen die letzten Blätter ihres Notizbuches gesteckt, und da waren sie geblieben. Als sie die beiden Meldungen jetzt wieder las, schüttelte sie den Kopf und fand es noch immer kaum zu glauben.

Rangoon Post, 10. Januar 1911

Säuglingsraub im Golden Valley

Mit großem Bedauern ist hier vom Verschwinden eines neugeborenen Mädchens zu berichten. Die gerade erst drei Wochen alte Elvira Hatton ist die Tochter unseres geschätzten Mitglieds der Justizbehörde, des Distriktrichters von Rangun, Mr Douglas Hatton, und seiner Gattin Diana. Der Säugling verschwand gestern aus dem Garten der Hattons im Golden Valley, wo er im Kinderwagen unter einem Tamarindenbaum schlief. Die Polizei ersucht etwaige Zeugen, sich umgehend zu melden, da der Fall von äußerster Dringlichkeit ist.

Als die Tänzerinnen sprühend vor Energie hereinkamen, sah Belle auf die Uhr und schob die Ausschnitte samt Notizbuch in die Handtasche zurück. Ihr blieben noch fünf Minuten Zeit. Sie entschied sich für das elfenbeinfarbene bodenlange Kleid aus Kunstseidenkrepp, das an Ausschnitt und Taille mit Perlen besetzt war, und schlüpfte rasch hinein. Prüfend sah sie in den Spiegel und bewertete ihre Erscheinung. Sie hatte eine Weile gebraucht, um sich daran zu gewöhnen, so viel Make-up aufzulegen. Da sie sich hier selbst schminken musste, tat sie es sehr dezent und erlaubte sich, die schulterlangen, von Natur aus welligen Haare offen zu tragen. Zu guter Letzt wählte sie einen glänzenden roten Lippenstift und steckte sich die Haare an den Seiten mit zwei Strassklammern fest.

Augenblicke später trat sie auf die Bühne. Belle zitterte vor Erregung und spürte einen harten Kloß im Magen, der sich aber rasch auflösen würde, sobald sie einmal sang, genau wie am Abend zuvor.

Die erste Nummer wurde begeistert aufgenommen, wenn auch von einem kleinen Publikum, wie sie enttäuscht feststellte. Aber es war nur ein Donnerstagabend, und hinterher an der Bar sagte Gloria, die schwarze Seide und einen echten Rubin an einer Halskette trug, das große Publikum sei nur an Wochenenden zu erwarten. Bei ihrem Zufallstreffen in der Stadt hatte sie ihren Bruder erwähnt, der einen hohen Posten in der britischen Regierung innehatte. Er werde eigens am Samstag kommen, um Belle singen zu hören. Und nun erzählte sie, was sie neulich nur angedeutet hatte: Ihr Bruder habe Kontakte im amerikanischen Showgeschäft. »Wenn Sie Ihre Trümpfe richtig ausspielen, nun ja, dann ist alles möglich«, hatte Gloria gesagt.

»Wirklich? Und wer sind diese Kontakte?« Belle konnte ihre Aufregung nicht verbergen und fragte sich, welche Trümpfe gemeint waren.

»Ich kann Ihnen keine Namen nennen, fürchte ich. Aber Sie waren wunderbar, Liebes. Diese Art, wie das gesamte Orchester mit einem Mal einsetzt, besonders die Trompete, und dann Ihre Stimme … Ich schwöre, Ihre Stimme ist wie Honig, und wie sie schwingt! Fabelhaft. Da hielt es keinen mehr auf dem Sitz. Und sehen Sie sich nur an! Ihre Augen strahlen, Sie blühen geradezu. Sie haben Ihre Passion gefunden, würde ich meinen.«

Belle freute sich sehr, sagte aber nur, sie sei erleichtert, weil es so gut geklappt habe.

»Man braucht nur eines, um in dieser Welt voranzukommen: Man muss an sich selbst glauben, und wenn Sie das nicht können … nun, dann glauben Sie eben mir.« Gloria lachte, und Belle fiel mit ein. Dabei bemerkte sie Rebecca, die sie mit hämischer Miene beobachtete. Belle lächelte ihr zu, aber ihre Zimmergenossin blickte sie böse an und wandte sich dann ab.

»Was war das?«, fragte Gloria, die das gesehen hatte.

Belle machte ein gleichgültiges Gesicht. »Ach, nichts. Die anderen sind nur ein bisschen schwierig.«

»Das gibt sich sicher noch.«

»Sie glauben, ich hätte die Stelle nur bekommen, weil ich Sie kenne.«

Gloria zog die Brauen hoch. »Vielleicht kann ich das richtigstellen?«

»Ehrlich gesagt, möchte ich lieber selbst damit fertigwerden.« Belle zögerte. »Tatsächlich gibt es etwas anderes, womit Sie mir helfen könnten.« Einen Versuch war es wert.

Gloria lächelte herzlich. »Nichts lieber als das. Schießen Sie los.«

»Es ist so: Meine Eltern haben früher in Burma gelebt. Ich habe überlegt, ob Sie mich mit jemandem bekannt machen könnten, der sie vielleicht gekannt hat.«

»Das haben Sie noch gar nicht erwähnt!«

»Nein.«

»Und wie heißen sie?«

»Hatton natürlich, wie ich.«

Glorias Augen wurden eine Spur schmaler. »Ah ja. Der Name kam mir irgendwie bekannt vor.«

»Douglas und Diana Hatton.«

Gloria wirkte betroffen. »Dann haben Sie hier auch schon einmal gelebt? Das wusste ich nicht.«

»Nein. Da war ich noch nicht geboren. Tatsächlich ist das eine sehr traurige Geschichte.« Unsicher, ob sie das erklären sollte, hielt sie inne, dann entschied sie sich dafür. »Sie haben ihr erstes Kind verloren.«

Gloria schaute sie verständnisvoll an. »Hier gibt es so viele ansteckende Krankheiten.«

»Nein. Es ist nicht gestorben. Es ist aus ihrem Garten verschwunden, hier in Rangun. 1911.«

»Gütiger Himmel, wie furchtbar!«

»Sie haben damals nicht davon gehört?«

Gloria geriet ins Stocken, als wäre sie plötzlich verunsichert, dann senkte sie den Kopf und kramte ein Weilchen in ihrer Handtasche, länger als nötig, fand Belle, aber schließlich brachte sie ihr Zigarettenetui und ein Feuerzeug zum Vorschein.

»Also«, sagte sie gedehnt, während sie sich die Zigarette anzündete. »Ich dürfte damals noch nicht hier gewesen sein, aber da klingelt etwas, wissen Sie? Habe es vielleicht in der Zeitung gelesen. Edward könnte sich daran erinnern. Sie fragen besser ihn.« Nach einem winzigen Schwanken der Stimme schwieg sie abrupt und sah Belle forschend an. »Oje, sind Sie deshalb hergekommen?«

»Nein. Es ging mir nur um das Engagement. Und was da vorgefallen ist, ist schon so lange her. Fünfundzwanzig Jahre. Deshalb dachte ich, es macht sicher nichts, wenn ich hier arbeite.«

Belle beschloss, nichts weiter über ihre Eltern zu erzählen, aber sie erinnerte sich unweigerlich daran, dass sie als Kind durch das riesige Haus getobt war und nur ihre Mutter und Mrs Wilkes als Gesellschaft gehabt hatte. Und an die Male, als sie ihre Mutter mit unbezähmbarer Wut gehasst und es immer schlimm geendet hatte. Einmal sagte sie sogar zu ihr, sie wünschte, sie wäre tot.

»Ich wüsste zu gern, was Sie jetzt denken«, bemerkte Gloria.

»Ach, nichts Besonderes. Erzählen Sie mir von sich.«

»Eines müssen Sie über mich wissen: Ich sage nie die Wahrheit, aus Prinzip nicht.«

Belle lachte.

»Und ich habe nur ein Ziel im Leben: gegen alle Regeln zu verstoßen.«

»Ich werde dabei immer erwischt, wie es scheint.«

Gloria, die Meisterin des blendenden Lächelns und der spöttisch gewölbten Braue, grinste sie an. »Oh, ich auch, Liebes. Immer. Der Trick ist, sich nichts daraus zu machen. Kühnheit, darauf kommt es an. Konventionen interessieren mich nicht die Bohne.«

Belle lachte wieder und dachte an ihre eigene Kühnheit, an die sie tatsächlich schon so gewöhnt war.

7

 

Am Samstagabend lernte Belle Edward kennen. Auf den ersten Blick schien er ein freundlicher Mann zu sein. Während Gloria sie miteinander bekannt machte, betrachtete er Belle mit dunklen, funkelnden Augen, dann streckte er ihr die Hand hin. Er war nicht groß – sie brauchte nicht den Kopf zu heben, um ihm ins Gesicht zu sehen –, dennoch fühlte sie sich eingeschüchtert. Sie hätte es nicht genau sagen können, aber er strahlte etwas aus, das ihr schon einmal begegnet war, eine gewisse altmodische Art, die sie an die höchst gewandten, höflichen Freunde ihres Vaters erinnerte. Gewöhnt an ein privilegiertes Leben, besaß Edward das daraus resultierende zuversichtliche Selbstbewusstsein und zudem vermutlich einen ausgeprägten Sinn für seine Anrechte. Durch seine rotbraunen Haare, die an den Schläfen grau wurden – was distinguiert wirkte –, sowie durch seine Gesichtsform und die dunkelbraunen Augen hatte er etwas von einem prächtigen Fuchs. Er war schätzungsweise Anfang fünfzig. Nachdem sie all das innerhalb eines Moments in sich aufgenommen hatte, fragte Belle sich, was er wohl an ihr sah, und hob eine Hand, um sich die widerspenstigen Haare glatt zu streichen.

»So«, sagte er. »Endlich habe ich die Ehre, den neusten Schützling meiner Schwester kennenzulernen. Ich bin entzückt.«

Belle spürte, dass ihr die Hitze in die Wangen stieg. Außer der Neigung zu Sommersprossen war dies der größte Nachteil ihres hellen Typs. »Sehr erfreut«, erwiderte sie und fächelte sich mit der Hand Luft zu. »Meine Güte, wie heiß es ist, nicht wahr?«

»Wir könnten versuchsweise in den Garten gehen. Oder uns näher an den Ventilator stellen. Allerdings ist es dort lauter, weil er in der Nähe der Bar hängt.«

Sie nickte. »Ich habe nur eine halbe Stunde Pause, dann muss ich wieder auf die Bühne.«

»Gratuliere zu Ihrem Auftritt! Einfach brillant. Die Welt liegt Ihnen zu Füßen, meine Liebe.«

»Hab ich’s dir nicht gesagt, Edward?«, warf Gloria ein.

Belle lächelte bescheiden.

Während er die Getränke bestellen ging – Whisky für Gloria und Limonade für Belle –, folgten ihm die beiden Frauen bis unter den Deckenventilator. Aber der Stimmenlärm in dem gut gefüllten Saal erreichte rings um die Bar seinen höchsten Pegel.

»Wenn ich’s mir recht überlege«, rief Gloria an Belles Ohr, »würde ich lieber nach draußen gehen. Hier kann man sein eigenes Wort nicht verstehen.«

»Und Ihr Bruder?«

»Wird uns finden. Ich möchte Sie ohnehin kurz allein sprechen.«

»So?«

In dem begrünten Innenhof angekommen, sagte Gloria: »Ich habe mit Fowler wegen der Tänzerinnen gesprochen.«

Belle fasste sich erschrocken an den Mund. Das ist das Problem mit Gönnern, dachte sie. Wenn man nicht aufpasst, verhalten sie sich bald, als wäre man ihr Eigentum.

»Seien Sie nicht albern. Er wird lediglich ein Auge darauf haben, mehr nicht.«

»Wenn er sie zurechtweist, wird das die Situation nur verschlimmern.«

Gloria streckte gerade eine Hand nach ihrem Unterarm aus, als Edward mit einem Kellner zu ihnen kam. »Ich bedaure, die Damen bei ihrem wichtigen Gespräch zu unterbrechen.« Er hielt für eine Sekunde inne und lachte dann freundlich. »Nun, meine Liebe, Sie müssen meiner Schwester verbieten, sich einzumischen – denn das wird sie tun wollen, wissen Sie?«

Glorias Lächeln ließ kurz nach, und Belle fragte sich, ob sie da einen Anflug von Feindseligkeit zwischen den beiden gesehen hatte. Vielleicht kamen sie nicht immer gut miteinander aus, andererseits mochte das unter Geschwistern normal sein. Sie kannte sich da nicht aus.

»Komm, Schwester«, sagte Edward. »Trink etwas.«

Während sie mit ihren Gläsern zusammenstanden, beobachtete Belle die Geschwister und vor allem Edward. Er war von schlanker Statur, war aber mehr athletisch als hager und hatte elegante Hände. Er lächelte sie an – er lächelte viel –, doch hatte er ihre Gedanken gelesen? Seine Augen hatten auch etwas an sich. Sie wollten verführen, ihr Gegenüber näher an sich ziehen, als es wollte. Belle konnte sich sogar vorstellen, es zu wollen, obwohl er so viel älter war als sie. Oder, besser gesagt, sie konnte es sich fast vorstellen – eingedenk ihrer Affäre mit Nicholas Thornbury, dem Produzenten ihrer vorigen Show, der ebenfalls älter gewesen war. Edward nickte grüßend diversen Bekannten zu, auf die gleiche entschiedene Art wie Gloria.

»Sie scheinen jeden zu kennen«, bemerkte Belle.

»Das nehme ich an«, pflichtete er bei. »Aber da fällt mir ein, Gloria hat erzählt, Sie möchten mit Leuten zusammenkommen, die vielleicht Ihre Eltern gekannt haben.«

Belle nickte.

Er schaute über ihren Kopf hinweg ins Leere, dann sah er ihr in die Augen. Sie war verwirrt. Als sie Nicholas kennenlernte, hatte sie das Gleiche empfunden und dazu ein Kribbeln in der Magengrube. Fast ein Jahr waren sie zusammen gewesen, und sie hatte noch immer reisen und die Welt sehen wollen. Darum hatte sie abgelehnt, als er ihr vorgeschlagen hatte, ihn zu heiraten und häuslich zu werden. Die meisten jungen Frauen hätten wer weiß was dafür gegeben, aber ihr Vater hatte sie zu einem unabhängigen Geist erzogen, und das bedeutete ihr viel. Bei Nicholas hätte sie am Ende sein Denken und seine Überzeugungen übernommen. Doch wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie nicht nur deshalb Nein gesagt, sondern auch weil sie ihn nicht genügend liebte. Als die Aufführungszeit seiner Show zu Ende war, verließ sie ihn. Hätte er ihr den Antrag ein wenig früher gemacht, hätte er sie nach ihrem Nein vielleicht aus der Truppe rausgeworfen.

»Gibt es eine Mrs de Clemente?« Die Frage rutschte ihr heraus, ehe sie sich eines Besseren besinnen konnte. O Gott, warum hatte sie das getan?

Einen Moment lang blinzelte er überrascht. »Nun, tatsächlich ja. Da wäre Gloria natürlich, die nach dem Ende ihrer Ehe ihren Mädchennamen wieder angenommen hat …«

»Denn es stiftet reichlich Verwirrung, wie Sie sich denken können«, warf Gloria grinsend ein, »weil Neulinge mich für seine Frau halten.«

Edward zog die Brauen hoch, wie um zu sagen, dass Verwirrung zu stiften schon immer ihre Absicht gewesen sei. »Und da wäre meine Frau, die mit den Kindern in England lebt.«

Gloria schaute amüsiert, als Belle eine Floskel stammelte und rot wurde. »Lassen Sie sich von meinem Bruder nicht aus der Fassung bringen, Kindchen. Das tut er nur zu seinem Vergnügen.«

Edward schüttelte den Kopf. »Belle, meine Liebe, Sie werden noch bemerken, dass meine Schwester, die natürlich in vieler Hinsicht ein feiner Mensch ist, ein wenig überspannt sein kann.«

Gloria seufzte. »Glauben Sie nicht alles, was Sie hören.«

»Wie auch immer«, erwiderte er. »Worüber sprachen wir gerade?«

»Über Leute, die meine Eltern gekannt haben könnten«, sagte Belle.

»Ah ja, Gloria hat es erwähnt.«

»Meinen Sie denn, es gäbe hier jemanden?«

»Nun ja, es ist so lange her. Viele dürften in den Ruhestand gegangen und nach England zurückgekehrt sein.«

Sie schenkte ihm ein liebenswürdiges Lächeln. »Es würde mir viel bedeuten, wenn Sie jemanden finden könnten.«

Er nickte. »Ich tue mein Bestes.«

»Da fällt mir ein: Waren Sie 1911 vielleicht auch in Rangun?«

»Ich denke ja, aber möglicherweise erst seit Kurzem. Es dürfte eine absonderliche Aufregung gewesen sein. Ich hatte eine Beschäftigung in London, doch dann wurde mir hier ein Posten bei der Militärpolizei angeboten, den ich natürlich nicht ablehnen konnte.«

»Und Sie arbeiten noch für sie?«

Er verzog einen Mundwinkel. »Nicht ganz.«

»Genug«, unterbrach Gloria. »Was Sie brauchen, sind Freunde. Viele, viele Freunde. Im Schwimm-Club findet bald eine Party statt. Wie wär’s, wenn Sie als mein Gast hinkommen, wenn Sie hier fertig sind?«

»Das würde mir gefallen«, sagte Belle. »Aber wird es dann nicht zu spät sein?«

Gloria lachte. »Wie alt sind Sie, Belle? Einundzwanzig? Zweiundzwanzig?«

»Dreiundzwanzig.«

»Nun, Sie haben noch viel zu lernen.«

»Meine Schwester will damit sagen, dass das gesellschaftliche Leben hier wegen der Hitze später beginnt – und länger dauert – als daheim.« Edward fasste ihr an den Arm. »Es wäre nett, Sie dort zu sehen.«

Als er und Gloria sich abwandten, um freudig einen Bekannten zu begrüßen, beobachtete Belle sie aus dem Augenwinkel, aber dann musste sie an ihren Vater denken, vielleicht weil sie von der Zeit gesprochen hatten, da ihre Eltern in Burma lebten. Sie sah ihn ganz klar vor sich: wie seine Augen aufleuchteten, wenn er sie erblickte, oder wie konzentriert er sich über ein Buch beugte. Er war ein guter Mensch gewesen, doch immer in gewisser Weise unflexibel, schon damals, und sie hatte lernen müssen, nicht zu streiten.

Sie bemerkte, dass Gloria sie neugierig anstarrte.

Belle nahm sich zusammen und setzte ein Lächeln auf. »Ich war in Erinnerungen versunken«, murmelte sie.

»Ich denke nie zurück. Absichtlich nicht. Man muss sein Leben genießen, und genau das tue ich.«

Belle lachte, wurde dann jedoch ernst. »Was ist aus Ihrem Mann geworden?«

»Wer sagt, dass ich mich erinnere?«

»Aber Sie wissen es?«

»Wie ich gerade sagte …« Und dann lachte sie schallend, und ihre Augen funkelten boshaft. »Ich schlage Ihnen einen Handel vor: Sie versprechen, zur Pool-Party zu kommen, und ich verspreche, meine unerfreuliche Lebensgeschichte zu offenbaren.«

Belle lachte auch. »Wie könnte ich dazu Nein sagen?«

Später, allein in ihrem Zimmer, dachte sie noch immer an ihren Vater. Sie erinnerte sich an den Tag, als sie einmal an seine Arbeitszimmertür hatte klopfen wollen und laute Stimmen zu ihr nach draußen gedrungen waren. Bestürzt hatte sie dagestanden und den Streit ihrer Eltern mit angehört.

»Was sind Gefühle?«, sagte er. »Nur etwas, das du dir ausdenkst. Es gibt keinen Grund, so unbeherrscht zu sein.«

Darauf schleuderte ihre Mutter vermutlich etwas durch den Raum, denn Belle vernahm ein Krachen und dann Weinen.

Ihr Vater sprach darauf noch lauter. »Das ist ein Produkt deiner Fantasie, Diana. Warum kannst du das nicht erkennen?«

Belle glaubte nicht, dass er das aus Grausamkeit sagte. Das war nur eben seine Art, mit allem fertigzuwerden.