Die Weinkultur der Griechen - Frank Zinn - E-Book

Die Weinkultur der Griechen E-Book

Frank Zinn

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Beschreibung

Der Wein, ein Geschenk des Gottes Dionysos an die Menschen, durchdrang alle Lebensbereiche der griechischen Welt. Er war Grundnahrungsmittel, Opfergabe, Handelsgut und Medizin. Er befreite von Sorgen, entfachte die Liebesglut und inspirierte die Dichter. Dieses Buch bietet einen faktenreichen Überblick über die Wein- und Trinkkultur der alten Griechen. Es erzählt von fleißigen Winzern und betrügerischen Wirten, von singenden Zechern, durstigen Soldaten und trunksüchtigen Hausfrauen. Zahlreiche literarische Quellen und Abbildungen eröffnen dem Leser einen anschaulichen Zugang zu einem faszinierenden Kapitel der antiken Kulturgeschichte.

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Inhalt

Einleitung

Dionysos – der Gott des Weins

Ein Gott mit vielen Namen

Dionysos-Mythen

Die dionysische Bilderwelt

Wie der Wein zu den Menschen kam

Rausch und Ekstase

»Den Sterblichen zur Freude«

Dionysos, der Wein und das Meer

Der Wein und die Menschen

Gepanscht und verwässert

Winzeralltag

Der Weinhandel

Berühmte Weine

Durstige Soldaten

Ein heilkräftiges Gift

Wein in Kult und Ritus

Weinspenden

Feste und Feierlichkeiten

Die griechische Trinkkultur

Das Symposion

Das Ringen mit Eros

Der Spiegel der Seele

Das Trinkgeschirr

Wein und Gesang

Das Kapeleion

Trunkenheit und Trunksucht

Wein für Polyphem

Zügellose Barbaren

Ablehnung und Toleranz

Speiende Zecher

»Heißblütiges, versoffnes Weibervolk«

Literaturhinweise

Abbildungsverzeichnis

Personen- und Sachregister

Einleitung

Zu keiner anderen Zeit und in keiner anderen Kultur spielte der Wein eine wichtigere Rolle als im antiken Griechenland. Es gab keinen Lebensbereich, in dem die Griechen auf ihn hätten verzichten können. In der rein agrarisch geprägten Gesellschaft war der Rebenanbau die Lebensgrundlage für zahllose kleine Bauern und eine Quelle des Wohlstands für reiche Landbesitzer. Bei der Lese und beim Pressen der Trauben arbeiteten ganze Dorfgemeinschaften Hand in Hand und feierten nach getaner Arbeit ausgelassene Feste, mit denen sie sich für die Mühen belohnten und das Gemeinschaftsgefühl stärkten. Als Handelsgut war der Rebensaft ein bedeutender regionaler und überregionaler Wirtschaftsfaktor. Mit Amphoren beladene Schiffe fuhren über das Meer und brachten die begehrte Fracht zu den Märkten an den Küsten des Mittelmeers und des Schwarzen Meers.

Wein war Genussmittel und Grundnahrungsmittel. Der Hirte, der im Schatten ein karges Mahl aus Käse und Brot verzehrte, oder die Gäste eines festlichen Gelages: Keiner von ihnen mochte auf Wein verzichten. Sítos kai oínos, Brot und Wein, waren die unentbehrlichen Grundbestandteile einer jeden Mahlzeit. Wein wurde geschätzt als ein Heilmittel für Körper und Seele. Ärzte verordneten ihn als Medizin gegen vielerlei Leiden; und die von Sorgen Geplagten tranken ihn, um im Rausch Vergessen zu finden. Ohne Wein konnte kein militärisches Unternehmen durchgeführt werden. Jeder Soldat im Feldlager oder in der Garnison musste mit ausreichenden Weinvorräten versorgt werden. Eine wichtige Rolle spielte der Rebensaft im sakralen Bereich. Er wurde bei der Durchführung religiöser Riten benötigt, man trank ihn bei Kultfeiern und opferte ihn den Göttern. Kaum eine wichtige Handlung wurde im privaten oder im öffentlichen Leben vollzogen, ohne eine an die Unsterblichen gerichtete Weinspende.

Durch ihre Trinksitten grenzten sich die Griechen von ihren nichtgriechischen Nachbarn ab und fühlten sich ihnen kulturell überlegen. Weintrinken, genauer gesagt die Art und Weise des Trinkens, war eine Ausdrucksform griechischer Identität. Dazu gehörte das Verdünnen des Weins mit Wasser; puren Wein zu trinken war ein unverkennbares Zeichen barbarischer Gesinnung. Das Symposion, das in der aristokratischen Lebenswelt verortete, strengen Gebräuchen unterworfene Trinkgelage der Männer, war die eigentümlichste Ausdrucksform griechischer Weinkultur. Es hinterließ unauslöschliche Spuren in Kunst und Literatur und entwickelte sich so zu einem bedeutenden kulturgeschichtlichen Phänomen, das das Bild vom antiken Griechenland in erheblichem Maße geprägt hat.

Die strikte Trennung von Mythos und Realität, die dem modernen Denken so selbstverständlich erscheint, war den Menschen der Antike fremd. Der Wein und die Reben galten als segensreiche Geschenke des Gottes Dionysos. Die Griechen konnten sich die Wandlung von Most zu Wein während der Gärung sowie die Reaktionen, die der Weinkonsum beim Menschen hervorrief, nur als Folgen göttlichen Wirkens erklären. Der Weingott brachte Fruchtbarkeit und begleitete die Arbeiten des Winzers. Er inspirierte die Dichter und befreite die kummerbeladenen Menschen von ihren Sorgen. Kein Trinkgelage wurde gefeiert, kein Becher Wein getrunken, ohne dass der Gott dabei zugegen war.

Aber Dionysos war ein zwiespältiger Gott, der gleichermaßen Freude spenden wie auch Wahnsinn entfesseln konnte. Genauso zwiespältig waren die Kräfte des Weins. Er half, die Lasten des Alltags zu ertragen, und stärkte Leib und Seele, doch seine Schattenseiten waren die Trunkenheit (méthē) und die Trunksucht (philoposía).

Quellentexte zur griechischen Trink- und Weinkultur finden sich in allen Literaturgattungen: in der epischen und in der lyrischen Dichtung; in medizinischen und in naturkundlichen Schriften; bei Historikern, Philosophen und Rednern; in Tragödien und (vor allem) in Komödien. Vieles aber ist unwiederbringlich verloren gegangen. Von den Fachschriften griechischer Autoren zum Weinanbau haben sich – mit Ausnahme der botanischen Schriften des Aristotelesschülers Theophrast – nur Bruchstücke erhalten. Gleiches gilt für die Abhandlungen über die Trunkenheit, die für einige Schriftsteller – u. a. Aristoteles, Theophrast, Chamaileon von Herakleia, Hieronymos von Rhodos – belegt sind. Wichtige Informationen zum antiken Winzerwesen verdanken wir römischen Autoren. Hier sind in allererster Linie die landwirtschaftlichen Fachschriften eines Cato, Varro und Columella sowie die Erörterungen des Plinius im vierzehnten Buch seiner Naturgeschichte zu nennen. Als wichtige Quelle zur griechischen Wein- und Trinkkultur verdient das um 200 n. Chr. verfasste, in seiner literarischen Form einzigartige Gelehrtenmahl des Athenaios von Naukratis besondere Erwähnung. Es ist die fiktive Schilderung eines mehrtägigen Gastmahls, dessen Teilnehmer sich ausgiebig über Speisen, Getränke und die verschiedensten Formen der Unterhaltung austauschen. Was das Gelehrtenmahl für Philologen und Historiker so wertvoll macht, sind die zahlreichen Zitate aus den Schriften antiker Autoren, aus denen die Redebeiträge im Wesentlichen bestehen. Oft ist Athenaios die einzige erhaltene Quelle, viele der zitierten Schriftsteller und ihre Werke wären ansonsten unbekannt geblieben.

Die Schriftquellen zur Weinkultur werden durch zahlreiche archäologische Zeugnisse ergänzt. Die Funde von Transportamphoren geben Aufschluss über den Umfang und die Wege des antiken Weinhandels. Dem erhaltenen Trinkgeschirr aus Metall, Groboder Feinkeramik verdanken wir wichtige Informationen über das Tafelwesen; an den Gefäßformen lassen sich Kontinuität und Wandel der griechischen Trinksitten nachvollziehen. Einen unmittelbaren Einblick in die Welt des Symposions geben die Darstellungen auf figürlich bemalten Vasen, die Zecher beim Bankett oder beim nächtlichen Umzug durch die Straßen zeigen. Texte, Bilder und materielle Hinterlassenschaften bieten eine breite und aussagekräftige Grundlage, um die Welt der griechischen Wein- und Trinkkultur zu erschließen. Was aber für immer verloren gegangen ist, sind der Geschmack und der Duft antiker Weine. Kein einziger Tropfen hat sich nach all den Jahrhunderten erhalten. So müssen wir unsere Vorstellungskraft bemühen, um den betörenden Apfelduft des Thasiers zu riechen oder den Meergeschmack der Weine von Lesbos auf der Zunge zu schmecken.

Dionysos – der Gott des Weins

Ein Gott mit vielen Namen

Dieser neue Gott, Dionysos, er werde dereinst unaussprechlich groß in Griechenland sein. So prophezeite es der greise Seher Teiresias in den Bakchen des athenischen Tragödiendichters Euripides (272ff.). Es war eine Vorhersage aus ferner mythischer Vergangenheit, die zum Zeitpunkt der Uraufführung des Stücks 405 v. Chr. längst ihre Erfüllung gefunden hatte. Die Aufführung selbst war dafür Beweis genug. Die Bakchen wurden erstmals anlässlich der Theaterwettbewerbe der jährlich in Athen stattfindenden Städtischen Dionysien gespielt, des großen Festes zu Ehren eben jenes Dionysos. Das Theater am Südhang der Akropolis war, wie alle dramatischen Spielstätten, dem Dionysos geweiht, und der Sieger des mehrtägigen Dichterwettkampfs wurde mit einem Kranz aus Efeu, einer der heiligen Pflanzen des Gottes, geehrt. Dionysos war der am meisten verehrte, am häufigsten angerufene und am häufigsten dargestellte Gott der griechischen Antike.

Auch nach dem Untergang der antiken Welt geriet Dionysos nicht in Vergessenheit; mehr als jede andere Gottheit des hellenischen Pantheons hat er seine Spuren hinterlassen. Bis in die Gegenwart hinein hat er Künstler und Gelehrte immer aufs Neue zur kreativen und intellektuellen Auseinandersetzung herausgefordert. Außerhalb der Gelehrtenstuben ist er vor allem als Gott des Weins und des Rausches in Erinnerung geblieben. Selbst heute noch grüßt der trinkfreudige Gott auf Flaschenetiketten und Wirtshausschildern die Freunde sinnlicher Genüsse. Darstellungen des Dionysos, der sich im Kreise leicht bekleideter Nymphen und Göttinnen vergnügt oder dem Betrachter in Gestalt eines trunkenen, mit Trauben bekränzten Zechers einen funkelnden Weinpokal entgegenstreckt, finden sich in ungezählten Variationen in den Kunstmuseen dieser Welt.

Diese Seite des Gottes war den alten Griechen keineswegs fremd, aber sie sahen noch viel mehr in ihm. Dionysos war der mehrdeutigste und komplexeste ihrer zahlreichen Götter. Er war der Vielnamige (polyônymos); keine andere griechische Gottheit wurde mit mehr Beinamen bedacht. Ein Preislied in der Anthologia Graeca, einer in byzantinischer Zeit zusammengetragenen Spruchsammlung, nennt rund einhundert Beiwörter und Umschreibungen, um der Vielschichtigkeit des dionysischen Wesens gerecht zu werden:

Preisen im Lied wir den jauchzenden Herrn, der im Schenkel heranwuchs,

zierlich gelockter, flurenbewohnender, stattlicher Sänger,

brausender, traubenumkränzter, boiotischer Führer der Bakchen,

fruchtbarer, fröhlich lachender Sieger im Kampf der Giganten,

zweifacher Zeusspross, von Dithyramben gefeierter Bakchos,

lockiger Euios, Weinhüter, Rufer zu frohem Gelage,

er, der Eifersucht einflößt wie hegt, leicht aufbrausend, aber

gütig auch, heiter beim Zechen, verschmitzter, wohlklingender Schwätzer,

Schwinger des Thyrsos, Zechbruder, Thraker, beherzt wie ein Löwe,

reizender Veilchenflechter, Inderschreck, Schenkelgenährter,

lärmender Festfreund, mit Efeu umkränzter Träger von Hörnern,

lydischer Keltermeister, Befreier von Kummer und Sorgen,

Weinspender, rauschbeschwingter Myste in tausend Gestalten,

Nachtschwärmer, Schutzgott der Herden, gekleidet in Felle des Hirschkalbs,

Speerwerfer, Blondkopf, der freigebig sämtliche Gäste bewirtet,

jähzornig, ungestüm, gern im Schatten der Berge sich tummelnd,

Kranzträger, Freund der Gelage, ein Sinne verwirrender Trinker,

zierlich und schlank im Schafspelz, verrunzelt auch, Brecher der Herzen,

tanzender Satyr, ein echter und treuer Sprössling Semeles,

hitzig wie fröhlich, stieräugig, tödlicher Feind der Tyrrhener,

zarter Beglücker von Hochzeiten, schlummervertreibender Waldgeist,

schaurig, vernarrt in das Wild, Herumtreiber, angenehm lächelnd,

anmutig, nachgiebig, golden geschmückt mit Hörnern und Bändern,

Krachmacher, Wortbrecher, einer, der Seelen verwirrt und zerspaltet,

holdblühend, rohfressend, Zögling und dröhnende Gottheit der Berge!

Preisen im Lied wir den jauchzenden Herrn, der im Schenkel heranwuchs!

(Anth. Gr. 9, 524. Ü.: D. Ebener)

Die vielen Beinamen sind nicht nur schmückendes Beiwerk. Jeder einzelne steht für einen bestimmten Aspekt des dionysischen Wesens und verleiht den verschiedenen Bereichen seines göttlichen Wirkens sprachlichen Ausdruck. Zugleich werfen sie ein Licht auf die Zwiespältigkeit des Dionysos. Er ist der Gott, der von Kummer befreit, aber auch mörderischen Wahnsinn bringt, der dem einen selige Freuden spendet und den anderen auf fürchterliche Weise bestraft. Einer der am häufigsten verwendeten Namen für Dionysos ist Bakchos. In der Gestalt des Dionysos-Bakchos offenbart sich die ekstatische, rauschhaft-orgiastische, sich bisweilen in zerstörerischen Wahn steigernde Seite des Gottes. Als Bakchen werden die Frauen bezeichnet, die ihren Herrn Dionysos treu und von göttlicher Raserei erfüllt begleiten. Und von Bakchos haben schließlich die Römer den Namen ihrer Interpretation des Weingottes, Bacchus, abgeleitet.

Die Vielfalt der Namen korrespondierte mit den vielen Bereichen, über die sich die Mächte des Dionysos erstreckten. Er war der Gott der Maske und des Theaters sowie die Quelle dichterischer Inspiration. Er war der Gott des Symposions, des geselligen Trinkgelages. Er war ein machtvoller Vegetations- und Fruchtbarkeitsgott, der eine starke sexuelle Potenz ausstrahlte. Als Mysteriengott schenkte er den Eingeweihten seines Kults die Hoffnung auf ein seliges Dasein im Jenseits. Wahn, Ekstase und Raserei in allen ihren Erscheinungsformen gehörten zu seinen ureigensten Aspekten. Und er war – natürlich – der Gott des Weins und des Rausches.

Dionysos hat den Menschen die Rebe geschenkt und sie die Kunst der Weinherstellung gelehrt. Der Rebensaft war das Medium, in dem und durch das der Gott seine Kräfte entfalten konnte. Mehr noch: Dionysos war der Wein. Der Zeussohn und seine freudenspendende Gabe waren identisch. In eindringlicher Weise veranschaulicht diese Auffassung die Bemalung eines häuslichen Kultschreins aus Pompeji (Abb. 1). Im Zentrum der Darstellung ist der Vesuv zu sehen, dessen untere Hanglagen zum Teil von Weingärten bedeckt sind. Neben dem Berg steht Dionysos/Bacchus. Sein Körper ist als Weintraube gestaltet, er ist völlig eins mit der Frucht der Reben, die neben ihm wachsen.

Die Griechen sahen in Dionysos einen fremden Gott, der aus der Ferne zu ihnen gekommen war und sich seinen Platz unter den Göttern des Olymps erst erstreiten musste. Er erschien den Menschen in vielerlei Hinsicht als der untypischste ihrer Götter. In den Dionysos-Mythen trat diese Fremdartigkeit an mehreren Stellen zu Tage: Seine zweifache Geburt, sein langwieriger Kampf um Anerkennung, der ihn durch weite Teile der griechischen und der nichtgriechischen Welt geführt hatte, vor allem aber der Aspekt des Wahns und der kultischen Raserei unterschieden ihn tiefgreifend von den anderen Olympiern. Die ältere Forschung nahm die Vorstellung von der nichtgriechischen Herkunft des Dionysos auf und betrachtete ihn als einen »jungen«, wohl aus Thrakien nach Griechenland eingewanderten Gott. Diese Auffassung erwies als falsch. Sein Name steht bereits auf in frühgriechischer Schrift (Linear B) verfassten Tafeln, die bei Ausgrabungen in Pylos und Chania gefunden wurden. Die Wurzeln vieler Traditionen des Dionysoskults lassen sich bis in minoisch-mykenische Zeit zurückverfolgen. Dionysos war entgegen älterer Ansichten eine alteingesessene Gottheit, deren Kult schon im 2. Jahrtausend v. Chr. verbreitet war.

Der Weingott war nicht nur der untypischste, er war auch der menschlichste unter den griechischen Göttern. Das lag schon in seiner Abstammung begründet, war doch seine Mutter eine Sterbliehe. Nach einer orphischen Mythentradition teilte Dionysos-Zagreus mit den Menschen sogar die Erfahrung des eigenen Todes. Auch in der Nahrung, die er zu sich nahm, unterschied er sich von seinen göttlichen Verwandten. Die anderen Götter aßen kein Brot und tranken keinen Wein (Hom. II. 5, 341). Im Unterschied zu den Sterblichen speisten die Bewohner des Olymps Nektar und Ambrosia, die ihnen unvergängliche Jugend und ein ewiges Leben bescherten. Dionysos dagegen aß wie die Menschen Brot und Fleisch und trank natürlich Wein. Beim Mahl zu sehen ist er auf einer rotfigurigen Vase aus dem späten 5. Jh. v. Chr. (Abb. 2a–b). Der Gott hat es sich auf einem gepolsterten Lager unter einem mit Trauben behangenen Weinstock bequem gemacht. Ein Satyr und ein junger, nackter Mundschenk kümmern sich um den Wein, der in einem großen Mischgefäß mit Wasser verdünnt wird. Auf einer Ablage neben Dionysos liegen Früchte und Brot; und eine Frau nähert sich mit einem flachen Korb voller Trauben. Der Weingott ist so sehr eins mit seiner Gabe, dass ein Verzicht darauf seinem ganzen Wesen widersprechen würde.

Abb. 1: Der Weingott als Weintraube. Fresko aus Pompeji, 1. Jh. n. Chr.

Abb. 2a: Dionysos beim Mahl. Attische Pelike, 420/410 v. Chr.

Abb. 2b: Brot und Früchte statt Nektar und Ambrosia.

Dionysos-Mythen

Dionysos’ Herkunft war – für einen Gott – mit einem Makel behaftet. Sein Vater war zwar kein Geringerer als der Göttervater Zeus, seine Mutter Semele jedoch war eine Sterbliche, die Tochter des thebanischen Königs Kadmos. Zeus hatte sie als Geliebte erwählt und wohnte ihr in Menschengestalt bei. Seine Besuche blieben nicht ohne Folgen, Semele wurde schwanger. Hera beobachtete das amouröse Treiben ihres Gatten mit verständlicher Eifersucht. In ihrem Zorn schmiedete sie den perfiden Plan, ihre Nebenbuhlerin und das ungeborene Kind zu vernichten. Sie kam zu Semele in Gestalt einer alten Amme und sprach zu der Ahnungslosen: »Wie kannst du dir sicher sein, dass dein Liebster wirklich Zeus ist? Kommt er nicht immer in Gestalt eines Menschen zu dir? Und wenn er wirklich der höchste der Götter ist, warum zeigt er sich dir nicht in seiner göttlichen Herrlichkeit, wie er es tut, wenn er neben seiner Gattin Hera liegt?« Als Zeus seine Geliebte das nächste Mal besuchte, bat Semele ihn, sich ihr in seiner wahren Gestalt zu zeigen. Nur widerwillig erfüllte er ihr den Wunsch; denn er wusste, dass dies ihren sicheren Tod bedeuten würde. Aber er war durch sein Wort gebunden. Und so geschah das Unvermeidliche, sobald Zeus sich ihr als gewaltiger Himmelsgott offenbarte: Semele wurde im wortwörtlichen Sinne vom Blitz getroffen und starb. Zeus versuchte nun alles, den gemeinsamen Sohn zu retten. Er nahm die Leibesfrucht auf und barg das Kind in seinem Schenkel, wo er es austrug. Als die Zeit der Geburt gekommen war, öffnete Zeus die Naht und der kleine Dionysos-Knabe erblickte das Licht der Welt. So wurde Dionysos zum zweifach Geborenen, gleichermaßen Frucht eines menschlichen und eines göttlichen Leibes.

Nach der »Schenkelgeburt« fürchtete Zeus aus gutem Grund, Hera könne seinem Sohn weiterhin nach dem Leben trachten. Er übergab den Knaben Hermes und befahl dem Götterboten, das Kind zu den Nymphen des Bergs Nysa zu bringen, unter deren Schutz er aufwachsen sollte. Die Nymphen dienten dem göttlichen Knaben fortan als ergebene Ammen und Erzieherinnen. Unterstützt wurden sie dabei von den halbtierischen Satyrn, einer wilden Schar stets wollüstiger und betrunkener Gesellen. Ein durchaus passendes Umfeld für den noch kindlichen Gott des Weins, der Ekstase und der überquellenden Fruchtbarkeit. Mit einem von ihnen, dem alten Silen, verband Dionysos ein besonders enges Band. Er vor allen anderen wurde für den Knaben zum Lehrer und treuen Gefährten (Abb. 3).

Nachdem der Knabe Dionysos zu einem jungen Mann herangewachsen war, sah er die Zeit gekommen, seine Anerkennung als Gott und die ihm zustehende Verehrung in der Welt durchzusetzen. Seine missionarischen Bemühungen führten ihn bis weit in den Osten, bis in das exotische Indien. Seine ehemaligen Pfleger und Ammen, die Satyrn und Nymphen, begleiteten ihn. Es war schon eine seltsame Schar, die da musizierend und tanzend durch die Länder zog, an die Tore der Städte klopfte und Verehrung für den neuen Gott einforderte. Nicht immer wurde Dionysos so aufgenommen, wie er und seine Anhänger es sich vorgestellt hatten. Aber kann es verwundern, dass das Willkommen für diesen anmaßenden jungen Burschen mit seiner Begleitung aus spitzohrigen Kreaturen und sich rasend gebärdenden Weibern bisweilen sehr zurückhaltend ausfiel?

Zu denen, die sich dem Dionysoskult verweigerten, gehörte Lykurgos, der König der Edoner in Thrakien. Er nahm die Begleiterinnen des Dionysos gefangen und jagte ihren Anführer, bis dieser sich nur noch mit einem Sprung ins Meer vor der Verfolgung zu retten wusste. Natürlich durfte diese Dreistigkeit des Königs nicht ungestraft bleiben. Dionysos aber pflegte seine Macht nicht unmittelbar durch Tod und Vernichtung zu demonstrieren. Viel lieber strafte er seine Widersacher mit zerstörerischem Wahnsinn. So erging es auch Lykurgos. Seiner Sinne beraubt glaubte der König, in seinem Sohn Dryas einen Weinstock zu erkennen und zerhackte ihn mit einem Beil. Er selbst fand einen nicht weniger grausamen Tod. Als Entsühnungsopfer für seinen Frevel wurde er von den Bewohnern seines Landes den menschenfressenden Pferden am Berg Pangaios zum Fraß vorgeworfen.

Abb. 3: Silen mit dem Dionysos-Knaben. Römische Kopie nach einem Original des 4. Jh. v. Chr.

Einen ganz ähnlichen Verlauf nahm Dionysos’ Begegnung mit König Pentheus von Theben. Diesen Ereignissen setzte der athenische Tragödiendichter Euripides mit den Bakchen ein literarisches Denkmal. In dem Stück schildert er, wie Dionysos in Begleitung seiner Anhängerinnen, der Bakchen, die Heimatstadt seiner Mutter Semele und den Ort seiner ersten Geburt aufsucht. Nicht als der Gott selbst tritt er dabei auf, sondern als Prophet des fremden Gottes. Aber diesmal geht es ihm nicht nur um die Verbreitung seines Kults, er will auch die drei Schwestern seiner Mutter – Agauë, Autonoë und Ino – dafür bestrafen, dass sie Semele einst der Lüge bezichtigt und ihr vorgeworfen haben, ihre Beziehung zu Zeus sei nur eine Erfindung gewesen.

Dionysos erschüttert die Stadt in ihren Grundfesten. Erfüllt von Raserei vergessen die thebanischen Frauen ihre häuslichen Pflichten, lassen die Webstühle im Stich und schwärmen als Bakchen in die Berge. Der junge König Pentheus ist von diesen chaotischen Zuständen nicht angetan. Dass die Frauenschar ausgerechnet von seiner Mutter Agauë und seinen Tanten angeführt wird, die sich, wie er glaubt, nun in den Bergen sexuellen Ausschweifungen hingeben, setzt dem Ganzen die Krone auf. Pentheus ist fest entschlossen, die Ordnung wiederherzustellen. Er lässt diesen seltsamen weibischen Propheten und seine Begleiterinnen gefangen setzen und droht, die thebanischen Frauen notfalls mit Waffengewalt aus den Bergen zurück in ihre Häuser zu jagen.

Natürlich können Fesseln und Kerkermauern Dionysos nicht aufhalten. Mehrfach beweist er, ohne seine wahre Identität dabei preiszugeben, die Macht des neuen Gottes. Aber Pentheus bleibt uneinsichtig und störrisch. Da lässt Dionysos alle Nachsicht mit dem König fahren und führt ihn mit List seinem selbstverschuldeten Schicksal zu. Er reizt die Neugier des Herrschers und verspricht, ihm einen Weg aufzuzeigen, wie er das Treiben der Frauen heimlich beobachten könne. Nur kurz zögert Pentheus, dann lässt er sich überreden, als Frau verkleidet in die Berge zu gehen. Dort aber verrät ihn Dionysos und liefert ihn dem Zorn der Bakchen aus. In ihrem Wahnsinn erkennen die Frauen ihren König nicht und stürzen sich gnadenlos auf ihr Opfer. Vergeblich fleht der junge Mann um sein Leben – Pentheus wird von seiner Mutter und den anderen Frauen bei lebendigem Leibe in Stücke gerissen.

Nachdem Dionysos seinen Kult in der Welt der Sterblichen etabliert hatte, trat er in den erlauchten Kreis der olympischen Götter ein. Dort half er Hera, die ihm einst nach dem Leben getrachtet hatte, aus einer misslichen Lage. Nach der Geburt ihres Sohns Hephaistos war Hera enttäuscht gewesen, wie klein und hässlich ihr Kind war. Erbost schleuderte sie Hephaistos vom Olymp hinunter auf die Erde, wo er von Meernymphen gerettet und aufgezogen wurde. Man kann es ihm kaum verübeln, dass er Hera zürnte und danach strebte, sie für ihr wenig mütterliches Verhalten zu bestrafen. Als Mittel für seine Rache diente Hephaistos, wie es sich für den genialen Handwerker und Götterschmied gehörte, ein raffiniertes technisches Konstrukt. Er schickte seiner Mutter einen herrlichen goldenen Thron auf den Olymp. Aber kaum hatte Hera sich daraufgesetzt, legten sich Fesseln um sie und ließen sie nicht mehr aufstehen. Alle Bitten der Götter, sie von ihren Fesseln zu lösen, konnten Hephaistos nicht erweichen. Nur Dionysos fand eine Lösung. Er machte den Schmiedegott betrunken und führte ihn hinauf auf den Olymp (Abb. 4). Dort konnte er, vom Wein milde gestimmt, endlich dazu überredet werden, seine Mutter zu befreien. So konnten dank der Kraft des Weins nicht nur Hera und Hephaistos, sondern auch Hera und Dionysos ihren lang gehegten Groll begraben.

Abb. 4: Dionysos und sein Gefolge geleiten Hephaistos auf den Olymp. Attische Bandschale, um 550 v. Chr.

Die dionysische Bilderwelt

Darstellungen des Dionysos sind seit etwa 580/570 v. Chr. sicher nachzuweisen. Er fand seinen Weg in die griechische Bilderwelt später als andere olympische Götter. In der Folgezeit jedoch sollte Dionysos zum am häufigsten dargestellten Gott des griechischen Pantheons werden. Sein Erscheinungsbild hat sich dabei im Laufe der Zeit in markanter Weise gewandelt. Als Beispiel für das frühe Dionysosbild kann die Darstellung auf einem Krater (kratêr) aus dem späten 6. Jh. v. Chr. im Louvre dienen (Abb. 5). Dionysos sitzt würdevoll auf einem Klappstuhl mit Löwenbeinen. Bekleidet ist er mit einem langen Untergewand und einem Mantel. Er hat langes Haar und einen Vollbart, der ihm bis zur Brust reicht. Auf seinem Kopf trägt er einen Efeukranz. In seiner rechten Hand hält er eine weit ausladende Weinrebe, in der linken den für ihn typischen Kantharos, ein großes, becherartiges Trinkgefäß mit hohem Standfuß und zwei vertikalen Schlaufenhenkeln. Efeu, Weinrebe und Kantharos (bisweilen auch das Trinkhorn) sind kanonische Attribute des Dionysos und des dionysischen Kreises. Oft tragen der Gott und seine Begleiter ein Raubtierfell oder die Nebris, das Fell eines Hirschkalbs. Ein weiteres wichtiges Attribut des Dionysos und seiner Anhänger ist der Thyrsos-Stab, ein Riesenfenchel, der von einem Efeubündel bekrönt wird (vgl. Abb. 6; 7).

Die würdevolle, bärtige Vaterfigur, die für die frühe Dionysosikonographie typisch war, erfuhr im Laufe des 5. Jahrhunderts eine Veränderung. Nach der Jahrhundertmitte trat der Gott als bartloser und entblößter Jüngling auf. Erstmals begegnet er in dieser Gestaltungsweise im Ostgiebel des Athener Parthenon, der um 432 v. Chr. fertiggestellt wurde. In lässiger Haltung ruhte Dionysos in Gestalt eines nackten jungen Mannes auf einem Raubtierfell und wohnte der Geburt der Athene bei, die den Mittelpunkt der Giebelkomposition bildete. Auch in die Vasenmalerei hielt dieses neue Dionysosbild Einzug und dominierte bereits am Ende des 5. Jh. v. Chr. die Ikonographie des Gottes. Dem spätarchaischen Dionysos (Abb. 5) kann eine Darstellung aus der Mitte des 4. Jh. v. Chr. gegenübergestellt werden (Abb. 6). Umgeben von ihrem Gefolge – Satyrn, Mänaden und Eroten – haben sich der Weingott und seine Gefährtin Ariadne auf einer vom Maler nicht dargestellten Sitzgelegenheit niedergelassen. Dionysos hat nur noch wenig mit seinem archaischen Pendant gemein. Er ist bis auf den Mantel, der Unterleib und Beine umhüllt, unbekleidet, von jugendlicher Gestalt und bartlos, lange Locken umrahmen sein Haupt. Der einst würdevolle Bartträger ist zum schönen Jüngling mit stark femininer Ausstrahlung geworden. Er wirkt wie eine Illustration zu dem Dionysos, den Euripides in den Bakchen (235f.) beschreibt: Ein blond gelockter, rotwangiger, süßduftender Jüngling, der Aphrodites Reiz in seinen Augen trägt.

Abb. 5: Der Weingott mit Kantharos und Rebe. Attischer Krater-Psykter, letztes Viertel 6. Jh. v. Chr.

Der bärtige Dionysostypus wurde jedoch nicht vollständig von dem neuen Erscheinungsbild verdrängt. Sowohl in der Vasenmalerei als auch in der Plastik (seit dem Ende des 4. Jh. v. Chr.) wurde der Weingott weiterhin in der Gestalt eines in lange Gewänder gekleideten Bartträgers dargestellt. Beide Dionysostypen bestanden nebeneinander fort.

Ein fester Bestandteil der dionysischen Ikonographie ist der Thiasos, das Gefolge des Gottes. Es sind die Satyrn und Nymphen, seine ehemaligen Pfleger und Ammen, die ihn begleiten, nachdem er Nysa, die Stätte seiner Kindheit, verlassen hat, um seinen Kult und den Weinanbau in der Welt zu verbreiten. Ergriffen von der Macht ihres Herrn verfallen sie in eine verzückte Ekstase. Zum Klang von Doppelflöte, Handtrommel und Klappern – den typischen Instrumenten dionysischer und anderer orgiastischer Kulte – tanzen sie in wilden und unkoordinierten Bewegungen (Abb. 7). Manchmal wird Dionysos selbst von seinem eigenen Wesen mitgerissen und verfällt in wilden Taumel. Auf späten Thiasosbildern, wie auf dem Peliken-Fragment Abb. 6, kann sich die Szenerie beruhigen. Die Teilnehmer wirken gesitteter und kontrollierter, alles Ekstatische ist aus ihrem Verhalten verschwunden.

Die Satyrn oder Silene – eine klare Unterscheidung der beiden Begriffe ist kaum möglich – waren halbtierische Mischwesen mit Spitzohren und Pferdeschweif. Auf späten Darstellungen, wie Abb. 7, erscheinen sie jedoch zunehmend »vermenschlicht«. Augenfällig verkörpern die Satyrn das Ungehemmte, Animalische und Triebhafte im Umkreis des Gottes. Dazu passt, dass sie oft ithyphallisch, d. h. mit erigiertem Penis, dargestellt werden: ein Zeichen ihrer ungezügelten Lust in Gegenwart des Fruchtbarkeitsgottes Dionysos (vgl. Abb. 4). Ausgiebig trinken sie vom berauschenden Wein und tragen Amphoren oder gefüllte Weinschläuche mit sich herum. Satyrn begegnen als Begleiter des Gottes schon auf den frühesten Dionysosdarstellungen aus der Zeit um 580/570 v. Chr. Rund eine Generation später schließen sich auch die Nymphen dem Thiasos an. In ihrer Funktion als schwärmende Anhängerinnen des Gottes werden sie Bakchen oder Mänaden (»die Rasenden«) genannt. Im Gegensatz zu den nackten, animalischen Satyrn sind die Frauen in schöne Gewänder gekleidet, über die sie oft noch ein Tierfell geworfen haben. Gegen die plumpen Annäherungsversuche ihrer ständig geilen Gefährten wissen sie sich immer erfolgreich zur Wehr zu setzen.

Abb. 6: Dionysos und seine Gefährtin Ariadne im Kreise ihres Gefolges. Fragment einer apulischen Pelike, 360/350 v. Chr.

Abb. 7: Dionysischer Thiasos. Attischer Glockenkrater, 390/380 v. Chr.

Wenn Dionysos im Bild erscheint, dürfen der Weinstock und der Efeu nicht fehlen. Er hält Reben- oder Efeuzweige in Händen, ist damit bekränzt und manchmal sieht man den Gott auch unter einem schattigen Blätterdach ruhen (vgl. Abb. 2). Welche Rolle die Rebe für den Gott des Weins spielt, bedarf keiner längeren Erklärung. Sie ist sein natürliches Attribut, sein Geschenk an die Sterblichen; seine Göttlichkeit wirkt durch die Frucht des Weinstocks. Nicht zuletzt offenbart sich in der Fülle der Trauben und im üppigen Grün der Blätter die lebenspendende Kraft des Vegetationsgottes. An diese Seite des Dionysos erinnert auch der immergrüne Efeu. Wo der Efeu wuchert, entfaltet sich der Segen der Fruchtbarkeit. Der Weingott ist nicht vom Vegetationsgott zu trennen. Beide Aspekte des dionysischen Wesens ergänzen und bedingen sich.

Kaum eine andere Darstellung führt diese enge Verbindung so deutlich vor Augen wie das außergewöhnliche Innenbild einer ostionischen Schale aus der Zeit um 550 v. Chr. (Abb. 8). Von den gewundenen Stämmen zweier gewaltiger Weinstöcke breiten sich Zweige über die gesamte Wandung des Schaleninneren aus. An einigen Zweigen sind die für Reben charakteristischen Blütenrispen zu sehen. Vögel und eine Zikade beleben das Dickicht, in der Gabelung des linken Stamms ist ein Vogelnest zu erkennen. Die Darstellung bekommt so einen klaren jahreszeitlichen Bezug, denn die Rebenblüte findet statt, wenn die Vögel ihren Nachwuchs versorgen (Plin. nat. 16, 104). In der Schalenmitte ist Platz ausgespart für einen Bärtigen mit Hüftschurz, der mit beiden Händen in die Zweige fasst. Die Deutung der Szene ist umstritten, die männliche Gestalt wird u. a. als Vogelfänger interpretiert. Aber die Anwesenheit des Bärtigen steht nicht mit den Vögeln, sondern mit der alles beherrschenden Pflanzenpracht in Verbindung. Die Bildkomposition lässt es so aussehen, als würden die beiden Weinstöcke in ihm wurzeln; allein durch die Berührung seiner Hände scheint die Rebenblüte zu treiben. In der schwebenden Gestalt offenbart sich die Leben spendende Kraft des Dionysos Anthios, des Wein- und Blütengottes, der jedes Frühjahr die Pflanzenwelt erwachen lässt.

Abb. 8: Dionysos lässt die Reben erblühen. Ionische Schale, um 550 v. Chr.

Wie der Wein zu den Menschen kam

Viele Mythen erzählten von der Entdeckung des Weinanbaus und viele Orte beanspruchten den Ruhm für sich, Heimat des ersten Weinstocks gewesen zu sein. In einigen Fällen verwiesen sie auf Wunderzeichen, um ihren Anspruch zu untermauern. Wie im Falle von Elis, einer Landschaft im Nordwesten des Peloponnes. Der Weingott selbst soll dort beim Fluss Alpheios nahe Olympia die ersten Reben auf griechischem Boden gepflanzt haben. Nur eine kurze Strecke von dieser heiligen Stätte entfernt feierte man jedes Jahr ein Dionysosfest, bei dem drei leere Kupferkessel versiegelt wurden. Wenn man sie wenig später öffnete, waren sie mit wohlschmeckendem Wein gefüllt (Athen. 1, 34a). Solche Weinwunder gab es viele. Schon die bloße Anwesenheit des Dionysos konnte ausreichen, um den Rebensaft hervorsprudeln zu lassen. Ein solches Wunder nimmt der Satiriker Lukian in seinen Wahren Geschichten (1, 7) gekonnt auf die Schippe:

Wie wir nun ungefähr zweitausend Schritte vom Ufer durch den Wald fortgegangen waren, wurden wir eine eherne Säule gewahr, auf welcher in halberloschenen und vom Rost ausgefreßnen griechischen Buchstaben diese Aufschrift zu lesen war: »Bis hieher sind Bacchus und Herkules gekommen.« [...] Wir beugten unsre Knie und gingen weiter, waren aber noch nicht lange gegangen, als wir an einen Fluß kamen, der statt Wasser einen Wein führte, den wir an Farbe und Geschmack unserm Chierwein sehr ähnlich fanden. Der Fluß war so breit und tief, daß er an manchen Orten sogar schiffbar war. Ein so augenscheinliches Zeichen, daß Bacchus einst hier gewesen, diente nicht wenig, unsern Glauben an die vorbesagte Aufschrift zu befestigen.

(Ü.: Ch. M. Wieland)

Der Wohltäter Dionysos gab das Wissen von der Kunst des Weinanbaus und der Weinbereitung manchmal als Zeichen seiner besonderen Wertschätzung an die Menschen weiter. König Oineus von Kalydon, einer Stadt im mittelgriechischen Ätolien, erhielt die Rebe als Dank für seine grenzenlose Gastfreundschaft. Die Zuvorkommenheit des Königs soll so weit gegangen sein, dass er Dionysos sogar die eigene Gattin, Königin Althaia, die das Interesse des Gottes geweckt hatte, für die Dauer seines Aufenthalts als »Gastgeschenk« überließ. Was die Königin von diesem Arrangement hielt, ist nicht überliefert.

Von König Oineus und dem Weinanbau wusste auch ein anderer Mythos zu berichten. Staphylos (»Weintraube«), ein Ziegenhirte im Dienste des Königs, beobachtete, wie eines der Tiere sich immer wieder von der Herde entfernte und später sichtlich vergnügt zurückkehrte. Er folgte der Ziege und sah, dass sie von einer Traube fraß. Staphylos brachte die Rebe zu Oineus, der einen Weg fand, aus den Früchten ein Getränk herzustellen. Als der König Besuch von Dionysos erhielt, servierte er seinem Gast von dem schmackhaften Trank. Der Gott zeigte sich sehr angetan von Oineus’ Leistung und schlug vor, das neue Getränk solle nach seinem Erfinder oínos (»Wein«) heißen.

In Attika kehrte Dionysos bei dem Landmann Ikarios und seiner Tochter Erigone ein. Sie nahmen den Fremden gastfreundlich auf und reichten ihm frische Ziegenmilch zur Erfrischung. Aber Dionysos lehnte ab. Stattdessen ließ er seinen Gastgeber vom Wein kosten, der in dieser Region bis dahin nicht bekannt war. Begeistert vom Geschmack und der freudespendenden Wirkung des neuen Getränks ließ Ikarios sich in die Kunst der Weinherstellung unterweisen. In Dionysos’ Auftrag sollte er den Rebensaft in ganz Attika bekannt machen. Ikarios belud einen Ochsenkarren mit gefüllten Weinschläuchen und begab sich frohen Mutes auf seine Mission. Bald schon begegnete er einigen Schäfern, denen er aus den Schläuchen zu trinken gab. Die Männer fanden Gefallen am Saft der Trauben, aber der für sie ungewohnte Alkoholgenuss – sie wussten nicht, dass sie den Wein mit Wasser hätten verdünnen müssen – sollte nicht ohne Folgen bleiben:

Becher auf Becher genossen indessen die Landleute. Allen

raubte der Wein den Verstand, sie begannen im Rausche zu toben.

Unstet irrten die Blicke, der Trank, ungemischt, überhauchte

leuchtend mit Purpur die Wangen, heiß fingen die Herzen der Bauern

rasend zu klopfen an, schwer und haltlos schwankten die Köpfe,

stürmisch durchjagte das Blut die Adern, es schwollen die Schädel.

Vor den Augen der Zecher begann die Erde zu beben,

wirbelten Bäume im Reigen und tanzten die felsigen Höhen.

Mancher, schon voll des ungewohnten betörenden Saftes,

taumelte rücklings zur Erde und wälzte sich hilflos am Boden.

(Nonn. Dion. 47, 106–115. Ü.: D. Ebener)

Die berauschten Hirten konnten keine klaren Gedanken mehr fassen und glaubten, Ikarios habe versucht, sie zu vergiften. Voller Zorn griffen sie zu Knüppeln und Äxten und schlugen ihn für seine vermeintliche Untat tot. Von dieser Episode erzählt ein Fußbodenmosaik in Paphos auf Zypern (Abb. 9): Ikarios führt das Ochsengespann, das den mit Weinschläuchen beladenen Karren zieht; daneben sind die »ersten Weintrinker«, wie die Beischrift sie nennt, zu sehen. Die Männer sind von der Wirkung des Weins überwältigt, einer liegt schon trunken auf dem Boden. Der gewaltsame Tod des Ikarios ist nicht dargestellt.

Abb. 9: Ikarios und die betrunkenen Schäfer. Fußbodenmosaik, 3. Jh. n. Chr.

Auch Ikarios’ Tochter Erigone wurde ein trauriges Schicksal zuteil. Sie machte sich Sorgen, weil ihr geliebter Vater so lange fortblieb, und begab sich auf die Suche. Nachdem sie seinen Leichnam gefunden hatte, bestattete sie ihn, wie es die Kindespflicht von ihr forderte, und erhängte sich anschließend, von Trauer und Verzweiflung gebrochen. Dionysos war über das Geschehene aufs Äußerste erzürnt. Um die Bewohner Attikas für ihren Frevel zu strafen, verbreitete er die grausame Saat des Wahnsinns unter ihnen und trieb alle Jungfrauen zum Selbstmord. Ohne ersichtlichen Grund erhängten sich die Mädchen, starben so den gleichen Tod wie Erigone. In ihrer Verzweiflung wandten sich die Menschen an das Orakel in Delphi. Dort wurde ihnen verkündet, der Fluch finde erst dann ein Ende, wenn man die Mörder bestraft sowie zu Ehren des Ikarios und seiner Tochter ein Sühnefest eingerichtet habe. Das war der Ursprung des sogenannten Schaukelfests, das alljährlich im Frühjahr im Rahmen der Anthesterien gefeiert wurde. Begleitet von rituellen Handlungen wurden Kinder auf Schaukeln gesetzt, um symbolisch den Tod Erigones nachzustellen.

Der Ikarios-Mythos beschreibt die Verbreitung der Weinkultur in Attika nicht als ein freudiges Ereignis, sondern verknüpft sie eng mit Blut und Tod. Von Blut und Tod erzählt auch die Geschichte von der Entstehung des allerersten Weinstocks in den Dionysiaka des Nonnos von Panopolis (5. Jh. n. Chr.): Während seines Aufenthalts im kleinasiatischen Lydien hatte Dionysos einen Geliebten, den jungen Satyr Ampelos (»Weinstock«). Aber diese Liebe fand ein tragisches Ende, als Ampelos während einer ungestümen Jagd von einem Stier stürzte und zu Tode getrampelt wurde. Dionysos war verzweifelt und klagte bitterlich. Daraufhin verwandelte Zeus, um seinen trauernden Sohn zu trösten, Ampelos in die erste Weinrebe:

Zusehends reiften an dem aus dem Jungen [= Ampelos]

sprossenden Weinstock die Früchte, und Bakchos pflückte sich eine.

Ohne Kelter und ohne zu stampfen, aus eigenem Wissen,

preßte der Gott aus dem Handgelenk, mit den Fingern, die Beeren,

drückte mit fest umklammernden Händen den Saft aus der Traube,

brachte ans Licht die frische Bürde der schimmernden Früchte

und entdeckte den köstlichen Trank.

(Nonn. Dion. 12, 195–201. Ü.: D. Ebener)

Dionysos brachte den Menschen den Rebstock und lehrte sie die Kunst der Weinherstellung. Die Göttin Athene unterrichtete die Frauen in der Kunst des Webens, damit sie wärmende Kleidung und kunstvolle Decken fertigen konnten. Sie schenkte den Sterblichen auch den Olivenbaum, dessen Öl als Nahrung, Medizin und Kosmetikum Verwendung fand. Demeter wurde verehrt, weil die Menschen ihr das nährende Getreide verdankten. Und von Hephaistos haben sie gelernt, Schwerter und Pflugscharen zu schmieden. Diese Göttergaben waren mehr als nur Wohltaten, die das Leben auf Erden erleichterten. Sie waren für die kulturelle Entwicklung des Menschengeschlechts von fundamentaler Bedeutung. Indem die Götter das Wissen weitergaben, wie man Werkzeuge und wärmende Kleidung herstellt oder Ertrag aus fruchtbarem Boden gewinnt, erhoben sie die Menschen auf eine neue Kulturstufe und legten die Grundlagen für das, was Zivilisation ausmacht. Sie wurden als Kulturbringer allerersten Ranges verehrt, wie aus den Worten des Homerischen Hymnus an Hephaistos ersichtlich wird:

Singe, o tönende Muse, den weisheitberühmten Hephaistos,

der auf Erden zugleich mit der augenleuchtenden Pallas [= Athene]

herrliche Werke die Menschen gelehrt. Sie lebten vor Zeiten

gleich dem wilden Getier in Klüften und Höhlen der Berge.

Nun da sie Werke gelernt vom rühmlichen Künstler Hephaistos,