Griechische Heiligtümer - Frank Zinn - E-Book

Griechische Heiligtümer E-Book

Frank Zinn

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Beschreibung

Heiligtümer haben die Welt des antiken Griechen­land geprägt. Als Mittelpunkte des religi­ösen und kulturellen Lebens besaßen sie eine enorme soziale und gesellschaftspolitische Bedeutung. Sie waren Stätten des Glaubens, aber auch Bühnen menschlicher Eitelkeiten und Interessen. Ihre Wirkungsgeschichte reicht bis in die Gegenwart. Orte wie Olympia, Delphi oder die Akropolis von Athen haben unsere Vorstellungen vom klassischen Altertum maßgeblich bestimmt und üben bis heute auf Besucher aus aller Welt eine starke An­ziehungskraft aus. In diesem mit über 100 Abbildungen und Plänen illustrierten Buch werden die antiken Kultstätten in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit und Vielschichtigkeit vorgestellt. Der Verfasser gibt einen Überblick über ihre Geschichte, Architektur und Ausstattung, er­läutert ihre vielfäl­tigen Funk­tionen und beschreibt den Ablauf der Riten.

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Inhalt

Einleitung

Griechische Heiligtümer – Formen und Funktionen

Vom heiligen Ort zum Heiligtum

Orte der Begegnung

Heiligtum und Polis

Natur und Landschaft

Finanzierung

Die Architektur griechischer Heiligtümer

Torbauten

Altäre

Tempel

Schatzhäuser

Bankett- und Gästehäuser

Weihgeschenke

Kultbilder

Priesterinnen und Priester

Prozessionen, Gebete und Opfer

Heiligtümer als Zufluchtsstätten

Die Akropolis von Athen

Das Asklepios-Heiligtum von Epidauros

Die Orakelstätte von Delphi

Die heilige Eiche von Dodona

Olympia – Kult und Spiele

Die Mysterien von Eleusis

Das Asklepieion von Kos

Anhang

Glossar

Literaturhinweise

Orts- und Personenregister

Quellennachweis

Abbildungsnachweis

Der Autor

Einleitung

Denn wahrhaftig göttlich scheint dieser Ort zu sein.

(Platon, Phaidros 238 c)

»Vom griechischen Festland springt gegen die Inseln der Kykladen und das Ägäische Meer das Vorgebirge Sunion des attischen Landes vor; und ein Hafen ist da, wenn man am Kap vorbeigefahren ist, und ein Tempel der Athena Sunias auf der Spitze des Vorgebirges.«

Mit diesen Worten beginnt Pausanias seine in der zweiten Hälfte des 2. Jhs. n. Chr. verfasste Beschreibung Griechenlands. Er hätte als Einstieg in seinen Reisebericht keinen besseren Ort wählen können als das Heiligtum auf der an drei Seiten steil ins Meer abfallenden, südöstlichen Landspitze Attikas. Die weißen Marmorsäulen, die sich in rund 60 m Höhe am Rande des Vorgebirges erheben, sind ein malerischer Anblick und eine unübersehbare Landmarke (Abb. 1). Seit zweieinhalbtausend Jahren grüßen sie die Reisenden aus nah und fern, die auf ihren Schiffen und Booten in den Saronischen Golf einfahren. Der große Tempel, der den Felsvorsprung bekrönt, war allerdings dem Poseidon geweiht und nicht der Athena, wie Pausanias meint. Die Kultstätte der Athena liegt einige hundert Meter von der des Poseidon entfernt. Hat sich der ansonsten gut informierte Autor hier geirrt oder ist die Verwechslung auf eine fehlerhafte Überlieferung des antiken Textes zurückzuführen? Letzteres dürfte wahrscheinlicher sein.

Für Pausanias war Kap Sounion nur die erste Station von vielen, zu denen ihn seine lange Reise führen sollte. Mit großer Akribie hat er die von ihm besuchten Orte beschrieben, ihre Denkmäler und Bauten benannt und genaue Angaben zu ihrer Lage gemacht, häufig ergänzt um Einschübe zur Mythologie, zur Geschichte, zu den Sitten und Gebräuchen und zu den religiösen Gepflogenheiten. Ohne sein Werk wäre unser Wissen um das antike Griechenland und seine Monumente, vor allem um seine Heiligtümer, um vieles geringer, als es heute der Fall ist.

Viele der bei Pausanias erwähnten Kultstätten sind unentdeckt geblieben und viele von ihnen werden unentdeckt bleiben. Es ist unmöglich zu sagen, wie viele Heiligtümer es einst in der griechischen Welt gegeben hat. Überall, wo Griechen lebten, errichteten sie ihren Göttern Schreine, Tempel und Altäre und verehrten sie an Quellen und in heiligen Hainen. Große und kleine Kultstätten gab es in den Städten und Dörfern, in deren näherer Umgebung oder fernab in der Wildnis. Es gab private Heiligtümer, die nur von den Mitgliedern einer Sippe aufgesucht wurden, andere dienten ganzen Bürgergemeinschaften als religiöse Zentren und einige wenige standen bei allen Griechen gleichermaßen in hohem Ansehen.

Die Erforschung griechischer Heiligtümer ist ein weites Feld, verbunden mit unterschiedlichen Fragestellungen und Herangehensweisen. Eine enge Zusammenarbeit verschiedener Fachdisziplinen wie Archäologie und Bauforschung, Alte Geschichte, Epigraphik (Inschriftenkunde) und Religionsgeschichte ist dafür unabdingbar. Bei ihrer Arbeit können die Forscher auf eine Vielzahl von Quellen zurückgreifen: materielle Hinterlassenschaften (Architekturreste, Kunstdenkmäler, die die Kultstätten einst schmückten, Gebrauchsgegenstände), Texte antiker Autoren sowie Inschriften (z. B. mit Inventarlisten oder Kultvorschriften). Unser Wissen über die antiken Heiligtümer wächst stetig und durch neue Entdeckungen und neue Forschungsansätze wird die Aufmerksamkeit immer wieder auf bislang wenig beachtete Aspekte gerichtet. Trotzdem sind unsere Kenntnisse in vielen Bereichen nach wie vor sehr lückenhaft.

Antike Kultorte wie die Akropolis von Athen, die Orakelstätte von Delphi oder der heilige Hain von Olympia prägen maßgeblich unsere Vorstellungen vom klassischen Altertum. Ihre Anziehungskraft ist ungebrochen. Jahr für Jahr locken sie ganze Heerscharen von Besuchern an, für die eine Besichtigung dieser Stätten zum Pflichtprogramm ihrer Mittelmeerreise gehört. Damit stehen sie in einer langen Tradition, denn Touristen gab es schon in der Antike. Bereits seit römischer Zeit machten sich Reisende in größerer Zahl auf den Weg, um die berühmten Stätten und Denkmäler des »alten« Griechenland zu besuchen. Wie es heute noch üblich ist, lauschten sie bei ihren Besichtigungen den Ausführungen ortsansässiger Führer oder griffen auf literarische Reisebeschreibungen, wie das Werk des Pausanias, zurück.

Abb. 1. Kap Sounion, Tempel des Poseidon.

Was Pausanias und seine Zeitgenossen von modernen Touristen grundlegend unterschied, waren ihr völlig anderer Erfahrungshorizont und die Vorraussetzungen, unter denen sie die Welt um sich herum wahrnahmen. Für die Menschen der Antike waren die ehrwürdigen Kultstätten noch Orte voller Leben, fest eingebunden in die sozialen, kulturellen und religiösen Kontexte ihrer Zeit. Diese Erfahrungen bleiben uns heute verwehrt. Was von griechischen Heiligtümern übriggeblieben ist, sind im besten Falle mal mehr, mal weniger gut erhaltene Ruinen, im schlechtesten Falle nur Fundamentreste, die ein ungeübtes Auge kaum zu erkennen vermag; des Weiteren Fundstücke, die aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen nun in den Sammlungen der Antikenmuseen zu betrachten sind. Teilrekonstruktionen, Modelle und Pläne können zwar dabei helfen, eine Vorstellung vom architektonischen Erscheinungsbild und von der Ausstattung der Sakralbezirke zu vermitteln, aber diese Vorstellung muss doch vage und inhaltsleer bleiben. Antike Heiligtümer waren weit mehr als nur die Summe ihrer Bauten und Denkmäler. Sie waren Mittelpunkte des religiösen, kulturellen und künstlerischen Lebens; ihre soziale und gesellschaftspolitische Bedeutung war enorm. Nicht wenige von ihnen entwickelten sich im Laufe der Zeit sogar zu wichtigen Wirtschafts- und Finanzzentren. Einige Kultstätten versprachen den Menschen Heilung von Krankheiten und Gebrechen, andere wurden aufgesucht, um dort göttlichen Rat einzuholen oder um sich im sportlichen oder musischen Wettkampf zu messen. In den großen und viel besuchten Heiligtümern trafen Menschen aus nah und fern zusammen. Dort tauschten sie dann Ideen und Informationen aus, und die Mächtigen nutzten die heiligen Stätten als Bühnen ihrer Eitelkeiten und Interessen.

Dieses Buch ist der Versuch, die griechischen Heiligtümer in ihrer ganzen Mannigfaltig und Vielschichtigkeit darzustellen. Die ersten Kapitel sind als Einführung und allgemeiner Überblick gedacht: Was machte einen Ort zu einem Heiligtum, welche Gemeinsamkeiten verbanden die verschiedenen Kultstätten und welche Unterschiede trennten sie? Welche Formen typischer Sakralarchitektur gab es und wie gestaltete sich der Kultbetrieb? Welche Rolle spielten die Heiligtümer im gesellschaftlichen und politischen Leben? Anschließend werden sieben bedeutende griechische Heiligtümer als Fallstudien näher vorgestellt. Die getroffene Auswahl ist zwangsläufig subjektiv und lückenhaft. Aber sie dient dem Zweck, beispielhaft einige charakteristische Besonderheiten dieser Kultorte zu beleuchten, die sich in ihrer Architektur, ihren Denkmälern und den in ihnen praktizierten Kulten widerspiegeln: das Staatsheiligtum auf der Akropolis von Athen, das Kur- und Heilzentrum von Epidauros, die Orakelstätte von Delphi, das lange im »Naturzustand« verbliebene Zeus-Orakel in Dodona, die panhellenische Wettkampfstätte von Olympia, das Mysterien-Heiligtum von Eleusis sowie das Asklepieion auf Kos als ein Beispiel für einen Heiligtumskomplex der hellenistischen Zeit.

Griechische Heiligtümer – Formen und Funktionen

Vom heiligen Ort zum Heiligtum

Der griechische Begriff für Heiligtum war hierón, was wörtlich übersetzt nichts anderes als »das Heilige« bedeutet. Es war ein unspezifischer Begriff, der außer für die Örtlichkeit auch für das Opfer, die Kultfeier oder den religiösen Brauch verwendet wurde und auf einen wie auch immer gearteten Bezug zur Sphäre des Göttlichen hindeutet. Für die Griechen war die Welt erfüllt von numinosen Mächten. Götter, Daimonen und Heroen (Sterbliche, die nach ihrem Tode göttergleiche Verehrung empfingen) waren Realitäten, die auf sämtliche Aspekte des öffentlichen und des privaten Lebens starken Einfluss ausübten. An manchen Orten in der Welt empfanden die Menschen die Präsenz des Göttlichen als besonders stark, und solche Orte waren für sie hierá, heilige Stätten. Die Griechen glaubten, diese besondere Aura der Heiligkeit sehr bewusst und intensiv verspüren, sie geradezu sinnlich erfahren zu können.

In seinem Dialog Phaidros (230 b–c) beschreibt Platon eine idyllische Szenerie. Sokrates und seine Begleiter haben sich außerhalb der Mauern Athens unter einer Platane niedergelassen. Wohlgeruch erfüllt den Ort, der Baum spendet kühlenden Schatten und in seiner Nähe fließt das erfrischende Nass einer Quelle. Mit ungewohntem Enthusiasmus lobt der bekennende Stadtmensch Sokrates die Schönheit der natürlichen Umgebung. Dass es sich hier um eine Kultstätte für den Flussgott Acheloos und die Nymphen handelt, schließt Sokrates nur aus dem Vorhandensein von Votivgaben; eine architektonische Ausgestaltung oder eine sonstige eindeutige Kennzeichnung des Sakralbezirks hat es offensichtlich nicht gegeben. Es war ihre außergewöhnliche Atmosphäre, die die Örtlichkeit heilig machte. So konnte auch ein Ortsfremder selbst ohne die geringsten Anzeichen menschlicher Aktivitäten einen Ort als hierón identifizieren. In Sophokles’ Tragödie Ödipus auf Kolonos erkennt Ödipus’ Tochter Antigone einen heiligen Hain allein an der Schönheit der unberührten Natur:

»Doch heilig ist der Ort, das spürt man gleich: er prangt

von Lorbeer, Ölbaum, Wein; ein ungezählter Chor

von Nachtigallen singt tief drinnen holden Lauts.«

In der griechischen Literatur mangelt es nicht an Hinweisen darauf, wie sehr die natürliche Umgebung das religiöse Empfinden beeinflusst. Am klarsten und eindringlichsten hat die antike Sichtweise aber wohl der römische Autor Seneca formuliert: »Kommst du in einen Hain, dicht bestanden mit alten Bäumen, die das gewöhnliche Höhenmaß überschreiten, wird dir der Anblick des Himmels entzogen durch das Gewirr mächtiger, einander verdeckender Zweige, dann wird die Erhabenheit des Waldes, das Geheimnisvolle des Ortes und das Staunen über das dichte, ununterbrochene Schattendach unter freiem Himmel in dir den Glauben an die Gottheit wachrufen. Findest du eine Grotte, die durch zerklüftete, ausgefressene Felsen den Berg bis tief hinein unterhöhlt hat, nicht von Menschenhand geschaffen, sondern durch Naturkräfte in solcher Größe ausgearbeitet, dann wird die Ahnung einer göttlichen Kraft deine Seele erfüllen. Wir verehren die Quellen großer Flüsse als heilige Stätten. Die plötzliche Entstehung eines gewaltigen Stromes, aus dem Unbekannten heraus, lässt uns Altäre gründen. Verehrung finden die heißen Quellen, und manchem stehenden Gewässer hat die schattige Lage oder die unergründliche Tiefe Weihe verliehen.«

Die genannten Beispiele machen hinreichend deutlich, wie wichtig die natürliche Umgebung war, um sich der Heiligkeit eines Ortes bewusst zu werden. Griechische Kultstätten lagen häufig in Hainen, an Quellen oder an Flussmündungen, in Grotten sowie auf markanten Anhöhen oder Berggipfeln (s. u. S. →ff.). Die intensiv wahrgenommene Gegenwart des Göttlichen in der Natur war aber nur ein Kriterium von vielen, das zur Gründung eines Heiligtums an einem bestimmten Ort führen konnte. Das »Wesen« und die Wirkungsbereiche einer Gottheit hatten auf die Lage ihrer Sakralstätten ebenfalls beträchtlichen Einfluss. Beispielsweise lagen die Kultbezirke der Athena Polias und des Zeus Polieus, der »Städtebeschützer«, innerhalb der Stadtgrenzen, Heiligtümer von Natur- und Fruchtbarkeitsgöttern wie Demeter, Pan oder Dionysos oft im fruchtbaren Umland und Hermes, der Gott der Übergänge, wurde an Wegkreuzungen und Grenzen verehrt. Eine wichtige Rolle spielten die mit einem Ort verbundenen Mythen und religiösen Traditionen. So entstanden Kultbezirke an den Begräbnisstätten von Heroen oder an Plätzen, von denen man glaubte, eine Gottheit sei einst dort erschienen oder ihr Wirken habe dort auffällige Spuren hinterlassen. Manchmal wurde der Ort einer Verehrungsstätte durch einen Orakelspruch oder durch eine andere Form göttlicher Willensbekundung vorgegeben. Bei der Ortswahl waren auch immer topographische und kultische Gegebenheiten zu berücksichtigen. Bei der Neugründung eines Heiligtums musste man stets darauf achten, Konflikte zu bestehenden Kulten zu vermeiden. Als der Kult des Heilgottes Asklepios 420 v. Chr. in Athen eingeführt wurde, stand zunächst kein geeigneter freier Platz für eine eigenständige Sakralstätte zur Verfügung. Man brachte ihn daher vorübergehend im Eleusinion, dem städtischen Heiligtum der Demeter und der Kore, unter. Bald schon zog der Gott in den Kultbezirk eines Heilheros um, bis ihm endlich sein eigenes Heiligtum am Südabhang des Akropolisfelsens zugewiesen wurde (Abb. 2). Die Inbesitznahme durch Asklepios verlief indes nicht ohne Probleme. Es kam zu einem Disput mit dem Priestergeschlecht der Keryken, der zu einer Unterbrechung der Baumaßnahmen führte. Der genaue Grund für diesen Streit ist nicht überliefert, aber wahrscheinlich hatte er damit zu tun, dass die neue Kultstätte das Pelargikon, die uralte, in besonderen Ehren gehaltene mykenische Befestigungsmauer, verletzte.

Ein Ausflug zu einem ländlichen Nymphen-Heiligtum:

»Nicht weit vom Gehöft entfernt befand sich ein Felsen, dessen Gipfel mit Lorbeerbäumen und mit Platanen dicht bewachsen war. Zu beiden Seiten standen Myrtensträucher; und wie in einer engen Umarmung breitete sich Efeu über den kahlen Stein aus und klares Quellwasser tropfte von ihm herab. Unter dem vorspringenden Felsen standen einige Bildnisse der Nymphen, und eine Statue des Pan spähte zu ihnen herüber, als wolle er die Najaden belauschen. Ihnen gegenüber errichteten wir ohne große Umstände einen Altar, legten dann Holzscheite und Opferkuchen darauf, opferten ein weißes Huhn, gossen einen Trank aus Honig und Milch darüber aus und streuten Weihrauch ins Feuer.«

(Alkiphron, Hetärenbriefe 13)

Abb. 2. Das Heiligtum des Asklepios am Südhang der Akropolis.

Wie im Falle des Asklepios im Eleusinion wurden in Heiligtümern sehr oft neben der Hauptgottheit, der der Sakralbezirk ursprünglich geweiht worden war, noch weitere Kulte gepflegt. Im Zeus-Heiligtum in Olympia standen drei große Tempel (für Zeus, Hera, Rhea/Kybele) sowie rund 70 Altäre für unterschiedliche Gottheiten bzw. ihre unterschiedlichen Funktionen.

Die Heiligkeit eines Ortes allein machte ihn noch nicht zu einem Heiligtum. Er musste erst in einem Gründungsakt der darin verehrten Gottheit geweiht und übereignet werden. Außerdem mussten die spezifischen Kultvorschriften und andere Regelungen (z. B. zu den Einnahmen) festgelegt werden. Da die griechische Religion nicht institutionalisiert und nicht hierarchisch organisiert war, konnte im Prinzip jeder als Gründer auftreten: der Staat, ein politischer Bund, eine dörfliche Gemeinschaft, eine Gruppe von Personen, die die Verehrung eines bestimmten Gottes oder Heros einte, eine Sippe oder auch eine Einzelperson.

Erster und unerlässlicher Schritt bei der Einrichtung eines Heiligtums war die Festlegung seiner Grenzen. In einem der Gründungsmythen von Olympia legte Herakles für seinen Vater Zeus am Fuße des Kronos-Hügels eine Kultstätte alleine dadurch an, dass er eine Fläche abmaß und sie von dem umliegenden Gebiet abgrenzte (Pindar, Olympische Ode 10, 45f.). Mehr war im Grunde nicht nötig, um einen Platz als Sakralbezirk zu definieren. Dieser Platz galt fortan als abgesondert von der profanen Welt, die ihn umgab. Die Griechen nannten ein solches Areal Temenos (témenos, Plural teménē, wörtlich übersetzt »das Abgeschnittene«), ein Begriff, der über seine spezielle Bedeutung hinaus ganz allgemein ein Heiligtum bezeichnen konnte. Das Temenos konnte von einer Mauer (períbolos) umgeben sein, die manchmal sogar Festungscharakter besaß, oder wurde mit Grenzsteinen (hóroi) abgesteckt; allerdings war eine sichtbare Markierung nicht zwingend notwendig. Der Kultbezirk war menschlichem Zugriff entzogen und ging in den Besitz der Gottheit über. Die Kultstätte und alles, was sich darin befand, waren somit sakrosankt; nichts durfte fortan entfernt oder bedenkenlos verändert werden.

Die Unverletzlichkeit des göttlichen Besitzes erstreckte sich auf Bauten und Gegenstände, Tiere und Pflanzen, ja sogar auf nistende Vögel und das Laub der Bäume. Auch Menschen, die im Heiligtum Zuflucht gesucht hatten, genossen göttlichen Schutz. Jeder Verstoß bedeutete ein schweres Sakrileg, das nach menschlichem und göttlichem Recht geahndet wurde. Die Androhung selbst schlimmster Strafen wirkte freilich nur bedingt abschreckend. Immer wieder sind Heiligtümer geplündert und sind die Rechte von Schutzsuchenden mit Füßen getreten worden. Nicht nur einfallende »Barbaren«, sondern auch die Griechen selbst und der griechischen Kultur nahestehende Völker haben sich solcher Sakrilege schuldig gemacht. Die Römer betrieben in den unter ihrer Kontrolle stehenden Städten und Kultstätten Griechenlands einen systematischen Kunstraub. Kaiser Nero beispielsweise soll zur Ausschmückung seiner Bauvorhaben nicht weniger als 500 Statuen aus dem delphischen Heiligtum des Apollon fortgeschafft haben (Pausanias 10, 7, 1).

Die religiösen Traditionen und Gebote waren stark und bindend. Die Weihung eines Heiligtums wurde prinzipiell als ein Akt für die Ewigkeit verstanden. Allerdings konnte aufgrund besonderer Umstände – wie gewaltsame Zerstörungen, Naturkatastophen, wirtschaftliche Notlagen, Bevölkerungsschwund, Umsiedlungen – die Kultausübung an einem Ort zum Erliegen kommen. Diese heiligen Stätten gerieten dann in Vergessenheit oder ihre Kulte wurden an anderer Stelle neu eingerichtet. Außergewöhnlich war die Verlagerung ganzer Sakralarchitekturen an einen neuen Aufstellungsort. Auf der Athener Agora, dem zentralen öffentlichen Platz der Stadt, fand man bei den Ausgrabungen Reste von Bauten, die erst im späten 1. Jh. v. Chr. von ihren ursprünglichen Aufstellungsorten im attischen Landgebiet nach Athen versetzt worden waren; darunter der Tempel des Kriegsgottes Ares, der vorher in Pallene gestanden hatte. Die Kulte waren in ihren Heimatgemeinden nicht mehr gepflegt worden und sind dann, wohl unter Einfluss der konservativen Religionspolitik des Kaisers Augustus, auf die Agora übergesiedelt worden.

Für ein Heiligtum war nicht nur die Festlegung des Temenos unverzichtbar, sondern auch das Vorhandensein eines Altars. Ohne einen Altar hätten die zentralen Kulthandlungen nicht durchgeführt werden können. An ihm wurden die vorgeschriebenen Riten – insbesondere das Opferritual – vollzogen. Altäre wurden ephemer oder dauerhaft in unterschiedlichem Format und aus unterschiedlichen Materialien errichtet (s. u. S. →ff.).

Sehr wichtig für den Betrieb eines Heiligtums war der Zugang zu frischem, sauberem Wasser. Wasser wurde nicht nur für die Sauberhaltung des heiligen Bezirks, für die Hygiene, für die Zubereitung ritueller Mähler und für die Trinkwasserversorgung des Kultpersonals und der Besucher benötigt. Es war auch für die Durchführung ritueller Handlungen (z. B. das Besprengen der Opfertiere) und für die rituelle Reinigung unverzichtbar. Reinheit war im griechischen Kultwesen von herausragender Bedeutung. Schon der frühgriechische Dichter Hesiod (Werke und Tage 723ff.) mahnte eindringlich, dass die Götter die Bitten derjenigen zurückweisen, die es versäumen, sich vor dem Opfer die Hände zu waschen. Zur Reinigung standen in den Heiligtümern u. a. steinerne Wasserbecken (perirrhantêria) zur Verfügung, die nicht selten eine beachtliche Größe hatten und aufwendige Verzierungen tragen konnten. Zu einer Verunreinigung führte vor allem der Kontakt mit Blut und mit Toten. Daher war Gebärenden und Sterbenden der Zutritt zu Heiligtümern in der Regel untersagt; aber auch der Vollzug des Liebesaktes war nicht gestattet. Wie streng diese Verbote gehandhabt wurden, veranschaulicht das Beispiel der Insel Delos. Auf dem winzigen Eiland, der Geburtsstätte des Apollon, befand sich eines der bedeutendsten Heiligtümer dieses Gottes. Einem Orakelspruch folgend wurde im 6. Jh. v. Chr. eine erste »Säuberung« durchgeführt, bei der sämtliche Gräber aus der Umgebung des Tempels entfernt wurden. Im Jahr 426/25 v. Chr. wurden die Reinheitsvorschriften nochmals drastisch verschärft und ein Bestattungs- und Geburtsverbot für ganz Delos erlassen. Von da an mussten die Toten auf der Nachbarinsel Rheneia bestattet werden, wohin man auch alle noch auf Delos befindlichen Gräber verlegte. Schwangere wurden zur Niederkunft ebenfalls nach Rheneia gebracht.

Temenos und Altar reichten aus, ein Heiligtum in seiner einfachsten Form zu konstituieren. Weitere Elemente konnten hinzutreten – z. B. Kultbilder, die rituell verehrt wurden, Tempel, andere sakrale oder profane Bauten –, aber sie alle waren verzichtbar. Die meisten griechischen Heiligtümer muss man sich wie die von Platon und Sophokles beschriebenen vorstellen: einfache kleine Kultbezirke ohne großen Glanz und ohne nennenswerte architektonische Ausgestaltung. Zu ihnen kamen nur die Menschen aus der näheren Umgebung, selten sah man dort einen Fremden. Bis auf wenige Ausnahmen sind die meisten dieser Kleinheiligtümer, die es in unüberschaubarer Zahl gegeben hat, für immer verloren, einige kennen wir wenigstens aus antiken Quellen. Wenn ein Kultort an Ausstrahlungskraft und Popularität gewann, dann musste seine Ausstattung an die veränderten Bedürfnisse angepasst werden. Zunächst errichtete man einen Schrein oder ein Tempelchen; vielleicht kamen noch Gebäude hinzu, in denen die Gläubigen gemeinsam das Opfermahl einnahmen oder die zur Aufbewahrung kostbarer Votive dienten. Diese Entwicklung konnte in vergleichsweise seltenen Fällen, wie in Olympia oder Delphi, zu riesigen Anlagen mit monumentalen Sakralbauten, weitläufigen Gebäudekomplexen und kunstvollen Weihdenkmälern führen. Manche Sakralstätten boten über den alltäglichen Kultbetrieb hinaus besondere »Dienstleistungen« an, etwa die Heilung von Krankheiten und Gebrechen oder Weissagungen, die dann spezielle Einrichtungen erforderten. Es sind gerade diese großen Kultstätten, die auf unsere Vorstellungen vom Aussehen griechischer Heiligtümer maßgeblich einwirken, aber wir dürfen doch nicht vergessen, dass sie die Ausnahme darstellen.

Orte der Begegnung

Griechische Heiligtümer waren Orte der Begegnung und des Austauschs. Das ist zum einen in einem religiösen Sinne zu verstehen. Dort traten die Menschen in Beziehung zu ihren Göttern und kommunizierten mit ihnen, indem sie Rituale wie Gebete und Opfer vollzogen und Votivgaben darreichten. Dort kamen aber auch Menschen mit anderen Menschen zusammen und nutzten dies, um miteinander in direkter und indirekter Weise zu interagierten.

An den vielen kleinen Schreinen in einer Stadt oder in den bescheidenen ländlichen Kultbezirken ging es eher beschaulich zu. Ein ganz anderes Bild bot sich den Besuchern in regional und überregional bedeutenden Heiligtümern, die von vielen Menschen aufgesucht und in denen regelmäßig große Feste gefeiert wurden. Sie waren erfüllt von prallem Leben und buntem Treiben. Mit lauter Stimme sprachen Priester und Gläubige die Gebete und die rituellen Formeln, Chöre sangen und tanzten zur Freude der Götter. Begleitet wurden die Rituale vom Klang der Aulos, der Doppelflöte (technisch gesehen eigentlich ein Rohrblattinstrument wie die Oboe). Pilger aus nah und fern unterhielten sich angeregt, Händler riefen ihre Waren aus. Die Besucher hatten ihre besten Kleider angelegt und bestaunten die kostbaren Weihgeschenke. Bronzestatuen glänzten in der Sonne, Bildwerke aus Marmor waren mit bunten Farben bemalt, ebenso die Schmuckelemente der Tempel. Der Duft von Weihrauch lag in der Luft, von Salben und Ölen, von gebratenem Fleisch, das im Anschluss an die Opferzeremonie beim gemeinsamen Mahl verspeist wurde. Aber es waren nicht nur angenehme Sinneseindrücke, die den Aufenthalt in einem Heiligtum begleiteten. Da waren auch das Brüllen, Grunzen und Blöcken der Opfertiere und ihr Blut, das die Altäre bedeckte. Die Schweißausdünstungen von Mensch und Tier vermischten sich mit dem Gestank der Exkremente, die den Boden verschmutzten. Und all das lockte die lästigen Fliegen an, die sich an diesen Orten im Paradies wähnten. Kein Wunder, dass es in Olympia einen Altar gab, der dem Zeus Apomyios, dem »Fliegenabwehrer« geweiht war.

Je größer und populärer ein Heiligtum war, desto bunter und vielfältiger waren die Aktivitäten, die man dort beobachten konnte. Unter die Gläubigen und Pilger mischten sich die Händler, die Erfrischungen oder kleine Votivgaben feilboten. An besonderen Feiertagen erstaunten manchmal Schausteller die Besucher mit ihren Künsten. Sportliche Wettkämpfe und Theateraufführungen lockten die Massen an. Fremde wurden zu Gastfreunden, Nachbarn und Bekannte tauschten Neuigkeiten aus. Öffentliche Angelegenheiten wurden eifrig diskutiert, einträgliche Geschäfte abgewickelt, Eheschließungen arrangiert, Streitereien beigelegt oder entfacht.

Heiligtümer waren wichtige kulturelle Zentren und Drehscheiben bei der Vermittlung künstlerischer, gesellschaftlicher und intellektueller Ideen. Die Werke von Bildhauern, Toreuten und Malern schmückten die Kultstätten, Dichter lasen aus ihren Werken vor, Philosophen lehrten ihre Thesen und Reisende erzählten von ihren Erfahrungen und Eindrücken. All dies geschah vor einem großen Publikum, und wenn die Menschen danach wieder in ihre Dörfer und Städte zurückkehrten, trugen sie das Gesehene und Gehörte in ihrem Gepäck. Künstler und Intellektuelle lernten neue Stilrichtungen und Ideen kennen, griffen diese Anregungen auf, verbreiteten sie oder nutzten sie als Grundlage, um ihrerseits Neues zu schaffen. Diese Anregungen kamen nicht nur aus der griechischen Welt, sondern auch aus Ägypten, Mesopotamien und dem Vorderen Orient. Heute besteht kein Zweifel mehr daran, dass fremdländische, orientalische Einflüsse bei der Genese der hellenischen Kunst und Kultur von großer Bedeutung waren. Den griechischen Heiligtümern fiel bei ihrer Vermittlung eine entscheidende Rolle zu.

Die Griechen liebten es, sich auf unterschiedlichsten Gebieten zu messen und miteinander zu konkurrieren. Dieser Leidenschaft gingen sie auch an religiösen Festtagen nach, indem sie zu Ehren der Götter – und natürlich auch zum Vergnügen der Feiernden – Agone (Wettkämpfe) veranstalteten. Die Sieger dieser Agone ernteten Ruhm, und ihre Heimatorte verwiesen voller Stolz auf die Leistungen ihrer Söhne und Töchter. Es gab sportliche und musische Wettbewerbe: Ringer und Läufer maßen ihre Kräfte, spektakuläre Wagen- und Pferderennen begeisterten die Zuschauer; in den Theatern kürte man die besten Tragödien- und Komödiendichter; Sänger und Musikanten, Knaben- und Mädchenchöre wetteiferten um die Siegespreise und auch Schönheitswettbewerbe wurden durchgeführt.

Ein Wettbewerb der anderen Art war das Buhlen um gesellschaftliches und politisches Prestige. Heiligtümer waren viel besuchte Orte und eigneten sich daher bestens als Schauplätze für politische Bekundungen und zur repräsentativen Selbstdarstellung. Ob Staaten, politische Machthaber, Aristokratengeschlechter oder ambitionierte Einzelpersonen, sie alle nutzten diese öffentliche Bühne. Sie stifteten teure Weihgeschenke und veranstalteten spektakuläre Zeremonien, um Macht, Einfluss und Reichtum zu demonstrieren. Der reiche athenische Feldherr und Politiker Nikias liefert ein gutes Beispiel für diese Form der repräsentativen Inszenierung von Frömmigkeit. Er leitete und finanzierte 417 v. Chr. die Festgesandtschaft, die alle vier Jahre von Athen nach Delos reiste, um dort an den Delia, den Feierlichkeiten zu Ehren des Apollon, teilzunehmen. Dabei legte er eine außergewöhnliche Großzügigkeit an den Tag:

»Auch was er [Nikias] auf Delos tat, wird als glänzende, der Gottheit würdige Leistung seines Ehrgeizes berichtet. […] Er hatte ein in Athen genau nach Maßen angefertigtes, mit Vergoldungen, Bemalungen, Kränzen und Teppichen prächtig geschmücktes Floß mitgebracht, ließ mit ihm während der Nacht den schmalen Sund zwischen Rheneia und Delos überbrücken und führte dann am Morgen den Festzug für den Gott und den Chor herrlich geschmückt und singend über die Brücke nach Delos hinüber. Nach dem Opfer, dem Wettgesang und der Festmahlzeit stellte er den bronzenen Palmbaum als Weihgabe für den Gott auf und kaufte und stiftete ein Grundstück für zehntausend Drachmen, aus dessen Erträgen die Delier regelmäßig Opfermahle bereiten und dabei viel Glück für Nikias von den Göttern erflehen sollten.«

So berichtet der kaiserzeitliche Biograph Plutarch (Nikias 3, 4–6) von den Ereignissen. Anschließend (Nikias 4, 1) äußert er sich auch zu den Motiven für diese kostspieligen Aufwendungen. Es sei zwar nicht zu leugnen, dass dabei das ehrgeizige Bestreben, sich einen Namen zu machen und Beliebtheit bei der Menge zu erwerben, in starkem Maße mitgesprochen habe. Aber Nikias’ ganzer Charakter lasse vermuten, dass diese Prachtentfaltung auch eine Folgeerscheinung seiner ausgeprägten Gottesfurcht gewesen sei. Geltungssucht und ehrliche Frömmigkeit bildeten als Motivation für eine Stiftung keine unüberbrückbaren Gegensätze, auch wenn die Gewichtung von Fall zu Fall unterschiedlich war. Die Zeitgenossen verstanden die Botschaften sehr gut, die mit der Demonstration von Macht und Reichtum auf heiligem Boden verbunden waren, aber in ihren Augen waren solche großzügigen Stiftungen auch Beweise religiöser Ehrerbietung, mit denen die Reichen und Mächtigen den Göttern in angemessener Weise das darbrachten, was ihnen zustand.

Heiligtum und Polis

Die Griechen kannten keine Trennung von Staat und Religion. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass ihnen die Vorstellung von einem säkularen Staatswesen geradezu absurd vorgekommen wäre. Die gemeinschaftliche Kultausübung in den Heiligtümern spielte in ihrem sozialen und politischen Miteinander eine herausragende Rolle. Sie war einer der Grundbausteine des griechischen Staatswesens, dessen charakteristische politische Organisationsform der kleine, unabhängige Stadtstaat (griech.: pólis, Plur. póleis) war. Es ist daher alles andere als ein Zufall, dass die beginnende Monumentalisierung der Heiligtümer und die Entstehung und Konsolidierung des Poliswesens zeitgleich im 8. und 7. Jh. v. Chr. erfolgten.

Für den um die Zeitenwende lebenden Geographen Strabon waren Kult- und Bürgergemeinschaft nichts anderes als zwei Seiten einer Medaille: »Die Verehrung gemeinsamer Heiligtümer hat dieselbe Absicht wie die Gründung von Städten. Denn die Menschen haben sich dadurch, dass sie von Natur Gemeinschaftswesen sind, und gleichzeitig wegen des gegenseitigen Nutzens zu Städten und Nationen zusammengeschlossen, und aus denselben Gründen sind sie auch zu gemeinsamen Heiligtümern gekommen, wo sie Feiern und Feste begingen: Denn alles derartige, angefangen bei den Tischgenossen, Spendegenossen und Hausgenossen, gehört zur Freundschaft; und in je größerer Zahl und aus je mehr Orten die Leute kamen, für um so größer hielt man auch den Nutzen.«

Der Staat nutzte die öffentlichen Kultstätten als Plattformen, um die Bürger zu informieren, aber auch zu manipulieren. Bauten und Denkmäler waren die Träger mehr oder weniger subtiler Botschaften ideologischen und politischen Inhalts; und über Dekrete und Gesetze informierten Inschriften auf Tempelmauern und Stelen. So konnten sie von jedermann zur Kenntnis genommen werden und zugleich wurde ihre Verbindlichkeit unter göttlichen Schutz gestellt.

Die Teilnahme an religiösen Ritualen hatte für alle – waren sie nun Mitglieder einer Familie, einer Kultgemeinschaft oder Bürger einer Polis – eine den Zusammenhalt der Gruppe stärkende und identitätsstiftende Funktion. Die gemeinschaftliche Verehrung der gleichen Götter oder Heroen nach uralten Bräuchen gab Orientierung, verortete die Menschen und umschloss sie mit einem Band aus geteilten Ideen und Werten. Auf einem Weihrelief aus dem Artemis-Heiligtum in Brauron (Abb. 3) nähert sich eine Familie der in ihrer Kultstätte sitzenden Göttin, um ihr eine Ziege zu opfern. Die Gruppe der Gläubigen umfasst die Männer, Frauen und Kinder der Familie, und auch die Diener nehmen an der kleinen Opferprozession teil. Durch die Aufstellung des Weihreliefs zeigt sich die ganze Hausgemeinschaft (oíkos) als Einheit, demonstriert ihre Frömmigkeit und stellt sich geschlossen unter den Schutz der Göttin.

Abb. 3. Weihrelief, um 350 v. Chr.; Brauron, Archäologisches Museum.

Eine besondere Bedeutung kam dem Ritual bei der Sozialisation junger Mitglieder der Gemeinschaft zu. Durch ihre Beteiligung an den religiösen Handlungen wurden sie mit den gemeinschaftlichen Kulttraditionen und Leitvorstellungen vertraut gemacht und so auf ihre Rolle als vollwertige Mitglieder der Gruppe vorbereitet. Der Initiation diente auch der Aufenthalt junger Mädchen und Knaben in Heiligtümern, wo sie für einen begrenzten Zeitraum der Gottheit dienten. Beispiele sind die Arrephoren auf der Athener Akropolis (s. u. S. →) oder die die Arktoi (Bärinnen) im Artemis-Heiligtum in Brauron.

In den Händen der Götter lag nicht nur das Schicksal des Einzelnen, einer Hausgemeinschaft oder eines Geschlechterverbands, sondern auch das der ganzen Bürgerschaft. Durch Akte der Frömmigkeit, d. h. durch den Vollzug althergebrachter Rituale wie Festzüge, Gebete, Tänze und vor allem Opfer, versuchte man, die Gottheit zu erfreuen und sich ihr Wohlwollen zu sichern. Wer an öffentlichen Kulthandlungen im Rahmen staatlicher Feste teilnahm, legte in erster Linie kein religiöses Bekenntnis ab, sondern bekannte sich zu seinen Verpflichtungen als Polisbürger. Wer sich dagegen der öffentlichen Kultausübung entzog, frevelte nicht nur gegen die Götter, sondern bedrohte auch familiäre und staatliche Strukturen. Für Gruppen wie die Pythagoreer, deren Lehre von ihren Anhängern einen strengen Vegetarismus forderte und sie damit von den öffentlichen Opfermählern strenggenommen ausschloss, barg dies erhebliches Konfliktpotenzial.

Die Teilnahme an den offiziellen Kulten war aber nicht nur eine Bürgerpflicht, sie war auf der anderen Seite auch ein Bürgerrecht, das die Vollbürgerschaft in einer Polis mitdefinierte. Nichtbürger, wie Zugezogene oder Sklaven, waren von vielen Poliskulten ausgeschlossen. Aber auch Vollbürger konnten dieses Recht unter Umständen verlieren. Bestimmte schwerwiegende Vergehen (z. B. Fahnenflucht oder Tötungsdelikte) konnten dazu führen, dass der Beschuldigte zumindest zeitweise an Opferhandlungen nicht teilnehmen durfte und aus den Heiligtümern verbannt wurde.

Öffentliche Heiligtümer waren für die Bürger einer Polis Erinnerungsorte. Die Gläubigen, die ein Polisheiligtum betraten, wurden umfangen von einem fein gewebten Netz aus gemeinschaftsstiftenden Traditionen, die ihnen fortwährend ins Gedächtnis gerufen wurden: Die immer gleichbleibenden Rituale wurden seit vielen Generationen streng nach überlieferten Vorschriften vollzogen, Weihgeschenke und im Namen der Polis errichtete Bauten zeugten von der Frömmigkeit der Stadt und ihrer Bürger, in den Hymnen und Gesängen wurde an gemeinsame Werte und an die gemeinsame heroisch-mythische Vergangenheit erinnert, der Skulpturenschmuck der Tempel schließlich perpetuierte diese Erinnerungen.

Das enge Band zwischen Staat und Religion führte dazu, dass die Poleis im Rahmen ihrer Möglichkeiten Sorge für die öffentlichen Heiligtümer trugen, die auf ihren Territorien lagen. Sie schmückten die heiligen Bezirke mit Weihgeschenken, führten Baumaßnahmen und Instandhaltungsarbeiten durch, stellten Opfertiere zur Verfügung, entlohnten das Kultpersonal und boten Sicherheit. Die Bereitschaft, die heiligen Orte notfalls unter Einsatz des Lebens vor Bedrohungen zu schützen, gehörte zu den selbstverständlichen Pflichten der wehrfähigen Bürger.

In den letzten Jahrzehnten geriet die hier nur grob umrissene gesellschaftspolitische und soziokulturelle Funktion griechischer Heiligtümer verstärkt ins Blickfeld der Forschung. Beachtung fand dabei auch die Situierung der Heiligtümer innerhalb der Polisterritorien. Die Poleis, die »Stadtstaaten«, bestanden in der Regel aus einem städtischen Zentrum (ásty) und dem zumeist landwirtschaftlich genutzten Umland (chôra). Sakrale Bezirke befanden sich im gesamten Territorium, sowohl innerhalb der Stadtgrenzen als auch im Umland, oft auch an den äußersten Grenzen des Polisgebiets. Anhand ihrer Lage und Funktion lassen sich folgende Kategorien unterscheiden:

Urbane Heiligtümer: Sie lagen an zentralen, hervorgehobenen Stellen innerhalb der Stadtgrenzen, manchmal die Stadt überragend auf einem Hügel. Als Beispiel seien die Tempel auf der Akropolis von Athen (Abb. 35) erwähnt, die noch heute das Stadtbild prägen. Die Gottheiten in diesen Heiligtümern schützten die Stadt und und sorgten sich um die öffentlichen Angelegenheiten wie Verwaltung, Kult, Gesetzgebung oder Handel. Die urbanen Heiligtümer waren zentrale Orte des öffentlichen Kultes und von großer Bedeutung für den sozialen Zusammenhalt der Bürger. Hier kam die Bürgerschaft zusammen, um die Götter gemeinschaftlich zu verehren und sich ihres Wohlwollens zu versichern. Durch die Verehrung der gleichen Götter sahen sie sich geeint und geschützt. Die kostbaren Weihgeschenke und prächtigen Bauten verliehen den Heiligtümern ein hohes Prestige und kündeten von Macht und Reichtum der Polis sowie von der Frömmigkeit ihrer Bewohner. Sie erfüllten die Polisbürger mit Stolz und richteten zugleich eine klare Botschaft an auswärtige Besucher, seien es nun andere Griechen oder Barbaren.

Suburbane Heiligtümer: Unter diese Kategorie fallen Heiligtümer, die unmittelbar an der Stadtgrenze oder nur eine kurze Wegstrecke davon entfernt lagen. Aus Athen sind als Beispiele der rund ein Kilometer nordwestlich der Stadtmauer gelegene Kultbezirk des Heros Akademos und das östlich der Stadt gelegene Heiligtum des Apollon Lykeios zu nennen. Beide waren bequem zu Fuß zu erreichen und luden – wenn man Platon (Lysis, 203 a) Glauben schenken will – auch Sokrates zu Spaziergängen ein: »Ich ging von der Akademie geradewegs zum Lykeion, auf dem Weg, der außerhalb der Stadtmauer unmittelbar an ihr entlang führt.« Suburbane Heiligtümer hatten einen ausgeprägten Schwellencharakter. Sie markierten und schützten den Übergang vom Stadtgebiet zum ländlichen Raum, ggf. zur Wildnis. Zwischen der Stadtgrenze und den außerhalb gelegenen Bestattungsarealen platziert, standen sie auch für den Übergang zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten.

Extraurbane Heiligtümer: Sie lagen weit außerhalb der Stadtgrenzen, aber noch innerhalb des Territoriums der Polis. Beispiele sind das zu Athen gehörige Poseidon-Heiligtum bei Kap Sounion (Abb. 1) oder das Heiligtum des gleichen Gottes am Isthmus von Korinth. Als »staatliche« Sakralbauten markierten sie nach außen gerichtet die Grenzen des Staatsgebiets und bekräftigten die Besitzrechte der jeweiligen Polis, nach innen gerichtet betonten sie die Einheit von Stadt und Land. Sie waren regionale Zentren des offiziellen Kults und banden so die Landbevölkerung in die Kultgemeinschaft aller Bürger ein. Besonders offensichtlich wurde diese Bindung, wenn an hohen Festtagen Prozessionen mit feierlichem Prunk von der Stadt in die entfernten Heiligtümer oder von den Heiligtümern in die Stadt zogen.

Ländliche Heiligtümer: Im Umland der Städte gab es zahlreiche Kultstätten, die nicht für die Gesamtheit der Polis, wohl aber für die dort ansässige Landbevölkerung von Bedeutung waren. Sie waren zumeist klein und bescheiden ausgestattet, häufig ohne jede architektonische Ausgestaltung. In ihnen wurden Götter und Heroen verehrt, an die sich die Landbevölkerung, die Bauern, Hirten und ihre Familien, mit ihren speziellen Sorgen und Bedürfnissen, wie die Bitten um Fruchtbarkeit oder um Schutz vor wilden Tieren und Unwettern, wenden konnten. Für das Gemeinschaftsleben waren diese kleinen ländlichen Heiligtümer nicht minder wichtig als die großen Polis-Heiligtümer. Hier kamen die Menschen zusammen, die sonst ihre Felder bearbeiteten und ihre Herden hüteten, um gemeinsam Feste zu feiern, ihren Göttern zu opfern, miteinander zu reden, Vereinbarungen zu treffen und Waren zu tauschen.

In solchen ländlichen Heiligtümern wurden häufig Gottheiten des Ackerbaus und der Fruchtbarkeit wie Demeter und Dionysos verehrt.

Abb. 4. Heiligtümer und Bestattungsstätten in Paestum und Umgebung.

Die Verteilung urbaner, sub- und extraurbaner sowie ländlicher Heiligtümer innerhalb eines Polisterritoriums lässt sich sehr gut am Beispiel von Poseidonia/Paestum nachvollziehen (Abb. 4). Das rund 80 km südlich von Neapel gelegene Poseidonia wurde um 600 v. Chr. von Kolonisten gegründet. Das Stadtzentrum mit der Agora wurde von zwei unmittelbar angrenzenden urbanen Heiligtümern regelrecht umklammert: im Norden, auf dem höchsten Punkt der Stadt, vom Tempelbezirk der Athena, im Süden vom Hera-Heiligtum mit seinen zwei Tempeln (Abb. 5). Außerhalb der Stadtmauern lagen zahlreiche Bestattungsareale sowie suburbane Heiligtümer, die Poseidonia wie ein enger Gürtel umschlossen. Kultbezirke befanden sich u. a. nahe dem modernen Bahnhof, bei Torre di Paestum und bei Santa Venera. Zwei extraurbane Heiligtümer markierten die nördliche und südliche Grenze des Polisgebiets. Im Norden, in rund 8 km Entfernung von der Stadt, lag ein Hera-Heiligtum nahe der Mündung des Flusses Sele; ein anderes Heiligtum, möglicherweise dem Poseidon geweiht, konnte im Süden, beim Hafenstädtchen Agropoli nachgewiesen werden. Es lag wie das Poseidon-Heiligtum von Kap Sounion auf einer die Küste überragenden Anhöhe. Eine Reihe von ländlichen Heiligtümern war im fruchtbaren, agrarisch genutzten Umland von Poseidonia verteilt, z. B. bei Capaccio, Getsemani und Albanella.

Abb. 5. Paestum, Hera-Tempel I und II.

In manchen Fällen wurde ein Heiligtum von mehreren Poleis als gemeinsamer zentraler Kultort angesehen. Das sog. Panionion, das Zentralheiligtum des Ionischen Bundes, eines Zusammenschlusses von zwölf Städten an der kleinasiatischen Westküste, lag auf der Mykale, einer gebirgigen Halbinsel gegenüber der Insel Samos. Dort feierten die Bündnisstädte nicht nur das Fest der Panionia mit Stieropfern für Poseidon Helikonios, sondern kamen auch zu politischen Beratungen zusammen. Ein weiteres Beispiel ist das Heiligtum des Aitolischen Bundes in Kalydon im westlichen Mittelgriechenland.

Von allergrößter religiöser und kultureller Bedeutung für das gesamte Griechentum waren die sogenannten panhellenischen Heiligtümer wie Delphi oder Olympia. Obwohl sie unter der administrativen Kontrolle der nächstgelegenen Polis bzw. eines aus mehreren Poleis gebildeten Schutzverbandes standen, wahrten sie doch ein hohes Maß an Neutralität. Dort trafen Menschen aus allen Teilen der griechischen Welt zusammen, aber auch viele Nichtgriechen fanden den Weg dorthin. Die panhellenischen Heiligtümer wurden dadurch zu Orten des intellektuellen und künstlerischen Austauschs, des Kräftemessens in sportlichen und musischen Agonen sowie der politischen Interaktion. Sie boten den miteinander konkurrierenden Stadtstaaten ideale Gelegenheiten, die eigene Größe mit prestigeträchtigen Weihgeschenken und großzügigen Stiftungen zur Schau zu stellen – und dadurch gleichzeitig die Heiligtümer mit Kunstwerken und Bauten reich zu schmücken. Die rivalisierenden Mächte lieferten sich einen regelrechten »Denkmälerkrieg«, die den panhellenischen Heiligtümern einen musealen Charakter verliehen. Beeindruckende Schatzhäuser, Weihungen erbeuteter Waffen, vielsagende Stifterinschriften u. a. kündeten vom Aufstieg, der Größe, aber auch vom Fall so mancher Polis.

Natur und Landschaft

Viele griechische Heiligtümer sind eingebettet in atemberaubenden Naturkulissen. Erwähnt seien nur die majestätisch über dem Meer thronenden Kultbezirke von Kap Sounion (Abb. 1) und Lindos (Abb. 107) oder an die Orakelstätte von Delphi (Abb. 62), die sich an die steilen Wände der Phädriaden schmiegt. Aber die Natur bot den heiligen Stätten mehr als nur eine Bühne, sie war auch ein wichtiger Faktor bei ihrer Entstehung und Ausgestaltung sowie in der rituellen Praxis.

Landschaftliche Elemente waren entweder in Heiligtumsanlagen integriert oder dienten alleine für sich als Kultstätten. Von der besonderen Heiligkeit, die der natürlichen Umgebung nach antikem Empfinden innewohnen konnte, wurde bereits gesprochen (s. o. S. →f.). Schon eine einzelne Quelle oder ein einzelner Baum konnte ein Heiligtum in seiner einfachsten Form bilden. Solche bescheidenen, unbebauten Sakralbezirke, die es in unüberschaubarer Zahl gegeben haben muss, sind archäologisch nur durch glückliche Umstände nachweisbar. In Penteskouphia bei Korinth fand man bereits im 19. Jahrhundert die Fragmente von über eintausend Votivtäfelchen (Abb. 25); viele von ihnen haben runde Löcher zum Durchziehen einer Schnur, um sie an den Ästen von Bäumen zu befestigen. Da sich in der Umgebung keine architektonischen Reste nachweisen ließen, muss man sich die Sakralstätte als naturbelassenen Hain vorstellen, der nach Ausweis der Votivdarstellungen dem Poseidon und seiner Gattin Amphitrite geweiht war.

Was die Menschen bewog, an bestimmten Naturorten eine göttliche Manifestation intensiver wahrzunehmen als an anderen, bleibt uns zumeist verborgen. Auffällige Landschaftsformationen konnten einem Ort eine besondere Weihe verleihen, vielleicht glaubte man auch, er sei Schauplatz einer göttlichen Erscheinung (Epiphanie) gewesen, oder man sah dort ein Mal machtvollen göttlichen Wirkens (Kratophanie), wie die Salzquelle auf der Athener Akropolis, die Poseidon sprudeln ließ, indem er seinen Dreizack in den Felsboden rammte. Manche Stellen waren in besonders starker Weise mit dem Wesen einer Gottheit oder mit transzendentalen Erfahrungen verbunden.

Der Wolkensammler Zeus wurde häufig auf Berggipfeln verehrt, wie auf dem Hymettos in Attika, dem Oros auf Ägina oder dem Lykaion in Arkadien. Wer schon einmal die unbändige Gewalt eines Gewittersturms im Gebirge erlebt hat, wird nicht lange nach Gründen suchen müssen, warum man diese Orte für den Kult des mächtigen Himmels- und Wettergottes als besonders angemessen erachtete. Für den Naturgott Pan und die Nymphen erschienen dagegen Grotten, wie die Höhle des Pan an der Nordseite der Akropolis in Athen (Abb. 6), als Kultorte passend. Die sich tief in den Fels bohrenden Grotten wurden häufig als Pforten des Hades angesehen, als Übergangspunkte zwischen Ober- und Unterwelt. Zwei der berühmtesten dieser »Hades-Grotten« befanden sich in den Heiligtümern des Poseidon Tainarios in Lakonien und der Demeter in Eleusis (Abb. 100). Als Schwelle zwischen dem Reich der Lebenden und dem der Toten spielten Erdspalten, Grotten bzw. – diese imitierend – künstlich angelegte unterirdische Gewölbe eine wichtige Rolle im Orakelwesen, vor allem bei der Durchführung von Totenorakeln (z. B. das Nekromanteion am Acheron in Epirus), bei denen die Gläubigen hofften, hilfreichen Rat von den Verstorbenen zu erhalten.

Eine Verbindung zur Unterwelt stellen auch Quellen und Flüsse her, schließlich entspringen sie aus den Tiefen der Erde. Bezeichnenderweise mussten nach verbreiteter Vorstellung die Toten erst den Fluss Acheron überqueren, um in das Reich des Hades zu gelangen. Überhaupt hatten fließende Gewässer einen Übergangscharakter; oft markierten sie die Grenze einer Landschaft oder eines Polisterritoriums. Im Gegensatz zu anderen Landschaftselementen wie Grotten oder Bäumen konnten Quellen und Flüsse personifiziert und kultisch verehrt werden, was ihnen im religiösen Kontext besonderes Gewicht verlieh. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass das Vorhandensein von Wasser aus praktischen und rituellen Gründen in allen Heiligtümern unverzichtbar war. Das galt insbesondere für Heil- und Orakelkulte. In Orakel-Heiligtümern waren die vorhandenen Quellen fest in die mantische Praxis integriert. Die weissagende Pythia im Orakel-Heiligtum von Delphi reinigte sich mit dem Wasser aus der heiligen Quelle der Kastalia (Abb. 68) und in Didyma sprach die Priesterin ihre Orakel über einer Quelle sitzend. In den Heilheroen und Heilgöttern geweihten Kurstätten wurde Wasser nicht nur für die symbolhafte Reinigung, sondern auch für die den Genesungsprozess unterstützende Hygiene und für therapeutische Anwendungen benötigt.

Abb. 6. Grotte des Pan. Athen, Akropolis-Nordhang.

Angesichts der oftmals kargen Umgebung, in der sich die Überreste griechischer Heiligtümer heutigen Besuchern präsentieren, mag es überraschen, dass in ihrem ursprünglichen Zustand eine üppige Vegetation fester Bestandteil dieser Stätten war und ihr Erscheinungsbild prägte. Haine (álsē, Sing.: álsos), also Waldstücke mit sakraler Nutzung, strahlten eine besondere Heiligkeit aus und bildeten für sich alleine oder eingebunden in größere Kultbezirke einen sakralen Raum. Sie waren so eng mit der antiken Vorstellung von einer Kultstätte verbunden, dass der Begriff álsos stellvertretend für das gesamte Heiligtum stehen konnte – auch dann, wenn der eigentliche Hain nur Teil einer größeren Anlage war. Wo eine natürliche Vegetation fehlte, konnte diese künstlich angelegt werden, um die Heiligkeit des Ortes zu betonen. Beim Tempel des Hephaistos in Athen (Abb. 7) hat man bei Grabungen Pflanzlöcher mit großen Kübeln aus Terrakotta gefunden. In ihnen waren wohl Sträucher gepflanzt, die den Tempel an der Westseite in drei, an der Nord- und Südseite in zwei Reihen umfassten. Die heutige Bepflanzung soll einen Eindruck von der verlorenen antiken »Parkgestaltung« vermitteln.

Abb. 7. Hephaistos-Tempel, Athen.

Abb. 8. Der heilige Olivenbaum der Athena. Athen, Akropolis.

Nicht nur ganze Haine, sondern auch einzelne Bäume konnten in einem sakralen Kontext stehen. Etwa der Lorbeerbaum im Tempel des Apollon in Delphi oder die heilige Eiche im Zeus-Heiligtum im nordgriechischen Dodona, eine der wichtigsten Orakel-Stätten der griechischen Welt (Abb. 79). Das Orakel sprach dort durch das Rauschen der Eichenblätter und durch das Gurren der Tauben. Ein weiteres berühmtes Beispiel ist der Olivenbaum auf der Athener Akropolis (Abb. 8). Er war ein Geschenk der Athena, durch das sie sich im Wettstreit mit Poseidon die Herrschaft über Attika gesichert hatte.

Ein Hain oder auch nur ein einzelner heiliger Baum gehörte selbstverständlich der Gottheit, und so war es streng verboten, Tiere im Sakralbezirk weiden zu lassen oder gar in ihm Holz zu fällen. Derartige Vergehen wurden streng bestraft. Ein Beschluss über den Schutz der Bäume im Heiligtum des Apollon Erithaseos in Attika legte fest, dass das Abholzen der Bäume – und ebenso das Entfernen von Zweigen oder Laub(!) – bei einem Sklaven mit fünfzig Peitschenhieben, bei einem Freien mit einem Bußgeld von fünfzig Drachmen zu bestrafen sei. Weiterhin sollten die Schuldigen dem zuständigen Beamten überstellt werden (IG II2 1362). Auch der Mythos vom Frevel des Erysichthon handelt von der Unantastbarkeit heiliger Bäume. Einst, so erzählt die Legende, pflanzten die Pelasger der Demeter einen großen Hain:

»Fichten und Birnbäume wuchsen darinnen und riesige Ulmen, prächtige Süßäpfel auch; aus den Gräben sprudelte Wasser, glänzend wie Silber.«

So beschreibt Kallimachos die üppige Vegetation an diesem heiligen Ort. Dann aber rückte Erysichthon mit zwanzig Dienern an, alle mit Äxten bewaffnet, um eine gewaltige Schwarzpappel zu fällen. Aus ihrem Holz wollte er sich ein Haus errichten, in dem er mit seinen Gefährten nach Herzenslust schmausen konnte. Zunächst versuchte Demeter in Gestalt einer Priesterin den Jüngling mit beschwichtigenden Worten von seinem Vorhaben abzubringen. Als sich dieser aber uneinsichtig zeigte, offenbarte Demeter ihre wahre, göttliche Gestalt und strafte Erysichthon mit furchtbaren Qualen. Fortan sollte er auf ewig niemals stillbaren Heißhunger verspüren.