Wir sind keine Waisenkinder mehr - Silva Werneburg - E-Book

Wir sind keine Waisenkinder mehr E-Book

Silva Werneburg

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Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. »Das klappt ja schon ganz prima, Alina. Jetzt kannst du den Schneepflug beinahe so gut wie dein großer Bruder«, meinte die junge Kinderbetreuerin und nickte dem siebenjährigen Mädchen lächelnd zu. Alina stand auf ihren kurzen Skiern und lächelte zurück. Aus ihren blauen Augen leuchtete der kindliche Stolz. Alex, der zehn Jahre alte Bruder des Mädchens, kam nun auch den seichten Hügel heruntergefahren und hielt neben seiner Schwester an. »Das war wirklich nicht schlecht. Es hat sich also gelohnt, daß du den Schneepflug immer wieder geübt hast. Dabei hast du gestern noch geglaubt, daß du es nie schaffen wirst.« »Ja, gestern. Aber heute habe ich es geglaubt, und deshalb hat es auch geklappt.« »Und was machen wir jetzt?« zusammengebundenen blonden Haare geschüttelt hatte. Eva Allmann dachte kurz nach. »Ich schlag vor, daß wir jetzt einen Schneemann bauen, und zwar den größten, den dieser Ort jemals gesehen hat.« Kaum hatte sie ausgesprochen, schnallten die Kinder sich auch schon die Skier ab und waren bereit, einen Schneemann von gigantischer Größe zu bauen. Die junge Kinderbetreuerin hatte an diesem Tag vier Kinder im Alter von sieben bis elf Jahren unter ihre Aufsicht genommen. Es handelte sich um Sprößlinge von Gästen des Hotels, in dem sie angestellt war. Es kam mitunter vor, daß Eltern etwas ohne ihre Kinder unternehmen wollten, und bei Eva Allmann wußten sie ihren Nachwuchs in den besten Händen. Das Arztehepaar Andreas und Heike Wendrich hatte für diesen Tag eine Skiwanderung geplant, die etwa acht Stunden dauern sollte.

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Mami – 2011 –

Wir sind keine Waisenkinder mehr

Alina und Alex sind wieder froh

Silva Werneburg

»Das klappt ja schon ganz prima, Alina. Jetzt kannst du den Schneepflug beinahe so gut wie dein großer Bruder«, meinte die junge Kinderbetreuerin und nickte dem siebenjährigen Mädchen lächelnd zu. Alina stand auf ihren kurzen Skiern und lächelte zurück. Aus ihren blauen Augen leuchtete der kindliche Stolz. Alex, der zehn Jahre alte Bruder des Mädchens, kam nun auch den seichten Hügel heruntergefahren und hielt neben seiner Schwester an.

»Das war wirklich nicht schlecht. Es hat sich also gelohnt, daß du den Schneepflug immer wieder geübt hast. Dabei hast du gestern noch geglaubt, daß du es nie schaffen wirst.«

»Ja, gestern. Aber heute habe ich es geglaubt, und deshalb hat es auch geklappt.«

»Und was machen wir jetzt?« fragte Alina die Kinderbetreuerin, nachdem sie die Kapuze ihres bunten Schneeanzuges abgezogen und ihre zu einem Pferdeschwanz

zusammengebundenen blonden Haare geschüttelt hatte.

Eva Allmann dachte kurz nach. »Ich schlag vor, daß wir jetzt einen Schneemann bauen, und zwar den größten, den dieser Ort jemals gesehen hat.«

Kaum hatte sie ausgesprochen, schnallten die Kinder sich auch schon die Skier ab und waren bereit, einen Schneemann von gigantischer Größe zu bauen.

Die junge Kinderbetreuerin hatte an diesem Tag vier Kinder im Alter von sieben bis elf Jahren unter ihre Aufsicht genommen. Es handelte sich um Sprößlinge von Gästen des Hotels, in dem sie angestellt war. Es kam mitunter vor, daß Eltern etwas ohne ihre Kinder unternehmen wollten, und bei Eva Allmann wußten sie ihren Nachwuchs in den besten Händen. Das Arztehepaar Andreas und Heike Wendrich hatte für diesen Tag eine Skiwanderung geplant, die etwa acht Stunden dauern sollte. Weil Alex und Alina mit einer so langen Tour überfordert gewesen wären, hatten die Eltern ihre beiden Kinder in Eva Allmanns Obhut gegeben. Die Vierundzwanzigjährige verstand sich ausgezeichnet mit Kindern und sorgte dafür, daß es nie langweilig wurde. Sie ging auf jeden ihrer Schützlinge ein und erfand immer neue Spiele und interessante Aktivitäten. Manchmal kam es vor, daß ein Kind eigentlich gar nichts mit seinen eigenen Eltern unternehmen, sondern lieber bei der Kinderbetreuerin bleiben wollte.

Der Schneemann, den die Kinder mit Evas Hilfe bauten, wies tatsächlich erstaunliche Ausmaße auf. Er war so groß, daß zum Schluß niemand wußte, wie man die Kugel, die den Kopf bilden sollte, auf den beachtlich hohen Körper bekommen sollte. Zwei junge kräftige Skifahrer, die zufällig vorbeikamen, leisteten Hilfestellung. So gelang es mit vereinten Kräften schließlich doch, den Schneemann zu vollenden. Wie es sich gehörte, bekam er einen Reisigbesen in den Arm gedrückt und einen Hut aufgesetzt. Eine Möhre diente als Nase, und die Augen bestanden aus zwei ganz dicken roten Tomaten.

»Der Kerl hat wirklich Tomaten auf den Augen«, stellte Alex belustigt fest. »Hoffentlich werden die nicht so schnell faul. Unser Schneemann hält nämlich bestimmt sehr lange. Er ist groß und dick, daß er wahrscheinlich im nächsten Sommer noch nicht geschmolzen ist.«

»Vielleicht ist sogar noch etwas von ihm übrig, wenn wir im nächsten Jahr hier sind«, meinte Alina. »Das wäre toll.«

Die Kinder waren von ihrem Werk ausnahmslos begeistert und wollten sich von ihrem wundervollen Schneemann gar nicht trennen. Eva Allmann wußte allerdings, daß es für die Kinder jetzt an der Zeit war, sich aufzuwärmen, und machte ein attraktives Spielangebot, das sich im warmen Hotel veranstalten ließ.

In der Hotelhalle herrschte ungewohnte Aufregung. Die Angestellten liefen durcheinander, tuschelten miteinander und machten besorgte Gesichter. Das kam Eva Allmann seltsam vor. Irgend etwas mußte geschehen sein, und sie wollte wissen, um was es sich handelte.

»Zieht euch die Schneeanzüge aus und geht schon einmal voraus ins Spielzimmer«, bat sie die Kinder. »Ich komme in ein paar Minuten nach.«

Fröhlich zogen die Kinder los. Eva ging hinüber zum Portier, der eine Landkarte vor sich liegen hatte und zusammen mit dem Manager des Hotels darauf etwas suchte.

»Was ist denn los?« erkundigte Eva sich. »Hier scheinen alle schrecklich nervös zu sein. Ist etwas geschehen?«

»Das kann man wohl sagen«, meinte der Portier und wies auf die Landkarte. Mit dem Zeigefinger tippte er auf einen bestimmten Punkt. »Wir haben eben erfahren, daß eine Lawine abgegangen ist. Genau hier ist es passiert. Ein Skifahrer, der im gesperrten Gebiet unterwegs war, hat die Lawine vermutlich ausgelöst.«

»Furchtbar, wie unvernünftig mache Leute sind«, murmelte Eva. »Weiß man schon, ob Menschen zu Schaden gekommen sind? Häuser scheinen unterhalb des Lawinenabgangs zum Glück jedenfalls nicht zu sein. Aber Wanderer könnten sich dort aufgehalten haben.«

»Ja, es sind sogar eine ganze Menge Leute gewesen. Genaues weiß man noch nicht. Aber eine achtköpfige Gruppe, ein Kegelverein aus Süddeutschland, ist mit Sicherheit ebenso verschüttet worden wie drei Skiwanderer, die aus dem Salzburger Land stammen und hier ihren Urlaub verbringen. Wer sonst noch von dem Unglück heimgesucht wurde, kann im Augenblick niemand sagen. Es ist ja nicht einmal eine Stunde her. Wir machen uns nun Sorgen um die Eltern von Alex und Aline.«

»Die Wendrichs?« Eva war sichtlich betroffen. »Ich weiß nur, daß sie heute früh zu einer Tagestour aufgebrochen sind. Wohin sie wollten, ist mir allerdings nicht bekannt. Könnte es denn sein, daß sie sich in diesem Lawinengebiet aufgehalten haben?«

»Sie haben uns vorsichtshalber die geplante Route hinterlassen«, erklärte der Hotelmanager und wies auf ein Blatt mit der genauen Aufzeichnung, die Andreas und Heike Wendrich angefertigt hatten. »Wenn man von einem ganz normalen Wandertempo ausgeht, müßten die beiden nach ungefähr zwei Stunden in dem Lawinengebiet gewesen sein. Genau zu dieser Zeit ist das Unglück geschehen. Der Pfad, den die Wendrichs wählen wollten, liegt jetzt tief unter den Schneemassen.«

»Vielleicht haben sie kurzfristig doch umdisponiert und eine andere Route genommen«, meinte Eva hoffnungsvoll. »Sie könnten auch unterwegs Pausen eingelegt und das Lawinengebiet nach zwei Stunden noch gar nicht erreicht haben.«

Der Portier schüttelte den Kopf. »Dann würden sie sich bestimmt melden. Wo immer sie jetzt auch sind, sie haben sicher von dem Unglück gehört und würden uns schon wegen der Kinder mitteilen wollen, daß ihnen nichts passiert ist. Das haben sie aber nicht getan. Herr Doktor Wendrich hat sein Telefon dabei. Ich habe schon mehrmals versucht, ihn zu erreichen, aber keine Verbindung bekommen. Das ist nicht normal und läßt nichts Gutes hoffen. Wir müssen ernsthaft damit rechnen, daß die Wendrichs verschüttet worden sind.«

Eva zog hilflos die Schultern hoch. Sie mochte gar nicht daran denken, daß sich diese berechtigte Befürchtung bestätigen könnte. »Ich muß jetzt zu den Kindern«, erklärte sie. »Sie warten bestimmt schon auf mich. Am besten sage ich ihnen noch nichts. Schließlich wissen wir selbst noch nichts Genaues. Wenn Sie etwas erfahren, teilen Sie es mir bitte sofort mit, egal, ob es gut oder schlecht ist.«

»Das werde ich tun«, versprach der Portier. »Die Rettungskräfte stehen mit uns in Verbindung, weil wir zwei unserer Gäste als mögliche Opfer angegeben haben. Also werden wir umgehend informiert, wenn sie gefunden werden.«

»Hoffentlich leben sie«, flüsterte Eva und wandte sich ab. Seit drei Jahren arbeitete sie nun schon in diesem Hotel in dem beschaulichen österreichischen Ort, der überwiegend vom Fremdenverkehr lebte. Natürlich hatte es in dieser Zeit auch schon einmal kleinere Unglücke gegeben. Im Sommer hatte sich der eine oder andere Gast einen Sonnenstich eingehandelt, und im Winter hatte es hin und wieder einen Beinbruch gegeben. Doch eine richtige Katastrophe war noch nicht vorgekommen. An einen Lawinenabgang konnte Eva sich nicht erinnern. Solche Dinge geschahen woanders, weit entfernt, aber doch nicht hier in diesem friedlichen und bisher immer sicheren Gebiet. Mit Entsetzen dachte Eva Allmann daran, daß viele der fröhlichen Urlaubsgäste nicht mehr aus ihren Ferien zurückkehren würden, weil der Schnee, den sie so liebten, für sie zur Todesfalle geworden war. Sie sah die sympathischen Gesichter von Andreas und Heike Wendrich vor sich und hoffte innigst, daß sich die bösen Ahnungen am Ende nicht erfüllen würden.

An der Tür zum Spielzimmer angekommen atmete die junge Frau noch einmal tief durch, bevor sie auf die Klinke drückte. Aus dem Raum hinter der Tür klangen muntere Kinderstimmen. Zum Teil handelte es sich um die Stimmen jener Kinder, die ihre Eltern möglicherweise gerade verloren hatten. Es fiel Eva Allmann schwer, jetzt so zu tun, als sei nichts geschehen, und unbeschwert zu wirken. Aber sie mußte sich zusammenzureißen und durfte sich nichts anmerken lassen.

*

Alle verfügbaren Rettungskräfte waren im Einsatz. Selbst aus weit entfernten Orten waren Helfer angerückt, und alle arbeiteten fieberhaft, ohne sich eine Pause zu gönnen. Lediglich den Suchhunden wurden zwischendurch kurze Ruhezeiten gegönnt, da die Tiere einen Dauereinsatz nicht durchhalten konnten. Dank der feinen Instinkte der Hunde konnten mehrere Verschüttete des Kegelvereins geortet und lebend geborgen werden. Doch inzwischen war klar geworden, daß noch weitaus mehr Menschen als zunächst angenommen unter den Schneemassen begraben waren. Sie mußten möglichst schnell gefunden werden. Die Rettungskräfte wußten genau, daß die Überlebenschancen mit jeder verstreichenden Stunde rapide abnahmen.

In dem kleinen Berghotel wartete man vergeblich auf eine Nachricht. Telefonische Nachfragen ergaben jedesmal dieselbe Auskunft. Von Andreas und Heike Wendrich war noch keine Spur gefunden worden. Es dämmerte bereits, als Alina und Alex unruhig wurden. Die anderen Kinder, die Eva an diesem Tag betreut hatte, waren von ihren Eltern inzwischen längst abgeholt worden. Nur sie befanden sich noch immer in der Obhut der Kinderbetreuerin. Trotz der nahenden Dunkelheit war Eva mit den Kindern noch einmal nach draußen gegangen und hatte dort mit den beiden und Vico im Schnee gespielt. Bei Vico handelte es sich um den Hund der Familie Wendrich. Der cremefarbene Labradormischling begleitete die Kinder auf Schritt und Tritt und erwies sich tagtäglich als treuer Freund und Gefährte. Mit seinen erst knapp zwei Jahren war Vico noch sehr verspielt. Es machte ihm Spaß, mit den Kindern in Schnee herumzutollen und geworfenen Schneebällen nachzujagen. Doch an diesem Abend schienen Alina und Alex im Gegensatz zu Vico keine rechte Freude an dem Spiel zu haben.

»Ich verstehe nicht, wieso Mama und Papa noch immer nicht hier sind«, meinte Alex. »Sie haben versprochen, daß sie noch vor Einbruch der Dunkelheit zurückkommen.«

»Das müssen sie auch«, bemerkte Alina. »Nachts kann man doch keine Skiwanderung unternehmen, wenn man die Gegend nicht ganz genau kennt. Das hat Papa uns jedenfalls so erklärt. Jetzt ist es schon fast ganz dunkel, und die beiden sind noch immer nicht da. Warum kommen sie nicht, Eva! Kannst du uns das sagen? «

»Nein, ich weiß auch nicht genau, wo eure Eltern jetzt gerade sind«, wich die Kinderbetreuerin aus. »Aber ihr braucht keine Angst zu haben. Ich bleibe bei euch. Wenn wir in einer halben Stunde noch nichts von euren Eltern gehört haben, gehen wir erst einmal essen. Ihr habt bestimmt schon großen Hunger.«

Alex schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich nicht. Außerdem würden wir gerne zusammen mit Mama und Papa essen. Das haben wir immer so gemacht.«

Es schien fast so, als würden die Kinder instinktiv spüren, daß etwas nicht in Ordnung und ihren Eltern etwas zugestoßen war. Sie machten sich offensichtlich große Sorgen und ahnten Schlimmes. Eva hätte ihre Schützlinge gerne beruhigt und ihnen erklärt, daß die Eltern sicher bald kommen würden. Doch sie wußte nur zu gut, daß das nicht geschehen würde. Heike und Andreas Wendrich hatten sich noch immer nicht gemeldet. Das konnte nur bedeuten, daß auch sie von der Lawine erfaßt woren waren. Jetzt stellte sich nur noch die Frage, ob sie noch lebend gefunden wurden oder zu den Todesopfern gehörten.

Eine Stunde später gab es Gewißheit. Die Eltern der beiden Kinder waren tot geborgen worden. Anhand der Ausweise, die sie bei sich getragen hatten, war es nicht schwer gewesen, die Opfer zu identifizieren. Unter dem Personal des Hotels und auch den Gästen herrschte lähmendes Entsetzen. Eva Allmann war einfach nicht in der Lage, Alina und Alex mitzuteilen, daß ihre Eltern niemals wiederkommen würden. Sie war dankbar für die gute Organisation der Einsatzkräfte, die einen Psychologen zur Verfügung stellte, der noch am selben Abend vor Ort war und mit den Kindern sprach. Natürlich konnte auch er nicht verhindern, daß Alex und Alina gewissermaßen in ein tiefes Loch fielen und nicht begreifen konnten, daß der Abschied von ihren Eltern ein endgültiger war.

Eva erklärte sich bereit, im Zimmer der Kinder zu übernachten, um jederzeit für sie zur Stelle sein zu können. Sie beanstandete auch nicht, daß die beiden Vico mit ins Bett nahmen, obwohl der Hund seinen eigenen Schlafplatz in seinem Korb hatte. Sowohl Alex als auch Alina brauchten jetzt besonderen Trost, und als Seelentröster war niemand besser geeignet als ihr treuer vierbeiniger Freund.

»Was soll denn jetzt aus uns werden?« fragte Alex, als die Kinder im Bett lagen. »Nach Hause zurück können wir nicht mehr.«

»Warum nicht?« wollte Alina wissen. »Wir haben doch unsere Wohnung. Da können wir bleiben, wir beide und Vico.«

In der Tat gab es da eine geräumige Erdgeschoßwohnung, zu der auch ein kleiner Garten gehörte. Andreas und Heike Wendrich hatten diese Eigentumswohnung kurz nach Alinas Geburt gekauft.

»Das geht nicht«, erklärte Alex, der mit seinen zehn Jahren schon etwas reifer war als seine kleine Schwester. »Papa und Mama sind nicht mehr da und kommen nie wieder.« Der Junge machte eine Pause und kämpfte mit den Tränen. Es dauerte einen Moment, bis er weitersprechen konnte. »Wir sind noch zu klein, um ganz allein irgendwo zu wohnen. Das ist nicht erlaubt. Es gibt da so ein Amt, ich glaube, es heißt Jugendamt. Dort arbeiten Leute, die bestimmen, wo wir wohnen sollen. Wenn wir Pech haben, werden wir in ein Heim gesteckt.«

»In ein Heim?« Alina riß erschrocken die Augen auf. »Ich will nicht in ein Heim. Da gehe ich auf gar keinen Fall hin.«

»So schnell kommen Kinder nicht in ein Heim«, meinte Eva beruhigend. »Es stimmt schon, daß sich das Jugendamt um euch kümmern wird. Zuerst bleibt ihr einmal hier. In ein paar Tagen wird dann ein Mitarbeiter vom Jugendamt kommen und mit euch reden. In den meisten Fällen können Kinder bei Verwandten untergebracht werden, zum Beispiel bei den Großeltern.«

»Wir haben keine mehr«, bemerkte Alex. »Unsere letzte Oma ist vor vier Monaten gestorben. Es gibt nur noch Onkel Bodo und Tante Katja. Onkel Bodo ist Papas Bruder. Dann ist auch noch Mamas Schwester da, Tante Marlene. Die will uns sicher nicht haben. Sie

ist nicht verheiratet und dauernd auf Reisen. Tante Marlene ist Modefotografin und ständig unterwegs.«

»Zu Onkel Bodo und Tante Katja will ich nicht«, verkündete Alina. »Sie sind längst nicht so nett wie Mama und Papa. Außerdem mag ich Oliver nicht, und er kann mich auch nicht leiden.«

»Oliver? Ist das der Sohn von eurem Onkel und eurer Tante?« erkundigte Eva sich.

Alex nickte. »Ja, er ist fünfzehn. Ich finde ihn eigentlich doch gar nicht so übel. Jedenfalls komme ich mit ihm besser zurecht als mit seinen Eltern. Aber es stimmt schon, was Alina gesagt hat. Kleine Mädchen kann er nicht ausstehen.«

»Vielleicht ändert sich das, wenn Alina gewissermaßen seine Schwester wird«, meinte Eva. »Aber das wird sich alles finden. Ihr solltet euch jetzt keine Gedanken um eure Zukunft machen. Im Augenblick seid ihr gut aufgehoben. Ich bin bei euch, und ihr habt euren Vico.«

Alina legte ihren Arm um den Hund und schmiegte sich an ihn. Vico stieß das Mädchen aufmunternd mit seiner Nase an und wedelte verhalten. Er hatte keine Ahnung, was sich an diesem Tag ereignet hatte. Doch er spürte deutlich die Traurigkeit der Kinder und wollte sie trösten.