Ich weiß es, du bist meine Tochter - Silva Werneburg - E-Book

Ich weiß es, du bist meine Tochter E-Book

Silva Werneburg

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Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. Es war ein aufregender Tag im Kinderheim Heideinsel. Heute sollte sich entscheiden, wer die Sommerferien auf einem Reiterhof verbringen durfte. In Frage kamen dafür nur die Kinder im Alter von zehn bis fünfzehn Jahren, weil sie sich am besten für Ferien dieser Art eigneten. In jedem Jahr wurden einige Kinder in einen ganz besonderen Urlaub geschickt. Aus finanziellen Gründen konnten leider nicht alle Bewohner der Heideinsel daran teilnehmen. In diesem Sommer sollten drei Kinder sechs Wochen lang auf dem Reiterhof Erik-son in der Nähe der dänischen Grenze bleiben dürfen. Wie immer sollte das Los entscheiden, damit es gerecht zuging und alle dieselben Chancen hatten. Jedes Kind schrieb seinen Namen auf einen vorbereiteten Zettel, faltete ihn zusammen und legte ihn in einen großen Korb. »Wahrscheinlich gewinnt Carsten wieder«, mutmaßte Tim, ein dreizehn Jahre alter Junge mit dunkelblondem welligem Haar. »Er hat jedesmal Glück. Vor zwei Jahren ist er zum Surfen an die Ostsee gefahren. Auch im letzten Jahr wurde sein Namenszettel gezogen, und er durfte Urlaub in einer Segelschule machen. In diesem Jahr sind es wieder drei Kinder, die wegfahren werden. Carsten ist bestimmt dabei.« »Das kannst du doch nicht wissen«, erwiderte die zwölf Jahre alte Cornelia, die von allen nur Conny genannt wurde. »Es ist Zufall, daß Carstens Zettel zweimal hintereinander gezogen wurde. Warten wir einfach ab. In ein paar Minuten wissen wir, wer auf den Reiterhof fahren darf.«

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Mami – 2021 –

Ich weiß es, du bist meine Tochter

Wovon Simone immer geträumt hat

Silva Werneburg

Es war ein aufregender Tag im Kinderheim Heideinsel. Heute sollte sich entscheiden, wer die Sommerferien auf einem Reiterhof verbringen durfte. In Frage kamen dafür nur die Kinder im Alter von zehn bis fünfzehn Jahren, weil sie sich am besten für Ferien dieser Art eigneten. In jedem Jahr wurden einige Kinder in einen ganz besonderen Urlaub geschickt. Aus finanziellen Gründen konnten leider nicht alle Bewohner der Heideinsel daran teilnehmen. In diesem Sommer sollten drei Kinder sechs Wochen lang auf dem Reiterhof Erik-son in der Nähe der dänischen Grenze bleiben dürfen. Wie immer sollte das Los entscheiden, damit es gerecht zuging und alle dieselben Chancen hatten. Jedes Kind schrieb seinen Namen auf einen vorbereiteten Zettel, faltete ihn zusammen und legte ihn in einen großen Korb.

»Wahrscheinlich gewinnt Carsten wieder«, mutmaßte Tim, ein dreizehn Jahre alter Junge mit dunkelblondem welligem Haar. »Er hat jedesmal Glück. Vor zwei Jahren ist er zum Surfen an die Ostsee gefahren. Auch im letzten Jahr wurde sein Namenszettel gezogen, und er durfte Urlaub in einer Segelschule machen. In diesem Jahr sind es wieder drei Kinder, die wegfahren werden. Carsten ist bestimmt dabei.«

»Das kannst du doch nicht wissen«, erwiderte die zwölf Jahre alte Cornelia, die von allen nur Conny genannt wurde. »Es ist Zufall, daß Carstens Zettel zweimal hintereinander gezogen wurde. Warten wir einfach ab. In ein paar Minuten wissen wir, wer auf den Reiterhof fahren darf.«

In allen Kindergesichtern lagen Hoffnung und Spannung. Die meisten von ihnen waren Vollwaisen, lebten schon seit mehreren Jahren im Kinderheim Heideinsel und fühlten sich recht wohl dort. Aber sechs Wochen zusammen mit Pferden leben, jeden Tag ein neues Abenteuer erleben und reiten lernen wollten sie alle.

»Für dich wäre es doch besonders toll, wenn dein Name gezogen würde«, meinte Conny und blickte die gleichaltrige Simone Bertram an. »Immerhin kannst du schon reiten und kennst dich mit Pferden aus.«

»Ja, schon«, gab Simone zu. »Aber ich bin nicht traurig, wenn ich nicht ausgewählt werden. Allein in Urlaub zu fahren, ist vielleicht gar nicht so schön. Das habe ich noch nie gemacht.«

Conny seufzte auf. »Dann hoffe ich erst recht, daß dein Zettel gezogen wird. Du mußt endlich auf andere Gedanken kommen und merken, daß das Leben auch ohne Eltern schön sein kann.«

Simone war erst seit acht Monaten im Kinderheim Heideinsel. Ihre Adoptiveltern, das Anwaltsehepaar Ellen und Gunther Bertram, waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und es gab keine Verwandten, die das Mädchen hätten aufnehmen können. Simone litt noch sehr unter dem Tod ihrer Familie. Zwar hatte sie schon sehr früh erfahren, daß es sich bei Ellen und Gunther Bertram nicht um ihre leiblichen Eltern handelte, doch das hatte sie nie gestört. In ihren Augen waren diese beiden geliebten Menschen immer Vater und Mutter gewesen.

Die Heimleiterin Anja Sege-brecht klatschte in die Hände, um die Aufmerksamkeit der Kinder auf sich zu lenken. Lächelnd blickte sie in die Runde. Es tat ihr leid, daß sie nur drei Kinder glücklich machen konnte. Am liebsten hätte sie all ihren Schützlingen wundervolle und unvergeßliche Ferien ermöglicht. Aber das ließ der Etat leider nicht zu.

»Der große Augenblick ist gekommen«, teilte die Heimleiterin mit, verband der jungen Erzieherin Verena Möck die Augen. »Verena wird jetzt blind in den Korb greifen und die drei glücklichen Gewinner ziehen. Ich hoffe aber, daß alle anderen, die nicht auf den Reiterhof fahren können, nicht unglücklich sind. Wir werden in den Ferien auch hier eine Menge unternehmen und viel Spaß bekommen. Das verspreche ich euch.«

Verena griff in den Korb, mischte die Zettel noch einmal durcheinander und zog nacheinander drei Stück davon heraus. Anschließend wurde der Korb zur Seite gestellt, damit kein versehentliches Vertauschen mehr möglich war.

»Unser erstes Ferienkind heißt Tim«, teilte Anja Segebrecht mit und reichte den Zettel an die Kinder weiter, damit diese sich davon überzeugen konnten, daß tatsächlich der Name des Jungen auf dem Papier stand. Der Dreizehnjährige strahlte und wurde von seinen Kameraden beglückwünscht.

»Der zweite Name lautet Conny.« Kaum hatte die Heimleiterin ausgesprochen, unternahm Conny Luftsprünge vor Freude und jubelte.

»Zusammen mit Tim und Conny fährt…!« Anja Segebrecht machte eine Pause. »Also, das dritte Kind ist ein Mädchen, und es heißt Simone.«

Simone lächelte zwar dankbar, aber ihre Freude war gedämpfter als die von Tim und Conny. Die dreizehnjährige Caroline, die neben Simone stand, schüttelte verständnislos den Kopf.

»Du könntest dich ruhig ein bißchen mehr freuen. Aber wenn du keine Lust hast, die Ferien auf dem Reiterhof zu verbringen, tausche ich gerne mit dir.«

»Ich fahre natürlich, und ich freue mich auch«, erwiderte Simone. »Das kann ich nur nicht so richtig zeigen.«

»Was ist denn mit mir?« erkundigte Carsten sich. »Darf ich in diesem Jahr nicht wegfahren?«

Anja Segebrecht blickte den Vierzehnjährigen an. »Diesmal bist du leider nicht dabei. Man kann nicht immer Glück haben. Dein Name ist zwei Jahre hintereinander gezogen worden. Jetzt solltest du auch einmal anderen Kindern etwas gönnen. Vielleicht bist du in den nächsten Sommerferien ja wieder dabei.«

»Bis dahin vergeht noch ein ganzes Jahr«, maulte Carsten, meinte es aber gar nicht so ernst. Selbstverständlich gönnte er den drei Kindern ihr Glück. Außerdem war er nicht einmal so sicher, ob er tatsächlich reiten lernen wollte. Pferde interessierten ihn eigentlich nicht so sehr. Er mochte Katzen lieber und kümmerte sich auch hingebungsvoll um die beiden Katzen, die zum Kinderheim gehörten.

Tim, Conny und Simone zogen sich nach der Auslosung sofort zurück und unterhielten sich über den bevorstehenden Urlaub.

»Kannst du uns nicht schon einmal erklären, wie man richtig reitet?« wollte Conny wissen. »Du kennst dich doch aus und kannst uns eine Menge beibringen. Wenn wir dann nächste Woche abreisen, sind wir nicht mehr ganz so dumm und unerfahren.«

»Eine so tolle Reiterin bin ich selbst noch nicht«, entgegnete Simone. »Ich habe erst ein Jahr lang Unterricht gehabt und das auch nur an zwei Tagen pro Woche. Aber eins weiß ich. Kein Mensch kann reiten lernen, indem er sich alles genau erklären läßt. Ihr könntet auch sämtliche Bücher über den Reitsport lesen und hättet dadurch nichts gelernt. Reiten lernen kann man nur auf dem Pferderücken. Anders geht es nicht. Aber wir werden in den Ferien bestimmt nicht nur reiten. Wir werden auch füttern, Pferde putzen und die Boxen ausmisten.«

Tim verzog das Gesicht. »Ausmisten? Pfui Teufel, das stinkt doch wahrscheinlich entsetzlich.«

»Ach was, das ist überhaupt nicht so schlimm. Außerdem gehört es dazu. Wer reiten will, muß auch alle Dinge lernen, die mit Pferden zu tun haben.«

»Irgendwie stimmt das«, gab Tim zu und nahm sich vor, sich nicht zu drücken, wenn einmal eine Box ausgemistet werden mußte.

»Hilfst du uns denn, wenn wir einmal nicht zurechtkommen?« erkundigte Conny sich. »Tim und ich haben doch noch gar keine Ahnung von Pferden.«

»Natürlich helfe ich euch. Aber Herr und Frau Erikson, denen der Reiterhof gehört, sind an Anfänger gewöhnt. Sie zeigen euch bestimmt auch eine Menge. Immerhin sind sie während der Ferien unsere

Gasteltern. Ich glaube, wir werden alle zusammen viel Spaß bekommen.«

Daran zweifelten Tim und Con-ny nicht eine Sekunde. Sie konnten die wenigen Tage bis zur Abreise kaum abwarten. Selbst Simone, der es vor einer Stunde noch völlig gleichgültig gewesen war, ob ihr Zettel gezogen wurde, fing jetzt an, sich auf die Ferien zu freuen.

*

»So, von mir aus können die Kinder jetzt kommen«, meinte Inga Erikson. »Die Betten sind frisch bezogen, und die Wohnung ist in Ordnung. Hast du dir schon überlegt, welche Pferde du unseren drei Gästen aus dem Kinderheim zuteilen willst?«

Malte Erikson schaute seine Frau an und nickte. »Ich denke, das wird kein Problem sein. Conny setzen wir zunächst auf die gute alte Peggy, und Tim wird seine ersten Erfahrungen auf Askans Rücken sammeln. Die beiden Pferde sind absolut freundlich und zuverlässig. Für Simone habe ich an Java gedacht.«

»Java?« Alex, der sieben Jahre alte Sohn von Inga und Malte, blickte seinen Vater erschrocken an. »Das geht doch gar nicht. Java ist manchmal ganz schön zickig. Wenn die merkt, daß ein Anfänger in ihrem Sattel sitzt, trickst sie ihn sofort aus. Du kennst sie doch. Wenn ein Anfänger auf ihrem Rücken sitzt und die Zügel in die Hand nimmt, reißt sie den Kopf nach unten, und der Reiter fliegt über ihren Hals nach vorn und landet auf der Erde.«

»Das weiß ich. Ich kenne Javas kleine Eigenheiten und werde Simone darauf vorbereiten. Sie ist nämlich keine Anfängerin mehr. Die Heimleiterin hat mir erzählt, daß Simone schon über einhundert Reitstunden hinter sich hat. Sie wird sich von Javas Tricks nicht beeindrucken lassen. Abgesehen von ihren kleinen Marotten läßt sich die Stute wunderbar reiten. Ich glaube, Simone wird sehr zufrieden mit ihr sein. Wenn nicht, dann denken wir uns etwas aus. Schließlich haben wir genug Pferde im Stall.«

»Weiß ich«, bemerkte Alex. »Vier Haflinger, acht große Warmblüter und meine Nora, auch ein Haflinger. Außerdem haben wir noch eine Menge andere Tiere. Die beiden Ponys Pollux und Kastor, unseren Schäferhund Moritz, die Katzen Minka, Mausi und Mulle und natürlich Clara, Heniertte, Amanda…!«

»Schon gut, schon gut«, unterbrach Malte lachend. »Ich kenne alle unsere Tiere. Du brauchst jetzt nicht auch noch sämtliche Hühner namentlich aufzuzählen. Wenn Tim, Conny und Simone bei uns sind, darfst du ihnen gern jede Henne persönlich vorstellen, sofern die drei sich dafür interessieren.«

»Natürlich tun sie das. Wenn es nicht so wäre, würden sie sicher nicht zu uns kommen. Ich freue mich auf die Heimkinder. Die Kinder von den anderen Feriengästen sind zwar auch meistens nett, aber sie sind fast immer mit ihren Familien zusammen. Bei Tim, Conny und Simone ist das anders. Sie kommen allein, bekommen zwar eine Ferienwohnung, sind aber wahrscheinlich viel mit uns beisammen. Dann sind wir eine richtige große Familie. Das finde ich toll.«

Die Vorfreude ihres Sohnes auf die Kinder waren für Inga und Malte die Bestätigung, richtig gehandelt zu haben. Vor einigen Monaten hatte Anja Segebrecht angefragt, ob sie während der Sommerferien eine Ferienwohnung für einige ihrer Schützlinge bekommen könnte. Daß die finanzielle Lage nicht gerade rosig war, hatte die Heimleiterin nicht verschwiegen. Inga und Malte waren sofort bereit gewesen, eine ihrer fünf Ferienwohnungen zu einem Sonderpreis zur Verfügung zu stellen. Obwohl sie in den Sommerferien stets völlig ausgebucht waren und auch höhere Preise verlangen konnten, hatten sie beschlossen, die drei Heimkinder zum Selbstkostenpreis unterzubringen. Sie hätten sogar eine der größeren Wohnungen zur Verfügung gestellt, doch die waren bereits fest vergeben, als Anja Sege-brecht sich gemeldet hatte. So war nur noch die kleine Wohnung geblieben, die ein Doppel- und ein Einzelzimmer besaß und drei Personen Platz bot.

»Eigentlich finde ich das ungerecht«, meinte Alex nachdenklich. »Manchmal kommen Kinder mit ihren Eltern zu uns, die einfach alles haben. Sie bringen sogar ihre eigenen Pferde mit, können sich alles kaufen, sind reich und haben keine Sorgen. Die drei Heimkinder, die jetzt kommen, besitzen überhaupt nichts. Sie sind ganz allein und haben nicht einmal Eltern. Das ist doch nicht gerecht.«

Inga nahm ihren Sohn in die Arme. »Nein, das ist wirklich nicht gerecht, Alex. Das Schicksal ist nicht immer fair, und niemand kann sagen, warum manche Menschen so sehr gebeutelt werden und andere im Überfluß und ohne Sorgen leben. Das müssen wir hinnehmen, auch wenn es uns vielleicht mitunter wütend macht. Aber jeder hat die Möglichkeit, das Leid anderer Menschen ein bißchen zu lindern. Deshalb nehmen wir Simone, Conny und Tim in den Ferien bei uns auf, ohne etwas an ihnen zu verdienen. Sie sollen sechs wunderschöne Wochen bei uns verbringen, ohne jeden Kummer. Ich denke, du wirst mithelfen, daß es für sie wirklich eine tolle Zeit wird, die die drei nie vergessen werden.«

»Darauf kannst du dich verlassen«, erklärte Alex im Brustton der Überzeugung. »Ich zeige den Kindern all unsere Tiere und erzähle ihnen alles, was sie über die einzelnen Pferde wissen müssen. Wenn die drei wollen, dürfen sie auch meine Nora reiten.«

»Das ist nobel von dir«, stellte Malte erstaunt fest. Er wußte genau, wie eigen Alex mit seiner Stute war, die er vor zehn Monaten zu seinem siebten Geburtstag bekommen hatte. Wenn es um Nora ging, reagierte der Junge geradezu eifersüchtig. Außer ihm durfte niemand das Pferd reiten. Daß er nun bereit war, Nora den Heimkindern zu überlassen, war in der Tat ein bemerkenswertes Zugeständnis.

»Bei Kindern, die keine Eltern mehr haben, muß man eben auch einmal eine Ausnahme machen können«, meinte Alex etwas altklug. »Sie haben doch so selten etwas, worüber sie sich freuen können.«

»Deshalb werden wir besonders nett zu ihnen sein«, bemerkte Inga. »Wenigstens für die Dauer der Ferien sollen sie bei uns ein richtiges Familienleben kennenlernen.«

Alex nickte bestätigend. Die Kinder taten ihm leid, und er nahm sich vor, alles für sie zu tun, was in seiner Macht stand. Zum ersten Mal in seinem Leben wurde ihm bewußt, wie gut er es hatte. Er mußte nicht in einem Kinderheim aufwachsen, lebte auf einem wunderschönen Reiterhof und konnte sich jederzeit fest auf seine Eltern verlassen, die ihm ihre ganze Liebe schenkten.

*

Die Kinder waren von Anja Segebrecht in den Zug gesetzt worden, und Malte hatte sie am Bahnhof abgeholt. Auf der Fahrt zum Reiterhof hatte er schon einiges über die Schicksale seiner jungen Gäste erfahren. Tims Mutter war bei der Geburt des Babys gestorben und der Vater einige Jahre später bei einer Bergtour abgestürzt. Conny hatte ihren Vater nie kennengelernt. Niemand hatte je-

mals seinen Namen erfahren. Die Zwölfjährige wußte nur, daß es sich um einen verheirateten Mann handelte, der selbst nie erfahren hatte, daß sein Seitensprung nicht ohne Folgen geblieben war. Das war Conny von ihrer Mutter mitgeteilt worden, kurz bevor diese ganz plötzlich an einer heimtückischen Krankheit starb.

Maltes heimlich gehegte Befürchtung, daß es sich bei den drei Heimkindern möglicherweise um regelrechte Rabauken handeln könnte, bestätigte sich nicht. Schon während der Autofahrt stellte er fest, daß er es mit wohlerzogenen und netten Kindern zu tun hatte.

Auf dem Reiterhof wurden Simone, Conny und Tim von Inga und Alex begrüßt. Auch der Schäferhund Moritz kam angelaufen, wedelte freundlich und nahm dankbar ein paar Streicheleinheiten entgegen. Nachdem Inga den Kindern ihre Wohnung gezeigt und beim Auspacken der Koffer geholfen hatte, führte Alex die jungen Gäste herum.

»Das ist Peggy. Dieses Pferd wirst du reiten, Conny«, erklärte der Junge und wies auf eine Schimmelstute. »Direkt nebenan steht Askan in seiner Box. Er wird in der nächsten Zeit dein Pferd sein, Tim.«

»Du liebe Güte, der ist ja riesig«, meinte Tim mit einem verunsicherten Blick auf das dunkelbraune Pferd mit der schmalen Blesse.

»Ja, Askan ist eins unserer größten Pferde«, erwiderte Alex. »Aber deswegen brauchst du keine Angst zu haben. Er ist ganz brav. Sieh mal, da drüben steht Violetta. Die ist viel kleiner als Askan. Trotzdem könntest du sie nicht reiten. Die ist nämlich viel schwieriger. Wenn sie schlechte Laune hat, denkt sie sich alle möglichen Gemeinheiten aus, um ihren Reiter abzuwerfen. Das würde Askan nie tun. Du kommst bestimmt gut mit ihm zurecht. Violetta kann nur von sehr geübten Leuten geritten werden.«

Tim nickte verstehend und strich mit der Hand über Askans weiches Maul. »Aslan ist ein Hengst, nicht wahr?«

Alex lachte. »Nein, Hengste haben wir nicht. Die sind nicht leicht zu halten. Bei uns gibt es nur Stuten und Wallache.«

»Wallache? Was sind das denn für Tiere?« wollte Tim wissen. »Diesen Begriff habe ich noch nie gehört.«