Die Welt nach dem Kometen: Das Zeitalter des Kometen #9 - Jo Zybell - E-Book

Die Welt nach dem Kometen: Das Zeitalter des Kometen #9 E-Book

Jo Zybell

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Beschreibung

von Jo Zybell Der Umfang dieses Buchs entspricht 439 Taschenbuchseiten. Eine kosmische Katastrophe hat die Erde heimgesucht. Die Welt ist nicht mehr so, wie sie einmal war. Die Überlebenden müssen um ihre Existenz kämpfen, bizarre Geschöpfe sind durch die Launen der Evolution entstanden oder von den Sternen gekommen und das dunkle Zeitalter hat begonnen. In dieser finsteren Zukunft bricht Timothy Lennox zu einer Odyssee auf … Joseph Watonga, der alte Chronist der nordischen Siedlung der Überlebenden, sieht seinem Nachfolger Merlin Roots entgegen. Um ihn richtig in die Arbeit einzuführen, berichtet er die Geschichte der Siedlung seit dem Einschlag des Kometen und erzählt von den Verflechtungen ihrer beider Familien. Eine Geschichte voller Blut und Verrat, die dennoch das Überleben gewährleistete.

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Seitenzahl: 445

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Jo Zybell

Die Welt nach dem Kometen: Das Zeitalter des Kometen #9

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Inhaltsverzeichnis

Die Welt nach dem Kometen: Das Zeitalter des Kometen #9

Copyright

Kapitel 1: Die letzten Tage des Chronisten I

Kapitel 2: Winternacht

Kapitel 3: Die letzten Tage des Chronisten II

Kapitel 4: Die Kannibalen von Washington

Kapitel 5: Die letzten Tage des Chronisten III

Kapitel 6: Das Viking-Project

Kapitel 7: Die letzten Tage des Chronisten IV

Die Welt nach dem Kometen: Das Zeitalter des Kometen #9

von Jo Zybell

Der Umfang dieses Buchs entspricht 439 Taschenbuchseiten.

Eine kosmische Katastrophe hat die Erde heimgesucht. Die Welt ist nicht mehr so, wie sie einmal war. Die Überlebenden müssen um ihre Existenz kämpfen, bizarre Geschöpfe sind durch die Launen der Evolution entstanden oder von den Sternen gekommen und das dunkle Zeitalter hat begonnen.

In dieser finsteren Zukunft bricht Timothy Lennox zu einer Odyssee auf …

Joseph Watonga, der alte Chronist der nordischen Siedlung der Überlebenden, sieht seinem Nachfolger Merlin Roots entgegen. Um ihn richtig in die Arbeit einzuführen, berichtet er die Geschichte der Siedlung seit dem Einschlag des Kometen und erzählt von den Verflechtungen ihrer beider Familien. Eine Geschichte voller Blut und Verrat, die dennoch das Überleben gewährleistete.

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker / COVER LUDGER OTTEN

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Kapitel 1: Die letzten Tage des Chronisten I

Kalter Sund, Sommer 2514 n. Chr.

Es schneite. Nicht stark, die Flocken hoben sich kaum vom Grau des Himmels ab. Doch die Straße auf den Säulen – der Weg, den sie Highway genannt hatten, oder Viadukt – sah aus, als würde sie hinter einer schmutzigen Scheibe verlaufen. Und auch über dem Gewässer – dem Fluss, der heute noch Potomac hieß – schien ein durchsichtiger Seidenschleier zu hängen.

Er empfand kein Erschrecken. Jedenfalls in dieser Phase noch nicht. Es war mehr ein Staunen. Ein befremdetes Staunen allerdings – denn die Männer, die sich jetzt ins Bild drängten und aufgeregt in den sich rötenden Himmel deuteten, trugen diese sorgfältig geknoteten und kunstvoll gemusterten breiten Bänder, die sie früher Krawatten genannt hatten; und auf dem Viadukt, hinter der schmutzigen Scheibe, reihte sich ein Fahrzeug vor dem anderen; all diese kleinen Fünf- oder Sechssitzer, die sie Autos genannt hatten, und von denen die Welt einst so voll gewesen sein soll, wie heute von Taratzen.

Und keines der Autos genannten Fahrzeuge bewegte sich. Nein, sie stand still, diese tausendgliedrige Blechschlange. Und Menschen rutschten über sie hinweg, über schneefeuchte Dächer, Fließhecks, Kühlerhauben. Und Menschen sprangen oder kletterten die Säulen-Straße hinunter in den Fluss.

Die Flocken fielen dichter. Der Himmel leuchtete orange.

Uniformierte zerrten Träger der seltsamen Halsbänder durchs Bild, Sirenen gellten, und ein Mann in schwarzem Gewand und mit tragbarem, rundem Stoffdach schrie: „Er wird kommen zu richten die Lebenden und die Toten, er wird kommen zu richten die Lebenden und die Toten“, und danach erst schlugen sein Staunen und sein Befremden in Angst um.

Das war der Augenblick, in dem er zum erstem Mal das Gefühl hatte, all das nicht in einem Bildschirm zu sehen, sondern selbst betroffen zu sein.

Betroffen von Sirenen. Betroffen von nutzlosen Fahrzeugen auf nutzlosen Straßen. Betroffen von Schnee, der aus plötzlich rotglühendem Himmel schwebte und allmählich in Regen überging. Selbst betroffen vor allem von dem Unaussprechlichen jenseits des Gluthimmels, von dem, was ihn orange färbte und aufleuchten ließ.

Hinter der Säulenstraße, über dem Fluss – war es wirklich der, den sie Potomac und nicht doch der, den sie East River genannt hatten? Aus irgendeinem Grund wusste er es plötzlich nicht mehr. Über dem Fluss jedenfalls riss der Himmel auf, ein schwarzes Loch in der Glut, und von einer Sekunde auf die andere wechselte die Perspektive: Sternenfunkeln und das kalte Lodern der Sonne mitten im All. Eine glühende Faust raste auf den blauen Planeten zu, ihr Kern funkelte weiß, sie zog einen Schweif aus leuchtenden Gasen, Staub und auseinanderspritzendem Eis und Geröll hinter sich her.

Die weißen Wirbel über den Land- und Wassermassen des blauen Planeten färbten sich orange, die rotglühende Faust bohrte sich in sie hinein.

Und wieder wechselte die Perspektive.

Schneetreiben. Wind blies ihm diesmal die Flocken ins Gesicht. Ganz deutlich spürte er sie, als wäre er wirklich dabei gewesen. Konturen von Gebäuden hinter dem flatternden Schneeschleier. Und immer noch dieses rote Glühen. Er rannte. Seine Lungen stachen.

Stampfen und Gehämmer füllten sein Bewusstsein aus. Seine Schritte? Sein Herz? Oder Geschützlärm?

Er wusste, dass er jünger war als jetzt, viel jünger, fast noch ein Kind. Sein Brustkorb pulsierte und brannte, so heftig schlug sein Herz. Gummibänder schienen seine Beine festzuhalten.

Die Umrisse eines Gebäudekomplexes schälten sich immer deutlicher aus dem Schneetreiben. Das Capitol!

Nein.

Das Hauptportal des Pentagons?

Vielleicht …

Er rannte und keuchte und kam kaum voran.

Eine Windböe hüllte ihn in Schnee. Für Sekunden verschwand das Gebäude hinter feuchten Wirbeln aus Schneeflocken. Sirenen von allen Seiten, und Geschrei vieler Stimmen. Er sah Schatten links und rechts an sich vorbeihetzen, hörte Schritte und Schreie. Nur er selbst bewegte sich nicht, rannte und keuchte, aber bewegte sich nicht von der Stelle. Keinen Schritt. Sein Herz drohte ihm den Brustkorb zu sprengen.

Die nächste Böe riss den Schneeschleier auf. Er sah das Gebäude wieder. Nein, es war auch nicht der Haupteingang des Pentagons, es war das Grand Central Terminal.

Befand er sich denn plötzlich in New York City? Konnte das sein?

Deutlich sah er die Säulenfassade, sah die drei bogenförmigen Hochportale, sah die große Uhr mit den römischen Ziffern auf purpurnem Untergrund und sah die Skulpturen neben und über ihr: Herkules, Minerva und Merkur.

Seltsam düster wurde es – eine rötlich dumpfe Dämmerung, und so still mit einem Mal.

Unter dem mittleren Bogenportal stand ein Mann. Er winkte. Sein Vater. Oder doch nicht. Sein Großvater? Nein, auch nicht sein Großvater – der Mann hatte viel zu dunkle Haut. Ein Indianer – wehte nicht graues Langhaar um seinen Kopf?

Der Mann winkte, und er selbst stemmte sich mit aller Kraft gegen die Gummibänder um seine Knöchel, um seine Knie. Seine Schuhsohlen klebten am Asphalt, und der Asphalt vibrierte.

Es war kein Indianer, es war auch nicht sein Urgroßvater, auch nicht sein Ururgroßvater, und auf unerklärliche Weise schien er dies alles doch zu sein …

Der Mann ruderte mit beiden Armen – der Indianer, der Schwarzhäutige, der fremde Vater – wild und aufgeregt winkte er, als wollte er ihn antreiben. Den Mund zu stummem Geschrei geöffnet, den Oberkörper nach vorn gebeugt, stand er zwischen den Säulen und winkte.

Es war so still, so düster, so aussichtslos. Er wusste, dass er es nicht schaffen konnte. Und während er fiel, sah er die Herkulesstatue von der Uhr über dem Mittelportal auf den schwarzhäutigen Vater-Mann zwischen den Säulen stürzen.

Er stöhnte, röchelte, fuhr hoch, rang nach Luft, und schrie!

*

Licht fiel in seine Schlafzelle. „Joseph! Bei Wudan!“

Schlagartig verstummte er, sah zur Tür. Jemand hatte sie zur Seite geschoben. Licht fiel in die Schlafzelle. Sie stand mit einer Öllampe im Türrahmen. Groß, offenes Langhaar, in Wildlederdecken gehüllt. Das Licht spiegelte sich in ihren dunklen Augen.

Gott, wie er sie liebte, diese Augen …

„Hast du wieder geträumt?“ Drei Schritte, und sie stellte die Lampe auf den Lederhocker neben seinem Lager. Die Tür schob sich zu. „Du Armer! Was ist nur mit dir?“ Sie tastete nach seiner Stirn, seinem Nacken, schob ihre Hand unter das Fell auf seine Brust. „Bei Wudan! Du bist ja ganz nass, Alterchen!“

Wie er die raue Stimme und den gedehnten, etwas herben Akzent ihres Englisch liebte …

Sie öffnete die Truhe am Fußende seines Lagers. „Zieh dein Hemd aus. Weg mit den Decken.“ Mit einem frischen Hemd, Tüchern und frischen Decken kam sie zurück ans Lager. „Die Reise. Die bevorstehende Reise – sie treibt dich um.“ Sie half ihm, sich aus den Decken zu schälen und das Hemd abzustreifen. Danach rieb sie ihn mit trockenen Tüchern ab.

Kräftig massierte sie seine welke Haut. Nur um das weiche, flache Kunststoffgefäß über seinem Brustbein und den dünnen Schlauch herum, der von dem knapp handtellergroßen Beutel aus bis zu seinem Schlüsselbein verlief und dort unter der Haut verschwand, tupfte sie den Schweiß sehr behutsam ab. Kaum fingerbreit schwappte die gelbliche Flüssigkeit über der unteren Schweißnaht des Beutelchens. Ein paar Tage noch, höchstens zwei Wochen – länger reichte es nicht mehr. Für Dyloona der einzige Grund, auf das Schiff zu hoffen: Es würde Ersatz mitbringen.

Joseph atmete tief. Langsam verzog sich der Schrecken aus seinen Gliedern. Unter den kreisenden Bewegungen des rauen Tuches kehrte das Leben in seine Knochen zurück. Sein Kopf schmerzte, die Nerven in Beinen und Armen brannten, und wieder der dumpfe Druck hinter dem Brustbein. War es das Herz? Waren es die Bronchien? Oder war es die schleichende Verzweiflung?

Dieser Traum – er träumte ihn häufiger in den letzten zwei Monaten. Und jedes Mal erschreckte er ihn mehr.

Dyloona nahm sein schmales Gesicht zwischen ihre Hände und sah ihn an. „Du kannst in diesem Zustand nicht reisen.“ Sie entfaltete ein frisches Tuch und frottierte sein dünnes, langes Weißhaar.

Und nicht in deinem Alter, ergänzte er in Gedanken. Niemals würde sie das aussprechen. „Warte wenigstens noch einen Winter ab“, sagte sie stattdessen.

Joseph zog die Felle um seine Schultern zusammen. Es war kalt, wirklich kalt. Er zitterte. „Nicht die Reise, Dyloona“, sagte er, während sie ihm das Fell wieder wegnahm und das Hemd über seinen welken Körper streifte. „Es ist nicht die Reise – es ist der Abschied.“

Sie antwortete nicht. Für Josephs Verhältnisse war ein solcher Satz schon fast ein Gefühlsausbruch. Rasch, wie um ihm ihr Gesicht zu verbergen, wandte sie sich ab und stand auf.

Über Stuhllehne, Waschtisch und Wandhaken verteilte sie feuchte Tücher und Hemden. Er hockte im Bett und beobachtete sie – die Felle über die hochgezogenen Schultern gerafft, den knochigen Schädel nach vorn geneigt, mit großen, feuchten Augen. Wie ein frierendes altes Tier sah er aus.

Dyloona kam zurück zum Bett. Sie löste den Gurt um ihre Wildlederdecken und ließ sie auf den Boden gleiten. Angesichts ihrer Nacktheit verfinsterte sich seine Miene noch mehr. Sie schlüpfte zu dem noch immer Sitzenden unter die Decke, zog ihn aufs Lager und schlang dann ihre warmen Glieder um ihn.

„Schlaf weiter, Jofluu.“

Sie presste sich an ihn, rieb über seine Brust und seinen Bauch, küsste ihn erst in den Nacken, dann aufs Ohr.

Wie stark sie war, wie das Leben in ihr glühte!

„Werde warm und schlaf weiter. Ich hüte dich.“

Joseph spürte ihre Brüste an seinem Rücken, ihr Becken an seinem Gesäß. Wie viele Jahre war es her, dass sie sich zum letzten Mal geliebt hatten? Drei? Oder schon fünf? Er seufzte.

Bilder stiegen aus den Kellern seiner Erinnerung in sein Bewusstsein – Szenen ihrer ersten Begegnung. Es war an den Anlegestellen draußen an der Brücke gewesen. Sieben Jahre vor der Jahrhundertwende. Die Schlächter hatten wieder Gefangene mitgebracht. Gefesselt und in Zweierreihen wankten sie über den Laufsteg. Ein elender Zug kleiner Kinder und halbwüchsiger Knaben und Mädchen – manche heulten, alle wirkten sie halbverhungert und verängstigt. Und mittendrin Dyloona.

Von allen sah sie am elendsten aus. Ihr flehender Blick, ihr geschundener Körper, ihr eingefallenes schmutziges Gesicht und die Hilflosigkeit der Geste, mit der sie die Lumpen, die man ihr gelassen hatte, um ihre Blöße schlang. Noch heute, nach so vielen Jahren, schnürte es Joseph das Herz zusammen, wenn er daran dachte.

Vielleicht war es das Flehen in ihren unnatürlich großen Augen gewesen, vielleicht die Illusion, er könnte seine Mitschuld abtragen, wenn er das erbärmlichste jener armen Wesen rettete: Noch am gleichen Tag ging er damals zu Rocket Roots und bat um das Mädchen.

Wahrscheinlich hatte Roots es seitdem hundertmal bereut, ihm die Bitte nicht abgeschlagen zu haben: Von allen gefangenen Frauen entwickelte Dyloona sich zur klügsten, tatkräftigsten und – was bei Roots eine erhebliche Rolle spielte – zur schönsten.

Joseph fragte sich, was nach seiner Ablösung aus Dyloona werden würde. Sie stand seinem Nachfolger zu – als Sekretärin, als Dienerin, als Frau. Sie gehörte gewissermaßen zum Inventar des Chronisten-Postens. Als Privatmann hatte Joseph kein Recht auf sie. Das hatte Rocket ihn unmissverständlich wissen lassen.

Nach allem, was Joseph wusste, gehörte der Neue zur letzten Generation. Jünger noch als Dyloona war er demnach. Früher oder später würde er sich unter den Gefangenen nach einem jüngeren Mädchen umschauen. Brachten sie doch einmal im Jahr einen Laderaum voller Kinder und Halbwüchsiger von irgendwelchen Inseln oder aus dem Landesinneren der Regionen südlich des Kalten Sunds.

Und was würde dann aus Dyloona werden? Wahrscheinlich würde Roots sie einem dieser Kretins überlassen. Einem Schiffsmeister oder einem Magier. Vielleicht sogar einem Kriegsmeister. Das waren die Schlimmsten.

Der Gedanke machte Joseph das Atmen schwer. Wieder seufzte er.

„Woran denkst du, Jofluu?“

Er merkte, dass er nicht mehr zitterte. „An nichts.“

Jofluu – nur sie nannte ihn so. Als sie seinen zweiten Vornamen erfuhr – Jonathan – hatte sie damit angefangen. Jofluu – wie würde er das vermissen …

„Du denkst an ihn, hab ich Recht? An deinen Nachfolger.“

„Ja.“

„Hast du Angst vor ihm?“

Er musste lachen. Angst? Er!

„Wenn man dem Leben so tief in die Augen gesehen hat wie ich, fürchtet man sich nicht mehr, Herzchen.“

„Auch nicht vor Veränderungen?“

„Schon gar nicht vor Veränderungen.“ Er dachte nach. „Ein bisschen Sorgen mach ich mir schon – um ihn. Er soll sehr jung sein.“

„Du machst dir Sorgen um mich.“ Sie drückte sich an ihn. Ihr Haar fiel auf seine Wange. Es duftete nach Schilfrohr. Ein halbes Leben war es her, dass er Schilfrohr gesehen und gerochen hatte. In diesem Teil der Welt gab es kein Schilfrohr. „Um mich machst du dir Sorgen, ich weiß es doch.“

Spürte sie es also. Oder hatte sie seine Gedanken belauscht? „Ja. Auch um dich. Das ist wahr, natürlich.“

„Das musst du nicht. Du kannst nicht vor dem Winter reisen. Wir warten, bis er vorbei ist, und dann werde ich einfach mit dir gehen.“

„Du weiß, dass das nicht möglich ist.“

„Wudan kennt einen Weg. Er wird ihn uns weisen.“ Sie gähnte und räkelte sich. „Mach dir keine Sorgen, Joseph – alles wird sich fügen.“ Und wenig später hörte er ihre tiefen gleichmäßigen Atemzüge.

Er selbst schlief lange nicht ein. Grübeleien pflügten sein Gemüt um – die Traumbilder, der bevorstehende Abschied, die Sorge um Dyloona, der Unbekannte, der ihn ablösen würde. Ein Strudel aus Bildern, trüben Gedanken und Schmerzen saugte sein Bewusstsein schließlich in die Betäubung eines unruhigen Schlafes.

Erst lehnte er im Gesims eines der Turmfenster und sah das Schiff anlegen, dann stand er auf der Anlegestelle General Crow persönlich gegenüber, dann musste er mit ansehen, wie der Oberbefehlshaber Dyloona fesseln und abführen ließ, und schließlich fand er sich unter einem orange-glühenden Himmel im Schneetreiben vor der Grand Central Station wieder.

Das achteckige Hochhaus hinter der Bahnhofshalle wankte. Zwischen den Säulen, unter dem mittleren Bogenportal stand ein Mann in schwarzem Taratzen-Pelz – sein Vater. Ja, diesmal gab es keinen Zweifel: Sein Vater. Um ihn herum lagen die Leichen, Großvater und Urgroßväter; unter den Trümmern von Merkur und Herkules, leblos und mit verrenkten Gliedern. Auch eine Frau war unter den Toten, eine alte Indianerin.

Der Himmel verfinsterte sich, sein Vater hob langsam den rechten Arm. Joseph rannte los. Nichts hielt seine Beine fest diesmal.

Doch plötzlich erhob sich gewaltiges Brausen und Röhren. Das achteckige Gebäude hinter der Grand Central Station zitterte, Fensterscheiben, Türen, Bäume, Antennen wirbelten aus seiner Richtung über die Bahnhofshalle, krachten vor, hinter, rechts und links von ihm auf die 42nd Street. Holz splitterte, Glas zersprang, und der Orkan stemmte sich gegen Joseph, hob ihn hoch und warf ihn rücklings in Trümmer, Scherben und Geäst.

Seine Hände griffen nach Antennen und Zweigen, er klammerte sich fest. Es gelang ihm, sich aufzurichten. Sein Vater schritt über die Straße auf ihn zu, würdevoll, ohne Eile, der Orkan schien ihm nichts anhaben zu können. Hinter dem Mann im schwarzen Pelz stürzten die Uhr und die Minerva-Statue auf Josephs Vorväter herab. Sein Vater aber war nur noch zehn oder zwölf Schritte entfernt. Schneeflocken hingen in seinem Taratzen-Pelz.

Und dann sah er die Flutwelle – eine gewaltige, dunkle Wand.

Hinter der Bahnhofshalle bäumte sie sich auf. Autos, Hunde, Schiffe, Pferde, Trümmer, Menschen tanzten auf ihrem Kamm. Sie schoss über das achteckige Hochhaus und sprang auf die Bahnhofshalle und die 42nd Street hinunter. Joseph spürte, wie sich die Hand seines Vater um seinen Unterarm schloss.

Es wurde dunkel. Eine Kraft, der sie nichts entgegenzusetzen hatten, riss sie mit sich – ihn, Joseph, und seinen Vater. Sein Vater ließ ihn nicht los. Und als er zwischen Tierkadavern, Autos, Monitoren, Schreibtischen und Regenwassersammlern auftauchte und nach Luft schnappte, hielt sein Vater ihn noch immer fest. Joseph sah, dass er lächelte. Und er sah, wie er zum westlichen Horizont deutete.

Hochhausgipfel ragten dort aus den Fluten. Und dahinter, zwischen Wasser und schwarzem Himmel, wuchs ein roter Glutstreifen. Die Feuerwalze! Was sonst sollte dort von Westen her über den Kontinent rasen? Es konnte nur die Feuerwalze sein. Ringförmig breitete sie sich vom Einschlagort aus und überzog den Planeten mit Brand, Rauch und Asche.

*

Wenige Stunden später betrachtete er sein stoppelbärtiges Gesicht im Spiegel. Hohlwangig und aus tief in den Höhlen liegenden Augen glotzte es ihn an. Die runde Nase mit den ausgeprägten Nasenflügeln schien von Jahr zu Jahr größer zu werden. Die wulstigen Lippen waren rissig und fahler als sonst. Der dunkle Teint hatte die Farbe von trockenem, ausgebleichtem Lehmboden und stand im Kontrast zu dem schneeweißen Langhaar. Vielleicht lag es an diesem Kontrast, dass Josephs Gesicht etwas Überirdisches anhaftete. Wie auch immer – es kam ihm auch heute Morgen fremd vor.

Dyloona hatte zwei Ölleuchter rechts und links des Spiegels auf den Waschtisch gestellt. Wieder war er schweißnass aufgewacht, und diesmal hatte sie ihn aus dem Bett geholt und gewaschen.

Die LED-Leuchten entlang der Deckenleisten spendeten nur spärliches Licht. Auf der Erdoberfläche dämmerte demnach der neue Tag herauf. Ein Zentral-Dimmer passte die Lux-Werte in den Schlafzellen und auf den Gängen des Bunkersystem dem zu- oder abnehmendem Tageslicht außerhalb des Gebäudes an. Roots legte Wert auf einen geregelten Tag-Nacht-Rhythmus der Besatzung. Auch die Schlächter hielt er dazu an. Er schätzte das Gefühl allein wach zu sein, wenn er nachts über die Dächer wandelte oder in seiner Kuppel über Karten und Expeditionsberichten brütete.

Joseph sah Dyloonas Hände durch den Spiegel fliegen. Sie strichen ihm das dichte Haar aus der Stirn und hinter die Ohren, mit Rasierpinsel und Seifenschale rührten sie den Rasierschaum an, sie schäumten seine untere Gesichtshälfte ein, sie strafften seine Haut und ließen das Rasiermesser darüber gleiten, behutsam und flink zugleich. Die Handflächen waren heller, als die bronzehäutigen Handrücken.

Für Joseph spiegelte sich in Dyloonas Händen ihr Wesen wider. Feingliedrig und sehnig zugleich waren sie. So schmal und zerbrechlich sie wirkten, so kraftvoll und geschickt waren sie. Ähnlich ihr Wesen: Unbeugsam und energisch auf der einen, anmutig und weich auf der anderen Seite.

„Hast du wieder von Alxanatan geträumt?“, unterbrach sie seine Gedanken. Mit einem Tuch wischte sie ihm Schaumreste aus Nasenlöchern und Ohrmuscheln.

„Ja.“

Alxanatan – in vielen Sprachen der Barbaren hatte er das Wort so oder ähnlich gefunden. Meistens bezeichnete es nicht allein den Kometen, sondern die Katastrophe insgesamt.

„Früher hast du nicht von ihm geträumt.“

Er fuhr sich über die glattrasierte Haut. „Das stimmt nicht.“

Schon in seiner Jungend geisterten Bilder und Szenen, die er aus Archivmaterial und Berichten kannte, durch seine Träume. Aber nie so häufig und nie so erschreckend wirklichkeitsnah, wie in den letzten Monaten – insofern hatte sie Recht.

„Seit dem Brief träume ich öfter von Alxanatan.“

Seit ihn nach der Eisschmelze mit dem letzten Schiff die Botschaft des Generals erreicht hatte, schwoll die nächtliche Bilderflut stetig an.

Verehrter Mr. Watonga, hieß es in dem Schreiben, noch in diesem Sommer wird Ihr Nachfolger in der eureeschen Basis eintreffen. Wir schwanken zur Zeit zwischen zwei Kandidaten – junge Männer des letzten Geburtenjahrgangs übrigens – vermutlich werden wir uns für einen Neffen des Präsidenten entscheiden. Arbeiten Sie den neuen Mann ein und schiffen Sie sich vor dem kommenden Winter Richtung Heimat ein. Wir erwarten Sie im Laufe des Novembers zur Berichterstattung in Waashton.

Seit dem Brief des Generals suchte dieses Konglomerat aus ISS-Filmaufnahmen, militärischen Filmdokumenten, Amateurvideos und Familienüberlieferung immer häufiger seinen Schlaf heim. Und manchmal, wenn er schweißnass oder sogar schreiend hochfuhr, hielt sich sekundenlang die Überzeugung in ihm, selbst Angehöriger der Alexander-Jonathan-Generation zu sein.

„Erzähl mir nichts.“ Sie trat einen Schritt zur Seite, um ein Fläschchen vom Waschtisch zu holen. Im Spiegel sah er jetzt das Tischchen neben seinem Bett; und die alte Indianerskulptur auf dem Tischchen. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Albträume dich früher aus dem Schlaf gerissen hätten.“ Dyloonas Gestalt im Spiegel verdeckte die Skulptur wieder. Sie schraubte ein Fläschchen auf.

„Das hat nichts zu bedeuten“, sagte Joseph. Außer, dass es zu Ende geht, fügte er in Gedanken hinzu.

„Länger als dein halbes Leben hast du hier gearbeitet. Fast sechzig Winter.“ Sie massierte ein rotes Öl in seine glattrasierte Haut ein – Johanniskraut-Öl. Ein Schiff der Schlächter hatte die getrocknete Pflanze aus dem Süden Eurees mitgebracht. Joseph hatte lange suchen müssen, bis er in den Datenbanken einen Hinweis auf sie gefunden hatte. In den Zeiten vor Alexander-Jonathan sollte sie auch in seiner Heimat gewachsen sein.

„Es muss für dich wie ein persönlicher Alxanatan sein, den Platz für einen Jüngeren zu räumen.“ Dyloona schüttelte den Kopf. Ihre Stimme klang bitter.

So hatte Joseph das noch nie gesehen. Er schwieg. Ihre Hände schraubten das Öl-Fläschchen zu. Sie griffen nach der Bürste und begannen sein weißes Langhaar durchzubürsten. Danach teilten sie sein Haar in drei Strähnen. Kaum konnte er den Bewegungen ihrer Finger folgen, so flink flochten sie den Zopf.

„Ich hasse ihn jetzt schon“, sagte sie leise.

Das Licht der Leuchter spiegelte sich in der Goldfassung ihres Rings. Genau wie er, trug auch sie ihn an der Linken. Ein schwarzer, ovaler Stein, in den ein roter Drachenkopf eingelassen war. Joseph hatte ihn von einem Barbaren anfertigen lassen, den die Schlächter samt seiner Edelsteine von einer siebenjährigen Expedition aus Nordafrika mitgebracht hatten. Der Mann verstand sich auf Kunsthandwerk und Goldschmiedekunst. Das verschaffte ihm seit zwölf Jahren ein leidlich angenehmes Leben in der Basis.

Joseph hatte das Schmuckstück nach dem Vorbild des Siegelrings anfertigen lassen, den er selbst an der Linken trug. Nur dass sein Ring – ein altes Familienerbstück – nicht oval, sondern rechteckig war.

„Willst du die alte Sitte der Ehe wiederbeleben?“, hatte Rocket Roots gespottet, als er den Ring damals an der Hand der Barbarin entdeckte. „Die alte Sitte der Adoption“, hatte Joseph geantwortet. Das war nur die halbe Wahrheit. Zu dieser Zeit hatte er noch mit Dyloona geschlafen.

„Hasse ihn nicht“, sagte er leise, während sie ein Lederband um seinen Zopf knüpfte. „Der Winter weicht dem Frühling, die Frucht neuer Blüte, das Alter der Jugend, das Leben dem Tod.“ Er sprach mit einem tiefen, rollenden Bass.

„Ich hasse ja auch den Tod“, sagte sie trotzig.

So war sie. Er wusste nichts zu antworten.

Eine Zeitlang schwiegen beide. Sie half ihm in seine grauen Thermohosen, seine hohen Schnürstiefel und seine lange, dunkelrote Jacke. Auch die Jacke aus atmungsaktivem Thermomaterial, wie die Hose. Dyloona konnte sich kaum noch an die Zeiten erinnern, in denen Joseph wie alle anderen leichte Baumwollgewänder oder Lederanzüge getragen hatte. Die Thermokleidung hielt ihn einigermaßen warm.

Schließlich nahm sie den schwarzen Pelzmantel vom Kleiderbügel an der Tür und breitete ihn aus. Joseph drehte sich um und schlüpfte hinein.

An dem Mantel erkannte man ihn schon von Weitem in dem weitverzweigten Bunker- und Gebäudekomplex. Sein Vater hatte ihm das wertvolle Kleidungsstück vererbt. So, wie er ihm zuvor die Position des Historikers und Chronisten vererbt hatte.

„Ist ein Schiff gesichtet worden?“, wollte Joseph wissen.

Ihr schmales Gesicht wurde noch um eine Spur kantiger. „Ich habe noch nicht nachgefragt.“ Sie wich seinem Blick aus und öffnete die Tür.

Er glaubte nicht, dass sie ihn anlog. Das hatte sie noch nie getan. Wenn sie heute – anders als sonst nach Sonnenaufgängen – noch nicht mit einer Turmbesatzung gesprochen hatte, dann hieß das weiter nichts, als dass sie Angst hatte. Angst vor dem Schiff, das aus dem Westen unterwegs in den Kalten Sund war. Angst vor dem Mann, der draußen bei der Brücke an Land gehen und ihr Leben verändern würde.

Noch einen Blick auf den hölzernen Indianer. Auch so ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten. Die Farben verblassen, dachte er. Ich muss ihn neu anmalen, solange noch Zeit ist … Er verließ seine Schlafzelle.

„Er wird sowieso erst Ende des Mondes erwartet.“ Dyloona verschloss die Tür hinter ihm. Ihr Bemühen um einen gleichgültigen Tonfall entging Joseph nicht. „Das Schiff kommt also in frühestens vier Tagen an. Vielleicht auch nie, vielleicht ist es angegriffen worden.“

Seite an Seite gingen sie einen breiten Gang, mit hohen, kahlen Betonwänden entlang. Er verlief nicht linear, sondern leicht gebogen. Wenn man ihn geradeaus verfolgte, gelangte man nach etwa vierhundert Metern wieder zur Tür von Josephs Schlafzelle.

„Er kommt heute“, sagte Joseph ruhig. Vor der Lifttür blieb er stehen und drückte auf einen Knopf. Sie hätten einen der Verbindungsgänge zu den Bunkerringen unter den inneren Sektionen benutzen können, doch Joseph wollte frische Luft einatmen und ein Stück Himmel sehen, bevor er sich in seine Arbeitsräume zurückzog.

„Heute?“ Dyloona neigte den Kopf auf die Schulter. Aus schmalen Augen belauerte sie ihn. „Woher willst du das wissen, Alterchen?“ Manchmal, wenn sie stritten, oder sich neckten, nannte sie ihn so. Er war ihr nicht böse deswegen.

„Wenn man so alt ist wie ich, entwickelt man eine Art drittes Auge.“ Die Lifttüren schoben sich auseinander. „Ein Auge, mit dem man weiter und mehr sieht als andere.“

Nach ihm betrat sie den Aufzug. „Dann möchte ich niemals so alt werden wie du, Jofluu!“

*

Sie saßen in seinem Arbeitszimmer – einem ungewöhnlich hellen Raum mit gebogenen Wänden und Gewölbedecke – als die Nachricht kam. Julie Miller-Garrett überbrachte sie.

Joseph saß vor seinem Computer und arbeitete Verhörprotokolle in seinen letzten Bericht ein. Dyloona diktierte ihm.

Wie die Dolmetscher, Priester und Schiffsmeister konnte auch sie lesen und schreiben. Er hatte es ihr beigebracht. Ihre telepathischen Fähigkeiten allerdings hatte er Roots verschwiegen. Sie wäre ihm unweigerlich weggenommen und den Dolmetschern zugeteilt worden. Gefangene mit telepathischen Fähigkeiten waren selten und begehrt. Und sie durften nur die ersten beiden Sektionen der Basis betreten.

Dyloona unterbrach ihr Diktat und blickte durch die hohe Fensterfront nach draußen. Joseph nahm seine Brille ab – eine schwarze Hornbrille mit runden Gläsern. Über den Monitor hinweg sah er, wie die Schleusentüren von Sektion 6 sich auseinander schoben. Eine kleine Gestalt verließ das ringförmige Gebäude und eilte auf Sektion 7 zu. Das Archiv, die Bibliothek und seine Arbeitsräume lagen in Sektion 7.

Joseph erkannte Julie Miller-Garrett an ihrem Gang – sie machte kurze, hektische Schritte und bewegte die angewinkelten Arme und geballten Fäuste dabei, als würde sie mit einem unsichtbaren Gegner boxen – und am Schutzanzug. Sie war die einzige in der Basis, die auch in den inneren Sektionen den Schutzanzug nicht ablegte. Sie vertraute dem Serum nicht.

Julie Miller-Garrett war verantwortlich für die Logistik. Sowohl für die Logistik der inneren Sektionen – also der eigentlichen Besatzung – als auch für die der Expeditionen und der äußeren Sektionen. Ihr Job brachte es mit sich, dass sie viel mit den Schlächtern zu tun hatte. Vielleicht deswegen dieses neurotische Festhalten am Schutzanzug. Die Schlächter nannten sie Meisterin Skadidaukter.

Sie verschwand aus Josephs und Dyloonas Blickfeld. Unter den Fenstern hörten sie das Scharren der sich öffnenden Schleusentüren. Joseph drehte sich nach der Barbarin um. „Sie haben das Schiff gesichtet“, sagte er. Ein Schatten huschte über Dyloonas Miene.

„Weiter.“ Joseph wandte sich wieder dem Monitor zu. Ein kleines Erkundungsschiff, das sie mit der Eisschmelze ins Nordmeer und von dort über einen der großen Flüsse ins Innere des eureeschen Festlandes geschickt hatten, war vor ein paar Wochen zurückgekehrt. Jede Beobachtung, die Schiffsmeister und Magier notiert hatten, jede geographische Skizze, jede Aussage der beiden Gefangenen, die sie mitgebracht hatten, musste dokumentiert werden.

Dyloona starrte in die abgegriffenen Papiere. Sie schluckte, und ihre Kaumuskulatur wölbte sich unter der glatten Haut. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie weiter las. Ihre Stimme klang rauer plötzlich, und sie verhaspelte sich bei jedem dritten Satz. Und als man die Aufzugtüren zischen hörte, und Schritte sich näherten, unterbrach sie das Diktat.

Es klopfte an der Tür. An der rechten Kante des Schreibtisches stand ein Visaphon. Joseph schenkte Julies Portrait und ihren Daten auf dem Display keine Aufmerksamkeit. Aufgrund ihrer Handtellerzeichnung hatte der Sektionsrechner die Herrin der Logistik identifiziert. Joseph aufgrund ihres Ganges.

Und weil er wusste, dass es soweit war.

Er drückte einen der Knöpfe, und die Tür zu seinem Arbeitsbereich schob sich auseinander. Julie Miller-Garrett trat ein. Sie löste die Spangen am Halsansatz ihres Helmes und klappte ihn zurück.

Ein kantiges, zerknittertes Gesicht wurde sichtbar, ein Gesicht, das um zwei Nuancen dunkler war, als zum Beispiel Dyloonas Gesicht. Julie hatte kurzes struppiges Haar, grau an den Wurzeln, sonst rötlich. Zwei tief eingegrabene Falten zogen sich von ihren Nasenflügeln zu ihren Mundwinkeln hinunter. Besonders gesund sah sie nicht aus, und besonders weiblich auch nicht.

„Morgen, Watonga.“ Sie speiste Dyloona mit einem kurzen Nicken ab.

Nur engste Vertraute nannten ihn Joseph. Seit seinem ersten Tag auf der Basis, seit achtundfünfzig Jahren, benutzte man seinen Familiennamen wie einen Rufnamen. Er wollte das so. Einzig Rocket Roots sprach ihn mit Mr. Watonga an.

„Morgen, Julie. Das Schiff kommt?“

Sie machte große Augen. „Du weißt es bereits?“ Fast sah es aus, als wäre sie enttäuscht, ihn mit der Nachricht nicht überraschen zu können. „Woher?“

„Ich weiß es. Wann wird es anlegen?“

„In zwei Stunden, schätz ich. Holst du ihn an der Anlegestelle ab?“

Joseph überlegte. „Wird der Chef dort sein?“

Eine weitere Falte gesellte sich zu unzähligen anderen in ihrem Gesicht. Eine steile, tiefe zwischen den Brauen. „Natürlich nicht.“

„Aber du wirst dort sein, oder?“

„Sicher – ich erwarte elektronische Ersatzteile, Kabeltrommeln, Textilien, Trockennahrung und weiß der Henker, was noch alles. Ich muss die Löschung des Kahns organisieren.“

Joseph nickte langsam. „Ich denke, es reicht, wenn einer von uns draußen ist und die Basis repräsentiert.“

Die Falte zwischen Julies Brauen vertiefte sich. „Er ist dein Nachfolger, Watonga!“

Joseph zuckte gleichgültig mit den Schultern. Dann blickte er zu Dyloona. Die ganze Zeit hatte sie ihn beobachtet. „Du wirst mich vertreten, Dyloona.“

Dyloonas Lider verengten sich, Zorn verdunkelte ihre Miene. Doch sie sagte nichts. Niemals würde sie es wagen, ihm in Gegenwart einer der anderen zwölf Meerakaner zu widersprechen.

„Geh hinaus an die Anlegestelle“, sagte Joseph. „Begrüße ihn und bring ihn in den Gästebereich von Sektion 5. Benutze für den Rückweg nicht den Zug, geh zu Fuß. Sorge dafür, dass er ein Bad nehmen kann und etwas zu essen bekommt. Er soll im kleinen Speisezimmer auf mich warten. Leiste ihm Gesellschaft, bis ich komme …“

Der Bronzeton ihrer Gesichtshaut wich einem wächsernen Grau. Ihre Lippen wurden zu einem farblosen Strich, Angriffslust blitzte in ihren dunkelblauen Augen auf. Doch wortlos legte sie die Papiere auf seinen Schreibtisch und verließ den Arbeitsraum.

*

Der Sturm riss Wolkenfetzen aus dem Dunstgewölbe des Himmels. Joseph zog sich die Kapuze seines Pelzes über den Kopf, als er an eine der fast mannshohen Fensteröffnungen trat. Die Schlächter verständigten sich nur noch mit Handzeichen, seit er den Liftkorb verlassen hatte. Respektvoll hielten sie sich hinter ihm.

Tief sog er die feuchtkalte Luft in die Lungen. Sie brannte auf seiner frisch rasierten Haut. Joseph war einer der wenigen in der Basis, die sich ohne Schutzanzug selbst übelsten Witterungsbedingungen aussetzten und sogar im Kontakt mit den Schlächtern auf den Anzug verzichtete. Selbst jetzt noch, wo er der älteste Meerakaner in der Basis war.

Schon vor Einführung des Serums vor knapp dreißig Jahren hatte er sich ungeschützt an die Erdoberfläche getraut. Genau wie sein Vater, der auch so manche Bronchitis und Pilzerkrankung überstanden hatte. Joseph führte das auf ihre indianischen Gene zurück.

Er stützte sich auf den rötlichen Sims der Maueröffnung – mehr war es nicht, Sturm und Schnee hatten die notdürftig gemauerten Fensterrahmen zerklüftet, und kein Glas schützte hier oben vor Nässe und Wind. Doch man konnte von der Spitze des Turms aus das Umland in einem Radius von fast zwanzig Kilometer überblicken. Vorausgesetzt, es regnete oder schneite nicht, und man erwischte einen nebelfreien Tag.

Etwas mehr als siebzig Meter unter Joseph wölbte sich das Fundament des Rundturms – der Kuppelbau, in dem Rocket und Delilah Roots residierten. Und um dieses Zentrum der Basis bogen sich die sieben Sektionen wie gefrorene Ringe um einen ins Wasser gestoßenen Speer. Schwärzliche Langbauten ohne Anfang und Ende, mit leicht gewölbten Dächern, und einer höher als der andere. Gut tausend-fünfhundert Meter entfernt umgab Sektion 1 den gigantischen Gebäudekomplex wie ein Schutzwall. Über dreißig Meter hoch war der äußere Ringbau. Im Abstand von etwa dreihundert Schritten standen braun vermummte Gestalten auf seinem Runddach – die Tageswachen der Schlächter.

„Palast des Westkönigs“ hatte Dyloona die Basis während ihrer ersten Monate hier genannt. Nie würde Joseph die Angst auf den kleinen Gesichtern vergessen, als die Schlächter sie und die anderen Kinder in eine der Lagerhallen von Sektion 1 hineintrieben.

Die Schlächter nannten die Basis Lokiraaburg und Rocket Roots Residenz Thyrhalla. Geschichten, an die Joseph nicht gern dachte.

Ein breiter Streifen freien Geländes umgab die Basis. Ein paar Buschhaine, Birkengruppen und vereinzelte Kiefern standen dort. Eine Ansammlung kleiner Steinhütten schloss sich zur Küste hin daran an. Nach Norden und Westen hin ging die Siedlung in die Ruinen Malmees über. Aus Kaminen stieg Rauch in den Dunsthimmel. Zwei Straßen führten Richtung Westen von der Basis weg durch die Ruinen. Eine, die Brückenstraße, zur Sundbrücke – undeutlich sah Joseph die Umrisse ihrer gewaltigen Bögen im Dunst über dem Meer verschwimmen – die zweite, die Hafenstraße, zu den Pieren südlich der Brücke, etwa drei Meilen von der Außensektion entfernt.

Einer der Schlächter drängte sich neben ihn und streckte den Arm aus. „Dort liegt das Schiff, Meister Brakizon.“ Er deutete zu den Anlegestellen.

„Das sehe ich selbst“, sagte Joseph schroff. Dabei konnte er auf die Entfernung nur eine Rauchfahne zwischen dem dunklen Streifen des Meeres und dem Dunsthimmel erkennen.

Je älter Joseph wurde, desto krasser empfand er es: Er verabscheute selbst die Nähe der Schlächter. Er hasste es, mit seinem Projektnamen angesprochen zu werden. Er mochte ihre harte, abgehackte Sprache nicht.

Keiner von ihnen sprach Englisch. Gleich zu Beginn des Projekts – vor zweihundertsieben Jahren – hatte man entschieden, lieber unbelauscht von den Schlächtern zu kommunizieren und stattdessen ihre Sprache zu lernen. Auch aus einem zweiten Grund eine weise Entscheidung: Trotz ihrer fehlenden Tötungshemmung und ihrer Kampfkraft – ihrem „Mordinstinkt“, wie Joseph das insgeheim nannte – kam es immer wieder vor, dass ein Schlächter in Gefangenschaft geriet. Wie leicht hätte ein englisches Wort unter der Folter seine Herren verraten.

Nicht jedem Anfänger auf der Basis fiel es ganz leicht, das Kauderwelsch aus Schwedisch, Dänisch und Norwegisch zu lernen. Joseph sprach und schrieb die ungeliebte Sprache fließend. Das gehörte zu seinem Job.

Auf der Hafenstraße näherte sich ein leichter Tank der Außensektion, das Fahrzeug, in dem Dyloona den Mann zur Basis brachte, der bald seinen Projektnamen tragen würde: Meister Brakizon. Abrupt drehte Joseph sich um und ging zum Korbschacht in der Mitte der Plattform.

Selbstverständlich war es ein protokollarischer Seitenhieb gewesen, den Mann nicht persönlich abzuholen. Joseph dachte nicht daran, den Neuen unnötig aufzuwerten. Er hatte seinen angeborenen Stolz oft genug beugen müssen in den letzten sechzig Jahren. Sollte der Bursche doch vor Ehrfurcht erschauern, während er den weiten Weg von der Hauptschleuse durch die weitläufigen Sektionen in den Gästebereich zurücklegte. Sollte er doch warten und dabei spüren, dass es Wichtigeres gab als einen jungen Schnösel aus Waashton.

Aber Josephs Etikettenbruch hatte noch einen zweiten, viel wichtigeren Grund: Er wollte Dyloona Gelegenheit verschaffen, sich vor dem Greenhorn in Szene zu setzen. Er hoffte, sie würde ihre Chance nutzen.

Zwei der Schlächter begleiteten ihn zum Schacht – drahtige Männer in brauner, enganliegender Wildledermontur. Sie waren unbewaffnet. Es gab nichts zu kämpfen hier oben am höchsten Punkt der Basis und über ihrem Zentrum. Schon seit zwei Jahrhunderten nicht mehr.

Ein Balkengestell ragte rechts und links des Schachtes vier Meter hoch bis zur Gewölbedecke der Ausguckplattform. Dort hingen zwei etwa beinlange Seiltrommeln nebeneinander. Ketten verbanden sie mit Zahnrädern und Handkurbeln rechts und links des hüfthohen Holzgeländers, das den Liftschacht umgab. An vier dicken Seilenden zwischen Geländer und Trommeln hing der Liftkorb. Einer der Schlächter öffnete das Leichtmetallgatter, und Joseph trat in den Korb.

Die Schlächter eilten an die Kurbeln und begannen sie zu drehen. Joseph konnte es nicht vermeiden, einen der Männer anzusehen. Gesicht und Skleren waren weder braun noch bleich – ockergelb schien Joseph die angemessenste Farbbezeichnung zu sein. Statt Brauen wölbten sich Hornwülste über wässrig-blauen Augen, statt einer Nase hingen Hautlappen auf eine gespaltene Oberlippe hinunter.

Der Schlächter verschwand aus Josephs Blickfeld. Er atmete durch. Der Aluminium-Korb schwankte, das Quietschen der Zahnräder entfernte sich langsam, LED-Leuchten an kahlen, feuchten Wänden glitten vorbei. Tiefer und tiefer tauchte Joseph ins Halbdunkel hinab.

Er mochte diese zweieinhalb Minuten, in denen er zwischen Himmel und Erde schwebte. In denen er kaum zwei Meter weit sah, und er ganz allein und ihm völlige Untätigkeit gegönnt war. Wegen dieser zweieinhalb Minuten und wegen des Blicks nach Westen ließ er sich mindestens dreimal in der Woche auf den Turm hinauf ziehen. Trotz der vier Schlächter, die in Tag- und Nachtschichten dort oben Dienst taten und ihn mit Meister Brakizon ansprachen.

Der Schacht endete in der oberen der drei Etagen von Sektion Z. Von dort führte eine Treppe hinab zur Schleuse. Joseph hörte eine Männerstimme schreien, als er das Aluminiumgatter des Korbes öffnete. Rocket Roots Gebrüll beunruhigte ihn nicht. Jedes reguläre Projektmitglied in der Basis wusste von den Streitereien zwischen ihm und Delilah und von den Jähzorn-Anfällen des Chefs. Die Schlächter hielten sie sogar für ein untrügliches Indiz seiner göttlichen Abstammung.

Joseph stieg aus dem Schacht. Der Turm war das einzige Gebäude, in dem die erste Projektgruppe keinen Aufzug vorgefunden hatte. Josephs Vater – Jonathan Washington Watonga – hatte die einleuchtende Theorie vertreten, dass der Komet eingeschlagen war, bevor die Alten den gigantischen Gebäudekomplex hatten vollenden können. Schon unter Rocket Roots Vorgängerin hatte man Pläne für den nachträglichen Einbau eines Aufzugs angefertigt.

Als Joseph seinerzeit den Posten des Chronisten und Historikers übernahm, hatte er es noch bedauert, dass diese Pläne und ihre Umsetzung unvollendet geblieben waren. Heute, den Abschied vor Augen, hoffte er, der Einbau eines Lifts würde nicht der einzige unvollendete Plan des „Viking-Project“ bleiben.

*

Bis zum frühen Nachmittag ließ Joseph den Neuankömmling warten. Dann erst schaltete er den Computer in seinem Arbeitsraum aus und fuhr mit dem Lift hinunter in den Bunker-Ring unter Sektion 7. Mit dem Zug legte er die etwas mehr als fünfhundert Meter bis zum Bunker-Ring unter Sektion 5 zurück. Ein kleiner Elektromotor trieb den Zugwagen an. Maximal acht Personen fanden in ihm Platz. Jeder der dreizehn Meerakaner in der Basis konnte das Gefährt bedienen. Auch überirdisch gab es solche Gleisfahrzeuge. Größer als die unterirdischen und mit einem Zusatzwaggon für den Warentransport. Auf acht Zuglinien verkehrten sie zwischen Sektion Z und den acht Hauptschleusen in Sektion 1.

Joseph spielte mit dem Gedanken seine Schlafzelle aufzusuchen und noch ein wenig zu ruhen vor der zweiten Hälfte seines Arbeitstages. Anstrengende Stunden, vermutete er – er musste dem Neuling wenigstens die wichtigsten Räumlichkeiten der inneren Sektionen zeigen. Aber er verzichtete auf den Abstecher auf sein Lager. Er hätte sowieso keine Ruhe gefunden.

Also ging er direkt in den Gästebereich von Sektion 5. Der lag etwa hundertfünfzig Meter von der Bahnlinie entfernt, grenzte an Küche und Gemeinschaftsspeisesaal der inneren Sektionen an und bestand im Wesentlichen aus einigen Lounges, Speisezimmern verschiedener Größe, ein paar Bädern, einer kleinen Bibliothek und einem Dutzend unterirdisch gelegener Schlafzellen.

Aus der Küche hörte er Stimmen und Geschirrklappern, während er den Gemeinschaftsspeisesaal durchschritt. Die Dienerinnen der inneren Sektion bereiteten das Abendessen vor. Gefangene wie Dyloona – sie unterstanden Rachel Vaughn. Genau wie in der Heimat war man auch am Kalten Sund auf Handlanger angewiesen.

Rachel – eine hervorragende Ingenieurin – war neben bautechnischen Fragen für haustechnische und hauswirtschaftliche Belange der Basis zuständig. Rocket Roots, der sie nicht mochte, verspottete sie gern als „Hausdrachen“. Und die Schlächter nannten sie Meisterin Idundaukter.

Beide Flügel des Durchgangs zum Gästebereich standen offen. Joseph trat ein. Ein ungewohnter Geruch lag in der Luft. Kein unangenehmer. Er ging an der ersten Lounge vorbei. President Miguel Fernandez stand auf einem Messingschild an der Tür. Irgendjemand war vor zweihundert Jahren auf die Idee gekommen, die Gesellschaftsräume hier unten nach historischen Persönlichkeiten der World Council Agency zu benennen.

Wie die meisten Räumlichkeiten in der Basis waren auch Ambiente und Einrichtung des Gästebereichs ganz und gar von praktischen Gesichtspunkten bestimmt: Weitgehend schmucklos die Wände, spartanisch und schlicht das Mobiliar, mit einfarbigen Teppichen oder groben Steinfliesen ausgelegt die Böden. Ästhetiker wie Joseph verirrten sich höchstens alle fünfzig Jahre mal ins Team. Sie konnten sich nie durchsetzen, oder wollten es nicht. Es gab Wichtigeres, und wer Lust hatte, konnte seinen Schönheitssinn im eigenen Wohnbereich ausleben.

Wieder hörte Joseph Stimmen – einen Bariton diesmal, kehlig und kräftig. Und dann lachte eine Frauenstimme. Joseph blieb stehen. President Richard Vaughn stand auf dem Schild an der Tür neben ihm. Er lauschte. Männerstimme und Frauenlachen kamen aus einem Raum vier Türen weiter. Die Tür stand offen.

Es war Dyloona, die lachte. Joseph schwankte zwischen Erleichterung und Eifersucht. Er ging weiter. Der fremdartige Geruch verstärkte sich. Irgendwoher kannte er ihn. Dann stand er auf der Türschwelle. Auf dem Messingschild der halb geöffneten Tür ein Schild mit dem Namen der Lounge: President Alexander Iron Roots.

Dyloona lehnte neben einem Schrank, sie wirkte entspannt. Von einem Stuhl vor einem runden Tisch erhob sich ein jugendlich wirkender Mann in einem dunkelblauen Kombi mit vielen Brust- und Beintaschen. Er hatte schwarze Hautfarbe, sein Schädel war schmal und kahlgeschoren.

„Mr. Watonga?“ Ein Anflug von Unsicherheit huschte über seine Miene. Er stellte sein Glas ab und legte seine Zigarre in einen Teller. Mit ausgestrecktem Arm kam er zu Joseph an die Tür. „Ich bin Merlin Roots. Freut mich sehr, Sie kennenzulernen.“

Joseph nickte nur kurz, während er dem Mann die Hand drückte. Kein Wort kam zunächst über seine Lippen. Die Überraschung verschlug ihm die Sprache. Er deutete auf die Sitzgruppe.

„Einen Wahnsinnsbau haben die Alten hier aufgestellt“, sagte Merlin Roots, während sie am Tisch Platz nahmen. „Wissen Sie, aus welchem Jahrhundert er stammt?“ An seiner linken Brusttasche prangte das Abzeichen der WCA – eine Erdkugel aufgespalten von einem Kometen-Keil, darunter Stars and Stripes.

Mit einer Kopfbewegung bedeutete Joseph der Barbarin, sich neben ihn zu setzen. „Aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert.“

Er hatte einen Weißen erwartet. Victor Hymes, der Präsident war ein Weißer. Hatte er seinen Neffen nicht durchsetzen können? Der Fremde griff nach seiner Zigarre. „Sie haben doch nichts dagegen?“ Joseph schüttelte den Kopf.

Weit mehr noch als die Hautfarbe verblüffte ihn der Name des Neuen. Der brachte ihn geradezu aus der Fassung. Ein Roots!

Reichte Rocket Roots Einfluss also tatsächlich schon bis an die Spitze der WCA-Hierarchie. Oder wie sollte Joseph sich erklären, dass ein Roots in Zukunft Entwicklung und Ergebnisse des Viking-Projects dokumentieren würde?

„Sind Sie verwandt mit dem Kommandanten, Mr. Roots?“ Es entsprach Josephs Natur, den direkten Weg zu gehen.

Merlin Roots entblößte sein perlweißes Gebiss. „Na klar, Mr. Watonga. Sonst säße jetzt Niklas Hymes an meiner Stelle vor Ihnen, schätze ich mal. Der Kommandant ist ein Bruder meines Großvaters.“ So viel Offenheit entwaffnete Joseph. Wider Willen empfand er Sympathie für den Burschen.

„Wie war die Reise, Mr. Roots?“ Joseph lenkte das Gespräch in die Bahnen üblicher Konversation. Nach seiner Erfahrung der sicherste Weg, einen Fremden zu unbewussten Selbstauskünften zu bewegen.

„Eine üble Schaukelei, und während der letzten Tage ein Slalom zwischen Eisbergen hindurch …“

In aller Breite ließ Joseph sich die Überfahrt schildern, erkundigte sich dann nach dem Ergehen des Präsidenten und des Generals und nach Neuigkeiten aus der Heimatbasis. Nichts Weltbewegendes. Abgesehen von noch immer ausbleibenden Geburten. Der Preis des Serums und die Strafe der Götter. Ein zu hoher Preis, fand Joseph, und eine gerechte Strafe.

„Wie sind Sie mit den Schlächtern ausgekommen?“, wollte er wissen.

Merlin Roots machte eine begriffsstutzige Miene. „Mit wem bitte?“

„Mit der Besatzung des Dampfers.“

Roots zuckte mit den Schultern. „Holzige Burschen.“ Er grinste wehmütig. „Ich hab die eine oder andere Expedition mitgemacht, an die Ostküste und nach Norden. Wenn man ein paar Mal aus seinem Loch an die Erdoberfläche gekrochen ist, kriegt man allerhand Mutationen zu sehen. Erschüttert haben mich die Kerle also nicht. Bin Schlimmeres gewohnt. Hatte auch nur mit dem Kapitän und seinem Pfaffen zu tun. Der hat mir die Grundzüge ihrer Sprache beigebracht.“ Er lachte. „Ich glaub, es wäre effektiver gewesen, wenn ich ihm in der Zeit Englisch beigebracht hätte.“

Holzige Burschen, dachte Joseph, warte nur ein Weilchen, du wirst sie noch kennenlernen. „Was wissen Sie über die Schlächter?“

„Scheußlicher Name. Heißen die Kerle offiziell so?“ Roots runzelte missbilligend die Stirn. „Es sind unsere Verbündeten auf dieser Seite des Großen Teichs“, fuhr er fort, als Joseph ihm eine Antwort schuldig blieb. „Das hat mir zumindest der General erklärt. Mit ihrer Hilfe versuchen wir dem Chaos auf dieser Seite des Globus wieder ein Stück Zivilisation abzuringen.“

Er sog an seiner Zigarre. Dabei musterte er Joseph, als erwarte er, von ihm eines Besseren belehrt zu werden. Aber Joseph schwieg. „Das glorreiche Viking-Project …“ Er klopfte die Asche auf dem Teller ab. „Hörte bei meinem Bewerbungsgespräch zum ersten Mal davon.“ Dyloonas Blick folgte dem Zigarrenrauch. Er sammelte sich unter den LED-Leuchten an der Decke zu nebelartigen Schwaden.

„Wie man sich in den informierten Kreisen um General Crow erzählt, treibt in diesem Teil der Welt eine Menge kriegerischer Mutanten ihr Unwesen“, fuhr Roots fort. Josephs Schweigen schien ihn zu verunsichern. „In Waashton ist man der Ansicht, dass wir hart durchgreifen müssen, um den Wiederaufbau durchzusetzen. Aber warum fragen Sie, Mr. Watonga? Das wissen Sie doch alles selbst.“

Joseph nickte. Sie hatten dem Jungen also nur die allernötigsten Informationen gegeben. Joseph selbst war es seinerzeit ähnlich ergangen. Präsidenten und Militärchefs hatten von Anfang an dafür gesorgt, dass die Zahl der Geheimnisträger in der Heimatbasis gering blieb.

„Ich bin für Ihre Einarbeitung zuständig, Mr. Roots“, sagte er. „Ich sollte wissen, wie viel man Ihnen erzählt hat. Vermutlich muss ich Sie in das eine oder andere Geheimnis einweihen.“

Roots nickte. „Das hat General Crow angedeutet.“ Seine Miene war jetzt ziemlich ernst. Aus den Augenwinkeln beobachtete Joseph Dyloona. Aufmerksam musterte sie den schwarzen Mann. Joseph vermutete, dass sie ihn belauschte.

„Sagt Ihnen der Name Watonga etwas?“ Eine letzte Testfrage.

„Sollte er?“ Stirnrunzelnd belauerte Roots seinen Gegenüber. Dann blickte er seinem Zigarrenrauch hinterher, als würden darin Bilder der Vergangenheit aufblitzen. „Warten Sie, Sir – mir ist da vor Jahren eine Frau begegnet. Tatsächlich“, jetzt grinste er wieder, „sie hieß Suzanne Watonga. Arbeitete in der Lebensmittelproduktion, wenn ich mich recht erinnere.“

Joseph nickte. Auch das also wusste er nicht. „Meine Urenkelin“, sagte er. „Ihr Sohn ist der letzte Watonga.“

„Tut mir Leid.“ Roots Miene glättete sich wieder. Seine Stimme wurde leiser. „Ein Problem, vor dem viele Familien zu Hause stehen.“

„Alle.“

„Das wollen wir doch nicht hoffen, Sir! Unsere Genetiker arbeiten unter Hochdruck an einer Lösung. Und Ihre auch, wie General Crow mir erzählte.“

„Das ist wahr.“ Joseph stand auf. „Dyloona und ich werden Sie ein wenig durch die inneren Sektionen führen …“

„Und bei der Gelegenheit Rocket Roots vorstellen?“ Merlin Roots drückte seine Zigarre aus.

„Nein.“ Joseph wartete an der Tür. „Ein Gespräch mit dem Kommandanten muss schriftlich beantragt werden.“

Merlin Roots blieb vor ihm stehen. „Rocket Roots gewährt Audienzen?“ Er machte ein verdutztes Gesicht.

„… oder verweigert sie. So ist es.“

*

Joseph wählte den oberirdischen Weg. Zu Fuß gingen sie von Sektion 5 über den fünften Ringhof zu Sektion 6 und dann durch den sechsten Ringhof zu Sektion 7. Das dunkle Grau des Dunsthimmels war einem fahlen Glanz gewichen, und an einer Stelle bohrten sich sogar ein paar Lichtbalken der Nachmittagssonne durch den Dunst. Für Augenblicke fiel der Schatten des Rundturms auf sie.

Dyloona blieb stehen, legte die Handflächen auf die Brust und blickte hinauf zu den Lichtbalken. Stumm bewegten sich ihre Lippen. Die Männer warteten. Joseph streifte die Pelzkapuze vom Kopf, öffnete den Mantel und trat aus dem Schatten. Merlin Roots betrachtete Himmel und Schatten. Und zwischendurch flog ein verstohlener Blick zu der ganz in dunkelbraunes Wildleder gehüllten Barbarin. Er begriff, dass sie betete.

Nach ein paar Minuten verschloss sich das Dunstgewölbe wieder, Balken und Schatten verschwanden. Sie gingen weiter. „Kriegt man nicht allzu oft zu sehen, so ein Naturschauspiel“, sagte Roots. Er lächelte und suchte Blickkontakt mit Dyloona.

Joseph drückte seinen Handballen auf den Scanner, das Schleusenschott von Sektion 7 schob sich auseinander. Dyloona sah ihn von der Seite an, während sie den Durchgang von Sektion 7 passierten. Er verstand die stumme Frage. Doch schweigend führte er Merlin Roots an den Schotten zum Archiv und zur Hauptbibliothek vorbei. Sein Reich war das Allerletzte, was er dem Neuen zeigen würde.

Sie durchquerten den siebten Ringhof und stiegen die Wendeltreppe hinauf, die sich an der Außenwand der etwa zehn Meter hohen Zentralkuppel entlang zum Turmeingang führte. Auch über die beiden Bewohner der Kuppel verlor Joseph kein Wort.

Merlin Roots trug einen grauen Thermoanzug, weiter geschnitten und aus leichterem Stoff, als die in der Basis seit Jahrzehnten verwendeten. Das Schiff hatte zwei Dutzend davon mitgebracht. Am Hüftgurt des Schwarzen baumelte ein Driller in einem Kunststoff-Holster. Jeder in der Basis besaß diese Faustfeuerwaffe und einen genau bemessenen und registrierten Vorrat an Explosivgeschossen. Doch nur Delilah Roots und Frederic DeLano trugen die Waffen mit sich herum.

Sie stiegen in den Alu-Korb. Der Neuling zögernd und machte keinen Hehl aus seinem Unbehagen. „Er trägt sechs Personen“, beruhigte ihn Joseph. Dyloona zog an den Seilen, eine Glocke ertönte von oben. Die Seile strafften sich, und hoch ging es.

Warum der Turm über keinen Aufzug verfüge, wollte Roots wissen. Joseph erklärte es ihm. Das Quietschen der Zahnräder und das Knarren des hölzernen Flaschenzuggestells näherte sich. „Die Bauherren konnten den Rohbau des Turmes nicht mehr vollenden“, sagte Joseph, während sie durchs Halbdunkel nach oben schwankten. „General Roots hat die obere Plattform seinerzeit mit Steinen aus den Trümmern Malmees bauen lassen.“

Merlin Roots nickte. Mit General Roots konnte der junge Mann natürlich etwas anfangen. Einer seiner glorreichen Ahnen. General Amoz Stonebreaker Roots – ein Enkel von Präsident Alexander Iron Roots, und der Gründer dieser Basis.

Die vier Schlächter wichen ehrfürchtig zurück, als Merlin Roots aus dem Liftkorb stieg. Joseph vermutete, dass sie ihn im ersten Moment für Meister Thorzon hielten. Meister Thorzon – so nannten sie Rocket Roots.

Einer der Turmwächter trug eine Augenklappe, dem zweiten ragten die oberen Schneidezähne weit über die Unterlippe, und der dritte hatte außer dem Daumen nur zwei Finger an jeder Hand.

Auch als sie hinter ihnen an der Fensteröffnung standen und den jungen Roots längst als Fremden eingestuft hatten, blieben sie unruhig. Aus den Augenwinkeln sah Joseph, wie sie von einem Fuß auf den anderen traten, sich gegenseitig anschauten und den geschwungenen Kolben des Drillers an Merlin Roots‘ Hüfte beäugten. Sie warteten auf eine Erklärung, wollten wissen, was die Anwesenheit des Fremden zu bedeuten hatte.

Joseph ignorierte sie. Es wollte ihm einfach nicht über die Lippen – dieser hier wird euer neuer Meister Brakizon. Nein, noch war er Chronist und Historiker des Viking-Projects. Sie würden es früh genug erfahren. Außerdem hätte der Neue sich nach dem Projektnamen erkundigt.

Ein Aufruf des Erstaunens entfuhr Merlin, als er sich in die Fensteröffnung beugte und den gewaltigen Gebäudekomplex von oben überblickte. „Unglaublich! Einfach unglaublich! So etwas sollten wir zu Hause bauen! Jetzt wo wir das Serum haben …“

„Wir sind zu wenige. Zehntausend Arbeitskräfte wären nötig, schätze ich. Und stellen Sie sich die Massen an Baustoffen vor, die wir bräuchten.“ Joseph schüttelte den Kopf. „Ausgeschlossen.“

Im Telegrammstil erklärte er ihm die Anlage. „Der Turm ruht auf Sektion Z, der Kommandozentrale …“

„Mein Großonkel wohnt in der Kuppel?“

Joseph nickte. „Sektion 7 Bibliothek, Archiv, Konferenzsäle, Zentralrechner und Zentrallabor. Auch die Kühlräume für das Zellmaterial sind dort untergebracht.“ Er spürte den neugierigen Seitenblick des Mannes, ignorierte ihn aber. „Sektion 6 Klinikbereich und Laborräume, Sektion 5 Wohnbereich der Besatzung, Zentralküche, Lebensmittellager und -sterilisation, Gästebereich. Sektion 5 bis Z nennen wir die inneren Sektionen, die äußeren Sektionen sind weitgehend der Lebensmittelproduktion und den Schlächtern vorbehalten …“

Ohne sich auf längere Erklärungen einzulassen nannte er die wesentlichen Funktionen der äußeren, größeren Sektionen: Treibhaus, Tiergehege, Lagerhallen, Kasernen, Waffen-und Maschinenproduktion, Werft, Mannschaftsräume der Schlächter, und so weiter. Ein paar Tage noch, dann würde er dem Neuen den Lageplan ausdrucken. Jeder Sektionsabschnitt und seine Bedeutung war darin erklärt.

„Wer baut so eine Anlage?“ Merlin Roots kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. „Und zu welchem Zweck?“

„Der Vorgänger meines Vaters hielt es für eine unvollendete militärische Anlage“, sagte Joseph. „Mein Vater selbst legte sich nie fest, er glaubte aber, dass hier ein Hochsicherheitstrakt für gefährliche Kriminelle entstehen sollte. Die Verhaltens- und Genanalysen der Eingeborenen in der Umgebung bestärkten ihn in diesem Verdacht.“

Roots spähte über die Schulter nach hinten, wo zwei Schritte entfernt die Männer mit den missgebildeten Gesichtern warteten. „Die Genanalysen der Schlächter?“, fragte er mit gesenkter Stimme. Joseph nickte. „Und Sie, Mr. Watonga? Wie denken Sie über so eine Verschwendung von Ressourcen an Material, Arbeitskraft und Gelände?“

Joseph lachte trocken. „Verschwendung? Sie legen unsere heutigen Maßstäbe an, Mr. Roots. Die Familien des Weltrates könnten wir in den inneren Sektionen unterbringen, ohne dass einer dem anderen jeden Tag begegnen müsste. Vor Alexander-Jonathan aber herrschte eine Bevölkerungsdichte, von der wir uns keine Vorstellungen machen. In Zentral-Euree lebten über dreihundert Menschen auf einem Quadratkilometer.“

„Woher wissen Sie das?“

„Wir haben Datenträger von Quantencomputern entdeckt. Darunter fanden sich Bevölkerungsstatistiken von der Jahrtausendwende.“

„Und sie meinen, der Komplex war als Wohnhaus geplant?“

„Nein. Zur Warenpräsentation.“

„Zur Warenpräsentation?“ Das schwarze Gesicht nahm wieder den Ausdruck ungläubigen Staunens an. Das war einer der Punkte, die Joseph an Roots gefielen: Diese Fähigkeit zu staunen.

„Nun, Mr. Roots – die Zeit vor Alexander-Jonathan war geprägt von intensiver Produktion, von Warenaustausch globalen Ausmaßes und von einem Konsumverhalten, das aus unserer heutigen Sicht pathologisch erscheinen muss. Uneingeschränkter Warenverkehr schien bei den Alten die Maxime politischen und ethischen Handelns gewesen zu sein. Und dazu gehörte es nun einmal, zu zeigen, was man anzubieten hat. Wie Sie wissen, gab es bis zum Jahre 2012 Hunderte von Nationen. Und wenn jede ihre Spitzenprodukte präsentierte, brauchte man schon ein bisschen Platz.“

„Auch das wissen Sie von den neuentdeckten Datenträgern?“

„Unter anderem. In trockenen Sommern habe ich so manche Ausgrabungen in den Ruinen einiger Großstädte geleitet. Vor siebenunddreißig Jahren bin ich mit einer kleinen Expedition in die Gebiete an der Südküste des Kalten Sundes vorgestoßen. Wir haben drei Sommer lang in einer zerstörten Stadt gegraben, die sie früher Hamburg nannten. Heute heißt sie Ambuur. Vor siebzehn Jahren war ich drüben an der Küste des ehemaligen Dänemarks, dort, wo einst die Brücke hinführte. Kobenhachen heißt bei den Barbaren heutzutage der Trümmerhaufen auf der anderen Seite. Und in Malmee selbst kenne ich fast jeden Stein.“

Merlin Roots‘ Blick hatte sich von Gebäudekomplex und Küstenlandschaft gelöst. Aufmerksam musterte er das knochige Gesicht des Alten. Ganz Historiker war Joseph jetzt.

„Ob sie es glauben oder nicht, Mr. Roots: Kaum ein Haus, in dem ich nicht Computergehäuse und mindestens eine Bildröhre fand. Verrostete Karosserien dieser automobilen Sechssitzer auf Schritt und Tritt, Reste von irgendwelchen elektrischen Geräten unter fast jedem Schutthügel …“ Joseph winkte ab. „Was erzähle ich Ihnen, Sie sind selbst weit herumgekommen.“

Roots nickte. „Und Sie glauben, die Alten wollten in diesem Gebäudekomplex solche Waren ausstellen?“

„Ich bin fast sicher. Es gab damals so eine Art globalen Marktplatzes. Im Zwei- oder Drei-Jahres-Rhythmus wurde er irgendwo auf dem Planeten aufgeschlagen. Ein paar Mal wohl auch drüben in Meeraka. Haben Sie nie davon gehört?“

„Nein. Nie.“ Roots spähte zum Meer. Der Dunst hatte sich gelichtet. Rauchfahnen hingen über sechs länglichen Schatten, die sich langsam der Küste näherten. „Eine kleine Flotte. Über wie viele Schiffe verfügen diese Burschen?“ Er deutete mit dem Daumen über die Schulter.

„Wir haben fast zweihundert Einheiten“, sagte Joseph. „Der Haupthafen liegt weiter nördlich. Diese sechs Schaufelraddampfer werden morgen zu einer langen Expedition nach Zentral-Euree aufbrechen. Ein Erkundungsschiff ist erst vor Kurzem von dort zurückgekehrt.“

Joseph wandte sich vom Fenster ab und ging zurück zum Schacht. „Zu meinen Aufgaben gehört es, die Kapitäne und Magier auf den Schiffen in die alten Karten einzuweihen und ihnen eine Art Fragen-Katalog mit auf die Reise zu geben.“ Er stieg in den Korb. „Und nach jeder Expedition dokumentiere ich ihre Berichte und werte sie aus.“

Dyloona drängte sich neben ihn, Merlin Roots schloss das Metallgitter. „Warum nimmt niemand von uns an der Expedition teil?“

„Infektionsgefahr.“ Der Aufzugkorb setzte sich in Bewegung. „Früher bin ich ein paar Mal mitgefahren …“ Joseph verstummte. Erinnerungen stiegen in ihm hoch. Erinnerungen an brennende Flusssiedlungen, schreiende Frauen und Kinder und das Stöhnen von Verwundeten. Er schüttelte die Bilder ab.

„Vor drei Jahren kam Major DeLano von einem Besuch in Waashton zurück.“ LED-Leuchten an feuchten Wänden glitten vorbei, Knarren und Quietschen entfernte sich. Joseph wollte das Thema wechseln. „Er erwähnte Deserteure, die sich als Rebellen versuchten. Hat man sie inzwischen unschädlich gemacht?“

Major Frederic DeLano war verantwortlich für Strategie und militärische Ausbildung der Schlächter. Der Herr der Kasernensektion. Nur Rocket Roots fürchteten die Schlächter noch mehr. Sie nannten DeLano Meister Tyrzon.

Merlin Roots winkte ab. „Eine unbedeutende Bande. Running Men nennen sich die Terroristen. Wir werden sie bald erledigt haben, eine Frage der Zeit.“ Sein Grinsen hatte etwas Bemühtes. „Wenn Sie in ein paar Monaten im Office des Präsidenten sitzen und Bericht erstatten, wird man Sie vielleicht schon einladen an ihrer Hinrichtung teilzunehmen.“

Sie schwiegen, bis der Korb unten aufsetzte. Dyloona lief vor ihnen auf der Treppe. Während Joseph neben Roots die Stufen hinunterstieg, beobachtete er, wie die Augen des schwarzen Mannes an ihrer Gestalt hingen. Ohne Zweifel, sie gefiel ihm. Eine Idee blitzte in Joseph auf …

Vor dem Hauptschott zu Sektion Z blieb Roots stehen und lauschte. Musik drang aus dem Inneren der Kuppel – pathetisch und düster. „Was ist das?“

„Unser Kommandant lässt sich zu neuen Taten inspirieren.“ Joseph gab sich keine Mühe, den bissigen Unterton zu vermeiden.

„Ich habe meine Magisterarbeit über die Musik vor Alexander-Jonathan geschrieben und jede erreichbare Datenbank durchforstet“, Roots neigte den Kopf. Mit geschlossenen Augen lauschte er jetzt, „die hier ist mir nie begegnet.“

„Eine Expedition hat einen DNS-Computer im ehemaligen Oslo ausgegraben. Auf seiner Datenbank fanden wir diese Musik.“ Jedes Mal, wenn er an die Berichte dieser Expedition dachte, schnürte es Joseph das Herz zusammen. Er wandte sich ab, um dem anderen sein Gesicht nicht zu zeigen

„Noch nicht lange her“, fuhr er fort. Er hörte Roots und Dyloonas Schritte hinter sich. „Ein Komponist, den sie südlich des Kalten Sundes sehr schätzten. Zweihundert, dreihundert Jahre vor Alexander-Jonathan. Hagner, Wackner, Wagner, oder so ähnlich – ich hab den exakten Namen vergessen. Mich hat er nicht überzeugt.“ Die Idee hielt sich hartnäckig in seinem Kopf.

„Anders als meinen Großonkel, wie es scheint.“

Joseph legte die Hand auf den Scanner des Schleusentores von Sektion 7. „Anders als Meister Thorzon, genau.“

„Meister Thorzon?“ An Josephs Seite betrat Roots den Durchgang. Er lächelte Dyloona an, und sie erwiderte sein Lächeln. Und dann wieder an Joseph gewandt: „Merkwürdiger Spitzname.“

„Es ist kein Spitzname. Es ist sein Projektname, und der hat eine genau kalkulierte Bedeutung.“ Die Idee war verrückt, aber sie elektrisierte ihn. „Haben Sie etwas Geduld, Merlin. Sie werden alles erfahren.“

Während sie zurück zu Sektion 5 liefen, dachte Joseph seine Idee durch. Indem man von ihm erwartete, Roots in das Viking-Project einzuweihen, hatte man ihm gleichzeitig die Macht gegeben, es aus seiner Perspektive zu schildern. Zum ersten Mal machte er sich das klar: Niemand konnte ihn daran hindern, seinem Nachfolger zusammen mit den Fakten auch seine Gedanken darüber zu liefern. Niemand konnte ihn daran hindern, ihm sein altes Herz wenigstens ein bisschen zu zeigen – den heimlichen Schmerz, über den er nicht einmal mit Dyloona sprechen konnte; seine Selbstverachtung, die ihn einsam gemacht hatte, und sein schlechtes Gewissen, das ihm manchmal den Schlaf raubte.

„Wie haben Sie sich für dieses Projekt qualifiziert, Merlin?“ Statt den Neuen zurück in den Gästebereich zu führen, blieb Joseph vor dem Aufzug stehen. In seinem Wohnbereich gab es keine unerwünschten Ohren, die zufällig mithörten. Er legte seine Hand auf den Scanner. „Ich meine – was haben Sie getan, bevor Sie sich für ein Projekt in Übersee beworben haben? Wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen?“ Die Aufzugtüren schoben sich auseinander.

„General Crow persönlich hat mich angesprochen. Vorher war ich sechs Jahre lang Expeditions-Dokumentator …“