Die Wohngemeinschaft - Alexander von der Decken - E-Book

Die Wohngemeinschaft E-Book

Alexander von der Decken

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Beschreibung

Die Geschichte spielt in Barcelona in den achtziger Jahren. Sie schildert die Erlebnisse von jungen Leuten einer Wohngemeinschaft, die den ökonomischen Zwängen entkommen wollen und dabei in einen tödlichen Kreislauf geraten. Der Turbokapitalismus heutiger Prägung ist der Humus, auf dem solche Geschehnisse jederzeit wieder gedeihen können. Die Geschichte ist frei erfunden, Namen und Figuren sind der Phantasie entsprungen. Ähnlichkeiten sind daher dem Zufall geschuldet.

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Seitenzahl: 116

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Alexander von der Decken

Die Wohngemeinschaft

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Die Wohngemeinschaft

Impressum neobooks

Die Wohngemeinschaft

1

Ruhig setzt die Maschine Amsterdam-Barcelona auf dem Rollfeld auf. Vor zwei Stunden hatte sie in Amsterdam abgehoben. Langsam rollt sie aus. Sie erhebt sich von ihrem Sitz und geht den Gang in Richtung vorderem Ausgang. Seltsam wieder hier zu sein, denkt sie, während sie das Flughafengebäude betrachtet. Ihre Gedanken gleiten in die Vergangenheit, sie merkt, sie ist machtlos. Bilder werden klar, ihr ist, als blicke sie in Wasser, alles ist zu sehen, doch nichts zu erkennen. Erst als sie den Blick vom Gebäude losreißt, beruhigen sich ihre Gedanken. Die letzten Wochen waren vergangen, als sei nie etwas geschehen. In den Zeitungen hatte nichts gestanden und ihre Leute hatten nicht versucht, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Sie haben nicht weitergemacht, nein, ganz bestimmt nicht.

Wie in Trance geht sie auf das Flughafengebäude zu. Es gibt kein Zurück. In der Falle! Ich sitze in der Falle, ihre Gedanken hämmern. Ihr wird warm. Schweißperlen bilden sich auf der Stirn. Bleib ruhig, denkt sie. Ganz ruhig, du musst jetzt ruhig bleiben. Alles ist in Ordnung. Du darfst nicht auffallen. So wie du dich aufführst, hält dich jeder an und sei es, um dein Gepäck genauer zu kontrollieren – und wer weiß, wie es dann weiterginge. Ruhig, ganz locker, noch fünf Minuten und alles ist vorbei, versucht sie sich zu beruhigen. Und wenn doch, nein, unmöglich, wie denn, sie haben ganz bestimmt aufgehört. Sie war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie versucht ihrem Schritt etwas Energisches zu verleihen, merkt aber, dass es unecht wirkt. Ich mache mich verrückt, denkt sie. Es ist doch überhaupt nichts, es kann gar nichts sein! Keine Zeitung hat berichtet, keiner hat versucht, sie zu benachrichtigen. Sie hatte einmal bei Marissa angerufen, sie hatte nichts gesagt. Ich steh das nicht durch, ihre Gedanken wirbeln durcheinander. Wenn nun doch alles aufgeflogen ist und mich gleich jemand anspricht? Die Zweifel lassen sich nicht niederringen. Sie verzieht ihr Gesicht zu einem gequälten Lächeln. Sie betritt das Gebäude. Man oh man, nun beruhige dich endlich, über die Sache ist längst Gras gewachsen, alles ist okay. Endlich! Ihre Selbstsicherheit kehrt zurück. Ein angenehmes Prickeln durchzieht ihre Adern. Wärme durchströmt ihren Körper. Sie fühlt sich gut und geborgen. Ein komisches Gefühl, denkt sie. Mit ruhiger Hand gibt sie dem Beamten ihren Pass. Der guckt beiläufig auf das Dokument. Dann die Gepäckkontrolle. Zu verzollen hatte sie nichts, wäre ja auch blöd gewesen, denkt sie und geht weiter zum Tisch, auf dem der Koffer geöffnet wird. In Sicherheit, nun kann nichts mehr passieren. Ich hab es doch gewusst, denkt sie und fühlt sich besser. Der Beamte durchsucht gelangweilt, aber zeitraubend ihr Gepäck. Die Panik ist weg. Ihr ist, als durchdringe die aufgehende Sonne den Morgennebel.

„Darf ich bitte noch einmal Ihre Papiere sehen?“, fragt der Beamte freundlich.

Sie reicht ihm den Pass, vermeidet aber jeden Blickkontakt.

„Würden Sie mir bitte zu einer Leibesvisitation folgen!“, sagt nun eine Beamtin freundlich, die wie aus dem Nichts aufgetaucht ist und ihren Pass in der Hand hält. Sie folgt der Beamtin. Das schwere Klacken, mit dem die Tür ins Schloss fällt, weckt sie schlagartig auf. Irgendetwas stimmt hier nicht, schießt es ihr durch den Kopf. Zweifel legen sich wie ein schwerer Umhang um ihre Schultern. Die Personen in dem Raum, der auf sie einen kalten und sterilen Eindruck macht, sehen aus wie Wachsfiguren. Ihre Gesichter unnahbar, kalt und ohne jede Regung. Nichts mehr von Freundlichkeit. Ein Tisch trennt sie von diesen Personen. Sie beginnt zu verstehen, ohne es glauben zu können. Ohnmacht und Leere unterdrücken ihre Angst. Es ist das Unabänderliche, Endgültige des Augenblicks. Ihr ist alles klar, dennoch ist da die verzweifelte Hoffnung auf Rettung. Doch auch sie beginnt zu schwinden, zu lange dauert das Schweigen in dem Raum. Warum sagt denn keiner was, denkt sie. Es war aus. Sie fühlt die stechende Klarheit im Kopf. Sie wissen es – sie wissen alles! Ihr Puls hämmert. Wieder dieses Prickeln, diesmal jedoch völlig anders. Sie fühlt sich wie betrunken, irgendwie weit weg, sie glaubt nicht, in dem Raum zu sein, sondern alles nur zu beobachten, nicht selber betroffen zu sein. Sie will etwas sagen, aber ihr Hals ist zugeschnürt, sie will schreien, einfach nur etwas sagen, irgendetwas, Hauptsache, etwas sagen. Doch das Hämmern in ihrem Kopf zertrümmert jeden klaren Gedanken.

„Heißen Sie Gimena Hernandez“, fragt eine der Personen.

Sie nickt, unfähig zu reden, zaghaft mit dem Kopf. Es ist ihr unmöglich zu erkennen, wie viele Personen vor ihr stehen, ob sie Uniform tragen und was sie tun. Vor ihren Augen beginnt sich die Welt zu drehen.

„Sie sind verhaftet!“

Sie fragt nicht warum. Wozu auch, sie wissen alles. Ich bin verloren! Dieser Gedankte wächst zu riesengroßen Buchstaben.

„Mein Kind“, sagt sie kaum vernehmbar.

„Dafür ist gesorgt“, antwortet eine der Personen.

Jemand beginnt in kurzen abgehackten Sätzen so etwas wie ein Gedicht aufzusagen, zumindest scheint es ihr so. Sie wird auf etwas hingewiesen. Sie ist wie in Trance, sie versteht nichts von alldem. Warum nur, denkt sie immer und immer wieder. Warum gerade jetzt, wo doch alles wieder gut zu sein schien. Warum bin ich bloß zurückgekommen? Erst jetzt beginnt sie zu begreifen, die Vergangenheit drängt in die Gegenwart, schiebt alle Zweifel beiseite und lässt keinen Raum für Spekulationen. Ihr ist, als schöben sich die Wände auf sie zu, dichter, immer dichter – bis sie sich nicht mehr bewegen kann. Die Gedanken türmen sich auf, Gedanken an das, was geschehen war, an ihre Leute, an all die vielen Jahre, die vor ihr liegen und an ihr Kind. Ich bin einsam, die Wucht dieses Gedankens schleudert sie aus dem Hier und Jetzt, sie befindet sich im freien Fall in einen endlos tiefen Brunnen, wild um ihre eigene Achse rotierend. Ist das alles nur ein Traum? Ihr wird schlecht, der Puls rast, sie bebt vor Panik, bis sie das Gleichgewicht verliert. Alles dreht sich – ihr wird schwarz vor Augen.

Sie spürt einen festen Griff in der Achselhöhle. Jemand setzt ihr ein Glas mit einer kalten Flüssigkeit an die Lippen. Instinktiv nimmt sie einige Schlucke. Es hört auf sich zu drehen und sie fühlt sich klarer. Zurück bleibt die Angst. Angst vor dem, was kommt. Sie blickt starr auf den Fußboden. Die kleinen Steine des Bodenmosaiks formen sich zu Figuren. Sie glaubt einen Kopf zu sehen und Landkarten zu erkennen, die in dem Moment verschwimmen, in dem das Starren einem Betrachten weicht. Sie reißt den Blick vom Boden los und schaut in die Leere des Raumes. Jemand sagt etwas zu ihr, sie versteht es nicht. Dann fühlt sie einen sanften Druck in der Achselhöhle. Zwischen zwei Personen verlässt sie das Gebäude durch einen Hinterausgang. Sie riecht die Luft, kann sie fühlen, saugt sie ein und versucht, sie zu schmecken. Die letzten Luftzüge in Freiheit, denkt sie. Am liebsten würde sie gar nicht mehr ausatmen. Jemand fasst sie am Hinterkopf und drückt sie sacht vornüber in ein Auto, das sich sofort in Bewegung setzt.

Diese Arschlöcher, denkt sie, konnten einfach nicht genug kriegen. Verdammt, sie ist sich fast sicher, es muss so gewesen sein, diese Idioten konnten die Schnauze einfach nicht voll kriegen und haben Ding nach Ding weitergedreht. Sie empfindet eine ohnmächtige Wut. Sie hatten sie mit hineingerissen, sie konnte nichts dafür. Mit jedem Mal war sie automatisch ein Stückchen weiter drin in der ganzen Scheiße. Sie hätte nie mitmachen dürfen, denkt sie, wobei ihr die Sinnlosigkeit dieser Gedanken klar ist. Hätten sie damals rechtzeitig die Finger davon gelassen, alles wäre gut gegangen. Niemand hätte etwas gemerkt. Unter Verdacht hatten sie damals nicht gestanden. Die Polizei wusste ja nicht einmal, in welche Richtung sie ermitteln sollte. Zumindest hatte es so in den Zeitungen gestanden. Und dass sie nicht erwischt worden waren, war der beste Beweis. Irgendwann wären die Akten geschlossen worden und in den Archiven verschwunden. Halt ein ungeklärter Fall mehr.

2

Sie sieht sie noch alle um den Küchentisch sitzen und stundenlang darüber reden, dass es nun das letzte Mal sei und dass sie endgültig damit aufhören wollten. Sie sieht sie alle um den Tisch sitzen, diese Vollidioten.

Joaquin, der entschlossenste und irgendwo auch brutalste von allen, dann Enrique, ein ehemaliger Student, und Walter, ein Deutscher aus Köln, der eigentlich gar nichts machte, außer den Schotter von seinem Alten durchzubringen. Und schließlich war da noch ihre Freundin Marissa. Sie hatte mit ihrer Beziehung zu Walter das Denken aufgegeben, er wies ihr den Weg in den Wahnsinn. Warum und wieso weiß sie heute nicht mehr. Es war einfach so gewesen. Sie sieht sie alle genau vor sich. Dabei hatte im Grunde genommen alles recht gut begonnen. Sie war damals schwanger von einem Typ, der sich, als er es erfuhr, gleich aus dem Staub machte. Eine Zeit lang hatte sie ziemlich bescheuert dagestanden. Aber zusammen mit Marissa, die sich in der Zeit um sie kümmerte, wollte sie eine Wohnung suchen. Dass sie das Kind bekommt, das war für sie von Anfang an klar gewesen – und Marissa wollte zu Hause raus. Was bot sich also mehr an, als zusammenzuziehen? Zwar war es mit ihrer ursprünglichen Absicht zu studieren dann nichts mehr. Aber sie war sich sowieso nie ganz im Klaren darüber gewesen, was sie so interessierte, dass sie es auch studieren könnte. Außerdem wäre es an den Finanzen gescheitert. Ihre Eltern hätten ihr kein Geld geben können, selbst wenn sie gewollt hätten – sie hatten keins. Es wäre alles Quatsch gewesen und hätte nichts gebracht. Mit Marissa und der Wohnung glaubte sie, einen Anfang machen, einen Sinn in ihr Leben bringen zu können. Marissa hingegen hatte von Hause aus die Möglichkeit, studieren zu können, wollte es auch. Pharmazie. Die Eltern besaßen zwei große Apotheken.

Tatsächlich hatten sie bald eine Wohnung gefunden. Zu ebener Erde. Drei Zimmer, Küche und Bad, in einem quadratischen Klotz von Haus, in dem ungefähr 15 Familien lebten. Sie hat es nie genau gewusst, Nachbarschaft interessierte sie nicht. Hauptsache, der Preis stimmt. Für zwei Personen war es machbar. Sie hatte sich einen Job in einer Druckerei gesucht und war erstaunt gewesen, relativ schnell und unkompliziert einen zu finden. Marissa studierte vor sich hin und sie ging zur Arbeit. Genau erinnern konnte sie sich noch an den ersten Tag in dieser Druckerei. Sie war eigentlich über alles erstaunt und irritiert gewesen, hatte es mit ihren Vorstellungen von einer Druckerei doch nur wenig zu tun. Da war niemand gewesen, der ihr irgendetwas gezeigt hätte, sie war mit einem Mal unter ihnen und das schien in Ordnung so. Ihr war, als sei sie schon immer dort gewesen. Keiner kümmerte sich sonderlich um sie und doch war eigentlich immer jemand da, wenn etwas nicht klappte. Sie machte dieses und jenes, ohne einen festen Arbeitsplatz zu haben. Für sie war dieser Umstand damals neu, aber auch verunsichernd gewesen. Mal stand sie am Rüttler, dann an der Druckmaschine. Aber sie glaubte, damit im Laufe der Zeit fertig werden zu können. Gedruckt wurden hauptsächlich politische Schriften. Flugblätter, Zeitschriften, Informationsschriften und dergleichen mehr. Betrieben wurde der Laden von vier oder besser eigentlich nur drei Leuten. Antonio. Er kümmerte sich um die Aufträge. Ihn sah man nur selten in der Druckerei. Er war Student und, zumindest ihr, sympathisch. Er war um die 1,95 Meter groß und hatte einen wilden Vollbart. Wenn er doch mal durch die Druckerei kam, wirkte er wie ein Riese, der sich durch ein viel zu kleines Haus zwängt. Das mochte auch daran gelegen haben, dass er sich ungelenk bewegte. Wenn er ging, hatte man den Eindruck, er knicke seine Kniegelenke überhaupt nicht ein, sondern bewege seine Beine aus den Hüften heraus. Diese Unbeholfenheit war ihr vom ersten Augenblick an sympathisch gewesen. Dann war da Alejo, ein Bücherwurm, schmal, ein asthmatischer Typ, bei dem nach seinen Büchern lange Zeit gar nichts kam, bevor die Bücherei folgte. Er machte den Satz. Trotz seiner Unscheinbarkeit ging auch von ihm etwas Sympathisches aus. Sie konnte nicht beschreiben, was es war. Klappte mal etwas nicht, er war da, wie ein unsichtbarer Schatten war er allgegenwärtig. Vielleicht war es das. Sie wusste es wirklich nicht. Mitunter rannte da noch so ein komischer Vogel zwischen allen herum. Er fuhr eigentlich nur mit seinem Renault in der Gegend herum, brachte dieses, holte jenes. Und wenn es mal allzu dicke kam, half er mit aus. Und schließlich war da noch Enrique. Ein echter Hitzkopf. Ihn als Linken zu bezeichnen träfe nicht den Kern, links von links wäre zutreffender. Er lehnte jede Parteizugehörigkeit ab. Er war der blanke Nihilismus auf zwei Beinen. Nichts, aber auch gar nichts vermochte ihn zu überzeugen. Seine Lebensphilosophie bestand aus dem Wort „Nein“. Jede Art von Festlegung war für ihn der Anfang eines alles tötenden Spießertums. Er bekämpfte im Grunde genommen sich selbst, seine Existenz, die er in einer Verknüpfung von Sachzwängen gefangen sah. Die Gesellschaft war für ihn eine Verschachtelung von Bevormundung, Ausnutzung und Entsorgung, die es zu zerschlagen gilt. Sei es das abgebrochene Studium, er war nicht gewillt, ein Gesellschaftssystem zu akzeptieren, dessen Wertmaßstab der Leistungsgedanke war und sonst nichts. Oder sei es die Arbeit in der Druckerei, durch die er in Form von Steuern das alles mitfinanzierte und somit erst ermöglichte. Für ihn war das alles ein großer Kreislauf, den er nicht in Gang halten wollte. Er war ein Anarchist, doch damals wusste sie noch nicht, was das war. Das also war Enrique.

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