Die Worte des Lichts - Brandon Sanderson - E-Book

Die Worte des Lichts E-Book

Brandon Sanderson

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Beschreibung

Die Welt Roschar wird von Stürmen und Machtkämpfen erschüttert. Der Krieg zwischen dem Volk von Alethkar und den geheimnisvollen Parshendi tobt bereits jahrelang – ein Krieg, der magische Geheimnisse aus dunkler Vergangenheit heraufbeschwört. Ein Krieg, in dem einfache Menschen als Helden aufstehen, Jäger zu Gejagten werden und sich Magie in Fluch verwandeln kann.

Sechs Jahre ist es her, dass der König von Alethkar ermordet wurde. Sein Mörder, ein geheimnisvoller, weiß gewandeter Attentäter, wurde offenbar von dem Volk beauftragt, mit dem der König gerade einen Friedensvertrag unterzeichnet hatte: den Parshendi. In ihrem Rachedurst stellten die Großprinzen der Alethi ein Heer zusammen und zogen gegen die Parshendi in den Krieg. Nun, sechs Jahre später, ist dieser Krieg zu einem Stellungskampf auf der unwirtlichen Zerschmetterten Ebene erstarrt. Schon beginnen sich die Adligen in Intrigen aufzureiben, als plötzlich der Attentäter wieder zurückkehrt – und mit ihm Wesen aus einer vergessen geglaubten Vergangenheit: die Strahlenden Ritter mit ihren magischen Klingen. Können sie den Krieg beenden? Werden sie die Alethi und ganz Roschar vor dem letzten, alles zerstörenden Sturm retten können?

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Seitenzahl: 1228

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Von Brandon Sanderson sind im Wilhelm Heyne Verlag erschienen:

Sturmklänge

Die Seele des Königs

Der Rithmatist

DIE RÄCHER:

Steelheart

Firefight

Calamity

DIE STURMLICHT-CHRONIKEN:

Der Weg der Könige

Der Pfad der Winde

Die Worte des Lichts

Die Stürme des Zorns

Die Sturmlicht-Chroniken

DRITTER ROMAN

Aus dem Amerikanischen von Michael Siefener

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Originalausgabe ist unter dem Titel

Words of Radiance – Book Two of The Stormlight Archive (Part I)

bei Tor/Tom Doherty Associates, LLC, New York, erschienen.

Copyright © 2014 by Dragonsteel Entertainment, LLC

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Joern Rauser

Illustrationen und Karten: Isaac Stewart, Ben McSweeney, Dan dos Santos

Illustration im Vorsatz: Michael Whelan

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Coverillustration: Max Meinzold

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-07182-0V011

www.heyne.de

Für Oliver Sanderson,

der geboren wurde, als ich mitten in der Arbeit an diesem Buch steckte, und der bereits laufen konnte, als ich damit fertig war.

ILLUSTRATIONEN

Anmerkung: Viele Illustrationen einschließlich der Beschriftungen enthalten Hinweise auf Ereignisse, die zuvor im Text beschrieben wurden. Das Betrachten der Bilder vor dem Lesen geschieht auf Ihr eigenes Risiko.

Karte von Roschar

Schallans Skizzenbuch: Santhid

Tätowierungen von Brücke Vier

Karte der Südlichen Frostlande

Schriftrolle mit Kampfhaltungen

Schallans Skizzenbuch: Muster

Blatt: Entwürfe für Männerkleidung

Schallans Skizzenbuch: Lait-Flora der Unbeanspruchten Hügel

Navanis Notizbuch: Konstruktionen für eine Bogenschießanlage

Schallans Skizzenbuch: Splitterpanzer

Blatt: Muster der Kleidung von Azisch-Staatsbeamten

SECHS JAHRE ZUVOR

Jasnah Kholin tat so, als genieße sie das Fest, und ließ nicht erkennen, dass sie vorhatte, einen der Gäste ermorden zu lassen.

Sie spazierte durch die überfüllte Festhalle und lauschte, während der Wein die Zungen löste und die Hirne umnebelte. Ihr Onkel Dalinar war in vollem Schwung; er stand vom Hochtisch auf und rief den Parschendi zu, ihre Trommler zu holen. Jasnahs Bruder Elhokar eilte zu ihrem Onkel und wollte ihn zum Schweigen bringen, auch wenn die Alethi Dalinars Gefühlsausbruch höflich übersahen. Nur Elhokars Frau Aesudan kicherte geziert hinter ihrem Taschentuch.

Jasnah wandte sich vom Hochtisch ab und schlenderte weiter durch den Raum. Sie hatte eine Verabredung mit einem Attentäter und war froh, den stickigen Raum verlassen zu können, der nach zu vielen verschiedenen Parfüms roch, die sich miteinander vermischten. Ein Damenquartett spielte Flöte auf einem Podest, das dem knisternden Kamin gegenüber stand. Aber die Musik war schon längst ermüdend geworden.

Im Gegensatz zu Dalinar zog Jasnah viele Blicke auf sich. Sie folgten ihr wie die Fliegen dem verfaulenden Fleisch. Geflüster schwirrte wie Bienensummen umher. Wenn es etwas gab, das der Alethi-Hof noch mehr genoss als Wein, dann war es Geschwätz. Jedermann erwartete, dass sich Dalinar während eines Festes hemmungslos dem Wein hingab – aber die Tochter des Königs, die sich als Häretikerin erwies? Das war unerhört und beispiellos.

Genau aus diesem Grund hatte Jasnah über ihre Gefühle gesprochen.

Sie ging an den Abgesandten der Parschendi vorbei, die zusammengedrängt am Hochtisch standen und sich in ihrer rhythmischen Sprache miteinander unterhielten. Obwohl dieses Fest sie und das Abkommen, das sie mit Jasnahs Vater geschlossen hatten, ehren sollte, wirkten sie keineswegs ausgesprochen festlich gestimmt, ja nicht einmal glücklich. Eher schon sahen sie nervös aus. Natürlich waren sie keine Menschen, und aus diesem Grund erschien ihr Verhalten bisweilen seltsam.

Jasnah hätte sich zwar gern mit ihnen unterhalten, doch ihre Verabredung würde nicht auf sie warten. Sie hatte dieses Treffen absichtlich mitten in die Zeit des Festes gelegt, denn nun waren die meisten Anwesenden abgelenkt und betrunken. Jasnah ging auf die Tür zu, dann aber hielt sie doch inne.

Ihr eigener Schatten wies in die falsche Richtung.

Der stickige, laute Raum schien plötzlich in die Ferne zu weichen. Der Großprinz Sadeas schritt mitten durch den Schatten, der deutlich auf die Kugellampe an der Wand zeigte. Sadeas war so mit seinem Gefährten ins Gespräch vertieft, dass er es gar nicht bemerkte. Jasnah starrte den Schatten an; ihre Haut wurde feucht, ihr Magen krampfte sich zusammen – genauso fühlte sie sich, wenn sie sich übergeben musste. Nicht schon wieder. Sie suchte nach einer weiteren Lichtquelle. Nach einem Grund. Konnte sie einen Grund finden? Nein.

Träge floss der Schatten zu ihr zurück, quoll auf ihre Füße zu und erstreckte sich dann in die entgegengesetzte Richtung. Ihre Anspannung ließ nach. Hatte es sonst noch jemand gesehen?

Als sie sich in dem Raum umschaute, bemerkte sie zum Glück keine entsetzten Blicke. Die allgemeine Aufmerksamkeit war nun auf die Parschendi-Trommler gerichtet, die durch die Tür hereinkamen und sich aufstellten. Jasnah runzelte die Stirn, als sie einen Nicht-Parschendi-Diener in weißer Kleidung erkannte, der ihnen half. Ein Schin? Das war ungewöhnlich.

Jasnah riss sich zusammen. Was bedeuteten diese Vorfälle? In den abergläubischen Märchen, die sie gelesen hatte, hieß es, dass ungehorsame Schatten auf einen Fluch hinwiesen. Für gewöhnlich tat sie so etwas zwar als Unsinn ab, aber einigeabergläubische Vorstellungen gründeten sich durchaus auf Tatsachen. Ihre Erfahrungen bewiesen das. Doch sie würde weitere Nachforschungen anstellen müssen.

Diese ruhigen, gelehrten Gedanken kamen ihr angesichts ihrer kalten, feuchten Haut und dem Schweiß, der ihr am Nacken herunterrann, wie eine Lüge vor. Aber es war wichtig, in jeder Lage vernünftig zu bleiben – und nicht nur dann, wenn man sich in einer ausgeglichenen Gemütsverfassung befand. Sie zwang sich, durch die Tür zu schreiten. Damit ließ sie den stickigen und feuchten Raum hinter sich und trat in einen stillen Korridor. Sie hatte den Hinterausgang gewählt, der für gewöhnlich nur von den Dienstboten benutzt wurde. Es war der kürzeste Weg.

Hier huschten Diener in Schwarz und Weiß umher, die sich auf Botengängen für ihre Hellherren und Damen befanden. Das hatte sie zwar schon erwartet, aber sie hatte nicht vermutet, plötzlich ihren Vater in einiger Entfernung vor sich zu sehen, der sich in einem leisen Gespräch mit Hellherr Meridas Amaram befand. Was tat der König hier?

Gavilar Kholin war kleiner als Amaram, doch dieser stand geneigt vor dem König. Dies war in Gavilars Gegenwart üblich, denn er sprach gewöhnlich mit einer solch leisen Eindringlichkeit, dass man sich zu ihm herunterbeugen musste, wollte man jedes Wort und jede Nebenbedeutung verstehen. Im Gegensatz zu seinem Bruder war er ein schöner Mann; sein Bart hob das starke Kinn eher hervor, als dass er es verbarg. Er besaß eine Anziehungskraft und Eindringlichkeit, die nach Jasnahs Meinung noch kein einziger Biograf korrekt wiedergegeben hatte.

Hinter den beiden Männern ragte Tearim auf, der Hauptmann der königlichen Wache. Er trug Gavilars Splitterpanzer, denn der König legte diesen in letzter Zeit nicht mehr an. Stattdessen hatte er ihn Tearim gegeben, der als einer der besten Duellanten der Welt bekannt war. Gavilar hingegen trug eine Robe in majestätischem, geradezu klassischem Stil.

Jasnah warf einen Blick zur Festhalle zurück. Wann hatte sich ihr Vater hierher geschlichen? Das war doch nachlässig, schalt sie sich. Du hättest überprüfen müssen, ob er noch in der Halle ist, bevor du gegangen bist.

Nun legte er die Hand auf Amarams Schulter, hob den Finger und sprach zwar harsch, aber leise. Jasnah konnte seine Worte nicht verstehen.

»Vater?«, fragte sie.

Er warf einen Blick zu ihr hinüber. »Ah, Jasnah. Ziehst du dich schon so früh zurück?«

»Es ist nicht mehr früh«, sagte Jasnah und schritt auf ihn zu. Es erschien ihr offensichtlich, dass Gavilar und Amaram einen abgeschiedenen Ort für ihr Gespräch gesucht hatten. »Das ist der unangenehmste Teil des Festes, wenn die Gespräche lauter, aber nicht gescheiter werden und die ganze Gesellschaft betrunken ist.«

»Viele Menschen halten gerade das für angenehm.«

»Leider sind viele Menschen Schwachköpfe.«

Ihr Vater lächelte. »Ist es sehr schwer für dich?«, fragte er sanft. »Mit uns anderen zu leben und unsere durchschnittliche Klugheit und unsere einfachen Gedanken ertragen zu müssen? Macht dich dein einzigartiger Scharfsinn einsam, Jasnah?«

Sie errötete, da sie die Frage als Tadel auffasste, und so war sie auch gemeint. Nicht einmal ihre Mutter Navani war in der Lage, eine solche Reaktion bei ihr hervorzurufen.

»Vielleicht würdest du diese Feste eher genießen, wenn du angenehme Freunde fändest«, sagte Gavilar. Sein Blick fiel wieder auf Amaram, den er schon lange als möglichen Partner für Jasnah erachtete.

Aber das würde nie geschehen. Amaram sah sie an, murmelte ihrem Vater einige Abschiedsworte zu und hastete den Korridor entlang.

»Welchen Auftrag hast du ihm gegeben?«, fragte Jasnah. »Worum geht es dir heute Nacht, Vater?«

»Natürlich um das Abkommen.«

Das Abkommen. Warum war es ihm so wichtig? Ihm war geraten worden, die Parschendi entweder gar nicht zu beachten oder ihr Land zu erobern. Aber Gavilar beharrte auf einer friedlichen Lösung.

»Ich sollte mich zum Fest zurückbegeben«, sagte Gavilar und gab Tearim ein Zeichen. Die beiden gingen durch den Korridor auf die Tür zu, durch die Jasnah vorhin geschritten war.

»Vater?«, fragte Jasnah. »Was verschweigst du mir?«

Er warf einen Blick zurück zu ihr und hielt inne. Seine Augen waren blassgrün – ein Zeichen seiner guten Herkunft. Seit wann war er so mitfühlend? Bei allen Stürmen … sie hatte das Gefühl, dass sie diesen Mann kaum mehr kannte. In erstaunlich kurzer Zeit war eine beachtliche Verwandlung mit ihm vorgegangen.

Die Art, wie er sie ansah, erweckte bei ihr das Gefühl, dass er ihr nicht vertraute. Wusste er von ihrem Treffen mit Liss?

Er drehte sich um, ohne noch ein Wort zu sagen, und begab sich zu den Feiernden zurück. Sein Wächter folgte ihm.

Was geht in diesem Palast vor?, dachte Jasnah und holte tief Luft. Sie würde sich darum kümmern müssen. Hoffentlich hatte er nichts über ihre Treffen mit bezahlten Mördern herausgefunden – aber wenn er doch etwas darüber wusste, dann würde sie auch damit umgehen können. Sicherlich verstünde er, dass jemand über die Familie wachen musste, da er selbst immer stärker von seiner Begeisterung für die Parschendi verzehrt wurde. Jasnah drehte sich um und setzte ihren Weg fort. Dabei kam sie an einem Diener vorbei, der sich vor ihr verneigte.

Nachdem sie einige Zeit durch die Korridore geschritten war, bemerkte Jasnah, dass sich ihr Schatten wieder merkwürdig verhielt. Sie seufzte verärgert, als er auf die drei Sturmlicht-Lampen an den Wänden zulief. Zum Glück hatte sie nun die belebteren Bereiche des Korridors hinter sich gelassen. Keine Diener waren mehr zu sehen.

»In Ordnung«, sagte sie giftig. »Nun reicht es.«

Sie hatte nicht laut sprechen wollen. Doch als ihr die Worte von den Lippen schlüpften, regten sich einige ferne Schatten, die aus einer Kreuzung des Ganges vor ihr flossen, und wurden lebendig. Sie hielt den Atem an. Die Schatten wurden länger und tiefer. Gestalten wuchsen in ihnen und erhoben sich.

Sturmvater, ich werde verrückt.

Einer der Schatten bildete die Form eines nachtschwarzen Mannes aus, doch dann waren gewisse Widerspiegelungen auf ihm zu erkennen, als wenn er aus Öl bestünde. Nein … aus einer anderen Flüssigkeit mit einem Überzug aus Öl, der ihm eine dunkle, prismatische Qualität verlieh.

Er schritt auf sie zu und zog ein Schwert aus der Scheide.

Eine kalte und unnachgiebige Logik lenkte Jasnah von nun an. Wenn sie um Hilfe rief, würde diese nicht rechtzeitig eintreffen, und die tintenartige Geschmeidigkeit der Kreatur verriet eine Schnelligkeit, die die ihre weit übertreffen musste.

Sie blieb stehen und begegnete dem starren Blick des Wesens, worauf dieses zögerte. Hinter ihm hatten sich einige andere Kreaturen aus der Finsternis materialisiert. Diese Blicke hatte sie während der letzten Monate oft auf sich ruhen gespürt.

Nun war der gesamte Gang verdunkelt, als würde er allmählich in lichtlosen Tiefen versinken. Mit rasendem Herzen und schnellen Atemzügen hob Jasnah die Hand und legte sie auf die Granitwand neben sich, weil sie etwas Festes spüren wollte. Ihre Finger sanken ein wenig in den Stein ein, als wäre die Wand zu Schlamm geworden.

Oh, bei allen Stürmen! Sie musste etwas unternehmen. Aber was? Was konnte sie denn tun?

Die Gestalt vor ihr warf einen raschen Blick auf die Wand. Die Lampe, der sich Jasnah am nächsten befand, erlosch. Und dann …

Dann löste sich der Palast auf.

Das gesamte Gebäude zerfiel zu Tausenden und Abertausenden kleiner Glaskugeln, die wie Perlen aussahen. Jasnah schrie auf, als sie rücklings durch einen dunklen Himmel stürzte. Sie befand sich nicht länger im Palast; sie musste irgendwo anders sein – in einem anderen Land, in einer anderen Zeit, in einem anderen … Etwas.

Sie sah nur noch die dunkle, glänzende Gestalt, die vor ihr in der Luft schwebte und nun zufrieden zu sein schien, denn sie steckte ihr Schwert in die Scheide zurück.

Jasnah fiel in etwas hinein – in einen Ozean aus Glasperlen. Zahllose andere regneten auf sie herab und versanken klickend wie bei einem Hagelsturm in dem seltsamen Meer. Sie hatte diesen Ort nie zuvor gesehen; sie konnte auch nicht erklären, was da geschehen war oder was diese Geschehnisse bedeuteten. Sie schlug einfach um sich, während sie versank; was eine Unendlichkeit zu dauern schien. Glasperlen an allen Seiten. Hinter ihnen konnte sie nichts mehr erkennen; sie spürte nur noch, wie sie durch diese brodelnde, erstickende, klirrende Masse immer tiefer sank.

Sie würde sterben. Sie würde ihre Arbeit unbeendet und ihre Familie schutzlos zurücklassen!

Also würde sie nie die Antworten erfahren.

Nein.

Jasnah schlug in der Finsternis um sich; Perlen rollten über ihre Haut, gelangten in ihre Kleidung, arbeiteten sich bis in die Nase vor, als Jasnah zu schwimmen versuchte. Doch es war sinnlos. Sie konnte sich in dieser Masse nicht halten. Sie hob die Hand vor den Mund und versuchte, eine Luftblase zu bilden, um atmen zu können. Tatsächlich gelang es ihr auch für kurze Zeit, doch dann rollten die Perlen um ihre Hand herum und drangen zwischen den Fingern hindurch. Sie sank wieder, nun langsamer, wie durch eine zähe Flüssigkeit.

Jede Perle, die sie berührte, verschaffte ihr einen schwachen Eindruck von … gewissen Dingen. Einer Tür. Einem Tisch. Einem Schuh.

Die Perlen fanden ihren Weg in Jasnahs Mund. Sie schienen sich aus eigenem Antrieb zu bewegen. Sie würden Jasnah ersticken, würden sie vernichten. Nein … nein, eher schienen sie von Jasnah angezogen zu werden. Ihr kam etwas in den Sinn – es war kein deutlicher Gedanke, sondern vielmehr … ein Gefühl. Die Perlen wollten etwas von ihr.

Sie nahm eine und hielt sie in der Hand; nun hatte sie den Eindruck eines Bechers. Sie … verlieh der Perle etwas? Die anderen Perlen um sie herum zogen sich zusammen, verbanden sich miteinander wie Steine, die durch Mörtel miteinander verklebt wurden. Schon im nächsten Augenblick fiel Jasnah nicht mehr durch einzelne Perlen, sondern durch gewaltige Massen von ihnen, die zu einer bestimmten Gestalt zusammengeklebt waren …

Zu einem Becher.

Jede Perle war ein Muster und eine Anleitung für die anderen.

Jasnah ließ die Perle los, die sie in der Hand gehalten hatte, und die Perlen um sie herum fielen auseinander. Sie geriet ins Taumeln und griff verzweifelt um sich, als ihr die Luft ausging. Sie brauchte etwas, das sie benutzen konnte – etwas, das ihr zu helfen vermochte. Sie brauchte eine Überlebensmöglichkeit! Verzweifelt schwang sie die Arme und berührte dabei so viele Perlen wie möglich.

Ein Silberteller.

Ein Mantel.

Eine Statue.

Eine Laterne.

Und dann – etwas Uraltes.

Etwas Gewichtiges und Schwerfälliges, aber irgendwie auch Starkes. Der Palast selbst. Wild entschlossen ergriff Jasnah diese eine Perle und zwang ihre eigene Kraft hinein. Ihre Gedanken verschwammen; sie gab der Perle alles, was sie hatte, und dann befahl sie ihr, sich zu erheben.

Die Perlen regten sich.

Ein lautes Knacken und Klirren und Rasseln und Klappern ertönte, als sich die Perlen miteinander verbanden. Fast war es wie das Anbranden des Meeres am Ufer. Jasnah stieg aus den Tiefen auf; etwas Festes bewegte sich unter ihr und gehorchte ihrem Befehl. Perlen bedeckten Kopf, Arme, Schultern, bis Jasnah schließlich an die Oberfläche des Meeres aus Glas schoss und dabei eine wahre Gischt aus Perlen in einen dunklen Himmel schleuderte.

Sie kniete auf einer Plattform aus Glas, die aus kleinen, miteinander verbundenen Perlen bestand. Während sie die Hände nach oben ausgestreckt hielt, umfasste sie die eine Perle, die ihr Führer war. Andere rollten um sie herum, bildeten sich zu einem Korridor mit Lampen an den Wänden und einer Kreuzung vor ihr aus. Es sah natürlich nicht richtig aus – alles bestand aus Perlen. Aber immerhin, es war eine Annäherung.

Sie war nicht stark genug, den gesamten Palast nachzubilden, sondern erschuf nur diesen Korridor, ohne Decke. Doch der Boden trug sie und bewahrte sie vor dem Versinken. Mit einem Ächzen öffnete sie den Mund; Perlen fielen herunter und klirrten auf den Boden. Dann hustete sie, atmete die süße Luft ein; Schweiß tropfte an ihren Wangen herab und sammelte sich am Kinn.

Vor ihr trat die dunkle Gestalt auf die Plattform. Wieder zog sie ihr Schwert aus der Scheide.

Jasnah hielt eine zweite Perle hoch; es war die Statue, die sie vorhin gespürt hatte. Jasnah verlieh ihr Kraft, und weitere Perlen sammelten sich vor ihr und nahmen die Gestalt einer der Statuen an, die die Vorderseite der Festhalle säumten. Es war die Statue von Talenelat’Elin, dem Herold des Krieges – das war ein großer, muskulöser Mann mit einem mächtigen Splitterschwert.

Die Statue war nicht lebendig, aber Jasnah steuerte sie und senkte ihr Perlenschwert. Sie bezweifelte, dass dieses Abbild zu kämpfen verstand. Runde Perlen vermochten kein scharfes Schwert zu bilden. Aber die Drohgebärde führte dazu, dass die dunkle Gestalt zögerte.

Jasnah biss die Zähne zusammen, stemmte sich auf die Beine; Perlen strömten aus ihrer Kleidung. Sie würde vor diesem da nicht niederknien, was immer es auch sein mochte. Sie trat neben die Perlenstatue und bemerkte zum ersten Mal die seltsamen Wolken über ihr. Sie bildeten ein schmales Band, das so gerade und lang war wie eine Straße, die in den Horizont wies.

Dem Blick der Ölgestalt hielt sie stand. Das Wesen betrachtete sie einen Moment lang, hob dann zwei Finger an die Stirn und verneigte sich wie in tiefem Respekt. Ein Umhang bauschte sich hinter ihm auf. Andere hatten sich dahinter versammelt, wandten sich einander zu und tauschten geflüsterte Worte.

Die Perlen verblassten, und Jasnah fand sich im Korridor des Palastes wieder. Es war der wirkliche Palast, erbaut aus richtigem Stein. Aber es war dunkel geworden. Das Sturmlicht in den Leuchtern an den Wänden war erloschen. Nur aus den Tiefen des Korridors drang ein wenig Licht herbei.

Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und atmete tief durch. Ich muss diese Erfahrung aufschreiben, dachte sie.

Das würde sie tun und das Geschehene dann analysieren und überdenken. Doch jetzt wollte sie erst einmal von diesem Ort verschwinden. Sie eilte davon, ohne auf die Richtung zu achten, und versuchte den Blicken zu entkommen, die sie noch immer auf sich ruhen spürte.

Es gelang ihr nicht.

Schließlich riss sie sich zusammen und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Schadesmar, dachte sie. So heißt dieser Ort in den Ammenmärchen. Schadesmar, das mythologische Reich der Sprengsel. An diese Mythologie hatte sie allerdings nie geglaubt. Sicherlich würde sie etwas darüber finden, wenn sie die Berichte aufmerksam genug las. Fast alles, was jetzt geschah, war schon einmal geschehen. Das war die große Lehre, die aus der Geschichte zu ziehen war, und …

Bei allen Stürmen, ihre Verabredung!

Sie verfluchte sich selbst und eilte weiter. Das soeben Erlebte lenkte sie zwar noch immer stark ab, aber sie musste dieses Treffen unbedingt einhalten. Also stieg sie zwei Stockwerke nach unten und entfernte sich immer weiter vom Lärm der Parschendi-Trommeln, bis sie nur noch die heftigsten Schläge hören konnte.

Die Komplexität dieser Musik hatte sie schon immer verblüfft. Daraus folgte der Schluss, dass die Parschendi gar nicht jene unkultivierten Wilden waren, für die sie von den meisten gehalten wurden. Aus dieser großen Entfernung klang die Musikauf beunruhigende Weise wie das Klirren und Prasseln der Perlen an jenem dunklen Ort, den sie soeben verlassen hatte.

Diesen abgelegenen Teil des Palastes hatte sie absichtlich für ihre Zusammenkunft mit Liss ausgewählt. Niemand suchte je die Gästezimmer auf, die sich hier befanden. Vor der Tür zu ihnen stand ein Mann, den Jasnah nicht kannte. Das verschaffte ihr ein Gefühl der Erleichterung. Sicherlich war dieser Mann Liss’ neuer Diener, und seine Anwesenheit bedeutete, dass Liss trotz Jasnahs Verspätung noch immer hier war. Sie fasste sich, nickte dem Wächter zu – einem Veden-Untier, dessen Bart rot gesprenkelt war – und drückte die Tür auf.

Liss erhob sich von dem Tisch des kleinen Zimmers. Sie trug das Kleid einer Magd – natürlich tief ausgeschnitten – und hätte für eine Alethi gehalten werden können. Oder für eine Veden. Oder eine Bav. Es hing ganz davon ab, welchen Teil ihres Akzents sie hervorzuheben beliebte. Sie hatte lange, dunkle Haare, die sie offen trug, und ihre überaus anziehende Figur wies an allen Stellen die passenden Rundungen auf.

»Ihr kommt spät, Hellheit«, sagte Liss.

Darauf antwortete Jasnah nichts. Sie war hier die Auftraggeberin und hatte es keineswegs nötig, sich zu entschuldigen. Stattdessen legte sie etwas auf den Tisch neben Liss. Es war ein kleiner Umschlag, mit Rüsselkäferwachs gesiegelt.

Jasnah ließ zwei Finger darauf liegen und überlegte noch.

Nein. Das war zu dreist. Sie wusste nicht, ob ihrem Vater klar war, was sie hier tat, aber auch wenn dem nicht so sein sollte, geschah zu viel Unvorhersehbares in diesem Palast. Sie musste sich zuerst vollkommen sicher sein, bevor sie den Auftrag zu einem Attentat gab.

Glücklicherweise hatte sie einen Ersatzplan vorbereitet. Sie holte einen zweiten Umschlag aus einer Tasche im Innern ihres Ärmels und legte ihn statt des ersten auf den Tisch. Dann nahm sie die Finger davon, umrundete den Tisch und ließ sich nieder.

Liss setzte sich ebenfalls wieder hin und ließ den Brief im Ausschnitt ihres Kleides verschwinden. »Eine seltsame Nacht, Hellheit, um Hochverrat zu begehen«, sagte die Frau.

»Ich will dich nur zur Beobachtung einstellen.«

»Verzeihung, Hellheit, aber für gewöhnlich beauftragt man einen Attentäter doch nicht nur damit, jemanden oder etwas zu beobachten.«

»Deine Anweisungen befinden sich in diesem Umschlag«, sagte Jasnah. »Zusammen mit dem ersten Teil der Bezahlung. Ich habe dich ausgewählt, weil du eine Expertin für länger andauernde Beobachtungen bist. Genau das ist es, was ich brauche. Fürs Erste.«

Liss lächelte und nickte. »Ich soll die Frau des Thronerben bespitzeln? Das wird aber sehr teuer werden. Seid Ihr sicher, dass Ihr sie nicht einfach tot sehen wollt?«

Jasnah klopfte mit den Fingern auf die Tischplatte und erkannte bald, dass sie es im Einklang mit den Trommeln über sich tat. Die Musik war so unerwartet komplex – wie die Parschendi selbst.

Zu vieles geschieht, dachte sie. Ich muss sehr vorsichtig sein. Und möglichst feinfühlig vorgehen.

»Die Kosten nehme ich hin«, erwiderte Jasnah. »Ich werde dafür sorgen, dass in einer Woche eine der Zofen meiner Schwägerin entlassen wird. Du wirst dich um diese Stellung bewerben, indem du gefälschte Empfehlungsschreiben benutzt, die du gewiss selbst herstellen kannst. Man wird dich einstellen.

Aus dieser Position heraus wirst du beobachten und Bericht erstatten. Ich werde dir rechtzeitig mitteilen, ob auch deine anderen Dienste erfordert werden oder nicht. Du handelst nur, wenn ich es dir sage. Verstanden?«

»Ihr seid diejenige, die bezahlt«, sagte Liss. Nun klang ein schwacher Bav-Akzent durch.

Das bedeutete, dass sie Jasnah diesen Akzent hören lassen wollte. Liss war die erfahrenste Attentäterin, die Jasnah kannte. Man nannte sie auch das Weinen, da sie ihren Opfern die Augen ausstach. Selbst wenn sie diesen Spitznamen nicht geprägt hatte, leistete er ihr gute Dienste, da sie Geheimnisse zu verbergen hatte. Eines davon war die Tatsache, dass das Weinen eine Frau war.

Es hieß, das Weinen steche die Augen aus, weil es damit verdeutlichen wolle, dass ihm gleichgültig sei, ob seine Opfer helleoder dunkle Augen haben. In Wirklichkeit verbarg diese Handlung jedoch ein zweites Geheimnis. Niemand sollte wissen, dass die Art und Weise, auf die sie tötete, die Leiche mit verbrannten Augenhöhlen zurückließ.

»Dann ist dieses Treffen hiermit beendet«, sagte Liss und stand auf.

Jasnah nickte geistesabwesend und war in Gedanken schon wieder bei ihrem bizarren Erlebnis mit den Sprengseln von vorhin. Diese glitzernde Haut und die Farben, die auf einer Oberfläche wie aus Teer geschillert hatten …

Sie zwang sich, nicht mehr an jenen Augenblick zu denken. Sie musste ihre ganze Aufmerksamkeit dem widmen, was sich da vor ihr befand. Und fürs Erste war das Liss.

Diese blieb zögernd an der Tür stehen. »Wisst Ihr, warum ich Euch mag, Hellheit?«

»Ich vermute, es hat etwas mit meinen Taschen und ihrer sprichwörtlichen Tiefe zu tun.«

Liss lächelte. »Ich will nicht abstreiten, dass dies ein guter Grund ist, aber Ihr seid auch anders als die übrigen Hellaugen. Wenn ich von ihnen beauftragt werde, rümpfen sie die Nase über die ganze Angelegenheit. Sie wollen sich unbedingt meiner Dienste vergewissern, aber dann höhnen sie und ringen die Hände, als würden sie gezwungen werden, etwas ganz und gar Abscheuliches zu tun.«

»Ein Attentat ist auch etwas Abscheuliches, Liss. Ebenso wie das Säubern von Nachttöpfen. Ich kann denjenigen respektieren, der eine solche Arbeit tut, ohne die Arbeit selbst zu bewundern.«

Liss grinste und öffnete die Tür einen Spaltbreit.

»Dieser neue Diener da draußen vor der Tür …«, bemerkte Jasnah. »Hattest du nicht gesagt, dass du ihn nicht mehr hierher mitbringen wolltest?«

»Talak?«, fragte Liss und warf einen Blick auf den Veden. »Oh, Ihr meint den anderen. Hellheit, ich habe ihn schon vor ein paar Wochen an einen Sklavenhändler verkauft.«

»Wirklich? Ich dachte, er sei der beste Diener gewesen, den du je hattest.«

»Er war einfach zu gut«, sagte Liss. »Belassen wir es dabei. Dieser Schin-Knabe wurde allmählich unheimlich.« Liss erzitterte sichtlich und huschte dann durch die Tür.

»Denk an unsere erste Übereinkunft«, rief ihr Jasnah nach.

»Ich habe sie jederzeit im Hinterkopf, Hellheit.« Liss schloss die Tür.

Jasnah setzte sich wieder und faltete die Hände im Schoß. Ihre »erste Übereinkunft« bestand darin, dass Liss sofort zu Jasnah kommen sollte, falls ihr jemand anbot, eines von Jasnahs Familienmitgliedern zu töten. In diesem Fall würde ihr Jasnah dieselbe Summe für den Namen des Auftraggebers zahlen.

Liss wäre bereit, es zu tun. Vermutlich. Genau wie das übrige Dutzend Attentäter, mit denen Jasnah Umgang pflegte. Ein Stammkunde war wertvoller als ein einmaliger Kontrakt, und es lag im Interesse einer Frau wie Liss, einen guten Freund in der Regierung zu haben. Jasnahs Familie war vor solchen gedungenen Mördern in Sicherheit – es sei denn, sie selbst gab einen Mordauftrag.

Jasnah stieß einen tiefen Seufzer aus, dann erhob sie sich und versuchte das Gewicht abzuschütteln, das auf ihr zu lasten schien.

Halt. Hat Liss wirklich gesagt, ihr alter Diener sei ein Schin gewesen?

Das war vermutlich bloßer Zufall. Schin waren im Osten selten anzutreffen, aber gelegentlich sah man sie schon. Doch jetzt hatte Liss einen Schin erwähnt, und Jasnah hatte einen unter den Parschendi gesehen … nun, es konnte wohl nicht schaden, ein paar Nachforschungen anzustellen, selbst wenn das bedeutete, zum Fest zurückkehren zu müssen. Irgendetwas stimmte nicht in dieser Nacht, und das lag bestimmt nicht nur an den Schatten und den Sprengseln.

Jasnah verließ die kleine Kammer in den Eingeweiden des Palastes und trat auf den Gang hinaus. Sie richtete ihre Schritte wieder nach oben. Über ihr verstummten die Trommeln plötzlich wie ein Instrument, dessen Saiten durchtrennt worden waren. Endete das Fest so früh? Dalinar hatte doch wohl nicht die Feiernden beleidigt, oder? Dieser Mann und sein Wein …

Nun, die Parschendi hatten seine Beleidigungen in der Vergangenheit stets ignoriert und würden es wohl auch in Zukunft tun. Eigentlich war Jasnah sogar sehr froh über die plötzliche Begeisterung ihres Vaters für dieses Abkommen. Es bedeutete, dass sie die Gelegenheit haben würde, die Traditionen und die Geschichte der Parschendi nach ihrem Belieben zu studieren.

Könnte es sein, fragte sie sich, dass die Gelehrten all die Jahre in den falschen Ruinen gesucht haben?

Worte hallten im Gang wider; sie kamen aus weiter Entfernung – vor ihr. »Ich mache mir Sorgen um Asch.«

»Du machst dir um alles Sorgen.«

Jasnah hielt im Korridor inne.

»Es geht ihr immer schlechter«, fuhr die Stimme fort. »Es sollte uns aber nicht andauernd schlechter gehen. Geht es mir schlechter? Ich glaube, ich fühle mich zumindest schlechter.«

»Halt den Mund.«

»Das gefällt mir gar nicht. Was wir getan haben, ist doch falsch gewesen. Diese Kreatur trägt die Klinge meines eigenen Herrn. Wir hätten ihr nicht erlauben dürfen, sie zu behalten. Sie …«

Die beiden schritten über die Kreuzung der Gänge vor Jasnah hinweg. Es waren Botschafter aus dem Westen; einer von ihnen war der Azisch-Mann mit dem weißen Muttermal an der Wange. Oder war es eine Narbe? Der kleinere der beiden – er könnte ein Alethi sein – verstummte, als er Jasnah bemerkte. Er stieß ein Quieken aus und eilte weiter.

Der Azisch hingegen, der in Schwarz und Silber gekleidet war, blieb stehen und sah sie von oben bis unten an. Er runzelte die Stirn.

»Ist das Fest schon vorbei?«, fragte Jasnah. Ihr Bruder hatte diese beiden Männer zusammen mit jedem anderen ausländischen Würdenträger in Kholinar eingeladen.

»Ja«, sagte der Mann.

Sein starrer Blick war ihr unangenehm. Dennoch ging sie weiter auf ihn zu. Ich sollte mir diese beiden näher ansehen, dachte sie. Natürlich hatte sie bereits ihre Herkunft untersucht, dabei aber nichts Wichtiges festgestellt. Hatten sie denn über eine Splitterklinge gesprochen?

»Komm schon!«, rief der kleinere Mann, der zurückgekommen war und den größeren am Ärmel packte.

Er ließ es zu, dass er weggeführt wurde. Jasnah ging weiter bis zur Kreuzung der beiden Gänge und sah den Männern nach.

Wo vorher Trommeln zu hören gewesen waren, ertönten nun plötzlich Schreie.

O nein …

Entsetzt drehte Jasnah sich um, raffte den Rock und rannte, so schnell sie konnte.

Ein Dutzend verschiedener Katastrophen schoss ihr durch den Kopf. Was sonst hätte in dieser Nacht passieren können, in der sich die Schatten erhoben und ihr Vater sie mit Misstrauen bedachte? Mit angespannten Nerven erreichte sie die Treppe und lief nach oben.

Es dauerte viel zu lange. Sie hörte die Schreie, während sie die Stufen hochrannte, und endlich drang sie bis zum Chaos vor. Tote Körper in der einen Richtung, eine durchbrochene Wand in der anderen. Wie …

Der Pfad der Verwüstung führte zu den Gemächern ihres Vaters.

Der gesamte Palast erbebte, und dann ertönte ein Knirschen aus der Richtung der königlichen Zimmer.

Nein, nein, nein!

Während sie lief, bemerkte sie Risse in der Wand, die von einer Splitterklinge herrührten.

Bitte.

Leichen mit verbrannten Augen. Körper bedeckten den Boden wie weggeworfene Knochen beim Mittagstisch.

Nicht das.

Eine zerbrochene Tür. Die Gemächer ihres Vaters. Jasnah blieb draußen im Gang stehen und keuchte.

Beherrsch dich, beherrsch dich …

Sie konnte es aber nicht. Nicht jetzt. Wie eine Rasende stürmte sie in die Zimmerflucht, obwohl sie es damit einem Splitterträger erleichterte, sie zu töten. Sie vermochte nicht mehr klar zu denken. Unbedingt sollte sie Hilfe holen. Dalinar? Sicherlich war er inzwischen völlig betrunken. Also Sadeas.

Das Zimmer wirkte, als wäre es von einem Großsturm getroffen worden. Die Möbel waren umgestürzt, und überall lagen Splitter. Die Balkontüren waren nach außen aufgebrochen worden. Jemand sprang auf sie zu, ein Mann im Splitterpanzer ihres Vaters. Tearim, der Leibwächter?

Nein. Der Helm war zerbrochen. Es war nicht Tearim, sondern Gavilar selbst. Auf dem Balkon schrie jemand.

»Vater!«, rief Jasnah.

Gavilar zögerte kurz, als er auf den Balkon trat, und drehte sich dann zu ihr um.

Der Balkon stürzte unter ihm in die Tiefe.

Jasnah kreischte auf, schoss dann quer durch das Zimmer auf den abgestürzten Balkon zu und fiel am Rand der Bruchkante auf die Knie. Der Wind zerrte einige Haarstränge aus ihrem Knoten, während sie den Sturz der beiden Männer betrachtete.

Es waren ihr Vater und der Schin in Weiß, den sie auf dem Fest bemerkt hatte.

Der Schin erglühte in einem weißen Licht. Er fiel auf die Mauer, rollte herum, hielt dann inne. Schließlich erhob er sich und stand irgendwie auf der äußeren Palastmauer, ohne herunterzufallen. Das widersprach jeder Logik.

Er drehte sich um und stapfte auf ihren Vater zu.

Während Jasnah ihn beobachtete, wurde ihr kalt. Sie war vollkommen hilflos, während der Mörder zu ihrem Vater ging und sich über ihn beugte.

Tränen rannen von ihren Wangen, dann fing der Wind sie auf. Was tat er da unten? Sie konnte es nicht erkennen.

Als der Attentäter fortging, ließ er den Leichnam ihres Vaters zurück. Er war auf einen Holzpfahl gespießt – also tot; seine Splitterklinge war neben ihm erschienen, wie es immer der Fall war, wenn ihr Träger starb.

»Ich habe so hart gearbeitet …«, murmelte Jasnah benommen. »Alles, was ich getan habe, um diese Familie zu schützen …«

Wie war das geschehen? Liss. Liss hatte das getan!

Nein. Jasnah konnte nicht mehr klar denken. Dieser Schin … wenn es so wäre, hätte Liss doch nicht zugegeben, dass sie ihn besessen hatte. Sie hatte ihn verkauft.

»Wir sind betrübt über Euren Verlust.«

Jasnah drehte sich herum und blinzelte. Drei Parschendi, einschließlich Klade, standen in ihrer absonderlichen Kleidung in der Tür. Sowohl die Männer als auch die Frauen trugen sauber vernähte Stofftücher, Schärpen um die Hüfte, lockere Hemden ohne Ärmel, dazu seitlich offene Westen in hellen Farben. Sie unterschieden die Geschlechter nicht nach Kleidung. Jasnah glaubte aber, dass es bei ihnen Kasten gab, und …

Hör auf damit, schalt sie sich. Hör wenigstens einmal einen verdammten Tag lang damit auf, wie eine Gelehrte zu denken!

»Wir übernehmen die Verantwortung für seinen Tod«, sagte das Mitglied der Parschendi, das ihr am nächsten stand. Gangnah war eine Frau, doch bei den Parschendi schienen die Geschlechtsunterschiede geringfügig zu sein. Die Kleidung verbarg Brüste und Hüften, doch beides war nie besonders stark ausgeprägt. Zum Glück war das Fehlen des Bartes ein deutliches Anzeichen für eine Frau. Alle Parschendi-Männer, die sie je gesehen hatte, trugen Bärte, in die sie kleine Edelsteine eingewoben hatten, und …

HÖR AUF.

»Was sagt ihr da?«, wollte Jasnah wissen und zwang sich auf die Beine. »Warum sollte es denn eure Schuld sein, Gangnah?«

»Weil wir den Attentäter angeworben haben«, sagte die Parschendi-Frau mit ihrer stark akzentuierten Singstimme. »Wir haben deinen Vater getötet, Jasnah Kholin.«

»Ihr …«

Plötzlich erkalteten ihre Gefühle wie ein Fluss, der im Gebirge gefriert. Jasnah sah von Gangnah zu Klade hinüber, dann zu Varnali. Sie alle waren Älteste – Mitglieder des herrschenden Rates der Parschendi.

»Warum?«, flüsterte Jasnah.

»Weil es getan werden musste«, sagte Gangnah.

»Warum?«, fragte Jasnah erneut und machte einige Schritte nach vorn. »Er hat doch für euch gekämpft! Er hat die Jäger im Zaum gehalten. Mein Vater wollte Frieden haben, ihr Ungeheuer! Warum habt ihr uns ausgerechnet jetzt verraten?«

Gangnah kniff die Lippen zusammen. Die Melodie ihrer Stimme veränderte sich. Sie wirkte nun fast wie eine Mutter, die einem kleinen Kind einen äußerst schwierigen Sachverhalt erklären will. »Weil dein Vater etwas sehr Gefährliches tun wollte.«

»Holt den Hellherrn Dalinar!«, rief eine Stimme draußen im Gang. »Bei allen Stürmen! Sind meine Befehle bis zu Elhokar gedrungen? Der Kronprinz muss sofort in Sicherheit gebracht werden!« Großprinz Sadeas taumelte zusammen mit einer Gruppe von Soldaten in den Raum. Sein knolliges, gerötetes Gesicht war feucht vor Schweiß, und er trug Gavilars Kleidung – die königliche Amtsrobe. »Was machen diese Wilden hier? Bei allen Stürmen! Schützt Prinzessin Jasnah. Derjenige, der das hier getan hat – er hat sich im Gefolge der Parschendi befunden!«

Die Soldaten umzingelten die Parschendi. Jasnah beachtete sie nicht weiter, sondern drehte sich um und trat wieder an die geborstene Tür. Mit der Hand stützte sie sich an der Wand ab und warf einen Blick hinunter, wo ihr Vater auf den Felsen lag; die Klinge befand sich noch immer neben ihm.

»Es wird Krieg geben«, flüsterte sie. »Und ich werde ihm nicht im Wege stehen.«

»Das ist selbstverständlich«, bemerkte Gangnah hinter ihr.

»Dieser Attentäter …«, sagte Jasnah. »Er ist auf der Mauer gegangen.«

Darauf sagte Gangnah nichts.

Während ihre Welt zersplitterte, hielt sich Jasnah an diesem Bruchstück fest. Heute Nacht hatte sie etwas gesehen. Etwas, das nicht hätte möglich sein dürfen. Stand es in Verbindung zu den seltsamen Sprengseln? Hatte es etwas mit ihren Erfahrungen an diesem Ort der Glasperlen und des dunklen Himmels zu tun?

Diese Fragen wurden zur Rettungsschnur ihrer geistigen Gesundheit. Sadeas forderte Antworten von den Parschendi-Anführern. Er erhielt aber keine. Nachdem er neben sie getreten war und einen Blick hinabgeworfen hatte, wirbelte er herum und brüllte seinen Wachen zu, sie sollten nach unten zu dem gestürzten König laufen.

Stunden später stellte sich heraus, dass das Attentat – und die Kapitulation der drei Parschendi-Anführer – von der Flucht der übrigen Parschendi abgelenkt hatte. Sie waren rasch aus der Stadt entkommen, und die Kavallerie, die Dalinar hinter ihnen hergeschickt hatte, wurde vernichtet. Hundert Pferde, ein jedes von ihnen unendlich kostbar, waren zusammen mit ihren Reitern gestorben.

Die Parschendi-Anführer sagten nichts mehr und gaben auch keine weiteren Hinweise; sie wurden für ihr Verbrechen gehängt.

Jasnah beachtete all dies nicht. Stattdessen verhörte sie die überlebenden Wachen und erfuhr, was sie beobachtet hatten. Sie folgte allen Spuren, die auf den mittlerweile berühmt gewordenen Attentäter hinwiesen, und entlockte auch Liss einige Neuigkeiten. Am Ende aber hatte sie dennoch fast gar nichts. Liss hatte ihn nur eine kurze Zeit besessen und behauptete, nichts von seinen seltsamen Kräften gewusst zu haben. Den vorherigen Eigentümer konnte Jasnah nicht aufspüren.

Als Nächstes kamen die Bücher an die Reihe. Sie machte einen hingebungsvollen und fieberhaften Versuch, sich von dem abzulenken, was sie verloren hatte.

In jener Nacht hatte Jasnah das Unmögliche gesehen.

Nun würde sie herausfinden müssen, was es bedeutete.

ERSTER TEIL

Abstieg

SCHALLAN · KALADIN · DALINAR

Wenn ich ehrlich bin, muss ich eingestehen, dass das, was in den letzten beiden Monaten geschehen ist, in meiner Verantwortung liegt. Tod, Vernichtung, Verlust und Schmerz sind meine Bürde. Ich hätte es kommen sehen müssen. Und ich hätte es aufhalten müssen.

Aus dem persönlichen Tagebuch von Navani Kholin, Jeseses 1174

Schallan stibitzte einen dünnen Kohlestift und zeichnete eine Reihe gerader Linien, die von einer Kugel am Horizont ausgingen. Diese Kugel entsprach nicht ganz der Sonne, und sie stellte ebenso wenig einen der Monde dar. In Kohle umrissene Wolken schienen darauf zuzuströmen. Und das Meer unter ihnen … Eine Zeichnung war nicht in der Lage, die bizarre Natur dieses Ozeans wiederzugeben, der nicht aus Wasser, sondern aus kleinen, durchscheinenden Glasperlen bestand.

Schallan zitterte, als sie sich an jenen Ort erinnerte. Jasnah wusste viel mehr darüber, als sie ihrem Mündel hatte mitteilen wollen, und Schallan wusste nicht recht, wie sie die andere Frau danach fragen sollte. Durfte man überhaupt Antworten verlangen, wenn man einen solchen Verrat wie Schallan begangen hatte? Nur wenige Tage waren seit jenem Ereignis vergangen, und Schallan wusste noch immer nicht genau, wie sich ihre Beziehung zu Jasnah fortsetzen sollte.

Das Deck schwankte, als das Schiff gegen den Wind kreuzte und die gewaltigen Segel hoch droben flatterten. Schallan war gezwungen, sich mit ihrer bekleideten Schutzhand an der Reling festzuhalten. Kapitän Tozbek sagte, die See sei für diesen Teil der Meerenge von Langstirn recht ruhig. Dennoch würde sie vermutlich unter Deck gehen müssen, sollten die Wellen und das Schlingern noch schlimmer werden.

Schallan stieß die Luft aus und versuchte sich zu entspannen, als das Schiff ruhiger wurde. Eine kalte Brise blies, und Windsprengsel zischten auf unsichtbaren Luftströmungen vorbei. Immer wenn die See rau wurde, erinnerte sich Schallan an jenen Tag und das fremdartige Meer aus Glasperlen …

Sie betrachtete wieder das, was sie gezeichnet hatte. Sie hatte nur einen kurzen Blick auf jenen Ort erhascht, und ihre Skizze war gewiss nicht vollkommen. Sie …

Schallan runzelte die Stirn. Aus dem Papier hatte sich ein Muster erhoben, wie eine Prägung. Was hatte sie getan? Dieses Muster war fast ebenso breit wie das Blatt und bestand aus einer Reihe verwickelter Linien mit spitzen Winkeln und wiederholten Zeichen, die wie Pfeilspitzen wirkten. Kam das daher, dass sie diesen unheimlichen Ort wiederzugeben versuchte – einen Ort, von dem Jasnah sagte, er heiße Schadesmar? Zögernd bewegte Schallan ihre Freihand über die unnatürlichen Erhebungen auf dem Papier.

Das Muster bewegte sich und glitt durch das Papier, ganz so wie sich ein Axthundjunges unter einer Bettdecke entlangschlängelt.

Schallan stieß einen spitzen Schrei aus und sprang von ihrem Sitz hoch. Dabei ließ sie den Skizzenblock auf das Deck fallen. Die losen Seiten verteilten sich auf den Planken, wurden vom Wind erfasst und umhergewirbelt. Einige Seeleute, die sich in der Nähe befanden – Thaylener mit langen weißen Augenbrauen, die sie hinter die Ohren zurückkämmten –, eilten ihr sofort zu Hilfe und fingen die Blätter in der Luft, bevor sie über Bord geweht wurden.

»Alles in Ordnung, junge Dame?«, fragte Tozbek, der sich in einer Unterredung mit einem seiner Maate befand und nun zu ihr herüberblickte. Der kleine, stämmige Tozbek trug eine breite Schärpe und einen Mantel aus Rot und Gold, der zu der Kappe auf seinem Kopf passte. Er hatte seine Brauen so nach oben gekämmt, dass sie wie Fächer über den Augen standen.

»Es geht mir gut, Kapitän«, sagte Schallan. »Ich hatte bloß einen Schreck bekommen.«

Yalb trat auf sie zu und hielt ihr die Blätter hin. »Eure Ausstaffage, meine Dame.«

Schallan hob eine Braue. »Ausstaffage?«

»Klar«, sagte der junge Seemann mit einem Grinsen. »Ich übe mich an ausgefallenen Wörtern. Sie helfen mir dabei, eine vernünftige weibliche Gesellschaft zu finden. Ihr wisst schon – die Art von jungen Damen, die nicht zu schlecht riechen und wenigstens noch ein paar Zähne im Mund haben.«

»Wie nett«, bemerkte Schallan und nahm die Blätter an sich. »Was natürlich von der Definition des Begriffes ›nett‹ abhängt.« Sie unterdrückte weitere spitze Bemerkungen und betrachtete misstrauisch den Stapel Papier in ihrer Hand. Das Bild, das sie von Schadesmar gezeichnet hatte, lag zwar obenauf, aber die seltsamen Prägungen waren nicht mehr zu erkennen.

»Was ist passiert?«, fragte Yalb. »Ist ein Kremling unter Euch hergekrochen oder was?« Wie gewöhnlich trug er eine an der Vorderseite offene Weste und dazu eine lockere Hose.

»Es war gar nichts«, sagte Schallan sanft und steckte die Blätter in ihre Umhängetasche.

Yalb salutierte kurz vor ihr – sie hatte keine Ahnung, warum er sich das angewöhnt hatte – und half dann den anderen Matrosen beim Spleißen der Tampen. Bald hörte sie schallendes Gelächter von den Männern um ihn herum, und als sie zu ihm hinübersah, bemerkte sie, wie Ruhmsprengsel um seinen Kopf tanzten. Sie hatten die Gestalt kleiner Lichtkugeln angenommen. Anscheinend war er sehr stolz auf den Scherz, den er soeben gemacht hatte.

Sie lächelte. Es war wirklich eine glückliche Fügung gewesen, dass Tozbek in Kharbranth aufgehalten worden war. Sie mochte die Mannschaft und war froh, dass Jasnah sie für diese Reise ausgewählt hatte. Schallan setzte sich wieder auf die Truhe, die Kapitän Tozbek vor der Reling hatte anbinden lassen, damit sie den Blick auf das Meer genießen konnte. Natürlich musste sie sich vor der Gischt in Acht nehmen, die ihre Zeichnungen verderben konnte, aber solange das Meer nicht aufgewühlt war, war die Gelegenheit, das Wasser zu beobachten, jede Mühe wert.

Der Ausguck oberhalb der Takelage stieß plötzlich einen lauten Ruf aus. Schallan kniff die Augen zusammen und blickte in die Richtung, in die er mit dem Arm wies. Sie befanden sich in Sichtweite des Kontinents und segelten parallel zu ihm. In der letzten Nacht hatten sie gar in einem Hafen geankert, während ein gewaltiger Großsturm getobt hatte. Jeder Segler zog es vor, in der Nähe des Landes zu bleiben, denn es entsprach Selbstmord, sich auf das offene Meer hinauszuwagen, wo man jederzeit von einem Großsturm überrascht werden konnte.

Der dunkle Fleck im Norden stellte die Frostlande dar, ein kaum bewohntes Gebiet entlang des unteren Randes von Roschar. Gelegentlich erhaschte sie einen Blick auf die höheren Klippen im Süden. Dort stellte Thaylenah, das große Inselkönigreich, eine weitere Barriere dar. Die Meerenge verlief zwischen diesen beiden Ländern hindurch.

Der Ausguck hatte etwas in den Wellen nördlich des Schiffes erspäht. Es war ein auf und ab tanzender Umriss gewesen, der zunächst wie ein großer Baumstamm gewirkt hatte. Aber er war viel länger und breiter. Schallan stand auf und kniff die Augen zusammen, als das rätselhafte Ding näher kam. Es stellte sich als eine braungrüne Kuppelmuschel heraus, die ungefähr so groß wie drei aneinandergebundene Ruderboote war. Als sie daran vorbeifuhren, schwamm die Muschel längsseits, und irgendwie gelang es ihr, mit dem Schiff mitzuhalten, während sie selbst ungefähr sechs oder acht Fuß aus dem Wasser ragte.

Ein Santhid! Schallan beugte sich über die Reling und schaute hinunter, während die Matrosen aufgeregt schnatterten; einige gesellten sich neben sie und schauten ebenfalls auf das Wesen hinunter. Die Santhidyn waren so scheu und selten, dass in einigen Büchern behauptet wurde, sie seien inzwischen ausgestorben, und alle zeitgenössischen Berichte über sie seien nicht verlässlich.

»Ihr habt aber großes Glück, junge Dame«, sagte Yalb zu ihr und lachte, als er mit einem Tau an ihr vorüberging. »Wir haben schon seit Jahren keinen Santhid mehr gesehen.«

»Du siehst auch keinen«, sagte Schallan. »Du siehst nur den oberen Teil seiner Schale.« Zu ihrer Enttäuschung verbarg das Wasser alles andere – lediglich einige Schatten in den Tiefen deuteten auf lange Arme oder Fortsätze hin, die nach unten ausgestreckt waren. In vielen Geschichten wurde behauptet, diese Wesen folgten einem Schiff manchmal tagelang und warteten auf dem Meer, wenn es in einem Hafen ankerte, nur um weiter neben ihm herzuschwimmen, sobald es seine Fahrt wieder aufnahm.

»Die Schale ist alles, was man je zu sehen bekommt«, sagte Yalb. »Bei allen Leidenschaften, das ist ein gutes Zeichen!«

Schallan hielt ihre Umhängetasche fest. Sie nahm ein Erinnerungsbild von der Kreatur dort unten neben dem Schiff auf, indem sie die Augen schloss und das Bild in ihrem Kopf festhielt, um es später in einer Zeichnung genauestens wiedergeben zu können.

Aber was willst du zeichnen?, dachte sie. Einen Klumpen im Wasser?

Ein Gedanke formte sich in ihrem Kopf. Sie hatte ihn bereits laut ausgesprochen, bevor sie sich eines Besseren besinnen konnte. »Bring mir dieses Tau«, sagte sie zu Yalb gewandt.

»Hellheit?«, fragte er und blieb stehen.

»Binde das eine Ende zu einer Schlinge«, sagte sie und legte eilig ihre Tasche auf die Truhe. »Ich muss mir diesen Santhid näher ansehen. Im Meer habe ich noch niemals den Kopf unter Wasser gehalten. Behindert das Salzwasser die Sicht?«

»Unter Wasser?«, fragte Yalb mit schriller Stimme.

»Warum bindest du nicht endlich eine Schlinge?«

»Weil ich kein verdammter Narr bin! Der Kapitän wird mir den Kopf abreißen, wenn …«

»Hol einen deiner Freunde her«, sagte sie. Ohne seinen Einwänden Beachtung zu schenken, ergriff sie das eine Ende des Taus und flocht es zu einer kleinen Schlinge. »Ihr werdet mich an der Bordwand herunterlassen, und ich werde einen Blick auf das werfen, was sich unter der Schale befindet. Ist dir bewusst, dass noch niemand eine Zeichnung von einem lebenden Santhid gemacht hat? All jene, die tot an den Strand gespült wurden, waren stark verwest. Und da die Seeleute es als unheilvoll betrachten, diese Wesen zu jagen …«

»Das ist es allerdings!«, sagte Yalb, dessen Stimme immer höher wurde. »Niemand würde jemals einen töten.«

Schallan hatte die Schlinge geflochten und eilte nun an die Bordwand. Ihr rotes Haar wurde um das Gesicht gepeitscht, während sie sich über die Reling beugte. Der Santhid war noch da. Wie machte er das? Sie konnte keine Flossen erkennen.

Sie schaute zu Yalb zurück, der noch immer das andere Ende des Taus in der Hand hielt und nun grinste. »Ah, Hellheit, ist das die Strafe für das, was ich zu Beznak über Eure Hinterseite gesagt habe? Das ist doch nur ein Scherz gewesen, und nun treibt Ihr Eure Scherze mit mir! Ich …« Er verstummte, als er ihr in die Augen sah. »Bei allen Stürmen, Ihr meint es wirklich ernst!«

»Eine andere Gelegenheit wird es nicht geben. Naladan hat den größten Teil seines Lebens dazu benutzt, diesen Wesen nachzujagen, und er hat nie auch nur einen eingehenden Blick auf eines erhaschen können.«

»Das ist doch Wahnsinn!«

»Nein, das ist Wissenschaft! Ich weiß nicht, ob ich unter Wasser sehen kann, aber ich muss es wenigstens versuchen.«

Yalb seufzte. »Wir haben Masken. Sie bestehen aus Schildpatt mit Glas in den ausgeschnittenen Löchern an der Vorderseite und Blasen am Rand, die das Wasser fernhalten. Wenn ihr eine anlegt, könnt Ihr den Kopf unter Wasser halten und trotzdem gut sehen. Wir benutzen sie, um den Schiffsrumpf im Dock zu überprüfen.«

»Wunderbar!«

»Natürlich müsste ich zuerst die Erlaubnis des Kapitäns einholen …«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Keine Ausflüchte! Hol die Erlaubnis.« Es war ohnehin unwahrscheinlich, dass sie ihren Plan in die Tat umsetzen konnte, ohne dass der Kapitän davon erfuhr.

Yalb grinste. »Was ist bloß in Kharbranth mit Euch passiert? Auf Eurer ersten Reise mit uns wart Ihr noch so furchtsam und habt den Eindruck erweckt, Ihr würdet schon bei dem bloßen Gedanken, Eure Heimat zu verlassen, ohnmächtig werden.«

Schallan zögerte, dann stellte sie fest, dass sie errötete. »Es ist ein wenig tollkühn, nicht wahr?«

»Sich von einem fahrenden Schiff abzuseilen und dann den Kopf unter Wasser zu stecken?«, fragte Yalb. »Ja. Ein wenig.«

»Glaubst du … wir könnten das Schiff anhalten?«

Yalb lachte, aber dann lief er doch zum Kapitän; offensichtlich sah er ihre Bitte als ein Anzeichen dafür an, dass sie fest entschlossen war, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Und das war sie auch.

Was ist mit mir passiert?, fragte sie sich.

Die Antwort war einfach. Sie hatte alles verloren. Sie hatte Jasnah Kholin, eine der mächtigsten Frauen der Welt, bestohlen und sich dabei nicht nur ihrer Gelegenheit beraubt, Studien zu betreiben, wie sie es sich immer erträumt hatte, sondern sie hatte noch dazu ihre Brüder und ihr Haus dem Untergang geweiht. Sie hatte vollständig und auf ganzer Linie versagt.

Aber sie hatte es durchgeführt.

Sie war dabei nicht ungeschoren davongekommen. Ihre Glaubwürdigkeit bei Jasnah hatte großen Schaden gelitten, und sie hatte unter dem Gefühl gelitten, ihre eigene Familie verraten zu haben. Aber die Erfahrungen, die sie gemacht hatte, indem sie Jasnahs Seelengießer gestohlen hatte – der sich jedoch als Fälschung herausgestellt hatte – und beinahe von einem Mann getötet worden wäre, von dem sie geglaubt hatte, dass er sich in sie verliebt hatte …

Nun besaß sie eine genauere Vorstellung davon, wie schlimm die Dinge werden konnten. Es war, als ob … Früher hatte sie sich vor der Dunkelheit gefürchtet, aber nun war sie in diese hineingetreten. Sie hatte das Grauen erfahren, das dort auf sie wartete. Es war schlimm gewesen, aber jetzt kannte sie es wenigstens.

Du hast es schon immer gekannt, flüsterte eine Stimme tief in ihr. Du bist mit dem Grauen aufgewachsen, Schallan. Du wolltest dich bloß nicht daran erinnern.

»Was soll denn das?«, fragte Tozbek, als er herbeikam; seine Frau Aschlv befand sich an seiner Seite. Diese kleine Frau sprach nicht viel; sie trug einen Rock und eine Bluse aus hellem Gelb, und ein Schal bedeckte ihr gesamtes Haar bis auf die beiden weißen Brauen, die in Locken auf ihre Wangen herabfielen.

»Junge Dame«, sagte Tozbek, »Ihr wollt schwimmen gehen? Kann das nicht warten, bis wir im nächsten Hafen liegen? Ich kenne einige nette Gegenden, in denen das Wasser nicht annähernd so kalt ist.«

»Ich will nicht schwimmen«, sagte Schallan und errötete noch stärker. Was sollte sie eigentlich anziehen, wenn sie in Gegenwart so vieler Männer ins Wasser ging? »Ich möchte lediglich einen eingehenden Blick auf unseren Gefährten werfen.« Sie deutete auf das Meereswesen.

»Junge Dame, Ihr wisst genau, dass ich etwas so Gefährliches nicht erlauben kann. Selbst wenn wir das Schiff anhielten, bestünde noch immer die Gefahr, dass Euch das Wesen verletzt. Und was dann?«

»Es heißt, sie sind harmlos.«

»Sie sind so selten, dass wir das nicht mit Sicherheit wissen können. Außerdem gibt es in diesen Gewässern noch andere Tiere, die Euch durchaus etwas antun könnten. Es ist bekannt, dass Rotwasser hier in der Gegend jagen, und das Wasser ist möglicherweise bereits so seicht, dass auch Khornaks eine Gefahr darstellen könnten.« Tozbek schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, aber das kann ich nicht erlauben.«

Schallan biss sich auf die Lippe und bemerkte, dass ihr Herz verräterisch heftig klopfte. Sie wollte ihn weiter bedrängen, aber der entschiedene Blick in seinen Augen verunsicherte sie. »Also gut.«

Tozbek lächelte breit. »Ich werde Euch einige Muscheln im Hafen von Amydlatn zeigen, wenn wir dort ankern, junge Dame. Da gibt es eine prachtvolle Sammlung!«

Sie wusste nicht, wo das war, aber nach der durcheinandergewürfelten Ansammlung von Konsonanten zu urteilen musste es irgendwo auf der Thaylen-Seite liegen, wie die meisten Städte hier im Süden. Obwohl es in Thaylenah fast so kalt wie in den Frostlanden war, schienen die Menschen dort gern zu leben.

Natürlich waren die Thaylener allesamt ein wenig merkwürdig. Wie konnte man denn Yalb und die anderen sonst nennen, die trotz der kalten Luft keine Hemden trugen?

Aber sie waren nicht diejenigen, die einen Tauchgang im Meer vorgeschlagen haben, rief sich Schallan in Erinnerung. Sie blickte wieder über die Seite des Schiffes und beobachtete, wie sich die Wellen an der Schale des sanften Santhid brachen. Was war er? Eine Großschalen-Bestie, ähnlich den erschreckenden Kluftteufeln auf der Zerbrochenen Ebene? Glich er unter der Schale eher einem Fisch oder einer Schildkröte? Die Santhidyn waren so selten – und so selten von Gelehrten beobachtet worden –, dass alle Theorien, die über sie aufgestellt worden waren, einander widersprachen.

Sie seufzte, öffnete ihre Tasche und machte sich daran, die Blätter zu ordnen. Bei den meisten handelte es sich um Skizzenvon Seeleuten bei verschiedenen Tätigkeiten, vornehmlich in der Takelage der gewaltigen Segel, die sich im Wind blähten. Ihr Vater hätte ihr niemals erlaubt, einen ganzen Tag lang herumzusitzen und eine Gruppe hemdloser Dunkelaugen zu beobachten. Wie sehr sich doch ihr Leben in so kurzer Zeit verändert hatte!

Sie arbeitete gerade an einer Zeichnung der Santhid-Schale, als Jasnah das Deck betrat.

Wie Schallan trug auch Jasnah eine Havah, ein Vorin-Kleid von außerordentlichem Schnitt. Der Saum befand sich in Höhe ihrer Füße und der Kragen fast unter dem Kinn. Einige der Thaylener bezeichneten diese Kleidung als prüde, wenn sie glaubten, dass niemand sie hören konnte. Schallan war jedoch anderer Ansicht. Die Havah war keineswegs prüde, sondern elegant. Die Seide schmiegte sich um den Körper, insbesondere um die Brust, und die Art und Weise, wie die Matrosen Jasnah anstarrten, deutete darauf hin, dass sie dieses Kleidungsstück durchaus nicht als unvorteilhaft erachteten.

Jasnah war schön. Ihre Gestalt erschien wohlgerundet, und ihre Haut wirkte angenehm gebräunt. Sie hatte vollkommene Augenbrauen, die Lippen waren dunkelrot geschminkt und die Haare zu einem feinen Zopf geflochten. Obwohl Jasnah doppelt so alt wie Schallan war, war ihre reife Schönheit noch immer bewundernswert und sogar beneidenswert. Warum musste diese Frau so ohne Makel sein?

Jasnah beachtete die Blicke der Seeleute nicht weiter. Es war keineswegs so, dass sie Männern keine Aufmerksamkeit schenkte. Jasnah bemerkte sogar alles und jeden. Es schien ihr nur eben gleichgültig zu sein, wie die Männer sie ansahen.

Nein, das stimmt nicht, dachte Schallan, als Jasnah auf sie zuschritt. Sie würde sich nicht die Zeit nehmen, ihre Haare zu flechten oder Schminke aufzulegen, wenn es ihr egal wäre, wie sie auf andere wirkt. Jasnah war wirklich ein Rätsel. Auf der einen Seite schien sie eine Gelehrte zu sein, die sich nur mit ihren Forschungen beschäftigte. Doch auf der anderen Seite betrug sie sich mit der Würde einer Königstochter – und benutzte diese manchmal wie einen Knüppel.

»Da bist du ja«, sagte Jasnah und stellte sich neben Schallan. Ein Gischtspritzer an der Bordwand nutzte genau diesen Augenblick, um aufzusteigen und sie zu besprenkeln. Über die Wassertropfen, die an ihrer Seidenkleidung herunterliefen, runzelte sie die Stirn. Dann sah sie wieder Schallan an und hob eine Braue. »Wie du vermutlich schon bemerkt hast, besitzt dieses Schiff zwei sehr gute Kajüten, die ich für uns beide gemietet habe. Sie waren nicht gerade billig.«

»Ja, aber sie sind drinnen.«

»Wie es bei Räumen für gewöhnlich der Fall ist.«

»Ich habe schon den größten Teil meines Lebens drinnen verbracht.«

»Und das wirst du auch fürderhin tun, wenn du eine Gelehrte sein willst.«

Schallan biss sich auf die Lippe und wartete auf den Befehl, unter Deck zu gehen. Aber seltsamerweise kam er nicht. Jasnah winkte Kapitän Tozbek heran, und er gehorchte und kroch mit der Kappe in der Hand auf sie zu.

»Ja, Hellheit?«, fragte er.

»Ich hätte gern ebenfalls einen solchen … Sitz«, sagte Jasnah und zeigte auf Schallans Truhe.

Rasch ließ Tozbek einen seiner Männer eine weitere Truhe neben die erste stellen und anbinden. Während Jasnah auf ihre Sitzgelegenheit wartete, bedeutete sie Schallan, sie wolle einen Blick auf ihre Zeichnungen werfen. Jasnah betrachtete das Bild des Santhid und warf dann einen Blick über die Reling. »Kein Wunder, dass die Matrosen einen solchen Lärm gemacht haben.«

»Glück, Hellheit!«, sagte einer der Seeleute. »Glaubt Ihr nicht auch, dass es ein gutes Omen für Eure Reise bedeutet?«

»Ich werde alles annehmen, was das Schicksal für mich vorgesehen hat, Nanhel Eltorv«, sagte sie. »Danke für die Sitzgelegenheit.«

Unbeholfen verneigte sich der Seemann vor ihr, bevor er sich zurückzog.

»Ihr seid der Meinung, dass sie abergläubische Narren sind«, sagte Schallan leise und sah dem Matrosen nach.

»Meinen Beobachtungen zufolge«, erwiderte Jasnah, »sind diese Seeleute allesamt Männer, die in ihrem Leben einen Sinn gefunden haben und nun ein einfaches Vergnügen daran verspüren.« Jasnah betrachtete die nächste Zeichnung. »Viele Menschen machen weitaus weniger aus ihrem Leben. Kapitän Tozbek befehligt eine gute Mannschaft. Es ist klug von dir gewesen, meine Aufmerksamkeit auf ihn zu richten.«

Schallan lächelte. »Ihr habt meine Frage noch nicht beantwortet.«

»Du hast keine Frage gestellt«, erwiderte Jasnah. »Diese Skizzen sind wieder einmal außerordentlich gut gelungen, Schallan, aber solltest du nicht eigentlich lesen?«

»Ich … hatte Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren.«

»Und so bist du an Deck gegangen«, sagte Jasnah, »und hast junge Männer ohne Hemd bei der Arbeit gezeichnet. Hattest du erwartet, dass das deiner Konzentration hilfreich wäre?«

Schallan errötete, als Jasnah bei einem Blatt des Stapels innehielt. Schallan saß geduldig da – das hatte ihr Vater ihr mit Erfolg beigebracht –, bis Jasnah ihr das Blatt vorhielt. Es war natürlich das Bild von Schadesmar.

»Hast du meinen Befehl befolgt, nicht wieder in diesen Bereich einzudringen?«, fragte Jasnah.

»Ja, Hellheit. Dieses Bild habe ich aus der Erinnerung an meinen ersten … Fehltritt gezeichnet.«

Jasnah senkte das Blatt. Schallan glaubte, etwas in der Miene der Frau aufblitzen zu sehen. Fragte sich Jasnah vielleicht, ob sie Schallans Wort vertrauen konnte?

»Ich vermute, es ist das, was dir Kopfzerbrechen bereitet?«, fragte Jasnah.

»Ja, Hellheit.«

»Dann sollte ich es dir wohl erklären.«

»Wirklich? Das würdet Ihr tun?«

»Das sollte dich nicht so sehr überraschen.«

»Mir scheint es eine wichtige und machtvolle Neuigkeit zu sein«, sagte Schallan. »Die Art und Weise, auf die Ihr mir die Beschäftigung mit diesem Ort verboten habt … Ich hatte angenommen, dass das Wissen darum geheim ist oder zumindest niemandem meines Alters anvertraut werden darf.«

Jasnah rümpfte die Nase. »Ich habe festgestellt, dass junge Menschen noch viel eher in Schwierigkeiten geraten, wenn man sich weigert, ihnen Geheimnisse zu erklären. Deine Experimente beweisen, dass du längst kopfüber in all das hineingestürzt bist. Da es mir früher genauso ergangen ist, solltest du alles hören. Ich weiß aufgrund eigener schmerzhafter Erfahrungen, wie gefährlich Schadesmar sein kann. Wenn ich dich in Unwissenheit darüber belasse, werde ich schuld sein, falls du dort sterben solltest.«

»Hättet Ihr es mir früher erklärt, wenn ich schon vorher danach gefragt hätte?«

»Möglicherweise nicht«, gab Jasnah zu. »Ich musste zuerst herausfinden, wie bereit du bist, mir zu gehorchen. Diesmal zumindest.«

Schallan sackte ein wenig zusammen und unterdrückte den Drang zu betonen, dass damals, als sie noch ein fleißiges und gehorsames Mündel gewesen war, ihr Jasnah nicht annähernd so viele Geheimnisse mitgeteilt hatte wie jetzt. »Worum also handelt es sich bei diesem … Ort?«

»Es ist eigentlich kein Ort«, sagte Jasnah. »Zumindest ist es kein Ort, wie wir ihn uns vorstellen. Schadesmar ist hier und jetzt überall um uns herum. Alle Dinge existieren dort in einer gewissen Gestalt, so wie alle Dinge auch hier existieren.«

Schallan runzelte die Stirn. »Das verstehe …«

Jasnah hob einen Finger und brachte sie damit zum Schweigen. »Alle Dinge haben drei Bestandteile: Seele, Körper und Geist. Dieser Ort, den du gesehen hast – Schadesmar –, ist das, was wir das Reich des Erkennens nennen. Es ist der Ort des Geistes.