Die Wunderfabrik – Jetzt erst recht! - Stefanie Gerstenberger - E-Book

Die Wunderfabrik – Jetzt erst recht! E-Book

Stefanie Gerstenberger

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Beschreibung

Drei Geschwister, ein magisches Geheimnis und ein unheimlicher Gegenspieler – aus diesen Zutaten mischt Stefanie Gerstenberger ihre erste Kinderbuchserie für alle, die spannende Abenteuer lieben. Winnie und ihre Geschwister Cecilia und Henry sind entsetzt: Der hinterlistige Albert hat das geheime Rezeptbuch für die magische Lakritze gestohlen – das müssen sie unbedingt wiederhaben! Die Schwestern schmuggeln sich – undercover! – in das Internat, in dem Albert sich versteckt. In der alten Burg erwarten die beiden eine unheimliche Entdeckung und Schüler, die sich überaus merkwürdig benehmen. Was hat Albert hier nur angerichtet? Können Winnie und ihre Geschwister den verrückten Jungen jemals aufhalten? Bestsellerautorin Stefanie Gerstenberger für alle, denen es nicht spannend genug sein kann – jetzt erst recht! Alle Bände der Serie »Die Wunderfabrik«: Band 1: Keiner darf es wissen! Band 2: Nehmt euch in Acht! Band 3: Jetzt erst recht! Serie bei Antolin gelistet

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Seitenzahl: 350

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Stefanie Gerstenberger

Die Wunderfabrik

Jetzt erst recht! Band 3

FISCHER E-Books

Inhalt

1. Kapitel – Über eine Seefahrt, die nur mit Pennys lustig ist …2. Kapitel – in dem ein Ausflug der Pinguine an einer unüberwindlichen Mauer endet3. Kapitel – in dem nicht nur eine Entführung geplant wird, sondern gleich zwei!4. Kapitel – in dem Winnie und Cecilia so viel Mut brauchen wie noch nie!5. Kapitel – in dem für Winnie und Cecilia noch einmal erster Schultag ist und Cecilia sich fast prügelt6. Kapitel – Über Bienenretter und Gedichteschreiber, und wie ein Burgdrache plötzlich zum Freund werden kann7. Kapitel – in dem Cecilia und Winnie so einiges entdecken, auch was an Jungs so besonders ist8. Kapitel – in dem ein äußerst gefährlicher Trank angesetzt und ein Pakt geschlossen wird9. Kapitel – Über eine fiese Schlammschlacht, der niemand entkommt, eine erfolgreiche Flucht und einen silbernen Penny, damit jemand sich erinnert!10. Kapitel – in dem einige Leute plötzlich verliebt sind und Winnie alleine an einem seltsamen Ort übernachten muss11. Kapitel – Von Schwimmbadrutschen, Gedächtnisduschen und einer goldenen Eintrittskarte12. Kapitel – Warum es manchmal schlauer ist, abzuwarten und die Arbeit echten Spezialisten zu überlassen13. Kapitel – in dem alles schiefgeht, was schiefgehen kann, wie in einem lustigen Pannen-Video14. Kapitel – Der Katastrophen-Tag nimmt seinen Lauf und ein großer Gegenstand kann plötzlich fliegen15. Kapitel – Ein Freudenfest mit einem Freudenfeuer und ein Abschied, der um ein Haar viel zu traurig geworden wäre16. Kapitel – in dem jemand eine Villa in die Luft jagt. Jedenfalls fastSechs Monate später

1. Kapitel – Über eine Seefahrt, die nur mit Pennys lustig ist …

»Wann sind wir da-haa?« Henrys Stimme kam von irgendwo weit unten, und einen Moment lang wusste Winnie nicht, wo sie sich befand. Sie schlug verwirrt die Augen auf. Über ihr, ganz dicht vor ihrem Gesicht, befand sich eine hölzerne Wand. Wo war sie? Hilfe! In welche enge Holzkiste hatte man sie eingesperrt?

»Bist du wach, Winnie?«

»Nein«, sagte sie und gähnte, und dann fiel ihr alles wieder ein: Das hier war keine Holzkiste, das hier war ihre Koje auf der Mary, in der sie ihre erste Nacht verbracht hatte. Winnie setzte sich vorsichtig auf – Achtung, nicht den Kopf stoßen! – und schaute hinunter. Hugo hatten ihnen ein Etagenbett in den ehemaligen Bärenkäfig gebaut, sie schlief oben, Henry unten, und am Boden davor stand das Himmelbettchen von KATZE, das im Moment aber leer war. Cecilia hatte eine eigene Kajüte.

»Wir sind schon weit weg von unserer Wunderfabrik und dem Strand und der Villa«, rief Henry. »Ich habe gewunken, ganz lange, und KATZE auch!«

»Ja, schön, Henry!« Winnie gähnte wieder und beugte sich etwas vor. Von hier aus konnte sie aus dem runden Bullauge oben an der Kabinenwand schauen. Die Sonnenstrahlen glitzerten wie kleine Spiegelscherben auf den blauen Wellen, Henry hatte recht, sie waren weit weg von der Villa und der Wunderfabrik, auf dem offenen Meer!

»Aber was ist mit Mum und Dad? Wenn die jetzt an die Tür von der Villa klopfen, dann sind sie traurig und suchen uns, weil: Wir sind ja nicht da!«

»Mach dir keine Sorgen«, tröstete Winnie ihren kleinen Bruder, »die beiden sind immer noch in Brasilien, und bevor sie mit ihren Forschungen fertig sind, sind wir längst wieder in der Villa!«

 

»Hey, ihr lazy people!«, rief Cecilia draußen auf dem Gang vor ihrer Kabinentür und riss sie im selben Moment auf: »Steht auf, es ist so super da oben an Deck. Außerdem gibt es gleich Frühstück, alle sind schon wach!«

»Und? Ist irgendwer noch mal seekrank geworden?«, fragte Winnie und schlängelte sich mit den Füßen zu der schmalen Leiter am Fußende des Bettes. Sie wusste die Antwort natürlich schon.

»Niemand, uns geht’s gut, alles cool!« Cecilia grinste zu ihr hoch und drehte dann verlegen an ihren Locken. »Sorry noch mal, dass ich gestern so faul war und dir nicht geholfen habe. Ohne deine Pennys lägen wir jetzt noch völlig fertig an Deck, nur zu einer Sache bereit, nämlich vor Übelkeit zu sterben!«

»Kein Problem, ich hoffe nur, du denkst beim nächsten Mal daran, wenn ich dich um etwas bitte!«, sagte Winnie und kletterte die Leiter hinab.

»Versprochen.«

Cecilia schaute tatsächlich etwas zerknirscht. Hatte sie vielleicht endlich begriffen, dass ihre kleine Schwester als Einzige von ihnen die GABE hatte und etwas ganz Wundervolles damit herstellen konnte?

Winnie dachte an den Moment, als sie gestern unter Deck in ihre weiße Konditorenjacke geschlüpft war und heimlich die Lakritzemasse aufgekocht hatte. Mit getrockneter Orangenschale, Kreuzkümmel und Chiliflocken war das klebrige Schwarz knallrot geworden, und dank der Zugabe von Kardamom (ein beiläufiger Tipp von Grandpa, den sie sich natürlich gemerkt hatte) hielt die Wirkung der ausgestanzten Pennys nicht nur zehn Minuten, sondern richtig lange an! Winnie half Henry beim Anziehen, dann machten sie sich alle drei auf den Weg. Am Ende des Korridors stiegen sie eine schmale Treppe hoch und betraten den großen Raum, in dem auch die Kombüse, die Schiffsküche, untergebracht war. Am Tisch wurden die Kinder lautstark von den anderen begrüßt. Es duftete nach Tee und pancakes, und unter den leicht schräg hängenden Lampen war ein üppiges Frühstück aufgebaut. Niemand war mehr bleich, jeder griff mit gutem Appetit zu, auch Hugo, der seine Wollmütze gegen eine Kapitänsmütze ausgetauscht hatte. Von draußen hörte man die Rufe der Matrosen, alte Freunde von Hugo, und über ihnen ihre Schritte an Deck.

Nachdem sie gegessen hatten, erhob sich Grandpa. »Werte Anwesenden«, begann er mit kräftiger Stimme, »bleibt bitte noch einen Moment sitzen, ich lade euch hiermit zu einer sehr wichtigen Besprechung ein!« Auch bei ihm keine Spur mehr von Seekrankheit, obwohl das Meer an diesem Morgen etwas rauer war und man das leichte Schwanken des Schiffs noch stärker als gestern spürte. »Wir sind unterwegs, um uns unser altes Familienerbstück zurückzuholen, das Herzstück der Fabrik, das Buch, das die gesammelten Rezepte unserer Vorfahren enthält und das ER, dieser unverschämte, undankbare Kerl, auf so schändlich dreiste Weise entwendet hat …!«

»Wir werden es schaffen, mein königlicher Hoflieferant«, unterbrach Grandma und tätschelte ihrem Mann beruhigend den Arm. »Bald hältst du es wieder in den Händen!«

»Richtig, Ruthie. Genau.« Grandpa hatte sich wieder gesammelt. »Bevor wir also ankommen, sollten wir uns ausreichend wappnen, um es mit unserem Gegner sofort aufnehmen zu können, sobald wir an Land sind! Kapitän Hugo, wie geht es mit Hilfe deiner Matrosenfreunde weiter? Wie ist der Verlauf der Reise geplant?«

Winnie grinste. Hugos Matrosenfreunde hatten netterweise ihr gesamtes Gepäck und die Essensvorräte, die Kräutergläser, Zucker- und Mehlsäcke und Grandmas Werkzeugkisten an Bord geschleppt. Auf einer von ihnen hatte Achtung, Dynamit! gestanden. Wollte Granny Ruthie etwa etwas in die Luft sprengen?! Auch Ninettes Nähmaschine und drei Kartons mit Kleiderstoffen waren noch dazugekommen. Eine Nähmaschine? Ob das wirklich nötig ist, für eine Reise, die mit Hin- und Rückfahrt allerhöchstens eine Woche dauern soll?, überlegte Winnie.

Vor zehn Jahren war Hugo mit seinen Matrosenfreunden vor der Villa gestrandet. Doch obwohl ihre spektakuläre Flucht mit den gequälten, halb verhungerten Tieren aus einem Privatzoo in Sankt Petersburg schon so lange zurücklag, waren die acht Männer sofort wieder überall aus dem ganzen Land zusammengeströmt, als Hugo sie rief.

Hugo wischte seinen Bart umständlich mit einer Serviette ab und kletterte auf die Bank, damit man ihn besser sehen konnte. »Wir segeln gerade auf Kurs Nord-Nordwest mit zwölf Knoten pro Stunde, die Wetteraussichten sind gut, mäßig bewegte See mit frischer Brise aus Südwest. Das bedeutet, dass wir, wenn uns Mast- und Schotbruch erspart bleiben, in ungefähr vierundzwanzig Stunden am Ziel unserer Reise sein könnten.« Er hob mit ernster Miene einen Finger in die Luft: »Wir werden am Ziel natürlich nicht direkt vor Burg Fothergill ankern, obwohl es möglich wäre, sondern einen Platz an geeigneter, aber nicht einsehbarer Stelle suchen.«

»Sind wir sicher, dass das kleine Ekelpaket sich überhaupt in diesem Internat befindet?«, fragte Marisa und tastete nach ihrem Tee. Obwohl sie blind war, warf sie viel seltener etwas um als zum Beispiel Henry. Aber der war ja auch gerade erst fünf geworden.

»Wenn wir den Zeitungsartikeln Glauben schenken, können wir davon ausgehen, dass Albert dort wohnt«, bestätigte Grandma.

Wenn diese Kinder wüssten …

 

dass sie mich immer noch wahnsinnig wütend machen, dabei ist es schon einige Tage her, dass ich in der Schwimmkugel nach Burg Fothergill zurückgekehrt bin. Diese nichtsnutzige Bande von Großcousins und -cousinen regt mich trotzdem noch auf! Ist mir der kleine Minor doch einfach entwischt, eine peinliche Panne, eine Schmach und Schande! Verdammtes Tullymore. Verdammte Wallace-Walker-Sippe! Meine Reise, meine Pläne, für die Katz!

Apropos Katze, das dumme Vieh ist natürlich auch gleich dortgeblieben. Verräterin! Nicht mal auf die ist Verlass.

Wie unangenehm, da habe ich mir gleich zwei Ehrenvitrinen für das Buch bauen lassen, eine direkt neben meinem Bett, eine in meinem exzellent ausgestatteten Labor, aber wo immer es nun auf seinem goldenen Kissen liegt, es ist nutzlos! Wenn ich nur daran denke, möchte ich sofort etwas kaputt machen oder jemanden bestrafen! Mal sehen, ob mir gleich einer von den Eels über den Weg läuft. Eels, Lizards, Toads … Aale, Echsen, Kröten, egal. Der Erste aus einem der Häuser, den ich sehe, wird heute noch Wände streichen müssen. Mit einem seeehr kleinen Pinsel, jawohl!

»Ich habe mal recherchiert!« Adam räusperte sich. »Bei der Burg Fothergill handelt es sich um eine große Anlage mit acht Türmen, aber nur einem Zugangstor. Wie sollen wir da unentdeckt hineinkommen?«

»Ein Tor ist dazu da, dass man hindurchgeht!«, sagte Hugo und schüttelte seinen großen Kopf. »Woher stammen denn deine Informationen, Smutje? Sei froh, dass du überhaupt bei uns sitzen darfst. Als Letzter in der Rangfolge der Matrosen ist dein Platz eigentlich eine Etage tiefer, beim Rest der Mannschaft.«

»Oh, vielen Dank für diese Ehre, Käpt’n.« Adam sah nicht gerade erfreut aus. »Doch dürfte ich darum bitten, hier am Tisch einfach nur Adam, der Journalist, sein zu dürfen!«

Und er ist mein Freund!, mischte die gehörlose Ninette sich mit einem ihrer typischen Zettel in das Gespräch ein. Wenn sie keine Zettel schrieb, gebärdete sie mit den Händen. Sie sprach nie.

»Journalist! Aber Backbord nicht von Steuerbord unterscheiden können … dabei sind das die erbärmlichsten Grundkenntnisse, Smutje!«, fuhr Hugo unbeirrt und nicht viel freundlicher fort. »Haben wir Informationen über die Fothergill Boarding School, und wenn ja, aus welcher Quelle kommen sie?«

»Aus der hier«, sagte Cecilia und wedelte mit ihrem Handy. »Ich habe hier auf diesem Boot, tausend Meilen von der Küste entfernt, ein Netz und sogar Internet, und in der Villa gab es nichts davon, das ist doch verrückt!«

»Eine halbe Seemeile«, korrigierte Hugo, »mehr beträgt unsere Distanz zur Küste nicht. Und außerdem ist es ein ›Schiff‹, denn das Gefährt verfügt über die respektable Größe von sechsundvierzig Metern und hat mehr als einen Mast! Bitte sag also nie, nie wieder ›Boot‹ zu meiner Mary, haben wir uns verstanden?«

»Aye, aye, Käpt’n«, antwortete Cecilia.

»Was? Wir haben wieder Internet?!« Winnie holte eilig ihr Handy hervor, das sie nur eingesteckt hatte, um Fotos von ihrer Reise auf der Mary zu machen. Wow, sie hatte tatsächlich Empfang und dreihundertneunundachtzig ungelesene WhatsApp-Nachrichten! Sollte sie Luke schreiben? Und ihm mitteilen, dass sie bald ganz in seiner Nähe sein würde? Sie mochte Luke immer noch richtig gern, und nicht nur, weil er so gut Skatebord fuhr. Vielleicht konnte er ihnen ja helfen? Aber was, wenn Albert wirklich auf der Burg lebte und alles kontrollierte? Und die Handys der Schüler eingesammelt hatte und ihre Nachrichten las! Falls das der Fall sein sollte, würde er schon vierundzwanzig Stunden früher von ihrem Besuch wissen, noch bevor sie überhaupt einträfen. Nein, sie durfte nichts unternehmen, jedenfalls nicht, ohne darüber mit Cecilia gesprochen zu haben.

»Die Webseite von der Fothergill Boarding School ist eigentlich ganz cool, Leute«, sagte ihre Schwester in diesem Moment, »die Burg ist fett! Die Schuluniformen sehen teuer und gut geschnitten aus, nur die Farben der Sporttrikots gehen leider gar nicht!« Sie zeigte die Fotos am Tisch herum.

»Offenbar nur ein einziges Tor als Zugang …«, stellte Grandpa fest.

»Und einen Burggraben plus Zugbrücke vor dem Tor haben sie auch«, sagte Adam.

»Und gibt es auch einen Drachen?«, fragte Henry. »Dann bleibe ich nämlich zu Hause.«

»Du bist nicht mehr zu Hause, Henry! Du bist jetzt heimatlos auf See!«, sagte Cecilia, doch sie lachte und tat so, als ob sie sein Gesicht in die Porridgeschüssel vor ihm drücken wollte. Henry schrie zum Spaß auf, und nun redeten alle durcheinander.

Grandma ließ es eine Weile geschehen, dann fasste sie zusammen: »Der Zugang ist also eingeschränkt. Das heißt, wir können nicht einfach in dieses Internat hineinmarschieren.«

»Könntest du das Tor nicht sprengen?«

Alle Köpfe flogen herum, jeder starrte Winnie an, auch Grandma schien entsetzt.

»Na ja, ich meine ja nur … da stand Achtung Dynamit! auf einer deiner Werkzeugkisten«, murmelte Winnie.

»Das wäre die allerletzte Möglichkeit, wir könnten Unschuldige verletzen!« Grandma schüttelte den Kopf.

»Dieses Ansinnen müssen wir wohl als illusorisch aufgeben«, gab Hugo in seiner umständlichen Art zu.

»Er darf uns eben nicht sehen, das ist doch wohl klar!«, polterte Grandpa los und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte.

Winnie warf einen Blick in die Runde. Die gute Laune vom Frühstück war umgeschlagen, alle waren nervös, ihre Gesichter besorgt, der Ton wurde aggressiver.

»Er darf uns schon sehen, aber er darf uns nicht als die erkennen, die er kennt!« Kling. Kling. Kling. Marisa rührte, während sie sprach, fortwährend in ihrem Tee.

»Wie soll das gehen?«, fragte Cecilia, sie langte über den Tisch und nahm Marisa den Löffel aus der Hand. »Sorry, aber das nervt!«

»Da musst du mich nicht fragen!« Marisa klang beleidigt. »Ich bin ja wohl kaum eine Seh-Expertin!«

In diesem Moment stand Ninette auf, knallte einen Zettel auf den Tisch und verließ den Raum. »Entschuldigt, aber das hier führt zu nichts. Ich gehe nähen«, las Grandma vor und ließ das Stück Papier sinken. »Was, for heaven’s sake, näht sie denn, ausgerechnet jetzt? Gibt es nichts Wichtigeres zu tun?«

»Tja, die liebe Ninette … nicht immer einfach zu verstehen.« Auch Adam zuckte mit den Schultern. »Sie hat meine Maße genommen, von oben bis unten, wollte aber nichts verraten.«

»Wir müssen das Gebäude erkunden, ohne gesehen zu werden«, sagte Grandpa. »Vielleicht sind ja die Bewohner des Dörfchens Fothergill in der Lage, uns über mögliche Zugänge Auskunft zu geben.«

»Aber auch die sollten besser nicht herumerzählen können, dass sich eine seltsame, neunköpfige Gruppe mit drei Kindern, zwei uralten Leutchen, einer Blinden, einer Gehörlosen, einem raupenbärtigen Typ und einem Kleinwüchsigen nach dem Internat erkundigt hat«, sagte Cecilia und verstummte, als sie merkte, dass alle sie vorwurfsvoll anschauten. »Was?!«, rief sie. »Ist doch wahr!«

»›Kleinwüchsig‹? Ein ›etwas unterdurchschnittliches Längenwachstum‹ hätte sich in meinen Ohren erfreulicher angehört.« Hugo rückte seine Kapitänsmütze gerade und verließ mit erhobenem Haupt den Tisch.

Auch die Großeltern schüttelten die Köpfe. »›Uralte Leutchen‹? Vielen Dank, junge Dame«, sagte Grandma verstimmt. Sie stand auf. »Herb und ich sind zusammen gerade mal hundertsechzig!«

»Ey, Mann, nun stellt euch nicht so an«, beschwerte sich Cecilia, »ihr wisst doch, wie ich es gemeint habe.«

»Scheinbar nicht«, sagte Winnie, als auch Marisa und Adam den Tisch und die Kombüse verließen.

»So ein Fff … Dann macht doch, was ihr wollt! Komm, Henry, wir gehen die Matrosen in den Masten beobachten! Die haben alle die gleichen gestreiften Pullover an und so coole Wollmützen auf, und es gibt sie in verschiedenen Größen, von riesig bis ziemlich klein, wie die Dalton-Brüder …«

»Wer sind die Dalton-Brüder?«

»Kennst du die Comics nicht? Erklär ich dir draußen!« Mit Henry an der Hand rannte sie hinaus, Winnie hörte, wie sie sich entfernten: »Also, es gibt da diesen Lucky-Luke-Comic …«

Doch Grandma lief ihnen hinterher: »Moment, hallo! Hier wird erst noch der Tisch abgeräumt! Jedes Mitglied der Gemeinschaft sollte etwas beitragen …« Ihre Worte verklangen.

 

Winnie schaute sich um. Sie war plötzlich mit Grandpa allein, was ihr sehr recht war. Eine Gruppe, die so aggressiv und schlecht gelaunt war, redete nur aneinander vorbei und konnte keine brauchbaren Pläne schmieden. Doch Grandpa war auch keine große Hilfe, er stützte seine faltige Stirn in die Hände, starrte auf die Tischplatte und wiederholte nur seine Klagen: »Und ausgerechnet das Rezeptbuch, das uns bei allem helfen könnte, ist weg! Ich dachte, Albert wüsste gar nicht, dass es in der Küche angekettet war, und dann stiehlt er das Buch einfach! Was für eine Undankbarkeit von ihm, nach den vielen Jahren, in denen wir ihn in der Villa beherbergt haben!« Er hob den Kopf und sah Winnie an, während er weitersprach: »Weißt du, was ich befürchte?« Er machte eine vielsagende Pause. »Meine größte Angst ist, dass er da oben im Norden ein Rezept zusammenbraut und dabei absichtlich alles falsch macht! Nur, damit er das größtmögliche Unheil damit anrichten kann! O ja, o ja.«

»Aber so ein Trank würde doch gar nicht funktionieren, oder?« Winnie lachte, doch sie war beunruhigt: »Albert hat schließlich nicht die GABE!«

»Leider sind meine Erfahrungen dahingehend andere. Ein falscher Trank mit schlimmen Folgen ist auch ohne GABE möglich! Wenn er das zufällig rausfindet, dann … wird er das ausnutzen, bis er den übelsten, weitreichendsten, verheerendsten Schaden angerichtet hat!«

Winnie biss die Zähne zusammen. Sie wusste, Grandpa übertrieb nicht, das wäre Albert ohne weiteres zuzutrauen.

»Was sollen wir bloß tun?« Grandpa sah sehr geknickt aus.

Winnie dachte nach, sie musste sich etwas einfallen lassen. Aber was? Prompt gab ihr Handy einladende Geräusche von sich, sie griff automatisch danach. Die rote Zahl auf dem Display verkündete, dass wieder neue Nachrichten von ihren Freundinnen eingetrudelt waren. Winnie stöhnte, sie hatte die letzten dreihundertneunundachtzig ja noch nicht mal gelesen und jetzt auch keine Zeit dafür. Viel wichtiger war es, Grandpa aus seiner Rezeptbuchkrise zu reißen.

Aber Moment mal, sie hatte doch von allen Rezepten, die ihr interessant vorgekommen waren, Fotos gemacht! Sie suchte in ihrem Fotoordner danach, insgesamt sieben Seiten waren es, vielleicht munterte ihn das etwas auf!

»Hier, Grandpa, schau mal!« Winnie war aufgestanden und hielt ihm das Handy vors Gesicht. »Sorry, dass ich dich nicht gefragt habe, bevor ich die Fotos gemacht habe, aber ein paar Rezepte haben wir noch.«

»Wie bitte?« Grandpa fuhr hoch. »Was ist das für ein Bild? Und was soll die kleine Schrift darauf? Ich kann nichts erkennen, wo ist meine Brille?«

»Das ist eins von sieben abfotografierten Rezepten aus deinem geheimen Rezeptbuch. Und die Brille sitzt übrigens oben auf deinem Kopf.«

Grandpa tastete danach und starrte dann auf das Handy. »Trunk-für-das-was-wahr-war …«, las er gedankenverloren und wiegte seinen Kopf wie in Zeitlupe hin und her. »Das heißt, du weißt schon lange von dem Buch?«

»Ja.«

»Und hast mir nichts gesagt?«

»Nein.« Du hättest dir nur wieder Sorgen gemacht, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Warum hast du ausgerechnet diese Seite fotografiert?«

»Weil ich das Rezept sehr interessant fand«, antwortete Winnie. Sie würde ihm jetzt auf keinen Fall erzählen, dass sie genau diesen Trank sogar schon zubereitet hatte, und schob das Foto mit dem Daumen zur Seite. »Das Cover habe ich übrigens auch fotografiert: 130 exotische Rezepte für köstlichen Plumpudding. Super Idee, das alte Manuskript da drin zu verstecken! Und das Rezept hier hat sich auch toll angehört!«

»Sei-ich-wenn-du-willst-Trank«, las Grandpa und richtete sich ruckartig auf, seine Lebensgeister schienen wieder geweckt. »Was haben wir noch? Die Schrift ist zwar sehr klein auf diesem winzigen Telefon, aber wir sind wieder im Spiel!«

»Die Schrift kann man größer machen, Grandpa. Schau, hier haben wir Träume-teilen-auch-zu-dritt oder Wie-werde-ich-zu-einem-Stein, und dann noch das mit dem Angeber: Wie man Angeber auf einen Streich loswird.« Winnie zog mit Zeigefinger und Daumen das Bild größer. »Der Trunk sieht zwar ziemlich langwierig und schwierig aus, immerhin dauert es drei Wochen, bis er fertig ist, aber …«

»Diese altüberlieferten Rezepte sind alle sehr schwierig, wenn man das richtige Ergebnis haben will, liebes Kind! Du siehst es ja an meinen handschriftlichen Korrekturen. Meine Güte, wie oft habe ich daran herumgeknobelt, meistens ohne Erfolg!«

»Ähem.« Winnie räusperte sich. Vielleicht war es jetzt doch an der Zeit, Grandpa die Wahrheit zu sagen. »Weißt du …« Sie setzte sich dicht neben ihn und legte ihm ihre Hand auf den Arm. »Für mich scheint das alles etwas leichter zu sein. Ich spüre einfach, wie ich es machen soll, auch wenn es nicht unbedingt im Rezept steht.«

»Wie kannst du da so sicher sein, Winnie?« Grandpa wandte sich ihr zu, der Blick seiner hellblauen Augen bohrte sich in ihre. »Die Pennys sind ja nur eine Aufwärmübung, die dir tatsächlich leichtzufallen scheint. Die höhere Magie dagegen ist mit Respekt und Vorsicht zu behandeln, es dauert Jahre, bis man sie beherrscht!«

»Und wenn man sie dann immer noch nicht beherrscht, malt man Fragezeichen daneben oder kritzelt Sätze wie Finger weg, rätselhaft, klappt nicht in das Buch und gibt auf?«

Grandpa wandte seinen Blick ab und rieb sich verlegen die Stirn. »Du bist jung …«

Winnie verdrehte die Augen. Was hatte das jetzt mit »jung sein« zu tun? Sie konnte einfach besser mit der Magie umgehen, das war es. »Lass uns überlegen, welches Rezept am nützlichsten sein könnte, um ungesehen in die Burg zu kommen, und dann gleich damit anfangen!«

»Ihr jungen Leute macht mich fertig«, seufzte Grandpa. »Dieser Übermut, diese Ungeduld, diese Überzeugung von Unfehlbarkeit … Aber ja, wenn du unbedingt willst, können wir uns die Sachen ja mal näher anschauen.«

Winnie ballte die Faust. Yesss! Endlich hatte Grandpa kapiert, worauf es jetzt ankam: Sie mussten sich so gut wie möglich vorbereiten, auch wenn es nur wenige Rezepte waren, die sie hatten!

Doch dann machte das Wetter ihr einen Strich durch die Rechnung, denn die von Hugo angesagte »frische Brise« wurde zu einem stürmischen Wind! Der Besatzung machte das nichts aus, die Matrosen leinten sich hoch oben auf den Rahen an und rollten einige der Segel ein, um den stürmischen Böen nicht zu viel Widerstand zu bieten.

Auch von den Passagieren aus der Villa wurde dank Winnies Talern niemand mehr seekrank. Grandma und Marisa standen summend unten in der Küche, sie verstauten die restlichen Vorräte in den Schränken und bereiteten mit vereinten Kräften das Mittagessen zu, wobei es Grandmas Aufgabe war, die Schneidebretter, Teller und Schüsseln davon abzuhalten, zu Boden zu krachen, wenn die Mary sich von schräg auf noch schräger ins Wasser legte. Ninette hatte sich immer noch in ihrer Kabine verbarrikadiert und nähte, doch laut Adam, der sich inzwischen mit Hugo versöhnt hatte, ging es ihr gut. Der Wind schien alle wieder besser gelaunt zu machen.

Nur Winnie fühlte sich elend. Sie saß in ihrer Schwimmweste an Deck und versuchte, sich nicht auf ihren Magen zu konzentrieren und den Horizont im Auge zu behalten, während Cecilia und Henry ihr neu erfundenes Sturm-Mau-Mau spielten und jedes Mal einen Lachanfall bekamen, wenn ihnen eine der Karten davonflatterte. Grandpa hatte sich zurückgezogen, um vor dem Mittagessen noch »eine Mütze Schlaf« zu bekommen, falls er in der Nacht am Steuer gebraucht würde. Winnie schüttelte den Kopf. Jetzt unter Deck zu sein und sich auf ein Rezept aus dem Buch zu konzentrieren ging gar nicht, und wenn sie an Essen dachte, wurde ihr noch schlechter. Warum wirkten ihre Pennys eigentlich nur bei anderen und nicht bei ihr selber? Sie atmete tief durch. Es würde megagefährlich werden, Albert das Buch wieder abzujagen, aber sie freute sich auch darauf, Luke wiederzusehen! Man konnte so gut mit ihm reden, und er war der witzigste Witzeerzähler, den sie kannte. So witzig, dass sie lächeln musste, obwohl ihr so elend war. Wenn sie doch erst am Ziel wären!

2. Kapitel – in dem ein Ausflug der Pinguine an einer unüberwindlichen Mauer endet

»Hol an die Schoten auf halben Wind!«, rief Hugo am nächsten Morgen. Der kleine Kapitän stand auf einer Holzkiste neben dem Steuermann, um besser über das große Steuerrad blicken zu können, und zwei der Seemänner liefen eilig über Deck. »Alle Mann an die Brassen!«

»Verstehst du, was das bedeutet?«, fragte Winnie Cecilia.

»Alle Mann an die Tassen«, sagte Henry. »Die sollen was trinken.«

»Na, wenn du meinst …« Die Mädchen lachten.

Ein paar Minuten später stand auch der Rest der Familie an Deck und lauschte andächtig dem Rasseln der dicken Ankerkette. Sie applaudierten, und Henry rief »Juchuuu!«, als der schwere Anker mit lautem Klatschen im Wasser versank. Sie waren am Ziel!

Die See hatte sich über Nacht beruhigt, und der Himmel war wieder blau. In den Masten riefen sich die Matrosen lustige Beschimpfungen zu, und die einheimischen Möwen begrüßten sie mit neugierigen Schreien, während sie dicht über die Mary hinwegflogen. Kapitän Hugo überließ das Steuerrad einem der Dalton-Matrosen und hielt von der Brücke herab eine kleine Ansprache: »Guten Morgen, ihr Gesellen des Meeres und des festen Landes! Wie ihr bemerkt haben müsst, sind wir nach einer etwas stürmischen Nacht vor Anker gegangen.«

»Aber Hugo, wo ist denn jetzt die Burg?«, rief Henry und sprang in die Höhe. »Ich sehe gar nichts!« Winnie nickte, die Küste bestand aus einer Wand von steilen dunkelbraunen Klippen, die nur von einem einsamen Strand voller Algen und Kieseln unterbrochen wurde. Dahinter sah man grüne Wiesen, aber kein Haus, keinen Baum und schon gar keine Burg.

»Nun, ich habe diesen Platz mit Bedacht gewählt, um nicht gleich bemerkt zu werden. Fothergill Castle liegt hinter dieser Landzunge, eine halbe Meile entfernt von dem gleichnamigen Dörfchen.« Hugo erklärte umständlich, auf welchem Breiten- und Längengrad sich der Ort befand.

»Das Dorf Fothergill ist der Karte nach nur einen kurzen Fußmarsch durch die Dünen entfernt. Wir haben ein Dingi dabei, ein Beiboot mit Außenbordmotor, das sechs Leuten Platz bietet. Einem Landgang steht also nichts im Wege.«

»Aber wer darf denn mit?«, rief Winnie. »Und wie wollen wir uns tarnen? Falls Albert wirklich in der Burg ist, soll er uns ja nicht gleich entdecken, wenn er zufällig von einem Turm hinabschaut.«

Grandma stemmte ihre Hände in die Hüften und blickte gebieterisch über die Gruppe an Deck. »Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht: Es müssen sechs gesunde, uneingeschränkt leistungsfähige, kräftige, unauffällige Menschen sein. Nur die dürfen mit an Land!«

Alle schauten sich schweigend um, bis Winnie als Erste in Lachen ausbrach, gefolgt von Cecilia, und schließlich lachten alle, auch Henry und die Matrosen oben in den Masten, die garantiert nicht wussten, um was es ging.

»Unauffällig!« Adam grinste. »Mich erkennt Albert sofort an meinem Schnauzbart.«

»Kräftig!« Grandma befühlte kichernd den Bizeps ihres geliebten Herb. »So richtig stramm wie vor vierzig Jahren fühlt sich das nicht mehr an … Und meine Beine sind auch nicht mehr so stark, wie sie mal waren.«

»›Uneingeschränkt leistungsfähig‹? Sorry, aber wir haben hier zwei leicht problematische Kandidatinnen …« Cecilia hielt sich abwechselnd Ohren und Augen zu, und Henry machte es ihr nach.

»Was heißt das schon!«, rief Marisa. »Hauptsache, unsere cerebros, unsere Gehirne, funktionieren einwandfrei!« Auch Ninette lächelte und gebärdete mit schnellen Bewegungen etwas in die Runde.

»Entschuldigt, da war ich wohl etwas voreilig!« Grandma schnappte vor Lachen nach Luft.

»Richtig, little sausage«, setzte Grandpa schmunzelnd hinzu. »Wir sind zwar alle herrlich einmalig und unverwechselbar, sind aber deswegen auch für Albert sofort zu erkennen, wenn wir als Gruppe vor der Burg stehen.«

Sie sahen sich ratlos an. Bis Ninette mit der rechten Hand winkte, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen und wieder losgebärdete. Alle schauten erwartungsvoll zu Adam. »Bedaure«, sagte der, »ich verstehe erst ein paar Begriffe in ihrer Sprache. ›Danke‹ und andere einfache Sachen.«

»Sie sagt, sie hat was in ihrem Zimmer«, meldete Henry sich, »und das will sie jetzt holen.« Ninette nickte erfreut und lächelte Henry an.

»Soll ich dir tragen helfen, Darling?«, fragte Adam. Statt einer Antwort gab Ninette ihm einen kleinen Schmatzer auf die Wange und zog ihn mit sich.

Zwei Minuten später waren sie wieder an Deck, in den Armen mächtige Bündel von schwarzen Klamotten mit ein wenig Weiß dabei, aber auch blau glänzender Stoff mit vereinzelten gelben Streifen war zu sehen. »Was ist das denn alles …?«, fragte Cecilia und ließ ihren Mund vor Überraschung ein wenig offen stehen.

»Fußballtrikots!«, rief Grandpa.

»Schwarze Mäntel?«, fragte Grandma skeptisch.

»Kostüme?«, vermutete Winnie. »Ninette, hast du etwa für uns genäht?«

Ninette nickte stolz und legte die einzelnen Kleidungsstücke behutsam auf eine der Bänke nahe der Reling nieder.

»Natürlich, wir verkleiden uns, dann fallen wir nicht auf!«, sagte Grandpa. Er nahm von Ninette ein schwarzes Gewand entgegen und hielt es sich vor die Brust. »Aber was soll das sein, meine Liebe?«

»Ein Gewand, wie Nonnen es tragen. Mit weißer Haube«, rief Cecilia begeistert. »Da sind die Haare völlig drunter versteckt, da erkennt uns keiner, selbst dich nicht, Grandpa!«

»Und dann gibt es noch zwei komplette Ausrüstungen für Fußballfans des 1. FC Cardiff City«, sagte Adam. »Mit Kappen und Fahnen.«

Cecilia hatte die Kleidungsstücke durchgeschaut und übernahm jetzt die Einteilung. »Vier von uns können Schwestern aus dem Kloster Orden der heiligen Mary sein, die auf Sightseeing-Tour sind, und zwei – eine kleinere Person, eine größere – werden Fußballfans.«

»Ich mag den FC Cardiff«, sagte Adam. »Und mit einem Außenbordmotor komme ich auch klar.«

»Und ich wollte schon immer mal wissen, wie es sich anfühlt, Nonne zu sein!« Grandpa sah aus, als ob er gleich vor Freude Luftsprünge machen würde.

»Herb?« Grandma sah ihn mit aufgerissenen Augen an. »Du erstaunst mich immer wieder!« Erneutes Gelächter.

»Die bittere Wahrheit ist: Für uns ist da leider nichts dabei«, sagte Hugo und blinzelte Henry zu.

»Sind wir zu klein?« Henry verzog enttäuscht das Gesicht.

»Zu einmalig, wie dein Großvater es nennt. Aber das ist nicht schlimm. Wenn du willst, zeige ich dir die Lagerräume, wo auf unserer Flucht aus Russland die Löwen herumliefen, später, als sie wieder zu Kräften gekommen waren.«

»Sie waren ganz dünn, oder?«

»Richtig«, sagte Hugo. »Nur noch Haut und Knochen, ich erzähle dir da unten das ganze Abenteuer noch mal!«

Henry strahlte schon wieder, als die Gruppe sich endlich untereinander verständigte: Grandma, Grandpa, Ninette und Cecilia wurden zu Nonnen; Adam und Winnie sollten sich in Fußballfans verwandeln.

 

»Auf Wiedersehen!«, riefen Winnie und Cecilia eine halbe Stunde später aus dem Beiboot hoch. »Vergesst uns nicht!«

»Ich darf die Löwen sehen, und Marisa macht Pudding für mich! Bätschi!« Henry streckte ihnen lachend die Zunge raus und zappelte in Marisas Armen herum, die ihn hochhielt, damit er überhaupt über die Reling in die Tiefe gucken konnte.

»Die Löwen sind schon längst in einem neuen Zoo!«, rief Cecilia.

»Heb mir was vom Pudding auf!« Winnie schaute an der Strickleiter nach oben und winkte ihrem kleinen Bruder. Die Sonne blendete, trotz der Sonnenbrille, die sie aufhatte. Sie zog sich ihre Kappe, unter der sie ihr Haar verborgen hatte, tiefer ins Gesicht. Nun konnte man sie wirklich nicht mehr erkennen.

Nach einer kurzen Überfahrt, bei der sie mehr als einmal eine gehörige Ladung Salzwassersprühregen abbekam, sprang Winnie ins flache Wasser und half Adam dabei, das Boot auf den Strand voller dunkelbrauner Algen zu ziehen. In kurzen Hosen war das kein Problem, für die Nonnengruppe in ihren langen Gewändern war es schon schwieriger, trocken an Land zu gelangen. Als sie alle schließlich am Strand standen, schauten sie sich gegenseitig kopfschüttelnd an. »Da soll uns noch einer erkennen«, rief Cecilia, »ich weiß ja selber nicht mehr, wer diese Menschen um mich herum überhaupt sind!«

Sie teilten sich auf. »Denkt daran, ab jetzt haben wir nichts mehr miteinander zu tun«, sagte Grandpa, bevor sie sich auf den Weg durch die karge Küstenlandschaft machten.

 

Nach wenigen Minuten erreichten sie die ersten grauen Natursteinhäuser des Dörfchens, von denen man in Wales so viele finden konnte. Es gab eine Kirche, ein paar Läden, einen Bäcker, einen Obsthändler, einen Friseur und sogar ein Restaurant mit dem phantasievollen Namen Love to eat. Die wenigen Dorfbewohner und Touristen, die über die Straßen schlenderten, schauten der Nonnengruppe neugierig hinterher, sogar aus den Läden kam der ein oder andere Besitzer und nickte ihnen freundlich zu. Die Cardiff-Fans bekamen zwei hochgereckte Daumen. »Weiter so! Zeigt es den Engländern!«

»Nett«, sagte Grandma, als sie sich auf dem Platz vor der Kirche interessiert um ein Reiterdenkmal scharten, um ungehört reden zu können. »Aber es ist kaum jemand unterwegs. Wir fallen auf wie bunte Hunde.«

»Hier ist echt nichts los!«, erwiderte Cecilia. »Die armen Schüler, die auf der Burg zur Schule gehen zu müssen, leben in einer totalen Kackumgebung!«

»Was haben Sie für eine unflätige Ausdrucksweise, Schwester Benedikta«, sagte Winnie empört, bevor sie loskichern musste. Cecilia sah einfach zu komisch aus in ihrer Nonnentracht. Die weiße Haube umrahmte streng ihr Gesicht, so dass kein einziges ihrer roten Haare mehr zu sehen war, darüber wallte rechts und links der lange schwarze Schleier. Sie hätte sie nicht erkannt, wenn sie nicht genau gewusst hätte, dass es sich bei der jungen Ordensschwester um ihre eigene Schwester handelte.

»Ein bisschen ernster, meine Damen! Wenn ihr weiter so rumalbert, verratet ihr uns alle noch«, schaltete Obernonne Grandpa sich ein. »Seht mal, über den Dächern von Fothergill kann man sogar schon die Türme des castle sehen!«

»Wir müssen Abstand halten«, erinnerte Adam sie. »Man darf nicht erkennen, dass wir zusammengehören.«

»Geht doch schon mal langsam vor, wir erkundigen uns hier im Dorf, ob und wann man die Burg besuchen darf«, schlug Grandma vor und steuerte mit Ninette das Love to eat an.

 

Am Ausgang des Dörfchens blieb Winnie stehen. Wow! Das castle lag noch ein paar Minuten entfernt, doch es war schon jetzt in seiner ganzen Größe zu sehen, denn es war einfach riesig! Die Mauern der Burg bestanden aus dicken Steinquadern, die von den acht Türmen noch um einige Meter überragt wurden. Schmale Schlitze waren in das Mauerwerk hineingeschlagen, sie hatten früher vermutlich als Schießscharten gedient und schienen abweisend, wie Schlangenaugen, auf sie herabzublinzeln.

Die schmale Straße zur Burg führte über ein karges, etwas ansteigendes Felsplateau, niemand kam ihnen entgegen, dafür holten die Nonnen langsam auf. »Keine Chance«, rief Grandma, als sie in Hörweite waren. Sie wedelte mit einer Speisekarte, die sie vermutlich im Restaurant bekommen hatte, die frechen Fliegen von ihrem Gesicht, von denen sie umschwirrt wurden. »Das castle ist für Touristen nicht zugänglich, sagte uns der Kellner, und selbst die Eltern dürfen nur einmal im Monat zu Besuch kommen, wenn nicht gerade Ferien sind.«

»Aber es sind Ferien!«, rief Winnie, jetzt ziemlich aufgeregt. Luke! Sie würde Luke wiedersehen. Sofort stieg ihr der Duft des Waschmittels in die Nase, nach dem er immer so lecker gerochen hatte. Ob er immer noch so riechen würde? Ob sie ihn umarmen sollte? Kurz? »Ich kenne einen Jungen, der im Internat bleiben musste, das ist ein Freund von mir, Luke. Wie wäre es, wenn Adam und Ninette so tun, als ob sie seine Eltern sind?! Bekommt ihr das hin? Adam? Ninette?«

»Schöne Idee, aber in den Ferien gibt es gar keine Besuchszeiten, haben die im Restaurant uns erzählt. Ist das denn zu glauben?!«, sagte Grandma, bevor einer der beiden antworten konnte. Sie keuchte vor Anstrengung, denn der Weg wurde immer steiler.

»Das hört sich total streng an«, sagte Winnie enttäuscht.

»Jawohl. Und könnte uns daher große Probleme bereiten«, sagte Grandpa, dann waren sie angekommen.

Das gigantische Gebäude der Burg war rechts und links von einem Sockel aus kahlen Felsen eingerahmt, dahinter lag sofort das Meer, kein Baum, kein Strauch, kein bisschen Grün war zu sehen. Vor dem castle breitete sich ein öder Parkplatz aus, und der kleine rostig rote Imbisswagen darauf war, wenn man von der flatternden Fahne über dem mächtigsten der acht Türme absah, der einzige Farbtupfer in dieser Wüste aus Stein und Asphalt. Doch das Rollo des Wagens war heruntergezogen und die Windschutzscheibe von innen mit vergilbten Zeitungsseiten abgedeckt. Keine Menschenseele war zu sehen.

»Das ist der einsamste Ort der Welt«, flüsterte Winnie Adam zu. Sie stützte sich auf die Stange ihrer übertrieben großen FC-Cardiff-Fahne und fühlte sich plötzlich schrecklich verloren.

Die Nonnen wanderten bereits dicht beieinander über den Parkplatz, eine Horde verschreckter Pinguine, die Angst davor hatten, in der unbekannten Umgebung von den anderen getrennt zu werden. Der größte Pinguin (Grandpa) hielt die Speisekarte wie einen Reiseführer in der Hand und tat so, als ob er den anderen etwas erklärte. Ein guter Trick, dachte Winnie. Wenn uns jemand beobachten sollte und wenn dieser jemand Albert sein sollte, wird er garantiert keinen Verdacht schöpfen. Sechs verirrte Besucher auf dem öden Parkplatz hier unten sollen irgendetwas mit den Villenbewohnern aus Tullymore’s End zu tun haben? Niemals!

Sie schlug um sich und wischte sich über das Gesicht. »Diese fiesen kleinen Fliegen! Wo kommen die alle her?«

Unauffällig schlenderten sie in Richtung Zugbrücke. Der Burggraben war tief, aber mit überraschend klarem Wasser gefüllt. Hier surrte und summte es nur so, die kleinen Biester standen wie eine dichte dunkle Mauer in der Luft. Bah! Schnell trat Winnie wieder ein paar Meter zurück und legte den Kopf in den Nacken. »Das Tor ist noch riesiger als auf den Fotos!«, sagte sie leise zu Adam. »Und es gibt keine Klinke oder so was. Da kommen wir nie rein.«

»Ich würde die Tür auf vier Meter Höhe schätzen und auf drei Meter breit, sie liegt etwas zurück in der Mauer, das Eichenholz ist bestimmt dreihundert Jahre alt und vermutlich einen halben Meter dick«, antwortete Adam.

Winnie sah ihn an und schnaubte belustigt durch die Nase. »Sonst noch was, was wir wissen sollten?«

»Für meine Fernsehbeiträge muss ich immer viel recherchieren, da gewöhnt man sich an, genauer hinzuschauen … Meistens lohnt es sich. Ich habe nur heute meine Brille vergessen. Pfui!« Er spuckte ein paar Fliegen von seiner Zunge. »Man sollte den Mund hier lieber zulassen!«

Aus den Augenwinkeln sah Winnie, wie die Pinguintruppe auf die rechte Seite der Burg zuwackelte.

»Okay … genauer hinschauen.« Ihre Augen suchten das dunkel gebeizte Holz ab. »Ich glaube, da unten rechts ist eine kleine Tür eingelassen, ohne Klinke, nur die Scharniere sieht man. Und an der Wand in der Nische klebt was«, tuschelte sie Adam unter ihrer Hand zu. »Bestimmt eine Klingel.«

»Sehr gut! Komm, wir gehen weiter, sonst wird unser Gestarre zu auffällig«, sagte Adam und boxte sie spielerisch an die Schulter. »Und geh mal bisschen mehr wie ’n männlicher Fußballfan! Zur Tarnung!«

Winnie stieß die Luft aus und schulterte ihre bescheuerte FC-Cardiff-Fahne. In diesem Moment hörten sie hinter sich einen Knall und drehten sich um. Der rote Imbisswagen wackelte, dann wurde mit einem ohrenbetäubenden Quietschen eine Klappe aufgestoßen und im Dunkel des Innenraums eine Theke sichtbar.

»Aha!«, sagte Adam. »Da hat wohl jemand ausgeschlafen und wittert nun das große Tagesgeschäft.«

Winnie schaute auf ihr Handy, es war genau elf Uhr. Vielleicht durften die Schüler um diese Zeit hinaus?

»Da is’ einer drin, vielleicht weiß der ja was«, hörten sie Cecilia plötzlich, die mit wehendem Gewand an ihnen vorbeirannte. »Booah, diese verdammten Fliegen! Kommt, wir kaufen irgendeinen Kram!«

»Bist du wahnsinnig!?«, zischte Winnie hinter ihr her. »Wenn man uns beobachtet, glaubt keiner mehr, dass du eine Nonne bist!«

»Oh shit, ja.« Cecilia stoppte ihren Lauf und verfiel wieder in einen angemessenen Gang. »Schwester Benedikta muss sich noch an ihr krasses neues Leben und ihre Klamotten gewöhnen.«

 

Sie gingen auf den Wagen zu. Hinter der Theke stand eine junge Frau, deren nackte Arme über und über tätowiert waren, ihre Haare ringelten sich in blond verfilzten Rastazöpfen und waren zu einem hohen Nest auf ihrem Kopf getürmt.

»Hey, people!«, sagte sie und drehte, ohne hinzuschauen, an ihrer Zigarette weiter. »Ich bin Freya. Hab gerade ’ne halbe Stunde hier im Wagen meditiert und bin bereit für den Tag. Womit kann ich eure Seelen happy machen?«

»Was gibt es denn?«, fragte Winnie etwas ratlos, denn die Theke war bis auf ein paar Plastikblumen, Salzstreuer und bekleckerte Senfgläser leer.

»Tofu-Burger, heute Morgen frisch gemacht. Chips aus Linsen in verschiedenen Geschmacksrichtungen, Spinat-Smoothies und frisch gepresste Obstsäfte.«

»Hört sich verdamm…, hört sich alles ziemlich gesund an«, sagte Cecilia und legte die Handflächen aneinander. »Mögen das die boys, äh, die jungen Menschen aus der Boarding School überhaupt?«

»Na klar!«, sagte Freya und steckte sich die Selbstgedrehte zwischen die Lippen. »Abwechslung is’ das Geheimnis, Leute! Wenn du den ganzen Tag Kuchen und Pommes in dich reinschaufeln darfst, schreit dein Körper irgendwann nach grünen Smoothies mit Vitaminen!«

»Wann dürfen die Schüler denn hinaus?«, fragte Adam. Inzwischen waren auch die restlichen »Nonnen« herangekommen und scharten sich neugierig um den Wagen.

»Kann man nie sagen. Die haben da drin ihre ganz eigenen Regeln.« Freya zuckte mit den Schultern und steckte sich ihre Zigarette an. »Das hier ist übrigens kein Tabak, sondern ein Kraut namens Yerba Mate. Völlig unschädlich. Und wehrt die kleinen Plagegeister ab.«

»Kommen die aus dem Burggraben?«, fragte Winnie.

»Mal ja, mal nein.« Freya schwenkte ihre Zigarette wie ein Weihrauchfass und nebelte sich mit dem Rauch ein. »Manchmal denke ich, die werden von irgendwo auf Knopfdruck an- und abgestellt.«

Winnie nickte. Diese Freya wusste gar nicht, wie recht sie hatte. Albert! Mit ein bisschen von der gestohlenen und inzwischen verdorbenen Lakritze zauberte er wahrscheinlich auch Schwärme winziger Fliegen hervor.

Grandpa schüttelte missbilligend sein Nonnenhaupt. »Das heißt, Sie stehen hier mit den frischen Zutaten im dicksten Fliegengetümmel und wissen gar nicht, ob überhaupt Kunden kommen werden?«

»So ist es, heilige Mutter, oder was du sonst darstellen sollst«, sagte Freya grinsend. »Aber jetzt seid ihr ja alle da! Heute ist mein Glückstag!«

Die Nonnen sahen sich an, Winnie und Adam rückten ein wenig von ihnen ab und taten, als ob sie nicht dazugehörten. »Als Akt der Nächstenliebe könnten wir der Dame doch ein paar Linsenchips abkaufen«, schlug Cecilia Grandma vor und Winnie konnte sehen, dass ihre Schwester sich von innen auf die Wangen biss, um nicht in Lachen auszubrechen. »Was meinst du, Schwester Grace?«,

»Da magst du recht haben, liebes Kind«, sagte Grandma Grace würdevoll und suchte in ihrem Gewand nach ihrem Portemonnaie. »Einen Gin Tonic haben Sie nicht zufällig?«

»Nicht hier, aber in meinem Restaurant. Fragt auf dem Rückweg im Love to eat!«

»Das wäre großartig, der würde mich jetzt aufmuntern!«

»Ach, easy, ich kann alles besorgen, bin so ’ne Art Notfallanlaufstation für die Kids hinter den Mauern. Ich verleihe Bügeleisen, Schlipse, Sprühstärke für die Hemden, Batterien für die Playstation … Wenn sie mal rauskommen, hängen sie bei mir rum!«

»Also ist es sehr streng da drinnen?«, fragte Winnie.

»Hört sich nicht so an, wenn die Insassen ständig Pommes Frites und Kuchen serviert bekommen«, sagte Grandpa. Gerade wegen seiner tiefen Stimme gibt er eine sehr glaubwürdige Nonne ab, dachte Winnie.