Die Wunderfabrik – Keiner darf es wissen! - Stefanie Gerstenberger - E-Book
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Die Wunderfabrik – Keiner darf es wissen! E-Book

Stefanie Gerstenberger

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Beschreibung

Drei Geschwister, ein magisches Geheimnis und ein unheimlicher Gegenspieler – aus diesen Zutaten mischt Stefanie Gerstenberger ihr erstes Kinderbuch für alle, die spannende Abenteuer lieben. Fernab vom coolen London verbringen die zwölfjährige Winnie, ihre große Schwester Cecilia und ihr kleiner Bruder Henry ihre Sommerferien bei den Großeltern in einem Kaff am Ende der Welt -- so fühlt es sich wenigstens an. Noch dazu ohne Internet (»Haben wir hier nicht!«) oder Ausflüge ins Dorf (»Viel zu gefährlich!«). Stattdessen »dürfen« die Geschwister in einer düsteren Fabrik unter der Aufsicht äußerst sonderbarer Hausangestellter Lakritzbrocken herstellen – grässlich! Da experimentiert Winnie nur zum Spaß mit einer neuen Zutat herum - und löst damit einen Sturm unglaublicher Ereignisse aus. Hat Winnie etwa das magische Talent ihres Großvaters geerbt? Doch von diesem Geheimnis darf niemand erfahren ... Alle Bände der Serie »Die Wunderfabrik«: Band 1: Keiner darf es wissen! Band 2: Nehmt euch in Acht! Band 3: Jetzt erst recht!

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Seitenzahl: 345

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Stefanie Gerstenberger

Die Wunderfabrik

Keiner darf es wissen! Band 1

Cornelia Haas

FISCHER E-Books

Mit Vignetten von Cornelia Haas

Inhalt

1. Kapitel – in dem Winnie, Cecilia und Henry an einem ziemlich trostlosen Ort zurückgelassen werden sollen2. Kapitel – in dem Schafe, eine Krake und Hustenbären auftreten3. Kapitel – in dem fast alles verboten ist und Henry lieber bei Zwerg Nase bleiben will4. Kapitel – Allein zurückgelassen. Doch jemand drückt für Winnie beide Augen zu5. Kapitel – in dem Henry leider viel zu mutig ist …6. Kapitel – Cecilia findet Winnie schlimmer als Mum und Dad zusammen. Und Schneewittchen taucht auf7. Kapitel – Viel Getue um Henry. Und alles nur weil er ein Junge ist?8. Kapitel – in dem alles so schrecklich ist, dass es fast schon wieder lustig ist9. Kapitel – in dem viel geschwitzt und ein altmodischer Brief geschrieben wird10. Kapitel – Ein seltsamer Bäcker, ein trauriges Kastenbrot und eine harmlose Überwachungskamera11. Kapitel – in dem Winnie, Cecilia und Henry zu einer kleinen Reise aufbrechen12. Kapitel – in dem Winnie aus Versehen eine Entdeckung macht13. Kapitel – in dem Grandma einen Penny lutscht und nicht mehr wiederzuerkennen ist14. Kapitel – in dem Winnie wieder experimentiert und jeder in jeden verliebt ist15. Kapitel – Cecilia bekommt einen Brief, den außer ihr niemand lesen darf16. Kapitel – in dem Winnie am Strand Skateboard fährt und etwas Wichtiges vergisst17. Kapitel – in dem eine Menge gelogen wird18. Kapitel – in dem ein paar nichtsahnende, dumme Kinder beinahe eingesperrt werden19. Kapitel – in dem eine Menge Geheimnisse gelüftet werden (die ganz wichtigen aber noch nicht)20. Kapitel – in dem Winnie so schnell rennt wie noch nie und jemand auffällig viele Fragen stellt21. Kapitel – in dem die Kinder neu eingekleidet werden und in Tullymore immer mehr neugierige Typen auftauchen22. Kapitel – in dem es heißt: Koffer packen!23. Kapitel – in dem am ENDE Lorbeeren verteilt werden und eine Jacke ein Rätsel löstHat dir dieses Abenteuer [...]

1. Kapitel – in dem Winnie, Cecilia und Henry an einem ziemlich trostlosen Ort zurückgelassen werden sollen

Winnies Eltern saßen am Esstisch und redeten leise. Das war nicht ungewöhnlich, die beiden flüsterten dauernd miteinander, wie zwei schrecklich Verliebte. Aber heute war etwas anders: Winnie wusste diesmal genau, was sie da so eifrig miteinander zu besprechen hatten. Sie flüsterten, weil sie ihre Kinder bald verlassen würden. Ja, verlassen. Fast so wie bei Hänsel und Gretel.

»… können wir sie da wirklich hinbringen?«, hörte Winnie gerade ihre Mum sagen.

»Sie sind alt genug, sie können sich wehren.« Das war Winnies Dad.

»Es sind unsere Kinder …« Wieder Mum.

»… die wir zu selbständigen kleinen Menschen erzogen haben!«

Na ja, eigentlich haben wir uns eher selbst erzogen, dachte Winnie und grinste.

»Ich kann es nicht ertragen, wenn Henry weint! Ich kenne die beiden, ich musste bei ihnen aufwachsen«, sagte Mum.

»Du ›musstest‹ bei ihnen aufwachsen – wie sich das anhört … Übertreibst du jetzt nicht ein bisschen, Christy? War es wirklich so schlimm?«

»Sie waren jedenfalls schon immer sehr mit sich selbst beschäftigt, deswegen bin ich mit zehn Jahren freiwillig ins Internat gegangen.«

»Ja – wie auch viele andere Kinder hier bei uns in England.«

Winnie schüttelte den Kopf. Henry würde nicht weinen, dafür würde sie schon sorgen! Sie presste sich noch enger an den Schrank, neben dem sie zufällig stand. Sie hatte gar nicht vorgehabt zu lauschen; was konnte sie dafür, wenn ihre Eltern sie einfach nicht bemerkten?

»Sie haben uns angeboten, auf sie aufzupassen!« Mums Stimme klang leise, doch irgendwie schockiert. »Freiwillig! Sie haben ihre Enkel eingeladen, zu ihnen zu kommen. Ist das nicht seltsam?«

»Das ist allerdings merkwürdig, ja.« Winnies Vater schaute auf und entdeckte seine Tochter nun doch. »Winnie! Warum bist du noch nicht im Bett?«

Echt jetzt, dachte Winnie, was für ein typischer Daddy-Spruch. »Es sind Ferien, Dad, und ich bin zwölf!«

»Trotzdem, es ist schon spät, wir müssen morgen früh los. Wir besuchen eure Großeltern. In Wales.«

»Stimmt es, dass Grandpa uns eingeladen hat?«

Sie sah, wie ihre Eltern beide mit den Augen rollten und sich gleichzeitig Sorgen machten. Die Großeltern luden sie nie ein. Sie war erst einmal in ihrem Leben bei ihnen in Wales gewesen, um den neugeborenen Henry vorzuzeigen. Winnie und ihre Familie hatten zu der Zeit noch in der Schweiz gewohnt, bevor sie nach Boston gingen, bevor sie nach Norwegen gingen; sie waren echt oft umgezogen damals. Das gehörte wohl dazu, wenn beide Eltern Wissenschaftler waren. Winnie war sieben gewesen und Cecilia schon neun, aber es war nicht wirklich viel, an das Winnie sich erinnern konnte.

Da war der Strand gewesen und das fleckig angemalte lila Haus mit der schiefen Außentreppe, die sich wie eine orange Schlange darumwickelte und nirgendwo hinzuführen schien. Es war warm gewesen, und es hatte Kuchen am Strand gegeben, den sie im Flugzeug aus der Schweiz mitgebracht hatten. »Grandma ist so grottig in der Küche«, hatte Mum in dem Auto gesagt, das sie sich damals am Flughafen geliehen hatten, und war seelenruhig auf der falschen Seite gefahren. »Grottig«! Cecilia und Winnie hatten sich das Wort den ganzen Nachmittag ins Ohr geflüstert, während sie Grandma beobachteten, und gekichert. Winnie hatte die Schlangentreppe hochklettern wollen, doch Dad hatte sie schon auf der vierten Stufe erwischt und wie einen Apfel runtergepflückt.

»Und wie lange sollen wir da überhaupt bleiben?«, fragte Winnie ihre Eltern jetzt. Vielleicht bekam sie ja diesmal eine Antwort.

»Wir schauen mal. Wenn es wieder so … so …«

»… grottig ist?«

Mum lachte. Winnie liebte es, wenn sie lachte. Sie hatte dann ausnahmsweise mal nicht ihren konzentrierten Forscherblick, sondern sah richtig schön aus. »Weißt du, Mum«, sagte sie. »Grottige Grandma mit Strand ist im Sommer vielleicht besser als ungrottiges London mit vielen Touristenbussen.« Winnie mochte die Stadt, aber wenn sie ein bisschen leerer wäre, wäre sie noch schöner. »Das könnte doch cool werden!«

»Wenn du meinst, Eule … Komm mal her!« Mum umarmte Winnie ganz fest und gab ihr einen Kuss auf die dunkelbraunen, etwas lockigen Haare. Mum war die einzige Person auf dieser Welt, die sie Eule nannte. Warum, hatte Winnie immer noch nicht verstanden. So riesig rund waren ihre Augen nun auch wieder nicht. Oder doch? Jedenfalls war es schön, dass Mum sich einen besonderen Namen für sie ausgedacht hatte, denn sie war nur ein ganz normales Mädchen, nicht besonders groß oder klein, keine auffälligen, tollen roten Haare wie Cecilia, nicht das älteste oder das jüngste und süßeste Kind, sondern mitten zwischen den anderen Geschwistern eingequetscht und eben leider total durchschnittlich.

Ja, okay, sie konnte gut skaten und schwimmen und las gerne, doch das machten Millionen anderer Mädchen auf dieser Welt ja auch. In der Schule war sie gut, aber ein bisschen zurückhaltend. Weil sie oft umgezogen waren, hatten Cecilia und sie sich immer wieder an eine neue Stadt gewöhnen und neue Freunde finden müssen. Was aber nicht hieß, dass es beim vierten Mal unbedingt leichter ging. Dafür sprach sie noch immer ein bisschen Deutsch, mit Schweizer Akzent, und fließend Norwegisch wegen der zwei Jahre, die sie in Oslo gelebt hatten.

 

»Hast du deinen Koffer gepackt?«, fragte Mum. »Noch ist nichts entschieden. Wir besuchen sie, und wenn es zu grottig ist, fahren wir einfach wieder.«

Winnie stieg die Treppe hoch. Ihre Eltern träumten davon, eine neue Art von winzigen Schlammfüßlern im Amazonasgebiet zu finden, und hatten diese unheimlich wichtige Mission ganz überraschend genehmigt bekommen. Es war besser, wenn die Erwachsenen sich keine Sorgen machten. Cecilia und sie hatten dann viel mehr Spaß, soweit man mit Cecilia noch Spaß haben konnte. In letzter Zeit wollte sie immer ihre Ruhe, schloss sich im Zimmer oder im Bad ein, und wenn sie da rauskam, roch es nach tausend Parfümproben oder Nagellack. Und Henry? Henry war echt süß, er nervte eigentlich nie, dazu war er viel zu brav, und er duftete so lecker auf dem Kopf und im Nacken. Mit ihm würden sie schon klarkommen.

Winnie machte einen Umweg und schaute in Henrys Zimmer vorbei. Ihr kleiner Bruder war vor zwei Tagen fünf geworden und fühlte sich seitdem echt groß. In diesem Moment lag er im Bett und schlief, wie immer auf dem Bauch. Seine Sachen hingen ordentlich über der Lehne eines Stuhls – welcher gerade mal fünfjährige Junge war denn so drauf?

Sie beugte sich über ihn und schnupperte an seinen Haaren. Sie würde ihn immer an diesem wunderbaren Geruch erkennen. Seine Geschenke, gruselige Monstertiere aus Marzipan, hatte er längst aufgegessen. Was geblieben war, waren Bücher über noch mehr Tiere, Tiere, Tiere. »Lern lesen und lies selber«, sagte Cecilia immer, wenn er darum bat, dass sie ihm daraus vorlesen sollte. Cecilia machte nie das, was man von ihr wollte. Früher schon, aber in letzter Zeit war sie echt komisch. Winnie seufzte. Würde sie es wirklich drei Wochen mit den beiden bei Grandma und Grandpa aushalten?

Andererseits: Sollte sie sich nicht freuen, aus London herauszukommen, aus dieser riesigen Stadt voller Menschen, in der niemand, nicht nur sie, etwas Besonderes war? Na gut, die Queen vielleicht. Wenn die ein paar Meter in ihrer Kutsche fahren wollte, wurde alles schon tagelang vorher abgesperrt.

Noch ist nichts entschieden, hatte Mum gesagt, und Winnie glaubte ihr. Mum log nie, dazu war sie einfach zu ernst und wissenschaftlich. Winnie ging in ihr Zimmer, knüllte einen ihrer Pullover zu einem Ball zusammen und versuchte, ihn in den offenen Koffer am Boden zu werfen. Daneben. Das war der Beweis, im Basketball war sie auch eher durchschnittlich … Sie legte sich in ihr Bett, zog sich die Decke über den Kopf und wartete.

Wann kam es? Wie stark war es? Und was würde es diesmal sein?

Neuerdings hatte sie manchmal zu viele Gefühle in sich, die alle zu unpassender Zeit aus ihr herauswollten. Die plötzliche Traurigkeit, wenn alle lustig waren, die riesige Wut, wenn sie in Ruhe etwas basteln wollte und es nicht hinbekam. Das tiefe Mitleid, wenn sie Kinder im Fernsehen sah, die zwischen den Trümmern ihrer Häuser saßen und ganz starr vor Angst waren. Drei Tage später beim Frühstück musste Winnie manchmal darüber weinen, und niemand wusste dann, warum. Oft schlichen die Gefühle sich auch abends an und hielten sie vom Schlafen ab. Winnie atmete tief ein und kam unter der Decke hervor. Für sie stand fest: Ihr Kopf und ihr Körper fühlten zu viel. Es nervte, und sie würde es sich abgewöhnen müssen. Und zwar schnell!

2. Kapitel – in dem Schafe, eine Krake und Hustenbären auftreten

»Fahr beim alten Laden vorbei, fahr beim alten Laden vorbei«, sang Henry.

»Es geht auch gar nicht anders«, sagte Dad, »wir müssen durch die Jermyn Street, denn da vorne ist gesperrt. Dieser Verkehr hier in London ist der reinste Wahnsinn! Wenn ich da an andere Städte denke, wie die ihre Probleme lösen …«

Dad regte sich immer über London auf, weil er schon in so vielen anderen Städten gelebt hatte.

»Als ob er in Zürich oder Boston oder Oslo etwas davon mitgekriegt hätte«, flüsterte Cecilia in Winnies Ohr. »Er hockte da doch nur in fensterlosen Laboren herum und quetschte Schlammfüßler Nummer 310 unter das Mikroskop.« Winnie nickte und kicherte. Es war schön, wenn Ceci mit ihr sprach, egal über was. Erst seitdem sie dreizehn geworden war, hatte sie so komische Launen. Mal war sie stumm, dann wieder frech und laut.

Sie fuhren durch die schmale Straße, und Henry klebte mit seinem Gesicht an der Scheibe. »Grandpas Laden!«, rief er, sobald die Nummer 89 in Sicht kam.

»Nicht mehr, mein Schatz«, sagte Mum, »nicht mehr.« Und Winnie wusste, dass ihre Mutter jetzt gleich einen Seufzer der Erleichterung loslassen würde. Da war er auch schon. Nach Mum konnte man echt die Uhr stellen!

»Guckt! Unser Name steht noch drüber. W-a-l-l-a-c-e–W-a-l-k-e-r«, buchstabierte Henry.

»Das ist ja gerade das Schlimme«, sagte Mum. »Dieser Sandwichladen macht Werbung mit unserem alten Hoflieferanten-Schild. Haben die überhaupt das Recht dazu?«

Dad zuckte mit den Schultern. Mit so was durfte man ihm nicht kommen. Von allem, was nicht mit Biologie zusammenhing, hatte er keine Ahnung und gab das auch offen zu.

Mum lachte auf: »Na ja. Schließlich müssen sie ja irgendwie erklären, warum die Sandwiches bei ihnen so penetrant nach Lakritze und Kräutern schmecken.«

»Und über diesem Laden hast du als Kind gewohnt!« Winnie erhaschte noch einen Blick auf die dunklen Sprossenfenster in der ersten Etage. Von da oben hatte Mum als Kind manchmal runtergeschaut. Es war echt komisch, sich das vorzustellen, dennoch würde sie sich die Mum von früher liebend gerne mal anschauen, einfach unsichtbar neben ihr sitzen und gucken, was sie mit acht oder neun oder auch zwölf so machte. Aber so was ging ja nicht, das war echt schade!

»Ja, und ich dachte damals, alles auf der Welt riecht und schmeckt nach Lakritze, Minze, Salbei und Huflattich«, sagte Mum in diesem Augenblick. »Denn bei uns schmeckten das Brot und die Marmelade danach. Die Butter. Der Tee. Selbst die gebratene Blutwurst am Sonntagmorgen. Alles.«

»Dabei kam das nur aus dem Laden«, sagte Winnie fasziniert, obwohl sie Lakritze nicht besonders mochte. Schnecken waren ja ganz okay, und die bunten, weichen Dinger aus den großen Tüten auch, aber das, was Grandpa produzierte … Nein danke!

»Warum ist seine Lakritze eigentlich nicht tiefschwarz wie alle anderen?«

»Weil er keine Lebensmittelfarbe reintut. Nur deswegen durfte er die Lakritzbrocken ja an die Queen liefern.«

»Königlicher Hoflieferant«, las Henry weiter, als sie schon längst vorbei waren, und stotterte dabei ein bisschen. »Fein, fein, feinste Hustenbär-La-Lakritzbrocken.«

»Jaja, La-Lakritze. Das hast du nicht gelesen, sondern auswendig gelernt«, sagte Cecilia, es klang zwar schlechtgelaunt, doch sie kitzelte ihn mit ihren langen weißen Fingern.

»Warum macht Grandpa kein braunbäriges Hustenlakritz für die Queen mehr? Hey, Ceci, lass mich!« Henry lachte hell und abgehackt, wie eine kleine Maschine.

»Wahrscheinlich, weil niemand mehr die bärenkackabraunen Dinger essen wollte, selbst Her Royal Highness, Ihre Königliche Hoheit nicht!«

»Cecilia!«, mahnte Mum, doch sie lachte. »Weil er … weil das ganze Viertel nach den Dingern roch.« Wieder lachte Mum, und Winnie wusste wie so oft nicht, was von Mums Geschichten sie glauben sollte. »Meine Eltern haben London verlassen, um den himmlischen Geruch und die Hustenbär-Lakritzbrocken nach Wales in die Einöde zu bringen und die einfachen Leute dort von Reizhusten, schlechtem Atem und Magenschmerzen zu erlösen!«

Winnie stupste Cecilia ihren Ellbogen in die Rippen. In die »Einöde«, wo alle Mundgeruch haben, und da liefern sie uns jetzt ab, sollte das heißen. Cecilia zog eine Grimasse. Ich hasse Lakritze, sollte das wohl heißen.

»Sie haben genug Geld damit verdient, Christy, zumindest darum hast du dir keine Sorgen machen müssen.« Dad legte den linken Arm um Mums Armlehne. Sie waren schon fast drei Jahre in London, und mittlerweile hatten sich alle an das »falsche« Fahren auf der linken Seite gewöhnt und auch daran, dass das Lenkrad rechts im Auto war, wo eigentlich der Beifahrersitz sein sollte.

»Jaja, ich sollte ihnen dankbar sein für das schöne Stadthaus, das sie uns geschenkt haben, und auch noch ganz nah am Green Park. Aber ich habe das Gefühl, in den Jahren, in denen sie in Wales leben, sind sie noch seltsamer geworden.«

»Welche Eltern sind denn nicht seltsam, Mum?«, fragte Cecilia. »Also wir haben da zwei Exemplare zu Hause, die toppen alles, die solltest du mal kennenlernen«, und brachte damit alle wieder zum Lachen.

 

Nach drei Stunden Fahrt machten sie auf der Höhe von Cardiff eine Pause, Mum wechselte ans Steuer, und dann ging es an der Küste entlang, bis Mum eine Sackgasse nahm, die in dem kleinen Örtchen Tullymore’s End endete.

Hier ist ja wirklich Ende, dachte Winnie. Das Ende von allem.

Möwen saßen auf den Dachfirsten der grauen, grobgemauerten Steinhäuser. Mum lenkte den Wagen in das, was offenbar mal die Hauptstraße gewesen war, an der leerstehende Läden, ein verrammelter Kiosk und ein paar Pensionen lagen. Sie kamen an einem etwas größeren Hotel vorbei, doch auch das schien leer zu stehen, die unteren Fenster waren mit Brettern vernagelt, der Schriftzug Abbey Hotel nahezu verblichen. Mum fuhr langsam in einen Kreisverkehr und umrundete eine rote Telefonzelle.

»Hat sie etwa Angst, sie könnte in dieser Geisterstadt jemanden überfahren, der noch nicht tot ist?«, murmelte Cecilia. Links von ihnen lag eine Kirche, aus der sie offenbar einen Pub gemacht hatten, denn es hing ein Schild daran, auf dem The Phoenix stand und ein gefiederter Phantasievogel ein Bier trank. Gegenüber stand eine Bäckerei. Hinter dem Schaufenster war es dunkel, auch The one and only Bakery war geschlossen.

Cecilia warf sich gegen die Rückenlehne: »Gut, dass ich meinen Laptop mithabe. Ich werde mir in der komischen Villa einen Platz suchen, die letzte Folge von X-Crime anschauen, und dann fahren wir hoffentlich schon wieder.« Cecilia war ein Krimiserien-Fan, und wenn Mum und Dad gewusst hätten, was ihre Tochter sich manchmal so reinzog, wenn sie nicht da waren, hätten sie ihr das bestimmt verboten.

Sie fuhren durch Wiesen voller Schafe, die sich wie kleine wollige Punkte auf dem saftigen grünen Gras verteilten. Ab und zu gab es ein paar Hecken oder graue Steinmauern. Schranken, mit Hinweisschildern Privatstraße!, die man per Hand öffnen und schließen musste, versperrten ihnen oft den Weg, so dass Winnie immer wieder aus dem Auto springen musste. Andere Schilder warnten vor der Küste, von deren Klippen offenbar gerne mal große Stücke abfielen. Kinder waren auf den Schildern ebenso rot durchgestrichen wie Fahrräder, Autos, Hunde, Pferde und auch normale Wanderer.

»Gibt es hier eigentlich irgendetwas, was man darf?«, maulte Cecilia.

»Schaf sein«, antwortete Winnie.

Die Kinder waren heilfroh, als sie nach weiteren fünf Minuten Fahrt durch endloses Schafswiesengrün endlich vor dem hohen, schiefen lila Haus anhielten, weil alle vier Räder des Autos im Sand stecken blieben.

»Meine Güte, können die hier nicht mal fegen?«, beschwerte sich Mum, als sie die Tür öffnete.

»Du fährst einfach immer zu weit in die Dünen hinein«, sagte Tom Wallace-Walker. Er liebte seine Frau wegen ihres scharfen Forscherverstandes, aber auch wegen ihrer vielen unlogischen Angewohnheiten. Ihren Namen hatte er bei der Heirat angenommen, weil ihm der Klang gefiel und er seinen eigenen Nachnamen, Smellie, nie hatte leiden können. »Damit habe ich euch so manche Prügelei auf dem Schulhof erspart«, sagte er gerne zu seinen Töchtern.

Die Geschwister sprangen hinaus und sahen sich um. Der lila Anstrich der Villa der Großeltern war scheckig, als habe man die Farbe lieber wieder abwaschen wollen, etwas daran herumgewischt und es dann irgendwann aufgegeben.

Ein paar Bäume gab es, die der ständige Meereswind schiefgedrückt hatte, und zwei hohe Dünenkämme, die das Haus von beiden Seiten einrahmten und heimlich, ganz heimlich versuchten, es zuzuschütten. Die orange Treppe ringelte sich wie eine Würgeschlange um das vierstöckige Haus. Winnie grinste und warf einen Seitenblick auf ihren Dad. Diesmal würde sie dort hochklettern, sobald er irgendwie beschäftigt war.

 

Sie reckte den Hals. Oben auf dem Dach saß etwas, was wie eine gigantische blaue Krake aussah, die ihre Arme über die grauen Dachschindeln streckte und sich an die Dachrinne klammerte. Was war das denn für ein Ungetüm? Das war neu! Die obere Hälfte des blauen Krakenkopfes war durchsichtig und schien aus Glas zu sein. Die Kuppel war groß genug für einen Menschen – wenn man darinstand, konnte man bestimmt weit über das Meer schauen! Hast du das Ding gesehen?, wollte sie Cecilia zurufen, doch die war schon zu dem langgestreckten Anbau des Hauses gelaufen, der in genau derselben lila Farbe angemalt war.

Aber auch Mum hatte das Ding gesehen. »Was das nun wieder soll«, war ihr einziger Kommentar.

Tja, Mum, wir werden es herausfinden, dachte Winnie, und dabei kribbelte es schön in ihrem Magen. Wollte sie jetzt etwa doch bleiben? Vielleicht werden es ja echt coole Ferien, flüsterte eine Stimme in ihr. Sie zuckte mit den Schultern und folgte Cecilia; dabei zog sie Henry hinter sich her. Sie liefen über einen Weg aus Holzbohlen bis zu einer Art Schaufenster.

»Riecht mal, in dem ollen Schuppen bewahren sie offenbar das angeblich so gesunde braune Zeug auf«, sagte Cecilia. »Und noch mehr Kräuterzeugs, puuh.« Sie verzog das Gesicht. »Mum hat nicht übertrieben, das dringt echt durch Mauern!«

»Riecht mal!«, rief Henry, der Wiederholungen liebte. »Grandpa will hier auch einen Laden haben!« Er hatte recht: Wallace-Walker Königlicher Hoflieferant a.D. Feinste Hustenbär-Lakritzbrocken, stand in goldenen Lettern auf einem Schild, das neben dem vergitterten Schaufenster an der Wand lehnte.

Winnie kaute an einer Haarsträhne. A.D., das hieß außer Dienst. Es hörte sich an wie ein kaputter Fahrstuhl, als ob jemand nicht mehr gebraucht würde.

»Er will hier einen Laden eröffnen? Nicht sein Ernst! Hier kommt doch nie jemand hin!«, sagte Cecilia.

Henry hielt den Kopf schief und buchstabierte. »Feinste Hu-sten-bär-La-kritz-bro-cken.«

Die Kinder beugten sich vor und pressten ihre Gesichter zwischen die Eisenstäbe, aber nur Henrys Kopf passte ganz hindurch. Hinter der verschmutzten Scheibe war außer einem wuchtigen dunklen Ladentisch und einigen Regalen nichts zu erkennen.

»Ich glaube, ich lasse das Gepäck der Kinder erst einmal im Auto«, rief Dad hinter ihnen.

»Gute Idee«, murmelte Cecilia. »Hier bleiben wir garantiert nicht.« Sie wandten sich wieder der Villa zu.

»Habt ihr das Ding da oben gesehen? Die Krake?«, fragte Winnie.

»Krass! Da will ich rein, wie kommt man da hoch?«, antwortete Cecilia, während sie auf das Dach starrte.

»Die macht mir Angst«, jammerte Henry.

»Das ist doch auch nur ein Tier«, sagte Winnie. »Ein großes. Du liebst doch Tiere.«

»Stimmt. Aber das da ist doch kein Tier, das sagst du nur, damit ich wieder lache …« Ein zaghaftes Lächeln erschien auf seinem ernsten Gesichtchen, und Winnie kniff ihm zärtlich in die Wange.

»Erinnert ihr euch?« Der Wind zerrte an Mums langen dunklen Haaren, und ihr Ton klang erzwungen fröhlich. Dad holte den Blumenstrauß, den sie in Cardiff gekauft hatten, aus dem Kofferraum.

»Ja!«, sagte Henry. »Ich erinner mich! Das Haus ist hoch wie ein Turm!«

»Du kleiner Lügner, du warst da noch ein Baby.« Cecilia strubbelte Henry über den Kopf und packte ihn bei den Ohren. Er hielt sich an ihren Armen fest, so dass es aussah, als ob sie ihn an den Ohren hochhob, und er schrie wie am Spieß dabei. Winnie lachte. Das war ein Spiel zwischen den beiden, und sie mochte es, wenn Cecilia das mit Henry machte.

Die Haustür öffnete sich wie von Geisterhand, niemand war in der Lücke zwischen Tür und Rahmen zu sehen. Doch halt, da stand jemand … wenn auch sehr weit unten. Ein Kind, ein Zwerg? Henry hörte vor Überraschung sofort auf zu schreien. Auch Winnie starrte den kleinen Mann an, der sich jetzt auf den drei Stufen aufbaute, indem er die Arme vor der Brust kreuzte und das Kinn hob. Er hatte einen normalen Körper, und auch sein Kopf war groß wie bei einem Erwachsenen, nur seine Arme und Beine waren viel zu kurz geraten.

»Du hast einen Bart, aber du bist klein!«, sagte Henry und rieb sich seine Ohren.

»Nun, das ist eine Feststellung, der ich tragischerweise nicht widersprechen kann«, sagte der Mann. Auf dem Kopf trug er eine modische dunkelblaue Wollmütze, und seine Lederjacke knarzte, als er sich jetzt in Richtung Eingangshalle wandte: »Kommt doch herein, ihr rauen Gesellen des Meeres!«

»Wir sind nicht ›des Meeres‹. Wir sind mit dem Auto gekommen«, korrigierte Henry ihn.

»Das ist schade, aber nun mal nicht zu ändern. Auch Landratten sind hier willkommen, auf dem vor Anker dümpelnden Schiff.«

»Der ist total spooky, den finde ich gut!«, wisperte Cecilia Winnie zu. »Lass uns sehen, wie wir in die Krake reinkommen und was hier sonst noch so abgeht!«

Aber sie überließen es dann doch lieber Mum und Dad vorzugehen.

»Hallo, mein Guter!«, sagte Mum und gab dem kleinen Mann die Hand. Sie beugte sich tief, sehr tief hinab, um ihm etwas ins Ohr zu sagen, das Winnie nicht verstehen konnte. Er nickte würdevoll und antwortete mit klarer Stimme: »Immer zu Ihren Diensten, Mylady!«

Die Kinder sahen sich an – sollten sie loslachen oder lieber wegrennen? Doch dann folgten sie ihren Eltern über die steinernen, ausgetretenen Stufen ins Haus.

 

»Wow! Hier isses so riesig«, sagte Henry, der sich an Mums Hand geflüchtet hatte, und legte den Kopf zurück. Die Halle, in der sie standen, war wirklich hoch, doch auch hier wirkte alles etwas schäbig. Auf den dunklen Ölgemälden, die die Wände zierten, waren Dampfer und Segelboote, von denen die meisten gerade im Sturm kämpften oder untergingen. An einer Wand hing ein großer, goldumrahmter Spiegel mit braunen Flecken auf dem Glas, und an dem übergroßen Schrank baumelte ein Vorhängeschloss, das aussah, als ob jemand schon vor hundert Jahren den Schlüssel dazu verloren hätte.

»Wie in einem uralten Schloss am Meer, sehr cool«, wisperte Cecilia Winnie zu.

»Findest du?« Winnie fand es überhaupt nicht cool. Am liebsten hätte sie wie Henry nach Mums Hand gefasst, aber die trug auch noch einen großen Korb mit den typischen englischen Kuchenbrötchen, die man scones nannte, und Sandwich-Happen und Thermoskannen voller Tee … Außerdem war Winnie schon zwölf, da sollte sie ja wohl vernünftig sein und nicht Angst haben wie Henry.

Eine tiefe Stimme hinter einer Tür ließ sie zusammenzucken: »Sollen doch reinkommen! Sollen reinkommen!«

Der kleine Mann zog die Türklinke zu sich hinunter und riss die Tür auf. Im nächsten Moment standen sie alle in einem sonnendurchfluteten Raum mit mehreren kreuz und quer stehenden geblümten Sofas und Tischchen, einem Kamin, großen Bodenvasen mit trockenen Stängeln darin und zwischen allem: ihre Großeltern. »Da ist ja die Rasselbande!«

Winnie spürte Cecilias Ellbogen wieder in ihren Rippen, Rasselbande! Grandpa stand mitten im Raum, trug eine graue Strickweste über einem grünen Pullover und eine noch grünere Hose. Sein Gesicht war von Falten durchzogen, die von rechts nach links, aber auch von oben nach unten gingen.

»Er sieht aus wie ein Matheheft mit besonders großen Kästchen«, sagte Cecilia leise, fast ohne die Lippen zu bewegen. Winnie musste die Luft anhalten, um nicht laut loszulachen. Die Aufregung und die Furcht wegen all dem Fremden um sie herum schlugen plötzlich in Freude um, schäumten hoch und sprudelten über wie in einer Limonadenflasche, die man vor dem Öffnen geschüttelt hatte.

Sie fasste Grandpa genauer ins Auge: Außer den Mathekästchen im Gesicht hatte er fast keine Haare mehr, nur noch einen weißen Kranz am Hinterkopf. Sein Lächeln war ein bisschen zerstreut, aber echt. Grandma dagegen hatte sich hinter einem der Sofas verbarrikadiert und schaute sie an, als ob sie innerlich den Kopf schüttelte. Ihre Haare hatten die Farbe einer bleichen Möhre und waren zu einem Knoten zusammengebunden, der drahtig mitten auf ihrem Kopf thronte. Ihre grünen Augen waren zwei kleine Schlitze, sie sah wie eine misstrauische orange Katze mit Dutt aus.

»Das ist die Schlossbesitzerin, sie geht jeden Morgen auf dem Meeresgrund spazieren«, flüsterte Cecilia in Winnies Ohr. »Die mag uns nicht.«

Cecilia hatte Grandmas Haarfarbe geerbt, fiel Winnie zum ersten Mal in ihrem Leben auf. Bei ihr sahen sie nur noch nicht so ausgebleicht, sondern viel knalliger und viel schöner aus.

»Grandma, warum hast du eine Kinderhose an?«, fragte Henry. Winnie musste grinsen. Grandma trug eine hellbraune Latzhose, die nicht einmal besonders sauber aussah.

»Renoviert ihr gerade?«, fragte Mum, während sie ihre Eltern äußerst flüchtig umarmte. Grandpa tätschelte ihr zweimal die Schulter und gab dann Dad die Hand. Auch Grandma gab Dad die Hand, nahm den Blumenstrauß entgegen, bedankte sich und legte ihn gleich wieder achtlos beiseite.

»Wir haben für die Kinder ein Zimmer hergerichtet. Im dritten Stock.« Grandma klang stolz, sie wischte sich die Hände an der Latzhose ab, als ob sie gerade eben erst damit fertig geworden wären.

»O Gott, noch mehr Sofas und Trockenblumen?«, wisperte Cecilia.

Winnie kicherte.

»Kinder sollten nicht flüstern«, sagte Grandma und nahm sie mit ihren Katzenaugen ins Visier. »Und in den zweiten Stock sollten Kinder auch nicht, da ist alles abgesperrt.«

»Warum?« Mums Augenbrauen zogen sich alarmiert nach oben.

»Wegen …« Die Blicke der Großeltern trafen sich.

»… wegen der Einbruchgefahr!« Grandpa nickte.

»Ihr habt Einbrecher hier?«

»Nein, nein. Die Böden, weißt du?« Er schaute an die Decke, als ob dort jeden Moment jemand hindurchkrachen könnte.

Mum riss die Augen auf, Grandpa auch. Sie starrten sich wortlos an, und obwohl Christy Wallace-Walker schönes dunkles Haar hatte statt Glatze mit weißem Haarkranz, sah man ganz eindeutig, dass sie die Tochter von Herb Wallace-Walker war.

»Aber nur in der zweiten Etage, der Rest der Villa ist in Ordnung. Wir freuen uns über die Mädchen!« Grandpa hatte seine Stimme wiedergefunden. »Und du da, mein großer Junge, wie geht es dir eigentlich?«

»Er heißt Henry, Dad!«, sagte Mum.

»Aber ja! Aber das weiß ich doch.«

Henry hatte sich hinter Mums Rücken versteckt, doch nun lugte er hervor. »Gibt es hier außer der Krake noch andere Tiere?«

»Der Krake?«

Henry zeigte nur mit seinem kleinen Zeigefinger nach oben, in Richtung Dach.

»Oho! Natürlich, natürlich«, setzte Grandpa zu einer Antwort an. »Es gibt …« Er brach ab, weil Grandma ihn wortlos anschaute und wieder ihr unmerkliches Kopfschütteln aufführte. Sie könnte einen Preis damit gewinnen, dachte Winnie.

»Äh. Nein. Nur Brieftauben, aber das sind ja keine Tiere. Also keine, die man anfassen oder irgendwie beachten sollte.«

»Nicht beachten sollte, genau!« Grandma stieß die Luft aus und lächelte, indem sie die Mundwinkel für einen kurzen Moment nach oben zog und dann wieder fallen ließ, als ob sie ihr zu schwer geworden wären. Niemand sagte etwas.

»Tea time?«, fragte Mum und schlenkerte mit dem Korb an ihrer Hand. Typisch Mum – wenn sie nicht weiterwusste, gab es bei ihr immer etwas zu essen.

Winnie beobachtete, wie das Grinsen auf Cecilias Gesicht immer größer wurde. Verbote und Geheimnisse waren ganz ihr Ding, seitdem sie diese vielen Krimiserien sah. So wie sie ihre Schwester kannte, würde die auf jeden Fall hierbleiben wollen, um alle Geheimnisse des seltsamen lila Hauses herauszufinden. Sie aber nicht! Das aufgeregte, übersprudelnde Kribbeln in ihrem Bauch hatte sich längst gelegt und war wieder in Zweifel umgeschlagen, der wie ein kleines Kaninchen in ihrem Magen nagte. Würden sie sich hier wohl fühlen?

»Aber ja, eine Tea time wäre jetzt großartig«, sagte Dad.

»Wunderbar, vielleicht gehen wir dazu an den Strand«, sagte Mum. »Wir haben den kompletten Nachmittagstee, Kuchen und Sandwiches dabei, damit ihr keine Arbeit habt. Oder wir decken im Wintergarten, was meint ihr? Da ist es windgeschützt.«

»Das geht nicht. Der ist besetzt«, sagte Grandma.

»Mit was?«

»Mit Werkzeug und Blumenerde, mit Mäusefallen, mit meiner außerordentlichen Bojenkugel-Sammlung …«

»Bojenkugel-Sammlung?«

»Was meinst du, wie viel Bojen hier angeschwemmt werden, die sich losgerissen haben, ich könnte einen Verkaufsstand eröffnen. Das sind nützliche Objekte mit unterschiedlichen Durchmessern in Orange, Mintgrün und Gelb.«

»Mutter, ich weiß, was Bojen sind.« Mum seufzte.

»Außerdem lagern wir dort unsere Autoreifen.«

»Aha. Autoreifen.« Mum schüttelte den Kopf und sah plötzlich sehr müde aus. »Habt ihr den Wagen nicht letztes Jahr verkauft?«

»Doch, haben wir. Nur die Reifen sind noch übrig.« Grandpa sah nicht traurig darüber aus.

»Also, was ist jetzt mit dem Zimmer für die Kinder? Wollt ihr es sehen? Weder Kosten noch Mühen wurden gescheut bei diesem Projekt.« Grandma steckte ihre Daumen hinter die Träger ihrer Latzhose. Sie sah überhaupt nicht wie eine Großmutter aus, eher wie eine stolze Bauarbeiterin.

»Projekt?« Mum schien schwer an etwas zu schlucken, doch Winnie konnte nicht weiter zuhören, denn sie sah, dass Henry sich neben den kleinen Mann geschmuggelt hatte und neugierig zu ihm aufsah. Er war zwar kleinwüchsig, aber trotzdem mindestens einen Kopf größer als Henry.

»Wie heißt du? Bist du stark? Wohnst du hier?« Henry sah ihn unverwandt an. »Kannst du schwimmen? Muss ich ans Meer gehen, auch wenn ich Wasser nicht mag? Ist irgendwas gefährlich hier?«

»Nun«, sagte der kleine Mann bedächtig. »Der Reihe nach. Mein Name ist Hugo Cristobal Andrew MacLeary, doch Hugo reicht mir. Ich würde mich als stark bezeichnen, verfüge aber tragischerweise nicht über Superkräfte, falls du das aufgrund meiner Körpergröße von 131 Zentimetern annehmen solltest, weil du zu viele Comics gelesen hast.«

»Was sollen das für Comics sein, in denen ein Zwerg …? Oh sorry.« Cecilia schlug sich die Hand vor den Mund.

»Ich kann noch nicht lesen«, sagte Henry.

»Ich wohne in einem der oberen Gemächer«, fuhr Hugo fort, ohne auf die Bemerkungen einzugehen, »auf einer Etage, zu der dir und deinen Schwestern der Zugang ebenfalls verwehrt bleiben wird.«

Cecilia hörte Hugo aufmerksam zu, stellte Winnie fest. Die Worte »Zugang verwehrt« hatten gereicht, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen.

»Und weiter: Nein, du musst nicht zwangsläufig ans Meer, Wales ist ein freies Land, nein, ich bin ein typischer Seemann, wir können alle nicht schwimmen, womit wir bei der letzten deiner recht tragischen Fragen wären …« Er senkte die Stimme, und alle drei Kinder beugten sich vor, um den Rest seiner Antwort nicht zu verpassen.

»… In Anbetracht der Tatsache, dass gewissen Personen hier im Laufe der Jahre schon einiges zugestoßen ist, kann man wahrlich behaupten, es ist äußerst gefährlich in dieser Villa.«

3. Kapitel – in dem fast alles verboten ist und Henry lieber bei Zwerg Nase bleiben will

»Also was machen wir? Bleiben oder zurückfahren?«

Winnie und Cecilia standen am Strand, die Hosen aufgekrempelt, die Füße im Wasser, Henry dicht neben ihnen, allerdings in Gummistiefeln. Sie hielten eine Besprechung ab.

»Zurückfahren«, sagte Winnie wie aus der Pistole geschossen.

»Echt? Warum das denn? Hast du Schiss, oder was?« Cecilia hatte wieder ihre schlechtgelaunten fünf Minuten, die manchmal auch einen ganzen Tag lang dauern konnten.

»Irgendwie schon, dieser kleine Hugo macht mir Angst, und außerdem hat er gesagt, es ist gefährlich hier.« Winnie schaute auf ihre Zehen, die in dem kalten Wasser langsam bläulich wurden.

»Quatsch, das hat der doch nur gesagt, um uns loszuwerden.« Cecilia stieß ihre jüngere Schwester etwas zu fest in die Seite. »Lass uns bleiben, ich will auschecken, was in diesem ollen Kasten vor sich geht und was das runde Ding da oben auf dem Dach soll. Danach hauen wir ab und fahren zurück nach Hause. Wenn Mum und Dad erst mal in Brasilien sind, können sie nichts machen … Und wir haben in London drei Wochen sturmfrei!«

»Das würden sie aber nicht gut finden!«

»O Mann, Winnie, immer bist du so vorsichtig, vernünftig und verdammt schüchtern. Du bist doch so gerne draußen und rennst rum! Hier kannst du das zwei, drei Tage lang tun. Im Dorf gibt’s bestimmt ein paar coole Plätze zum Skaten, du hast dein Board doch extra mitgenommen.«

Ich bin vorsichtig, okay, dachte Winnie, und vernünftig, auch das, meinetwegen, aber nicht schüchtern. Bin ich schüchtern? In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken. Eben hatte sie noch genau gewusst, was sie wollte, nun war sie auf einmal verwirrt. »Na ja, das Meer ist echt toll und der Strand auch, aber vielleicht sollten wir doch gleich wieder mit nach London fahren.«

»Vielleicht, vielleicht!« Cecilia konnte Unentschlossenheit nicht ertragen, sie hasste Wörter wie »vielleicht, ein bisschen, irgendwie, eventuell«. »Damit Mum und Dad uns in aller Eile irgendeine komische Nanny suchen und vor die Nase setzen?!«

»Die Letzten waren immer ganz nett.«

Ganz nett! Auch diesen Ausdruck fand Cecilia alles andere als toll. Winnie seufzte. Sie wusste meistens ziemlich genau, was die anderen mochten und was nicht. Bei ihr selbst war sie sich dagegen oft nicht sicher.

»Ich will keine Nanny!«, meldete sich Henry. »Die ist dann vielleicht eine böse Fee, ich will lieber bei Zwerg Nase bleiben.«

»Nenn ihn nicht Zwerg! Und auch nicht Nase! Das ist nicht höflich, und er mag das bestimmt nicht. Ich lese dir keine Märchen mehr vor!«, drohte Winnie ihm an.

»Ich finde, Henry hat recht!« Cecilia grinste. »Wir sollten hierbleiben, außerdem haben wir noch nicht mal unser Zimmer gesehen.«

Die nächste Welle umspülte Winnies Waden und zog den Sand unter ihren Fußsohlen weg. Henry rannte mit seinen blauen Stiefeln schreiend davon, doch Winnie fing ihn mit einem beherzten Sprung wieder ein. Ihr kleiner Bruder war nicht nur wasserscheu. Er war auch sandscheu. Und erdscheu. Und baumscheu. Er war nicht gerne draußen in der Natur. Er war ein Kind, das am liebsten an einem Tisch saß, puzzelte oder malte, Bilder in Büchern anschaute oder sich sonst wie auf ruhige Weise die Zeit vertrieb.

»Wir bleiben nur, wenn unser Zimmer echt gemütlich ist, okay?«, schlug Winnie vor.

Cecilia verzog den Mund. »Dann kannst du es gleich vergessen. Oder kannst du dir echt gemütlich bei den beiden vorstellen?« Sie schauten zur Gruppe der Erwachsenen. Mum, Dad, Grandma, Grandpa. Nur Hugo mit dem langen Namen fehlte. Sie standen um die Decke herum, auf der sie alle zusammen gepicknickt hatten. Der Wind hatte ihnen die Kuchenstücke von der Gabel geweht und die Gurkensandwiches mit Sand gepudert. Alle vier verschränkten die Arme, als ob sie sich gegenseitig für irgendetwas beschuldigt hätten und jetzt beleidigt wären. »Gemütlich? Nein, eigentlich nicht.«

»Will das Boot anschauen«, sagte Henry in diesem Moment und zeigte auf den Steg, der weit in das Wasser der Bucht hineinführte und an dessen Ende ein großes, dunkles Segelschiff mit drei Masten vertäut lag. Mary stand in goldenen Buchstaben an der Schiffswand.

»Das geht nicht«, sagte Winnie und nahm seine kleine Hand noch fester, damit er nicht auf dumme Gedanken kam und auf den Steg lief. »Das Schiff gehört Hugo, wir dürfen da nicht drauf. Stell dir vor, du fällst da rein, du kannst doch nicht schwimmen.«

»Hugo kann ja auch nicht schwimmen!« Henry stampfte auf, dass das Wasser nur so spritzte, und schrie leise auf, als seine Beine dabei nass wurden.

»Ja, das ist allerdings komisch, warum hat er dann ein so ein krasses Boot?«, fragte Cecilia.

»Er ist vor ein paar Jahren hier damit angekommen, hat Grandpa erzählt. Seitdem liegt es da.«

»Ich wette, er ist irgendwo ausgebrochen, aus dem Zirkus oder so!« Cecilias Augen blitzten voller Neugier auf.

»Frag ihn bloß nicht danach!«

»Warum nicht? Sollte Wissensdrang jetzt verboten sein, und ich habe es nicht gemerkt?«

»Hier ist einfach alles verboten.« Henry schaute seine Schwestern mit großen braunen Augen von unten an.

»Ja, und deswegen müssen wir hier auch weg!«, sagte Winnie.

»Müssen wir nicht!«, kam es von Cecilia.

»Ich will aber nicht in London ohne Mum und Dad sein.« In Henrys Augen schwammen Tränen.

»Siehst du, gleich weint er, und du hast Schuld!« Winnie zeigte auf ihre Schwester.

»Und ich mag nicht, wenn ihr streitet.« Henry schniefte.

»Also, ich streite ja nicht!« Cecilia warf ihre roten Haare zurück.

Sie ist echt keine Hilfe, wenn es darum geht, Henry aufzumuntern, dachte Winnie. Und das wollte sie jetzt unbedingt, er sollte lachen! Plötzlich spürte sie, wie ihr Brustkorb ganz weit wurde – da war es wieder! Das Glücksgefühl, überschwänglich, als ob sie gleich platzen müsste vor Kraft und Fröhlichkeit, weil sich viel zu viel davon in ihrem Körper befand. Aber woher kam das? Einfach so, ohne Grund?

»Du hast recht, Henry, streiten ist blöd, und die Hauptsache ist doch, dass wir alle zusammen sind, egal ob hier oder in London. Aber wir machen alles, was verboten ist und Spaß macht, trotzdem. Komm, das wird lustig!«, rief sie. »Hier, ich habe sogar eine Kaugummikugel für dich!« Sie wühlte in der Tasche ihrer Jeans. Henry durfte eigentlich kein Kaugummi haben, weil Mum dachte, er würde es hinunterschlucken und seinen Magen verkleben. Erwachsene dachten sich manchmal komische Sachen aus. Begeistert griff er danach. »Und eine für Cecilia!« Obwohl für sie selbst nun keine mehr da war, sprudelte die gute Laune immer noch in ihr und schien die anderen anzustecken.

Cecilia ging in die Knie und rief: »Genau, wir machen alles zusammen und passen auf dich auf, keine Angst! Spring hoch!« Sie nahm Henry huckepack; er drückte ihr seine kleinen Beine in die Flanken und jauchzte. »Und jetzt schauen wir das Zimmer an, das die Superwoman-Latzhose für uns eingerichtet hat.« Kaugummi kauend stapfte sie mit dem lachenden Henry durch den grobkörnigen Sand auf Mum und Dad zu.

 

Winnie schaute ihnen hinterher. Der Strand ist schön, das Haus doch irgendwie cool und unser Zimmer bestimmt super, dachte sie. Sie spürte immer noch diese wahnsinnige Freude, zu der nun auch noch eine unumstößliche Gewissheit kam: Die Großeltern und dieser Hugo hatten etwas zu verbergen mit dem verbotenen Schiff und den verbotenen Etagen, und sie war die Einzige, die herausfinden konnte, was es mit all den nicht erlaubten, seltsamen Sachen auf sich hatte. Die Einzige in dieser Familie, und warum? Sie blickte zum Haus, als ob es ihr eine Antwort geben könnte. Es schaute aus seinen kleinen Fensteraugen zurück zu ihr: »Weil du etwas Besonderes bist!«, schien es sagen zu wollen. Sie grinste bis über beide Ohren, als sie ihren Geschwistern folgte. Jetzt sprach sie schon mit Häusern, was würde noch alles passieren?

 

Kurze Zeit später stiegen sie alle an der zweiten Etage vorbei, man sah nur eine solide Tür, mit einem extra Riegel davor. Niemand sagte etwas, doch Winnie legte neugierig die Hand dagegen und stellte fest, dass die Bretter der Tür ganz warm waren. Eine dumpfe Hitze, die von innen dagegenzupulsieren schien. Natürlich musste sie ihrer älteren Schwester sofort davon erzählen.

»Vielleicht haben sie dort heimlich eine Pizzeria mit einem riesigen Ofen eingerichtet«, tuschelte Cecilia zurück. »Und jeden Abend liefern sie pünktlich um acht zwanzig Pizza Margherita nach Tullymore’s End aus.«

»Glaubst du wirklich?« Winnie blieb stehen. »Müsste es dann nicht auch lecker nach Pizza riechen?«

»Mann, Winnie, das war ein Witz! Aber egal, wir bekommen schon noch heraus, warum wir da nicht reindürfen!« Cecilia stapfte weiter die Stufen hoch.

 

»Das ist es also …« Mum lief hin und her. »Ich hätte es wissen können«, sagte sie leise.

Winnie schaute sich um: Es war völlig anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Nun ja, zu klein war das Zimmer jedenfalls nicht, der einzige Pluspunkt vielleicht … In dem riesigen kahlen Raum standen drei Betten an einer Wand, von der Decke baumelte eine einzelne Glühbirne. Die Wände waren unverputzt, und auf dem Dielenboden lag nicht das kleinste Fitzelchen Teppich. Drei der vier kleinen Fenster zeigten auf den Strand hinaus. Von dem anderen konnte man den düsteren, leeren Laden von