Gelateria Paradiso - Stefanie Gerstenberger - E-Book

Gelateria Paradiso E-Book

Stefanie Gerstenberger

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Beschreibung

Venezien, 1964: Der junge Italiener Lucio macht sich auf den weiten Weg nach Deutschland. Fern der Heimat verwirklicht er sich seinen Traum: eine eigene Eisdiele. Und schon bald findet er auch die Liebe in der kalten Fremde. Doch in Italien wartet seine Verlobte auf ihn.

Bergisches Land, 2018: Bei der Auflösung der alteingesessenen Gelateria Paradiso trifft Susanne auf die elegante Italienerin Francesca. Überraschend werden die beiden so unterschiedlichen Frauen damit konfrontiert, dass sie Halbschwestern sind.

Zwei Schwestern, die für Jahrzehnte getrennt waren, decken das Geheimnis ihres Vaters auf. Ihre gemeinsame Geschichte beginnt in Italien.

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Über dieses Buch

Venetien 1964: Der junge Italiener Lucio macht sich auf den weiten Weg nach Deutschland. Fern der Heimat verwirklicht er sich seinen Traum: eine eigene Eisdiele. Und schon bald findet er auch die Liebe in der kalten Fremde. Doch in Italien wartet seine Verlobte auf ihn.

Bergisches Land 2018: Bei der Auflösung der alteingesessenen Gelateria Paradiso trifft Susanne auf die elegante Italienerin Francesca. Überraschend werden die beiden so unterschiedlichen Frauen damit konfrontiert, dass sie Halbschwestern sind.

Zwei Schwestern, die für Jahrzehnte getrennt waren, decken das Geheimnis ihres Vaters auf. Ihre gemeinsame Geschichte beginnt in Italien.

Über die Autorin

Stefanie Gerstenberger, 1965 in Osnabrück geboren, studierte Deutsch und Sport. Sie wechselte ins Hotelfach, lebte und arbeitete u. a. auf Elba und Sizilien. Nach einigen Jahren als Requisiteurin für Film und Fernsehen begann sie zu schreiben. Ihr erster Roman Das Limonenhaus wurde von der Presse hoch gelobt und auf Anhieb ein Bestseller, gefolgt von Magdalenas Garten, Oleanderregen, Orangenmond, Das Sternenboot und Piniensommer. Die Autorin wurde mit dem DELIA-Literaturpreis ausgezeichnet und lebt mit ihrer Familie in Köln.

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Originalausgabe 05/2019

Copyright © 2019 by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Redaktion: Heike Hauf

Umschlaggestaltung: Favoritbüro, München

Umschlagmotiv: © Ildiko Neer, bellena/Shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-23530-7V003

www.diana-verlag.de

Casa è dove batte il cuore.

Heimat ist da, wo dein Herz schlägt.

PROLOG

Ein großer Eisbecher. Ganz für sie alleine!

»Per la piccola signorina!«, sagte der Mann mit der weißen Jacke und der schwarzen Hose und stellte das silberne Tablett vor ihr ab. Zwei Kugeln Vanilleeis, darauf Erdbeeren und Sahne. Die metallene Halbschale des Bechers glänzte, kleine Tropfen hatten sich darauf gebildet, die am Stiel hinunter auf das Papierdeckchen mit den Spitzen flossen. Sie hielt die Luft an: Sie war noch nie in einer Eisdiele gewesen, nur manchmal nach der Schule an der in Gummersbach vorbeigegangen. Dort hatte sie beobachtet, wie die Leute auf der Straße Schlange standen, wie sie ihre Münzen auf die Theke legten und die Eisfrau dahinter die Waffeln in die Hand nahm und die Kugeln darauf türmte. Die Stadt hieß anders, aber hier gab es auch so eine Eisfrau, Susanne sah sie nur von hinten. Ihre Haare waren auf dem Kopf zu einer hohen dunklen Haube zusammengeschoben.

Sie hätte auch gerne solche Haare. Wieder schaute sie auf ihren Eisbecher und ging mit der Nase ganz dicht an ihn heran, bis sie schielte. Das war alles für sie!

Im Auto war es unerträglich heiß gewesen, aber hier drinnen war es kühl. Gelächter und Gemurmel erfüllten den Raum, und sie war genau wie die anderen Kinder – ein ganz normales Mädchen, das mit ihren Eltern Eis aß. An der Wand hingen ein paar Schwarz-Weiß-Fotos mit feierlich gekleideten Menschen vor dem Eiscafé und einem Mann auf seinem Motorrad. Der sah aus, als ob er gleich davonfahren wollte.

Die Mutter hatte mit den Augen gerollt, weil Robert brechen musste, die Sitze im Auto hatten auch etwas abbekommen und rochen jetzt ziemlich eklig. Aber weil Robert ja der Kleine war und die Mutter ihn »jetzt mal ganz schnell irgendwo säubern« musste, waren sie in diese Eisdiele gegangen. Und ein bisschen vielleicht auch, weil doch Susannes Geburtstag war. Sie hatte sich einen Eisbecher aussuchen dürfen. Einen mit Erdbeeren hatte sie genommen. Trotz Geburtstag ließ der Vater sie erst einmal die ganze Karte vorlesen. Zur Übung, sagte er, obwohl er genau wusste, dass sie noch schlechter las, wenn er ihr zusah und dabei mit der Zunge schnalzte. Sie las nicht gut, dabei ging sie schon in die dritte Klasse. Das Lesen und die Suse, sagte das Fräulein Kühler immer, da treffen zwei Welten aufeinander. Sie tauchte ihren Löffel in die Sahne. Ganz langsam würde sie den Becher essen, damit die Zeit nicht so schnell verging.

Die Mutter hatte Roberto auf dem Schoß. Er nagte mit seinen kleinen Zähnchen an einer Waffeltüte herum. Der Vater trank nur einen Kaffee, aber plötzlich langte er mit seinem Löffel über den Tisch in ihre Sahne und machte dabei den Tunnel kaputt, den sie vorsichtig hineingegraben hatte. Der schöne Tunnel!

»Nun zieh keinen Flunsch, Suse!«

Um die Tränen zu unterdrücken, sah sie sich das Mädchen an, das mit dem Rücken zu ihr an einem der hinteren Tische saß. Es machte Schularbeiten, die Federmappe lag aufgeschlagen auf den Heften, und ein paar kurze Stummelstifte ragten unordentlich heraus. Ihre Haare waren rotbraun und lockig, sie ringelten sich über ihren Rücken. So schöne Haare! Ihre eigenen waren dunkel. »Ganz schwatt«, sagte die Mutter und schnitt sie ihr mit der Nagelschere kurz, denn das sah ordentlicher aus. Und praktischer war es auch. Sie war die Einzige von ihnen, die so dunkle Haare hatte, selbst Robert war blond. Den haben wir besser ausgesucht, sagte der Vater manchmal. Besser. Besser als sie. Wieder beobachtete sie das Mädchen. Es wohnte offenbar in dieser Eisdiele und konnte jeden Tag so viel Eis essen, wie es wollte. In diesem Moment stand es auf, sammelte einige der leeren Flaschen von den Tischen ein und brachte sie hinter die Theke. Die Menschen lächelten das Mädchen an, weil es schon mithalf, obwohl es ungefähr so alt war wie Susanne. Danach ging es zu der großen Truhe, die an der Wand stand. Es holte ein Geldstück aus ihrer weißen Schürze hervor, warf es oben in den Schlitz und drückte ein paar Knöpfe. Eine hübsche Melodie erklang, und eine Frau sang etwas mit bellabellabella.

»Nun trödel nicht so!« Die Mutter schob den Eisbecher näher zu ihr. Plötzlich beneidete Susanne das Mädchen so sehr, dass ihr ganz heiß in der Brust wurde. Wenn sie doch mit ihm tauschen könnte! Sie würde immerzu Eis essen, die Schularbeiten an einem der hübschen Tische machen und die kleinen Flaschen einsammeln, um ihren Eltern zu helfen. Ihr Vater und ihre Mutter hätten genauso schwarze Haare wie sie und lächelten den Leuten auf der Straße fröhlich zu. Kleine Mädchen, die Geburtstag hatten, nannten sie piccola signorina. Wenn ich doch mit ihr tauschen könnte, dachte sie wieder, ich wäre das glücklichste Mädchen auf der Welt!

1

»Francesca – bella pesca! Immer noch.«

Francesca grinste. Schöner Pfirsich, so hatte man sie im Grundlehrgang genannt, weil sie mit ihrer großen Oberweite und den roten Haaren angeblich so appetitlich und frisch wie ein Pfirsich aussah. Zum Anbeißen eben. Noch heute hatte sie unter ihren vier Lieblingskolleginnen diesen Beinamen. Eine davon war Katja, die in diesem Moment weiter auf sie einredete: »Ich krieg die Krise, du siehst wieder so verdammt toll aus! Wie machst du das?«

Francesca stieß die Kollegin leicht in die Seite: »Übertreib mal nicht.«

»Auch fünfundzwanzig Jahre später brauche ich mir keine Hoffnungen zu machen, dass mich einer näher anschaut. Also zumindest nicht, wenn du neben mir stehst.« Katja seufzte und zog ihre Uniformjacke glatt. »Jetzt mal im Ernst: deine Haare, deine Haut, Mensch, du siehst aus wie fünfunddreißig, na ja, vierzig. Jedenfalls nicht wie über fünfzig!«

»Meine Haare sieht man in dem Knoten gar nicht.«

»Aber man ahnt es, dass du sie mit einer lasziven Handbewegung öffnen kannst, so wie eine schüchterne Sekretärin, und sie dir dann in roten wellenartigen Kaskaden über die Schultern bis auf den Rücken fallen …«

»Schüchterne Sekretärin! Wellenartige Kaskaden! Das hört sich echt nach deinen Heftchenromanen an. Willst du nicht mal was Vernünftiges lesen?« Francesca lachte. »Und mit der Haut, ich weiß nicht, das muss am gnädigen Licht liegen.« Sie stellte sich noch aufrechter hin, aus dem Cockpit drang das Gemurmel des Funkverkehrs. Gnädiges Licht? Ihr zufriedenes Grinsen wich einem professionellen Lächeln. Jeden Augenblick konnten die ersten Passgiere am Ende des ›Fingers‹ erscheinen, der an die Öffnung der Maschine angedockt war. Sie verwendete ja auch nur die beste Kosmetik von der besten Kosmetikerin und ging nie, niemals, ungeschminkt aus dem Haus. Sie strich ein paar nicht vorhandene Strähnen aus der hohen Stirn: »Vergiss nicht: Wir sind hier, um für die Sicherheit der paxe zu sorgen, nicht um zu flirten und den Traummann zu finden. Achtung, da kommen die Ersten!«

»Wo soll ich denn sonst Ausschau halten?«, raunte Katja ihr zu. »Immerhin hast du deinen Mann auch beim Fliegen kennengelernt. Ich liebe Tim! Mit dem hast du echt Glück gehabt.«

Francesca räusperte sich. Als gewissenhafte Kollegin musste sie Katja jetzt eigentlich zurechtweisen, sah aber davon ab. »Guten Abend!« Sie schenkte den Einsteigenden ein warmes Lächeln und wusste, dass Katja verstand. Es war kaum jemandem bekannt, aber als Flugbegleiterinnen war es auch ihre Pflicht, die Passagiere beim Einsteigen abzuchecken. Waren sie betrunken, standen sie unter Drogen, sahen sie krank aus oder wirkten gewalttätig? Dann wäre es an ihnen, sie gar nicht erst an Bord zu lassen.

Manche grüßten freundlich zurück, manche nicht, nicht einmal ein Kopfnicken, obwohl sie wussten, dass sie über zehn Stunden miteinander an Bord sein würden.

Katja bohrte Francesca unmerklich ihren Ellenbogen in die Seite. »Wie wär’s mit dem da für mich?« Francesca lächelte den offenbar allein reisenden Mann an, der jetzt sein Handgepäck schulterte und sich zu den Sitzplätzen in einer der ersten Reihen begab. »Zu jung«, murmelte sie, um ein weiteres Mal »Guten Abend« zu wünschen und das kleine Mädchen anzulächeln, das jetzt mit seinem rosa Rucksack an ihnen vorbeimarschierte. Sie liebte ihre Arbeit. Ihre Personalakte war voll von überschwänglichen Belobigungen von dankbaren, glücklichen und – ja auch – verliebten Gästen.

Fünfzehn Minuten später gab die Purserette den Kabinenkollegen das Boarding completed durch und verschloss die Außentür, während Francesca in der Bordküche die Gläser vom Welcome Drink der Ersten Klasse verstaute. Gepäckfächer schließen, Kissen verteilen, kontrollieren, ob jeder angeschnallt war. Nach über fünfundzwanzig Jahren an Bord war die Arbeit zur absoluten Routine geworden, doch sie bemühte sich, so aufmerksam und freundlich wie am ersten Tag zu sein. Sie freute sich, dass sie heute wieder mit ihrer besten Freundin unterwegs war. Seit ihre Tochter Emilia beschlossen hatte, in Berlin zu studieren, flog sie wieder Langstrecke und fragte oft mit Katja zusammen Flüge an. Oder mit Clivia oder Sonja. Ihr damals so unzertrennliches Quartett aus dem Grundlehrgang. Noch heute wohnten sie alle in Frankfurt und waren befreundet, aber Katja war ihr die Liebste. Ihre beste Freundin, leider schon sehr lange Single. »Er sitzt übrigens 3F«, sagte Francesca, sobald sie sich wieder in der engen Galley begegneten. »Ganz hübsch, du hast recht.«

»Sag ich doch!«

Francesca nickte, während sie mit einem Knopfdruck das Band abfahren ließ. Auf den Monitoren an den Sitzen wurde jetzt der Film mit den Sicherheitsbelehrungen gezeigt. Manchmal fragte sie sich, warum sie das überhaupt noch machten. Die meisten Passagiere nahmen für diese Vorführung noch nicht einmal ihre Musikstöpsel aus den Ohren.

»Endlich wieder L.A. und sogar einen ganzen Tag Aufenthalt.« Francesca zog ihren Rock glatt, ließ sich hastig auf den Notsitz sinken und schnallte sich an. Das Flugzeug rollte und ruckelte schon seit einer Minute der Startbahn entgegen.

»Wir werden am Pool liegen, da drüben ist das Wetter schon richtig sommerlich!« Katja schnappte sich ihre Hand und drückte sie. »Und wir sind im Hyatt. Wir müssen auf jeden Fall in die Mall nebenan. Diese neuen Taschen von LaMela sind einfach wunderbar. Ich habe zwar schon drei, könnte aber auch noch die silberne gebrauchen. Und so einen Sommermantel von …«

Shoppen! Mit keiner konnte man das besser als mit Katja. Doch anstatt zu antworten, warf Francesca der Kollegin einen gespielt strengen Blick zu, die nickte und verstummte augenblicklich. Bei Start und Landung mussten sie sich konzentrieren. Wo waren bei dem A340 die Notausgänge, wie bediente man die Notrutschen, wie hießen die Evakuierungskommandos? Bei jedem Modell war das etwas unterschiedlich. Die meisten Passagiere sahen die Flugbegleiterinnen nur als nettes Beiwerk, die umsonst in fremde Länder reisen konnten und oben in zehntausend Metern Höhe Tomatensaft ausschenkten und Parfüm verkauften, dabei waren sie auch geschultes Sicherheitspersonal mit überlebenswichtigen Kenntnissen. Doch heute konnte Francesca ihre Gedanken nicht zum Schweigen bringen. »Ich habe vor dem Briefing etwas in meinem Fach gefunden«, wisperte sie Katja gegen alle Regeln zu. »Einen Umschlag. Hab mich nicht getraut, ihn zu öffnen.«

»Wahrscheinlich ein Fan«, gab die genauso leise zurück. »Da hat sich mal wieder einer in dich verliebt. Warum passiert mir so was nie? Bei mir beschweren sich höchstens zickige Frauen, dass wir sie nicht in die Erste Klasse upgraden, obwohl sie doch einen abgebrochenen Fingernagel und Kopfschmerzen haben.«

»Kein Fan. Er kommt aus …«, Francesca musste schlucken, so trocken war ihr Mund mit einem Mal, »Windhagen.«

»Was? Ist das nicht das Kaff im Bergischen, wo –«

»Ja. Genau.«

»Ach du Scheiße, wer kennt dich denn da noch?!«

»Ja, niemand eben, hoffe ich.«

Die Maschine beschleunigte nun auf Höchstgeschwindigkeit. Da sie entgegen der Fahrtrichtung saßen, wurden sie von der harten Wand weggedrückt.

»Es wird etwas Belangloses von der Stadt sein.«

Doch Francesca starrte nur auf den blauen Rock ihrer Uniform.

Die Freundin schaute sie ernst von der Seite an. »Sag bloß, das weiß immer noch keiner?«

Francesca schüttelte stumm den Kopf.

»Tim?«

»Nein!«

»Emilia?«

»Nein. Niemand. Und das wird auch so bleiben, ganz egal, was da in dem Brief steht.«

L.A., Stadtteil Redondo. Francesca sah schon gar nicht mehr aus dem Fenster, das sich nicht öffnen ließ. Sie wusste, da draußen würde sie auf die Filiale eines bekannten Sportartikelherstellers, einen riesigen Parkplatz und das Restaurant einer Fast Food-Kette schauen. Die Zeiten, in denen sie als Crew in den echten First-Class-Hotels übernachtet hatten, waren lange vorbei. Immerhin, der Himmel war blau und der Parkplatz mit Palmen umsäumt. Das ständige Rauschen des Verkehrs auf den Straßen war nur ganz leise zu hören, ab und zu vermischt mit Polizeisirenen. Die Matratzen waren weich, das Federbett steckte lose zwischen zwei Laken und war herausgerutscht, alles hatte sich zu einem dicken Wulst ineinander verdreht. Das Wasser aus der Dusche roch stark nach Chlor, wie in fast jedem anderen Land auf der Welt. Sie hatte eine sehr gute Nase und war deshalb empfindlich gegen Gerüche. Japan. China. Vereinigte Emirate. Argentinien. Überall Chlor. Nur in Deutschland roch das Wasser, so wie es riechen sollte: frisch, manchmal leicht kalkig. Wie machten die deutschen Wasserwerke das nur?

Francesca hätte auch mit geschlossenen Augen sagen können, aus welchem Land der Flieger kam, den sie in Frankfurt bestiegen. Aus Indien: nach Curry, aus Saudi-Arabien: schweres Parfüm, aus Korea: Kimchi, der sauer eingelegte Chinakohl. Vielleicht gab es demnächst mal eine Show im Fernsehen, in der sie mit diesem Wissen eine Million Euro gewinnen könnte. Eine Million würde gerade reichen. Verdammt. Francesca schluckte, und ihr Herz klopfte vor Panik, als ihr Blick jetzt wieder auf das iPad fiel. Der Kontostand, der darauf angezeigt wurde, ließ sie die Zähne zusammenpressen. Sie atmete tief durch und überschlug, welche Summe am Monatsende noch an Spesen eintrudeln würde. Für Tokio vier Tage, für Dubai leider nur zwei. Der Aufenthalt in Peking vom 13.–16. und dann L.A. Sie rechnete. Es reichte nicht. Ihr Überziehungskredit war ausgereizt, das nächste Monatsgehalt schon eingerechnet. Und dann war da ja auch noch der Kredit, von dem Tim natürlich auch nichts wusste … und hoffentlich nie etwas mitbekommen würde. Porca miseria! Sie sprach in ihrem Privatleben kaum Italienisch, aber Fluchen ging in dieser Sprache immer noch am allerbesten.

Francesca strich sich durch das lockige Haar, das ihr schwer über die Schultern fiel und drehte sich im Zimmer herum. Sie hatte über Mittag noch einmal zwei Stunden geschlafen und trotzdem noch reichlich Zeit. Late check out für die Crew. Warum die Klimaanlagen in den Vereinigten Staaten alles tiefkühlen mussten, war ihr ein Rätsel. Vielleicht damit die Gehirne länger frisch blieben. Im Spiegel sah sie in diesem Moment genauso alt aus, wie sie war: irgendwas über fünfzig. Mindestens. Sie kniff sich in die Wangen, zog sie dann nach hinten glatt. Pick-up war heute um 16 Uhr, drei Stunden später würde sie wieder lächelnd und geschickt geschminkt im Eingang des Fliegers stehen, um die Passagiere zu begrüßen. Ein Nachtflug war anstrengend, sie würden arbeiten, wenn andere schliefen. Dafür konnte man sich schon ein wenig im Voraus belohnen.

Auf den Sesseln lag die Ausbeute des gestrigen Tages. Drei wunderschöne Blusen, zwei leichte Sommerpullover, jeweils in Weiß und Grün, ein paar Tennisschuhe, und doch noch eine weitere Handtasche von LaMela. In Silber. Die Farbe war angesagt und passte zu jedem Outfit, hatte Katja behauptet. Natürlich hatte die Lieblingsfreundin mal wieder recht, und vielleicht würde Francesca einen der Pullover ja auch Emilia schenken. Als kleine Anerkennung dafür, dass sie sich in Berlin mit voller Energie in ihr erstes Studiensemester warf. Emilia. Ihre süße kleine Emmi. Jetzt war sie groß, wie hatte das passieren können? Ihre Tochter sah ihr zwar ähnlich, kam aber vom Charakter her gar nicht nach ihr. Das brauche ich doch nicht, Mama. Ich habe doch genug Klamotten im Schrank, sagte sie, sobald Francesca ihr etwas schenken wollte. Vielleicht war das exzessive Kaufen eine Berufskrankheit der Stewardessen? Ein hochansteckender Virus? Für den sie also gar nichts konnte? Genau, dachte sie, und wenn Katja etwas kauft und alles so schön günstig ist, kann ich mich einfach nicht zügeln. Du kannst dich auch sonst nicht zügeln. Sei ehrlich! Sie seufzte tief. Sie liebte neue Sachen einfach. Die Anhängeschildchen mit den Ersatzknöpfen, die eingenähten Markenetiketten, den Geruch nach ungetragenem, sauberem Stoff, das knisternde Seidenpapier, in das die Verkäuferinnen die liebevoll gefalteten Kleidungsstücke einschlugen, bevor sie sie in eckige Lacktüten versenkten.

Langsam griff sie nach dem Brief, der zusammengefaltet auf dem Schreibtisch unter den ordentlich aufgereihten Fernbedienungen lag. »Geld!«, schien er zu wispern. »Hier gibt es Geld, du brauchst es nur an dich zu nehmen. Betrachte es als Entschädigung. Mehr nicht. Wie willst du Tim sonst deine Schulden erklären?« Francesca schüttelte den Kopf. Nie. Er wird nie davon erfahren. Nicht wer sie war, woher sie kam, und vor allen Dingen nicht, wie sie ausgesehen hatte. Er würde sie sonst verlassen, und das wäre die größte Katastrophe, die sie sich vorstellen konnte. Wie spät war es jetzt in Deutschland? Die waren dort schon neun Stunden weiter, es war also 22 Uhr … Sie sollte dem Verwalter am besten jetzt eine Mail schreiben, die er morgen früh lesen würde, und einen Termin ausmachen. Sie könnte sich gleich von Frankfurt nach Münster durchchecken lassen und dann ein Leihauto nehmen. Ohne Auto kam man dort ja nicht hin. Niemals mehr, hattest du gesagt. Niemals mehr … Aber es geht um viel Geld. Soll ich mir das entgehen lassen? »Nein!«, antwortete sie laut und loggte sich aus ihrem Bankaccount aus. »Es steht mir zu. Und es wäre unverzeihlich, darauf zu verzichten!«

2

Susanne atmete tief ein. Ein Morgen wie jeder andere. Genau wie jeder andere. Und das war schön, sogar sehr schön! Sie schloss noch einmal kurz die Augen und genoss die Stille, die nur von den Regentropfen untermalt wurde, die unten im Hof auf die Planen und den Container prasselten. Wie jeden Morgen, nachdem der Wecker klingelte, ließ sie den kommenden Tag vor sich ablaufen. Alles war in Ordnung. In der Werkstatt wartete der Esstisch für die Familie Kemper; noch einmal leicht anschleifen und anschließend das Öl aufbringen, einreiben und endpolieren, dann war er fertig. Ein Stockwerk unter ihr, in Tillys Wohnung, warteten ab acht Uhr das Frühstück und ein ungeduldiger Lennart darauf, dass sie ihn begleitete. Wenn es weiter so regnete, würden sie den Werkstattbulli nehmen, dann konnte sie auf dem Rückweg gleich noch beim Großhändler die Leisten holen. Susanne setzte sich auf und schwang ihre Beine über die Bettkante, während sie ihren rechten Bizeps anspannte und umfing. Eine Geste, die ihr gar nicht auffiel. Sie war stark. Sie war in der Lage, alles selbst zu bestimmen und zu tun. Sie musste niemanden auf der Welt um Erlaubnis fragen. »Danke!«, sagte sie laut zur Zimmerdecke, warf sich auf den Dielenboden und begann mit ihrem täglichen Sechzig-Liegestützen-Set.

»Dein Toast ist gleich fertig.« Alles war morgendliche Routine. Herrlich. Sie kannte die Worte, die Sätze, die Geräusche. Keine unliebsamen Überraschungen, nur wunderbare Gewohnheit. Tilly schmierte Stullen für ihren Sohn, der einen Berg Schokostreusel auf sein Brot häufte, das Radio lief leise, und es war gemütlich warm in der Küche.

Susanne stand mit ihrer Kaffeetasse am Fenster und blickte in den Hinterhof. Wenn es nicht bewölkt war, bekam er ordentlich Morgensonne ab, doch es regnete immer noch aus einem dunkelgrauen Himmel. Die Platane nahe der Brandmauer zeigte noch kein einziges Blättchen, ihr Stamm war fleckig, ihre Äste kahl und schwarz von der Nässe. Die kleine Birke, die die Nachbarn gepflanzt hatten, sah ziemlich zerzaust aus. Wahrscheinlich war das spillerige Ding gar nicht angewachsen. Der restliche Hof war vollgestellt mit zwei Containern, auf deren flachen Dächern Dreck und Herbstlaub der letzten Jahre zu einem festen Belag gebacken waren. Gras und sogar kleine Ahornbäumchen sprossen daraus hervor. Ein kleiner Garten, dachte Susanne, ganz von alleine entstanden. Vor den begehbaren Containern lagerten die weniger wertvollen Möbel, ordentlich mit Planen abgedeckt.

Bäume und Gärten waren überschätzt, das da unten war eine Landschaft, die ihr Freude bereitete! Sie hatte dort viele Schätze aufbewahrt, die sie nach und nach bergen konnte. Ab und zu tischlerte sie mal ein großes Stück, so wie den Esstisch für die Kempers. Ansonsten restaurierte und verkaufte sie alte Möbel gerade so, wie es ihr passte.

Das ist doch keine geregelte Arbeit, dafür hast du jetzt die Tischlerlehre gemacht?

Obwohl sie schon jahrelang dagegen ankämpfte, hörte sich ihre innere Stimme wie die ihrer Adoptivmutter an. Sie musste dann schnell dagegenhalten, sonst verdarben die hässlichen Kommentare ihr den ganzen Tag.

Doch! Das ist eine tolle geregelt Arbeit, weil ich sie nämlich regelmäßig mache und damit sehr gutes Geld verdiene! Ende der Diskussion!

Manchmal brachte Dieter etwas aus Haushaltsauflösungen vorbei. Er wusste, was sie mochte, und weil er schon seit Jahren in sie verliebt war, überließ er ihr das meiste zu einem Spottpreis. Alte Schränke, Tische und Stühle. Stühle! Leider liebte Susanne den rundlichen Dieter und seinen grauen Walrossschnauzbart nicht so, wie er sich das seit Langem erhoffte. Sie behandelte ihn eher wie ein zugelaufenes Haustier, das man nach all den Jahren nicht mehr hergeben möchte, dafür schlug ihr Herz umso mehr für alte Holzstühle. Mindestens achtzig davon, ganz normale Küchen- oder Esszimmerstühle, wackelig, die meisten ohne Polster, waren in den Tiefen ihrer nach Sägespänen duftenden Werkstatt gestapelt. Die Armee der verlorenen Stühle, nannte sie sie. Eines Tages würde sie die Armee zum Leben erwecken.

»Mach hinne Lennart, ihr müsst gleich los!« Tilly trat hinter Susanne und packte sie sanft aber bestimmt an den Schultern. »Und du setz dich endlich, dein Toast wird kalt.«

Nachdem sie gegessen hatte, schaltete Susanne ihr Handy ein, das sofort klingelt. Dieter. »Guten Morgen, du leckerMädschen, ich hab da mal was für dich!«

»Schieß los!« Susanne grinste und machte Lennart ein Zeichen, schon mal aufzustehen und seine Sachen zusammenzusuchen. Sie wollte ihn pünktlich abliefern.

»Tolle Sache, altes Ladenlokal, Auflösung, spottbillig.«

»Bring mir was Schönes mit, Dieter! Du weißt, was ich mag.«

»Andere Frage: Wann gehst du mit mir ahle Mann denn endlich mal essen?«

Susanne runzelte die Stirn. Was waren denn das für neue Töne? Sie ging nicht essen. Was sollte das? Extra etwas bezahlen für Speisen, die nicht besser schmeckten als zu Hause? Und sie wollte Dieter nicht. Nicht als Freund. Also ihren Freund. Sie war jetzt über fünfzig und hatte sich ihre Welt und ihren Tagesablauf wunderbar eingerichtet. Ihr fehlte nichts! Und es gab überhaupt keinen Grund, sich das Leben mit einem Mann zu versauen. O nein, sie hatte wirklich anderes zu tun!

»Ich guck mal, was du anschleppst, und entscheide dann, okay?« Sie zuckte mit den Schultern. Immer wieder gelang es ihr, ihn irgendwie hinzuhalten.

»Darum rufe ich an. Ich kann heute nicht fahren, Bremsen sind durch, muss zuerst in die Werkstatt und wollte dich bitten …! Sonst wird das zu spät, denn heut Mittag um zwölf ist sicher alles weg. Is ne einmalige Gelegenheit! Ich hab das Vorkaufsrecht.«

»Wo?«

»Bergisches Land.«

Susanne schwieg.

»Ich weiß, da fährst du nicht hin, aber Windhagen ist doch in Ordnung.« Seine Stimme klang beruhigend.

Ja, Windhagen war in Ordnung. Trotzdem. Sie fuhr eben nicht gerne aus Köln heraus. Ganz egal in welche Richtung. Sie seufzte und schaute wieder hinaus in den strömenden Regen, während in Tillys Flur schon zum dritten Mal durchdringend das alte grüne Telefon klingelte. Konnte da nicht mal jemand rangehen? Aber möglichst nicht Lennart.

»Schlechte Nachrichten«, sagte Tilly zu Susanne, als Dieter aufgelegt hatte und lehnte sich an den Türrahmen. »Lennis Werkstatt bleibt heute und die ganze Woche geschlossen. Mäusebefall und anderes Ungeziefer, und zwar in allen drei Räumen!«

»O je! So dreckig kam es mir dort gar nicht vor. Und nun?«

»Muss der Kammerjäger erst mal alles ausräuchern.«

»Will. Hier. Bleiben!« Lenni quetschte sich an seiner Mutter vorbei und rannte über den Flur in sein Zimmer. Man hörte eine Tür knallen.

»Kannst du Lennart vielleicht mitnehmen? Ich muss doch um elf zur Kardiologin. Und danach zum Notar.«

Susanne nickte. Offizielle Termine waren mit Lenni leider etwas schwierig und würden es auch immer bleiben. Sie ging über den Flur und klopfte an die Zimmertür.

»Tatüü, tatütataa«, erklang es dahinter. Susanne drückte die Klinke hinunter.

»Alles ist voller Mäuse!«, rief Lennart. »Ich kann zu Hause bleiben! Kann ich auch eine Maus haben? Eine süße Maus?«

»Nein.«

»Will aber eine Maus. Eine kleine, weiche!« Lennart stand auf alles, was klein war und was er mit seinen großen Händen streicheln konnte.

»Mäuse sind toll! Aber du darfst mir heute helfen. Wir arbeiten zusammen und holen Möbel. Du bist doch mein bester Helfer!«

»Aber ich mag eine Maus haben oder die Kinderstunde sehen!«

»Wenn wir jetzt losfahren, sind wir zur Kinderstunde wieder zu Hause, Lenni!« Susanne warf den Autoschlüssel in die Luft und fing ihn wieder auf. Wer wusste noch, was eine Kinderstunde war? Die Singlemütter im Haus, deren fünfjährige Kinder Tablets und Smartphones besser bedienen konnten als sie, garantiert nicht mehr. Bei Tilly gab es noch den guten alten Videorekorder und Kommodenschubladen voll klobiger schwarzer Kassetten.

»Jetzt die Kinderstunde. Mit Urmel.«

»Aber du magst es doch auch, wenn du mir mit den Möbeln helfen darfst.«

»Ja! Dir helfe ich. Und Mama helfe ich auch!« Lennart strahlte. »Und den Mäusen auch!«

Susanne seufzte. Den Mäusen würde wohl eher nicht mehr zu helfen sein. Sie sah in sein Gesicht, das trotz seiner fünfunddreißig Jahre sehr jungenhaft war. Mit den hellblauen Augen und dem schön geschwungenen Mund zog er oft die interessierten Blicke von Frauen und jungen Mädchen auf sich. Und seit Alfredo vor ein paar Wochen auf die Idee gekommen war, ihm einen hippen Kurzhaarschnitt zu verpassen, auch Blicke von Männern. Susanne verdrehte die Augen. Na klar, sie lebten ja schließlich in Köln. Hier war fast jeder zweite gut aussehende Mann homosexuell; für Frauen blieb da kaum etwas übrig. Und für die in ihrem Alter schon gar nicht. Außer ein Dieter.

»Der nervt mich, der Dieter«, sagte sie mehr zu sich selbst. »Nimm deine Brote und die Tasche mit, Lenni, wir fahren weit weg! Wir machen eine Abenteuerreise so wie Urmel.«

Bevor Susanne in den Transporter stieg, um damit vom Hof zu fahren, glitt ihr Blick an der Fassade des Hinterhauses hinauf. Dort oben im zweiten Stock waren ihr Schlafzimmerfenster und das Küchenfenster. Unter ihr lebte Tilly. In den sechs anderen Wohnungen wohnten ausschließlich Singlemütter mit ihren Singlekindern. Matilde Neubauer, genannt Tilly, hatte ein Herz für alleinstehende Mütter. Dann gab es noch ein schwules Pärchen, das jeder nur die Floristen nannte. (Die Idee mit der Birke kam von ihnen, jede Wette.)

Die Mütter und besonders die Floristen hatten sich schon manchmal zaghaft beschwert, ob man den schönen hellen Hof nicht zu einem anderen Zweck nutzen konnte als der Erweiterung von Susannes chaotischer Werkstatt und Abstellplatz alter Möbel. Susanne lächelte. Es war wirklich ganz reizend gewesen. Das Komitee hatte sich die Schuhe ausgezogen, bevor es in Tillys Wohnung eingefallen war, und sogar einen ganz besonderen Kuchen für die fünfundsiebzigjährige Vermieterin mitgebracht, weil sie wussten, dass sie damals in den Siebzigern unten im Haus eine Teestube geführt hatte. Doch das war unnötig gewesen. Das Haus in der Kasparstraße Nummer drei gehörte der alten Tilly, und diese alte Tilly hatte sich nun mal Susanne ausgesucht, um mit ihr darin zu leben und es zusammen mit ihr zu verwalten. Also auch die Werkstatt und den Hof. Chaotisch? Sie hatten wirklich chaotisch gesagt. Susanne betrachtete ihre schwieligen Handflächen und dann die kurzen, sauberen Fingernägel. Es traf sie nicht besonders, sie wusste, dass sie jederzeit in ihrer speziellen Ordnung alles wiederfand, was sie finden wollte. Es hatte lange gedauert, aber irgendwann hatte sie ihr Leben in ihre eigenen starken Hände genommen. Und niemand konnte sie dazu bewegen, es jemals wieder herzugeben.

Sie schwang sich in den Fiat Ducato, fuhr durch die efeubewachsene Hofeinfahrt, hielt zwei Meter weiter in der verkehrsberuhigten Zone und stieg aus. Es hatte tatsächlich aufgehört zu regnen. »Also auf geht’s!« Susanne winkte Tilly zu, die in der Tür des 7. Trödelhimmel stand. Die ehemalige Teestube war bis zur Decke mit Kleinkram gefüllt. Eine Ansammlung von alten Kaffeekannen, Sammeltassen, Blechdosen und Zelluloidpuppen in gehäkelten Kleidchen. Auch an diesem frühen Morgen würde Tilly in aller Ruhe die Kaffeemaschine in der kleinen Küche des Ladens anwerfen und sich zwischen ihre Sachen setzen, die teilweise noch in den Kisten herumstanden, die Dieter ihr mitbrachte. Tilly würde ein bisschen auspacken, ein bisschen sortieren und abstauben, ein bisschen dekorieren, Kreuzworträtsel lösen und auf Kundschaft warten, mit denen sie plaudern konnte, bevor sie dann das »Geschlossen«-Schild an die Tür hängte und zu ihrem Arzttermin aufbrach.

Im letzten Monat hatte der Umsatz des Ladens exakt fünfundachtzig Euro betragen. Susanne wusste das, denn sie machte die Buchführung für Tilly. Es war egal, die Miete aus dem Haus brachte genug ein. Außerdem war ihr Tilly Freundin und Gesprächspartnerin zugleich.

Eine Ersatzmutter, das war sie. Ja, und zwar die beste! Was man nicht hat, muss man sich eben suchen.

Im Moment ruhten die kleinen, etwas trüben Augen der besten Ersatzmutter auf ihrem Sohn Lennart. Er stand vorn an der Ecke und redete mit einer jungen Frau, deren Hund gerade im Begriff war, sein Geschäft zu verrichten. Susanne stieß die feuchte, regennasse Luft aus ihrer Lunge. Für Anfang April war es noch sehr kalt. Jetzt musste sie Lennart nur noch dazu bewegen, in den Lieferwagen zu steigen.

Lennart trug eine moderne Jeans, einen dünnen schwarzen Rollkragenpullover und eine ziemlich coole Lederjacke. Man muss es ihm ja nicht gleich von Weitem ansehen, sagte Tilly, wenn sie mal wieder mit neuen Sachen für ihn aus der Stadt zurückkam. Doch Lennarts angesagtes Äußeres wurde in diesem Augenblick von seiner Lieblingsumhängetasche gebrochen: gelb, mit einem blauen Känguru darauf, deren Lederriemen er sich umständlich quer über die Brust hängte. Susanne lächelte, während sie sich ihm näherte, und hörte gerade noch den letzten Satz der jungen Frau, die die Plastiktüte für die Hinterlassenschaften des Hundes schon parat hielt: »Ach, wie süß! Ist das die Kindergartentasche von Ihrem Kind? Tochter oder Sohn?« Susanne schnaubte leise durch die Nase, denn sie wusste, was jetzt kam.

»Nein! Ich bin doch kein Papa«, antwortete Lennart. »Denn weißt du, ich bin ein Idiot. Ein I-di-ot! Der sich nichts merken kann!«

»Ach, so ist das.« Die Hundebesitzerin lächelte, kein bisschen verlegen. »Aber ein sehr netter Idiot jedenfalls.«

»Ja. Und ich mag dich, denn du lügst nicht!«

Susanne presste die Lippen zusammen und verkniff sich ein Lachen. Auch wenn Lennart sein Styling nicht mit der Kindergartentasche ruinierte; seine ersten Sätze verrieten immer, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Er war auf dem geistigen Stand eines Vierjährigen. An guten Tagen auf dem eines Viereinhalbjährigen, der einem den letzten Nerv rauben, aber auch sehr charmant sein konnte. Lennart war kein Idiot. Er verstand ganz andere Dinge als normale Menschen. Er spürte, was sie dachten und welche Intentionen sie wirklich hatten. Oft lange bevor diese selbst etwas ahnten. Er gab einen grandiosen Lügendetektor ab.

»Komm Lenni, wir dürfen losfahren!« In einen weiteren Tag ohne große Veränderungen, ganz wie ich es mag, dachte sie.

3

»Ja, aber hallo! Wo ist denn hier der nächste Flugplatz?«

Francesca lächelte, weil sie wusste, dass man ihr Gesicht beobachtete, sie schloss das Auto mit einem satten Pfeifton ab und wandte sich um.

Es war schlau gewesen, die Uniform anzubehalten. Sie glättete mit der flachen Hand ihren runden Haarknoten, zudem ihre kupferroten Locken immer noch zusammengebunden waren. Ihre Berufsfrisur, das Make-up und die dunkelblaue Uniform machten sie nicht nur zu einer kompetenten, unangreifbaren Person, sie gaben ihr auch noch eine perfekte Tarnung.

»Haben Sie denn ’ne Landeerlaubnis?«

Der Mann rief den letzten Satz so laut, dass die ganze Straße ihn hören konnte.

»Die ist im Gehalt mit drin«, gab sie zurück.

Allgemeines Gelächter. Sofort blieben noch mehr Passanten stehen und sahen sie erwartungsvoll an, bevor sie sich dann wieder mit gesenkten Köpfen den durchweichten Kartons zuwandten, die zwischen Brettern und Müllsäcken am Straßenrand standen. Typisch. Im Bergischen Land hatten die Leute nichts zu tun und bevölkerten schon am frühen Vormittag die Bürgersteige.

Francesca verspürte einen unbändigen Drang, ihren Taschenspiegel zu zücken und ihr Gesicht zu kontrollieren, doch sie hatte sich gerade erst im Auto die Lippen nachgezogen, und für eine Doppelkontrolle war es jetzt zu spät. Stattdessen zupfte sie an dem gelben Halstuch ihrer Uniform und bahnte sich nach rechts und links schauend, als ob sie durch den Mittelgang schritt, einen Weg durch die Menschen. Sie nahm den angeklipsten Airline-Ausweis vom Revers und steckte ihn in ihre Jackentasche. Nur eine Vorsichtsmaßnahme: Niemand sollte ihren Namen lesen können, obwohl sie längst nicht mehr ihren Familiennamen trug. Ich habe noch nie eine Braut gesehen, die ihren neuen Namen gleich so geübt, schwungvoll und überglücklich aufs Papier bringt, hatte der Standesbeamte gesagt, als sie die Urkunde mit »Adler« unterschrieb. Der Adler gab mir Flügel, die ich im Paradiso nicht hatte, dachte sie.

Während sie neugierig betrachtet wurde, schenkte sie den Bewohnern von Windhagen ihr tausendfach erprobtes Stewardessenlächeln. Doch innerlich schüttelte sie den Kopf. Was tat sie hier? Sie war zurückgekehrt, eine Tatsache die sie bereute, seit sie auf dem Flughafen Münster-Osnabrück gelandet war.

Wenigstens war es klug gewesen, sich gleich bis dorthin durchchecken zu lassen. Sonst hätte Tim vielleicht nachgefragt, wohin sie nach der Rückkehr sofort wieder aufbrach. Er fuhr heute Mittag zu Emilia nach Berlin, sie würden sich knapp verpassen. Tim, ach Tim. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, dass sie etwas heimlich, ohne sein Wissen tun könnte. Manchmal hasste sie ihn regelrecht für seine Gutgläubigkeit. Und dann wiederum liebte sie ihn heiß und innig für sein gradliniges Wesen. Bei ihm gab es keine unschlüssigen Entscheidungen, nur JA, oder NEIN. Und er hatte sich für sie entschieden. Und somit gerettet.

Ob man mich erkennt? Bestimmt nicht, gab sie sich sofort die Antwort. Als ich wegging, wog ich gut vierzig Kilo mehr.

»Aber … aber das sind ja Sie! Ich erkenne Sie an den roten Haaren!«

»Als kleines Mädchen waren Sie doch oft hier!«

Oft? Das war deutlich untertrieben, sie war in dieser Eisdiele aufgewachsen, und da drüben, quer über der Straße, hatten sie gewohnt. Francescas Blick schweifte von der Häuserreihe zurück auf die Fassade des ehemaligen Eiscafés. Es hatte dort immer schon zwei Türen gegeben, von der die linke nie genutzt wurde. Beide Schaufenster waren immer blank geputzt gewesen, doch nun waren sie dreckig und voller Klebestreifen. Die Passanten, die sich mittlerweile um sie versammelt hatten, sahen sie neugierig an.

»Sagen Sie jetzt nicht, Sie machen den Eisladen wieder auf?« Ein paar bewundernde Blicke streiften sie.

»Sie eröffnen wieder?!«

»Aber, das wäre ja großartig!«

»Leider nicht! Ich kümmere mich nur noch um ein paar Sachen, die hier eingelagert sind.«

»Sie waren doch … Sie sind doch die Tochter!«

Waren! Sagen Sie ruhig waren die Tochter, dachte sie und zog ihre Mundwinkel gewaltsam nach oben.

»Wie schade, Sie öffnen nicht mehr? Das Paradiso war doch die allererste Eisdiele von Windhagen!«

»Das Paradiso war das Paradies meiner Kindheit!« Allgemeines, zustimmendes Gelächter.

»Ich bin damals mit meinen Eltern gekommen, da hat die Kugel Eis noch zehn Pfennig gekostet.«

»Zehn Pfennig! Und später lange Zeit zwanzig.«

»Und es gab nur wenige Sorten.«

Wenig? Nun ja, weniger als heute. Francescas Gehirn rasselte die Eissorten in der Reihenfolge herunter, in der sie in der Vitrine angeboten wurden: Erdbeere, Zitrone, Ananas, Aprikose, Banane, Mokka, Malaga, Haselnuss, Schokolade, Vanille – basta.

Sie konnte es noch, zögernd drückte sie gegen die gläserne Tür, ob der Verwalter schon da war? Sie ging tatsächlich auf, doch dann hielt sie einen Augenblick inne. Sogar den Türgriff in Form einer Waffeltüte gab es noch. Sie stieß die Tür ganz auf, die Menschen vom Bürgersteig ließen von den Kartons ab. »Oh, dürfen wir mal gucken?«, drängten sie neugierig hinter ihr in den leeren Verkaufsraum und schauten sich enttäuscht um: »Das war dolce vita für uns damals und etwas ganz Besonderes, ein kleiner Urlaub!«

Francesca tat einige Schritte in den leeren Raum, der Dreck knirschte unter ihren Absätzen, und es hallte. Alles war viel kleiner als in ihrer Erinnerung. Immerhin war der alte Verkaufstresen noch da, geschwungen wie ein halbes Herz, allerdings durch einen furchtbaren Anstrich in Altrosa verunstaltet. Der Verwalter kam wie ein Stehaufmännchen dahinter hervor. »Guten Morgen, Sie müssen Frau Adler sein. Spielmeyer.«

»Wie schön!« Ihre Stimme hatte diesen enthusiastischen Klang, mit dem sie mühelos das Vertrauen und die Sympathie von Kindern, Männern, Frauen und sogar Tieren gewann. Nach einer Millisekunde des Zögerns nahm sie seine ausgestreckte Hand. Jemand, den sie verabscheute, hatte genauso behaarte Handrücken wie er gehabt. Beruhige dich, sagte sie sich, dafür kann der Herr Spielmeyer nun wirklich nichts.

Der Herr Spielmeyer hatte offenbar einen der Kartons vom Dachboden geholt und den Tresen mit fünf metallenen Eisbechern dekoriert. Nette Idee, doch für sie sah es nur trostlos aus. Sie befreite ihre Hand und griff stattdessen nach einem der Becher.

»Ich finde die so schön«, sagte der Verwalter. Aus seinem Hemd quoll die Brustbehaarung, er sah aus wie ein Bär, den man in einen billigen Anzug gesteckt hatte. »Erinnern mich an meine Kindheit.«

Francesca nickte und starrte auf das kleine Gefäß. Wie oft in ihrem Leben hatte sie allein dieses Exemplar wohl aus dem Regal genommen, mit Eiskugeln befüllt und dann wieder abgewaschen, abgetrocknet, eingeräumt? Tausendmal? Zweitausendmal? Sie lächelte Herrn Spielmeyer an, doch sie musste an sich halten, um das Ding nicht an die nächste Wand zu pfeffern.

Dort vorne, wo damals Tisch Zwei gestanden hatte, hatte sie oft gesessen und ihre Schularbeiten machen sollen. Aber sie war ja gerade aus Italien gekommen und hatte nichts verstanden. Also hatte sie lieber die Flaschen von den Tischen eingesammelt, daran erinnerte sie sich noch. Später hatte sie geputzt und abgewaschen und im Sommer im laboratorio geschuftet, wo die großen metallenen Zylinder mit dem Eis befüllt wurden. Ein Zylinder mit zwei Sorten, rechts Schokolade, links Vanille, Erdbeere, Zitrone … Das machte ihr Vater, und nur er, denn die Eismaschine hatte ihre Macken und war nicht einfach zu bedienen. Aber helfen hatte sie auch dabei müssen. Obst waschen und putzen, ganze Stiegen voller Zitronen, Erdbeeren, Aprikosen. Die Eier zu trennen war am widerlichsten gewesen, vor dem Eiklar hatte sie sich so unendlich geekelt.

»Alles in Ordnung, Frau Adler?«

»Ja, ich glaube schon. Nur ein bisschen Jetlag, wissen Sie.« Nichts war in Ordnung. Hatte sie wirklich geglaubt, ihre Eltern an diesem Ort ausblenden zu können, wenn sie sich nur genug Mühe gab?

»Der erste Händler kommt um zehn. Der zweite hat leider eben abgesagt.«

»Wissen Sie, ob der bar bezahlen wird?«

Er schaute sie etwas abfällig an, oder bildete sie sich das nur ein? »Händler haben meistens Bargeld dabei. Wie viel, ist fraglich.«

Sie trommelte ungeduldig auf die marmorne Platte des Tresens, strich dann aber darüber, als sie seinen Blick auf ihre manikürten Finger bemerkte. Mensch Francesca, du hast dir geschworen, nie mehr zurückzukehren, und nun stehst du doch wieder hier! Sie seufzte.

Es wäre auch anders gegangen, der Verwalter hatte ihr angeboten, sich um alles zu kümmern. Allerdings hatte er ihr das gesamte Lager für eine sehr geringe Summe abkaufen wollen. Hätte sie dem doch einfach zugestimmt. Selber schuld, Francesca!, schimpfte sie mit sich. Nur dein heillos überzogenes Konto zwingt dich, dich um die Räumung des Möbellagers und damit um die Belange deiner Eltern zu kümmern. Wenn sie dich hier sehen könnten, würden sie ausrasten.

Ausrasten, aber vor Glück, wollte offenbar auch der dicke Mann von der Straße, der unbefangen hinter ihr durch den Raum lief. »Den Besitzer von der Videothek, die hier nach Ihnen drin war, bevor dann die Boutique kam, konnte ich nie leiden. Nee, watt guckte der grimmig. Da war ihr Herr Vater doch anders! Immer lustig, immer fröhlich! Mein Gott, waren das wunderbare Zeiten …«

Ja, mein Vater. Francesca nickte voller Verständnis, doch dann wandte sie sich ab und rollte mit den Augen. Für euch war er der lustige Italiener, der jeden mit seinem falschen Deutsch begrüßte und immer einen netten Spruch bereithielt. »Signori, che bella famiglia, sinde Sie wiede da?«, schallte seine Stimme durch ihren Kopf. Er sprach viel besser Deutsch, doch er wollte die Leute nicht enttäuschen. Immer freundlich, hatte er sich in seiner weißen Jacke sehr würdevoll bewegt, beinahe elegant, nie unterwürfig, aber auch nie überheblich. Francesca biss die Zähne zusammen. Niemand außer Mama und ihr hatte das wahre Wesen ihres Vaters gekannt. Niemand hatte die Traurigkeit gespürt, die abends in der kleinen Wohnung zutage trat. Niemand hatte seine Wortlosigkeit vernommen. Niemand gesehen, wie sein Lächeln verschwand, sobald er sich unbeobachtet glaubte.

»Hier standen die Tische, und da an der Wand waren die Bänke aus diesem roten Kunstlederzeug. Ich erinnere mich genau!«, unterbrach jemand ihre quälenden Gedanken.

Nein, die standen weiter hinten und waren übrigens aus echtem Leder, wollte sie berichtigen, doch dann winkte sie ab. Sie fühlte sich plötzlich schwach, und das lag nicht daran, dass sie seit dreißig Stunden auf den Beinen war. Sie wollte sich umdrehen, aus dem Laden laufen, zurück zu ihrem Mietwagen, und auf der Überholspur die Autobahn bis nach Frankfurt durchrasen. Sie fuhr immer äußerst sportlich, schnelles Fahren machte sie wach und klar, und war fast so gut wie Shoppen. Deswegen hatte sie es am Münsteraner Flughafen auch nicht geschafft, einen günstigen Kleinwagen zu mieten, sondern den großen BMW für das Doppelte des Preises. Denn sie war wieder da gewesen, diese Stimme, die ihr mit leichter Empörung einflüsterte: »Du hast es dir verdient!« Und das bei ihrem Kontostand! Sie musste diesen Verkauf jetzt ganz schnell über die Bühne bringen.

»Nehmen Sie sich aus dem Karton, was Sie wollen«, sagte sie zu den andächtig umherstehenden Leuten und zeigte ihnen das warme Lächeln, das sie auch zu »chicken or beef?« und »Tee oder Kaffee?« für ihre Passagiere in der Luft bereithielt. »Das sind doch vielleicht schöne Erinnerungen an früher!«

»Oh, Sie sind ja wunderbar, meine Dame!« Höchst erfreut machte man sich hinter ihr über die flache Kiste her.

Francesca knetete unauffällig die Stelle über ihrer Nasenwurzel. Nach über fünfundzwanzig Dienstjahren kannte sie die Menschen recht gut. Jede Nation hatte ihre ganz eigenen Ticks und Vorlieben: kochend heißer Tee für die Inder, Instant Cup Noodles für die Asiaten, ein oder besser noch zwei Päckchen Zucker in die Milchfläschchen der arabischen Babys. Sie genoss die Unterschiede immer wieder, doch eine Sache war auffällig: Jeder freute sich, wenn er etwas umsonst bekam, und sei es nur einen Kugelschreiber mit dem Kranich-Logo.

Wieder seufzte sie unhörbar. Seit über einem Vierteljahrhundert hatte sie den Kontakt zu ihren Eltern gekappt. Luciano und Tiziana hatten keine Tochter mehr, was umso grausamer erscheinen musste, da sie ein Einzelkind war. Also gab es für die beiden auch keinen Schwiegersohn und erst recht keine Enkelin. Strafe musste sein.

4

»Lennart. Kommst du? Wir dürfen jetzt losfahren«, wiederholte Susanne und wählte wieder ganz bewusst das Verb dürfen statt müssen, denn das hörte sich für ihn an wie eine Belohnung.

»Ich muss arbeiten«, sagte er daraufhin zu der jungen Frau mit dem Hund und sah ihr treuherzig in die Augen. »Und dein Hund hat in das Beet gemacht.«

Susanne schaute auf ihre altmodische Armbanduhr, während sie den Wagen langsam durch die Straßen des Viertels lenkte. Bis ins Bergische Land würde es bei dem morgendlichen Verkehr mindestens eine halbe Stunde dauern. Aber sie wollte pünktlich sein. Dieter hatte etwas von einem Laden erzählt, der aufgelöst würde. Vielleicht gab es schöne alte Vitrinen oder einen altmodischen Verkaufstresen? Leute, die heutzutage eine neue Boutique aufmachten, stellten sich so etwas gerne als Blickfang hinein. Auch Tische und Stühle aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren ließen sich ohne großen Aufwand gewinnbringend verkaufen. In Susannes Bauch kribbelte es, wie immer, wenn sie auch nur in die Nähe ihres alten Heimatdörfchens fuhr. Also vermied sie es, wenn es irgendwie ging. Heimat? Von wegen. In Bensdorf hatte sie sich nie zu Hause gefühlt.

»Ich musste da weg«, sagte sie zu Lennart, der an den Knöpfen des Radios drehte, während sie im Stop-and-go-Verkehr über die Zoobrücke rollten. »In Köln war ich endlich frei!«

»Endlich frei!«, wiederholte Lennart ihren Satz.

»Gut, dass ich euch gefunden habe.«

»Wir sind ja deine Familie!«

»Ihr seid meine Familie«, bestätigte Susanne.

»Du hast uns andaptiert!«

»Adoptiert, genau. Ich euch und ihr mich.« Sie klopfte auf Lennarts Bein.

»O nein! Nein, nein! Beide Hände an das Lenkrad, sagt Mama!«

»Ist ja gut, Lenni. Guck, ich fahre schon wieder ganz richtig.«

Nach langen Jahren der Kinderlosigkeit war Lennart eines Tages völlig unverhofft im Leben von Tilly und ihrem Mann Gustav gelandet. Tilly war damals schon über vierzig gewesen und dachte monatelang, sie hätte Verstopfung, dabei war es nur eine ganz normale Schwangerschaft. Während der Geburt im Jahr 1983 hatte man sie stundenlang ohne Überwachung der Herztöne allein gelassen, dennoch schien alles gut gegangen zu sein. Lennart war ein bildhübsches, ruhiges Baby. Nach dem Einschulungstest eröffnete man der empörten Tilly, er habe einen IQ von unter achtzig und wäre geistig zurückgeblieben, ob sie das denn nie bemerkt hätte. Susanne warf Lennart einen zärtlichen Seitenblick zu. Heute hieß das Intelligenzminderung oder Minderbegabung, doch manche Leute bezeichneten ihn immer noch als einen Idioten.

Susanne gab Gas. Die A4 war an diesem trüben Aprilmorgen überraschend leer. Manche Leute hielten Lennart für ihren Freund, wenn sie gemeinsam unterwegs waren. Oder sogar für ihren Sohn. Susanne lachte auf. Mein Gott, er war fünfunddreißig, da müsste sie ihn ja mit achtzehn bekommen haben! Außerdem sah sie doch gar nicht aus wie zweiundfünfzig …

Sah sie aus wie zweiundfünfzig? Sie streckte sich, schob die Baskenmütze aus der Stirn und betrachtete sich im Rückspiegel. Ihre kurzen schwarzen Haare hatte Alfredo erst gestern wieder in Form gebracht. »Kein einziges graues Haar, Schätzelein! Du siehst aus wie die Hepburn in jungen Jahren, aber das weißt du auch.«

Susanne schüttelte den Kopf und starrte auf ihr Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte. Ihre dunklen Augen waren ziemlich groß, doch sie schminkte sie nicht. Sie schminkte sich nie, Audrey Hepburn hin oder her. Ihre Augenbrauen waren gerade dunkle Balken in ihrem sonst eher blassen Gesicht. Um die Augen bildeten sich schon ziemlich viele Fältchen, wenn sie lachte und die halbmondförmigen Schatten darunter wurden auch immer dunkler. Alfredo war ihr Friseur – er musste ihr so etwas sagen. Egal. Sie mochte ihren breiten Mund und die kleine Nase, doch was sagte das schon über sie aus? Dirk hatte mal behauptet, sie wäre eine Naturschönheit. Kurz darauf war er mit seiner Physiotherapeutin zusammen. »Sie ist einfach das, was ich brauche. Viel lockerer. Und sie geht gern auf Reisen. Ist nicht so ein Stubenhocker, wie du.«

Es reichte eben nicht, wie sie war, sie konnte sich zwar anstrengen, aber es gab immer noch eine bessere Wahl. Und was war mit Dirk? Acht Jahre Beziehung, war das nichts? Hatte es nach Dirk noch Männer von irgendwelcher Bedeutung in ihrem Leben gegeben? Eben nicht! Nein, und das war auch gut so. Denen konnte man sowieso nicht vertrauen. Außer dem hier neben ihr.

Susanne grinste zu Lennart herüber und zwang sich, den Dialog in ihrem Kopf zu beenden. Verdammte Stimme, verdammte Adoptivmutter. Wie sollte sie die bloß loswerden?

»Warum andaptiert man sich?« Lennart hielt seine übergroße Latzhose auf dem Schoß, die er trug, wenn er ihr in der Werkstatt oder bei Möbeltransporten half.

»Man adoptiert jemanden, weil man ganz viel Liebe übrig hat, die man verschenken will.« So sollte es zumindest sein, dachte sie und atmete tief ein, während sie das Bild ihrer Adoptiveltern auf ein winziges Schwarz-Weiß-Format zusammenschnurren ließ und ganz hinten in ihren Kopf verbannte. Zwei einfache Tricks ihres Psychotherapeuten aus einer früheren Therapie. Aber nicht die Tricks hatten sie gerettet, sondern ihr zufälliges Zusammentreffen mit Tilly und ganz besonders natürlich Lennart.

Heimlich, damit Lennart nicht merkte, dass sie wieder nur mit einer Hand lenkte, betastete sie erneut die Muskeln an ihrem rechten Oberarm.

In ihrem Job als Tischlerin hatte sich ihr ehemals zarter Körper in ein zähes Kraftpaket verwandelt. Mit ihren ein Meter sechzig war sie zunächst von den Tischlerlehrlingen aus der Berufsschule unterschätzt worden, doch das hatte sich schnell geändert. Susanne zog sich die Mütze wieder in die Stirn und rückte den Spiegel zurecht. Sie schaffte alles allein. Türen aushängen, Tische bauen, Schränke abholen, restaurieren, ausliefern. Man musste eben wissen, wie man mit schweren Lasten klarkam. Lennart dagegen hatte von Natur aus unheimlich viel Kraft, war sich dessen aber nicht bewusst. Sie musste ihn immer ermahnen, nicht zu fest zuzufassen. So manches zierliche Möbelstück war in seinen riesigen Händen schon zu Bruch gegangen.

Als die Abfahrt Gummersbach vor ihnen auftauchte, setzte Susanne den Blinker. An der nächsten T-Kreuzung ging es rechts nach Bensdorf. »Nein, nach rechts wollen wir ganz bestimmt nicht«, rief sie. Mit besonders viel Schwung fuhr sie in die Linkskurve, sodass Lennart neben ihr begeistert aufjauchzte. Seitdem sie mit achtzehn ein Zimmer im Lehrlingswohnheim der Tischlerinnung ergattert hatte, war sie nicht mehr bei ihren Eltern aufgetaucht. Den Kontakt völlig abzubrechen, war die beste Entscheidung ihres Lebens gewesen. Sie vermisste nichts!

5

Francesca presste die frisch nachgezogenen blutroten Lippen zusammen. Weder Tim noch ihrer Tochter Emilia hatte sie jemals etwas über das Eiscafé erzählt. Auch sonst wussten die beiden kaum etwas über ihre Vergangenheit. Eigentlich gar nichts. Ihr Handy klingelte. Tims markantes Gesicht erschien auf dem Display und lachte sie so vertrauensselig an, dass es schmerzte. Er würde niemals hinter ihr her spionieren, sie niemals kontrollieren! Francesca drückte den Anruf weg und fragte sich erneut, was sie hier eigentlich tat. Tim liebte sie. Er hatte sie ihre Vergangenheit vergessen lassen. Doch auch nach über neunzehn Ehejahren war sie nicht bereit, ihm die Wahrheit über sich zu erzählen. Sie hatten Emilia, ihre erstaunlich selbstständige Tochter, und teilten sich ihren Elternstolz. Ihre Wohnung war groß, gemütlich und so geschmackvoll eingerichtet, dass viele ihrer Freunde behaupteten, am liebsten gleich bei ihnen einziehen zu wollen. Sie war eine gute Köchin und Meisterin darin, große Essen zu geben, auch für Tims Arztkollegen, Tennispartner nebst Gattinnen.

Francesca steckte das Handy wieder in ihre Handtasche. Sie würde ihn später zurückrufen. Er machte manchmal Witze über ihre Liebhaber, die sie vermutlich überall auf der Welt verstreut hatte. Aber sie wollte keine Affäre. Sie wollte ihn als Mann! Er alleine gab ihr die Sicherheit, nicht alleine zu sein auf dieser Welt.

Doch nachdem sie ihre Fressattacken in den Griff bekommen hatte, gab es einen anderen Hunger in ihrem Leben zu stillen: die nie enden wollende Begierde nach Luxus! Sie wollte sich alles leisten können, was ihr Herz zum Klopfen brachte. Kleider, teures Make-up, Parfüm, Schuhe, schnelle Autos. Sie hatte es sich verdient.

»Dieses verdammte Verlangen, dieser ewige Drang danach, hat dir die Sache hier eingebrockt«, fluchte sie.

Sie stieß die Luft aus. Vor zwanzig Jahren waren ihre Eltern nach Italien zurückgegangen, doch das alte Interieur lagerte schon viel länger über dem ehemaligen Café im Dachgeschoss. Typisch ihr Vater! Luciano Paradiso hatte nie etwas verkaufen oder gar wegschmeißen können. Als er Mitte der Achtzigerjahre eine Menge Geld in neue hässliche Tische und braune Stühle mit wirrem Muster investierte, waren die alten Möbel nach oben gewandert. Sie selbst hatte sie geschleppt und mit den alten Laken aus der Aussteuer ihrer Mutter abgedeckt. Das Zeug stammte noch aus den Anfängen des Paradiso und musste einiges wert sein, wo doch heute jeder seine Wohnung mit Einzelstücken und individuellem Vintage-Kram einrichten wollte.

Noch immer gingen die Passanten in dem leeren Raum umher und schwelgten in ihren Erinnerungen: »Damals gab es auch noch viel kleinere Kugeln, die aber viel besser schmeckten …«

»Und geraucht werden durfte noch!«

»Und wir haben uns einfach verabredet: Um drei im Paradiso. Ganz ohne Handys.«

Genau. Und ich habe hinter dem Tresen gestanden, wenn ihr euch getroffen habt. Immer, dachte sie. Kein Baden im See, keine Radtour, kein Kino. Sie versuchte, ihre bitteren Gefühle hinunterzuschlucken und sich auf den bevorstehenden Verkauf zu konzentrieren.

Sicher wäre es besser, ohne den Verwalter mit den Händlern zu verhandeln – Feilschen hatte sie auf ihren Flugreisen in Nordafrikas Basaren und auf den Märkten Ostasiens gelernt, es machte ihr sogar Spaß. Leider hatte sie noch nicht sichten können, was alles vorhanden war, falls der Käufer ein Angebot für die gesamten Möbel abgeben wollte.

»Gehen Sie doch einen Kaffee trinken, Herr Spielmeyer, ich rufe Sie an, wenn wir hier durch sind«, sagte Francesca und berührte ihn leicht am Arm. Er schien das zu mögen, denn er lächelte sie an, als ob sie ihm ein Upgrade in die First angeboten hätte. Positive Energie brachte eben positive Energie zurück! Klappt überall, nur nicht, wenn es um meine italienische Familie geht, dachte sie, ohne ihre freundliche Miene zu verlieren.

»Ich habe noch ein wichtiges Telefonat«, sagte er, bevor er ging, »ich sitze gleich nebenan im Café Engels. Hier ist der Schlüssel zum Dachboden.«

»Leider muss ich Sie nun alle rausbitten, wir haben hier jetzt ein bisschen was zu tun!«, sagte Francesca und trieb die neugieren Besucher langsam auf die Tür zu, vor der in diesem Moment ein Transporter hielt: Holzarbeiten – Innenausbau – Möbelankauf WERNER. Das musste der Händler aus Köln sein. Francesca spürte, wie ihr Herz freudig losgaloppierte. Solche Leute hatten die Hosentaschen oft voller zusammengerollter Scheine. Wenn es gut lief, würde sie mit einigem Bargeld im Portemonnaie wieder nach Hause fahren und ihr Konto ausgleichen können. Und das Beste: Sie hatte nicht die Spur eines schlechten Gewissens. Das Eiscafé Paradiso war nun endlich an der Reihe, seine hohen Schulden an sie zu tilgen!

Zwei Männer stiegen aus. Einer von ihnen zog sich umständlich eine Arbeitslatzhose an. Ich mag Handwerker, dachte Francesca. »Guten Morgen! Adler, hatten Sie eine gute Fahrt von Köln?« Bevor sie weiteren Small Talk machen konnte, erhielt sie einen markigen Händedruck von der kleineren Person. »Tach. Werner mein Name. Ja, alles top!«

Meine Güte, Francesca musste an sich halten, um nicht zu grinsen, was war das denn für ein Gespann? Der Jüngere war ein auffallend gut aussehender Typ mit sanften Augen und tastete gerade an seiner Hose herum, als ob er etwas Wichtiges vergessen hätte, und der Ältere war eine als Schreiner verkleidete Frau. Unauffällig lugte Francesca noch einmal unter die schwarze Baskenmütze. Auch sie war ganz hübsch, bisschen trockene Haut unter den Augen, aber sonst … Eine gute Creme wäre in diesem Fall angebracht, vielleicht das Nachtserum von Lacroix. Das war zwar teuer, brachte dafür aber auch Ergebnisse.

»Kommen Sie! Ich erlaube mir mal vorauszugehen, hier entlang bitte.« Sie wies einladend auf die Tür, die zum Treppenhaus führte, als ob es dort in den VIP-Bereich ginge. »Ich bin heute auch zum ersten Mal seit Langem wieder hier, wir müssen uns da wohl alle zusammen erst einmal einen Überblick verschaffen«, sagte sie, während sie die beiden in die zweite Etage führte und von dort aus die engen Stufen zum Dachboden emporstieg. Hier oben hatte ihr Vater mal die dicke Beate Lichtenberg eingesperrt, die Francesca in der Schule ihre Rollschuhe über den Kopf gezogen hatte. Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte ihren Vater nie verstanden. Er war ihr gegenüber die meiste Zeit so verdammt gleichgültig und dann doch wieder für ein paar Minuten sehr fürsorglich gewesen.

»Wir wollen Möbel schleppen! Und ich bin ein Idiot!«

Francesca zuckte zusammen und drehte sich auf der Stufe um.

»Sorry, das hier ist Lennart«, sagte die kleine Tischlerin.

»Ja, ich bin Lennart! Guten Tag, guten Morgen, gute Nacht!« Er lachte und japste dabei wie eine Seerobbe.

»Er ist ein bisschen … Na ja! Er sagt immer, was er denkt«, sagte die Frau. Mit einer überraschend leichtfüßigen Bewegung sprang sie an ihm vorbei und stellte sich zwei Stufen über ihn, als ob sie ihn beschützen wollte. Francesca sah sich sein Gesicht genauer an. Er erinnerte sie an diesen Schauspieler, wie hieß der noch gleich?

»Ich sage immer alles! Und ich schleppe immer alles.« Er prustete los, sodass ihm der Speichel in kleinen Bläschen auf die Unterlippe sprudelte. Francesca lächelte. Sie hatte schon mit Tausenden unterschiedlichen Menschen zu tun gehabt, die sich in den Sitzreihen der Maschine niederließen. Mit Gesunden und Kranken, Dummen und Schlauen, mit magersüchtigen Französinnen und äußerst übergewichtigen Amerikanern, mit winzigen, wenige Wochen alten Säuglingen und hundertjährigen Navajo-Indianern. Viele von ihnen waren ihr nahegekommen, sehr nahe. Manche ihrer Kollegen und Kolleginnen klagten, dass es sie Überwindung kostete, freundlich zu bleiben, wenn man in fünfzehntausend Fuß Höhe den Spuckbeutel mit Erbrochenem eines Passagiers entgegennahm oder blutige Verbände in die Hand gedrückt bekam … Doch Francesca machten diese Dinge nichts aus – sie half gerne, und sie liebte ihren Job, sogar nach fünfundzwanzig Jahren noch. »Du glühst mal wieder vor Empathie«, sagte Katja gerne zu Francesca, wenn sie ihr von einem tragischen Schicksal oder einem bewegten Leben erzählte, welches das ihre während eines Fluges für ein paar Stunden gekreuzt hatte.

»Bist du eine Polizistin? Du hast was Blaues an, wie eine strenge Polizistin, aber keine Mütze. Wo ist deine Mütze?« Der Mann streckte seine Hand nach ihr aus, die von seiner stämmigen, kleinen Aufpasserin kommentarlos hinuntergedrückt wurde.

Dio! Unterschiedliche Menschen hin oder her, dieser hier war ziemlich … betreuungsintensiv. Respekt für die Tischlerin, die tatsächlich einen leichten Geruch nach Sägespänen ausströmte und sich seiner annahm. »Nein. Ich bin eine Flugbegleiterin.«

»Jetzt lass die Dame mal in Ruhe, Lennart!«

»Die Dame riecht lecker nach Pa-füüüm!«

Francesca musste lachen. Es versprach, ein sehr erfolgreicher Vormittag zu werden. Sie fummelte mit den Schlüsseln herum und stieß kurz darauf die Tür auf.

»So! Hier wären wir.«

Die Dachsparren waren niedrig, und es war dämmrig. Nicht zu glauben, die aufgestapelten Tische und Stühle waren noch immer mit den Laken aus der Aussteuerkiste ihrer Mutter verhüllt. Durch die Fensterluken in den Dachschindeln fielen Lichtkegel, die die weißen Täler und Berge in eine magische Landschaft verzauberten. Francesca knipste vergeblich an den beiden Lichtschaltern. Offenbar war der Strom hier oben abgestellt worden.

»Schauen Sie sich in Ruhe um.« Francesca bahnte sich einen Weg durch die Möbel in ihrem Dornröschenschlaf und nahm währenddessen das eine oder andere Laken ab. Unter einer Dachluke blieb sie stehen. Wer hätte das gedacht? Das Eiscafé Paradiso hielt auf seine alten Tage einen wahren Schatz für sie bereit. Die Möbel waren bestens erhalten. Dort drüben standen die hohen Glasvitrinen an der Wand, die sie nur allzu gut in Erinnerung hatte. Blitzeblank mussten sie sein, so wie die Schaufenster, mindestens einmal in der Woche hatte sie alles herausräumen, auswischen und wieder einräumen müssen. Sie waren nicht abgedeckt gewesen, und es wäre ganz sicher eine Höllenarbeit, sie nach über fünfundzwanzig Jahren wieder sauber zu bekommen.

»Sehen Sie die Vitrinen, vier Stück gibt es davon. Original aus den Sechzigern. Die sind besonders schön!«, sagte Francesca in den Raum, obwohl sie nicht wusste, ob die Tischlerin sie hören konnte. Sie deckte weitere Möbel ab und faltete die Leinentücher ordentlich zusammen. Jeweils drei der runden Tische hatten sie damals übereinandergestapelt. Sie sog die Luft ein, der Geruch ließ alles wieder aufleben, als ob es erst gestern gewesen wäre. Ihr Vater hatte den Sohn eines Bekannten aus Bassano del Grappa kommen lassen, der helfen sollte. Cristiano … Er hatte mit seinen furchtbar behaarten Händen nach ihr gegriffen, hinten im Durchgang zum laboratorio, wo immer die Obstkisten standen. Aber ihre Eltern hatten ihr nicht geglaubt, als sie ihnen davon erzählte, das war eigentlich noch schlimmer gewesen. Oddio, wegen des Zwischenfalls mit Cristiano war sie dann gegangen.