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"Du bist mehr als du denkst, aber weniger als du bist." Die Jahre des Friedens sind vergangen, das Königreich Cammal muss sich einem unbekannten Feind stellen. Banner aus alten Tagen kehren zurück, und das geheimnisvolle Volk der Jäger tritt in Erscheinung. Doch nicht nur von fern drängt das Böse, auch von nah kriecht es drohend heran. Es scheint, als wäre etwas Grösseres im Gange, etwas das seit Menschengedenken nicht mehr geschehen ist.
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Seitenzahl: 411
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Erster Teil: Treue
Erstes Buch
Zweites Buch
Drittes Buch
Zweiter Teil: Ehre
Viertes Buch
Fünftes Buch
Sechstes Buch
Dritter Teil: Freiheit
Siebtes Buch
Achtes Buch
Neuntes Buch
Treue – Erstes Buch
Karten
Areyiticä
Koboldien
Garland
Cammal
Erster Prolog
20 Jahre zuvor
Zweiter Prolog
Erstes Kapitel - Wiesengrün
Zweites Kapitel - Blumensatzung
Geschichte
Erstes Kapitel - Schneetag
Zweites Kapitel - Winterrat
Drittes Kapitel - Winterjagd
Viertes Kapitel - Bündnisschnee
Fünftes Kapitel - Schneeerbe
Sechstes Kapitel - Sonnenmahl
Siebtes Kapitel - Eiswaffen
Achtes Kapitel - Waldbündnis
Neuntes Kapitel - Sonnenfestung
Zehntes Kapitel - Frühlingsstreit
Elftes Kapitel - Morgenüberraschung
Zwölftes Kapitel - Frühlingsfest
Dreizehntes Kapitel - Sonnentreffen
Vierzehntes Kapitel - Abendauswahl
Fünfzehntes Kapitel - Frühlingsabschied
Sechzehntes Kapitel - Schattenfallen
Siebzehntes Kapitel - Nachtschlacht
Achtzehntes Kapitel - Morgenzerstörung
Neunzehntes Kapitel - Frühlingsrat
Zwanzigstes Kapitel - Sommerschmied
Einundzwanzigstes Kapitel - Sommerzeit
Zweiundzwanzigstes Kapitel - Sonnenkälte
"Jeder Krieg, auch der siegreiche, ist immer ein grosses Unglück
für das Land, das ihn führt."
(Otto von Bismarck)
„Du verlässt uns jetzt also wirklich?“, meinte Haldrior, nachdem ihm Arior gesagt hatte, er wolle die Jäger verlassen und nach Gar gehen, um dort eine Arbeit als Schmied anzunehmen.
„Was sind deine Gründe?“, fragte Haldrior weiter, während sie gemächlich den alten Pfad dem Wald entlang Richtung Norden schlenderten. Haldrior war der Anführer der Jäger, sein Gesicht war kahlrasiert, sein Haar schwarz wie jenes Ariors und seine prüfenden Augen braun. Er war ein Vetter mütterlicherseits von Arior.
Arior antwortete mit verträumtem Gesicht: „Als ich das letzte Mal in Milrea war, begegnete ich dort Auwalla, einer Gärtnerin aus dem Volk der Eyilreä. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ihr Vater willigte ein, als ich mit ihr nach Walron zu den grossen goldenen Gärten gehen wollte, welche Auwalla pflegte. Er entstammt jenen Eyilreä, die einst der Sage nach zur Dunkelsten Stunde auf Saraeleyin landeten, während ihre Mutter den hier bereits anwesenden Eyilreä angehört. Diese pflegten die endlosen Gärten, bevor sich die Sonnenberge erhoben. Die Pflanzen, die in Walron wachsen, sind so golden wie Auwallas Haar. Leider kann ich nicht mit ihr zusammen sein, wenn ich die ganze Zeit in der Wildnis umherstreife.“
Arior war ein ziemlich grosser Mann, sein Haar war schwarz und er sah irgendwie gebeugt aus, obwohl er etwas Edles an sich hatte.
Seine braunen Augen glänzten bei der Erwähnung seiner grossen Liebe. Die Bilder an sie kamen in ihm hoch und er fühlte sich wie benebelt.
„Ich werde meine Kinder in Gar mit ihr aufziehen, wenn ich dann welche haben werde“, fuhr Arior mit glücklichem Gesicht fort. Darauf erwiderte Haldrior: „Du kannst dich glücklich schätzen, eine Eyilreä zu heiraten, aber auch wenn du wie wir alle mit einem langen Leben gesegnet bist, wird sie dich mit ihrem, nicht durch Alter endenden Leben überdauern, sofern sie das will und nicht selbst die Erlösung von der Last der Jahre wählt. Ich verstehe jedoch nicht, wieso du mit ihr nicht nach Marsat oder nach Walron gehst. Auf jeden Fall wüsste ich zu gerne, wieso du die alten Sagen über die Dunkelste Stunde glaubst. Doch jedem das Seine.“
„Ich habe mir beide Möglichkeiten schon von Anfang an überlegt. Da meine Kinder Menschensöhne sind, will ich nicht nach Walron gehen, dort leben jene Eyilreä, welche lieber der Natur anstatt dem Hohen König der Eyilreä folgen. Was Marsat betrifft, so will ich nicht, dass meine Kinder in einer Geisterstadt aufwachsen. Als ich das letzte Mal dort war, lebten die meisten Einwohner nur noch am Hafen. Im erhöhten Stadtteil gab es einzig die Wachen vor dem Hofe des verschollenen Königs und den Hallen des ebenfalls verschollenen Statthalters. Was das betrifft, könntest du eigentlich dein Erbe antreten, dann würde Marsat vielleicht wieder aufblühen“, antwortete Arior hoffnungsvoll.
„Die Zeit wird kommen, da ich mein Erbe antreten werde. Wir werden aber nicht in der Lage sein, Marsat wieder zu bevölkern, unser Volk ist zu klein“, meinte Haldrior mit trauriger Miene. Sie gingen schweigend weiter den Waldweg entlang. Die vom nächtlichen Regen nassen Blätter der hohen Nussbäume glänzten in der Morgensonne.
„Wer sind wir schon in dieser Geschichte“, meinte Haldrior zu Arior und fuhr fort, „einst durchfuhren grosse Schiffe den Mallabas.“
Traurig sah er in die Gegend, als sie auf einer von Moos überwucherten Pflasterstrasse weitergingen, welche parallel zu einem breiten Fluss verlief.
„Nun verwahrlost alles, und die Mauern, welche den Fluss über tausende Jahre im Zaum hielten, beginnen zu zerbröckeln. Sie wurden einst von den Skralgas niedergerissen, um den Handelsverkehr zwischen Peyirisula und der Mallabasfestung zu unterbrechen“, klagte Haldrior. Darauf meinte Arior seinerseits: „Das sind die letzten Erinnerungen von Glanz und Glorie unserer Vorväter.“
„Einst habe ich noch geglaubt, dass die Eyilreä recht hätten mit ihrer Weissagung, die Zwanzigsten in der Linie würden die Mächtigsten werden, doch trifft das nicht auf unser Volk zu. Wie sollen unsere Söhne aus diesen paar Ruinen das einstige Reich wiedererrichten? Wie sollen sie es mit diesen vereinzelten Jägern bevölkern? Dies ist gar nicht möglich. Sogar die Stadt des Hochkönigs sei vor langer Zeit vom Erdboden verschluckt worden, wird in alten Sagen berichtet“, beklagte Haldrior.
„Diesen Hochkönig und seine Stadt hat es vermutlich gar nie gegeben“, mit deutlicher Stimme verlieh Arior seinen Worten Nachdruck und fuhr fort, „wahrscheinlich haben unsere Vorfahren diese Geschichten nur erzählt, um die Kinder zu beruhigen, wenn ihre Väter nicht aus den Schlachten zurückkehrten. So kamen diese Erzählungen bis zu uns.“
Haldrior gab keine Antwort, denn ihm gefiel der Gedanke nicht, dass diese Geschichten nicht wahr sein sollten, doch musste er annehmen, dass es diese Zeiten wahrscheinlich gar nie gegeben hatte.
Als Arior über die Federn einer seiner Pfeile strich, wollte Haldrior plötzlich ein Wettschiessen mit ihm machen. Haldrior ging zu einem etwa fünfzig Meter entfernten Ahorn und ritzte mit seinem gebogenen, reichlich verzierten Dolch ein grosses Stück Rinde ab. In die nun freie Baumfläche steckte er seinen langen verzierten Dolch. Wer am nächsten an den Dolch traf, hatte gewonnen. Es war das Spiel, welches Arior und sein älterer Gefährte oft spielten, seit sie sich kannten. Haldrior ging zurück zu Arior und legte den ersten Pfeil auf. Um Haldrior zu verunsichern, schwatzte Arior wild auf ihn ein, doch Haldrior liess sich nicht aus der Ruhe bringen. Die gespannte Sehne schnellte nach vorn, und Haldriors Pfeil sirrte durch die Luft. Nicht einmal eine halbe Handbreite vom Dolch entfernt schlug der Pfeil ins Holz.
„Den kannst du kaum übertreffen!“, rief Haldrior laut, als er zum Ahorn lief, um seinen Schuss zu begutachten. Ein Reh am Waldrand sah neugierig zu und schnüffelte wachsam nach dem Geruch der beiden seltsamen Gestalten. Er lief zurück zu Arior, welcher bereits seinen ersten Pfeil aufgelegt hatte. Auch Haldrior versuchte seinen Konkurrenten durch wildes Geschwätz abzulenken.
Ariors Pfeil schnellte durch die Luft und drang eine Handbreite entfernt vom Dolch ins Holz des Baumes. Mit spöttischer Miene meinte Haldrior: „Deinen Feind hättest du nicht getötet, und mich besiegen kannst du so auch nicht.“
Darauf schoss Haldrior wieder, sein Pfeil drang nun etwas weiter entfernt vom Dolch ins Holz. Arior hatte Pech, sein zweiter Pfeil wurde von einer Windböe davongetragen und traf knapp den Rand der von Haldrior freigelegten Fläche. Haldriors dritter und letzter Pfeil streifte die Federn seines ersten. Die Spitze seines Pfeils drang höchstens einen Daumen breit vom Dolch entfernt ins Holz.
„Nun musst du das Heft des Dolchs treffen, um mich zu überbieten“, meinte Haldrior mit siegessicherer Miene. Arior spannte seinen Bogen, er konzentrierte sich nur noch auf seinen Schuss, er musste leicht nach links zielen, um den Wind wettzumachen, welcher erst auf seinen Schuss hin eingesetzt hatte. Der Jäger zog die Sehne noch etwas fester und liess sie dann los. Blitzschnell zischte der frisch gefiederte Pfeil durch die vom Wind verursachte Kurve auf den Baum zu. Anstatt der Klang des splitternden Holzes ertönte ein metallisches Geräusch. Arior hatte tatsächlich genau auf den Dolch getroffen, sein Pfeil war vom harten Eisen abgeprallt und lag nun im kniehohen Gras.
Der enttäuschte Haldrior warf sich auf Arior, und miteinander ringend, kugelten die beiden erwachsenen Männer den leichten Abhang von der Strasse abwärts. Sie rangen weiter im hohen Gras, welches unter ihren Körpern plattgewalzt wurde. Sie beendeten ihre Rangelei erst, als eine alte Bäuerin auf einem Heuwagen, vor welchem ein alter, grauer, fast zusammenbrechender Gaul eingespannt war, daher gefahren kam und mit einem missbilligenden Blick zu ihnen hinabrief: „Ihr solltet euch schämen. Die jungen Männer von heute sind nicht mehr das, was die Männer einst waren.“
Der betagte Gaul wieherte so gut er es noch konnte, als würde er seinem Frauchen zustimmen. Der alte, ächzende Wagen entfernte sich langsam, und Arior sah noch, wie die alte Frau ihre Nase rümpfte, wobei sich ihre Stirnfalten noch mehr vertieften. Sie warf stolz ihre weissen Haare in den Nacken und entschwand über alte Strasse. Haldrior brach in schallendes Gelächter aus und meinte: „Wenn diese Dame wüsste, dass ich etwa achtmal so alt bin wie sie und du etwa doppelt oder dreimal so alt bist wie unser geachtetes Mütterchen!“
Sie erhoben sich aus dem Gras und wandten sich dem Ahorn zu, um ihre Pfeile einzusammeln. Auf dem Weg dorthin sagte Arior seinerseits in einem spöttischen Ton: „Wer trifft nun seinen Feind nicht?“
Haldrior reagierte auf diese Bemerkung mit einem verärgerten Schnauben. Sie nahmen ihre Pfeile auf und kehrten auf die alte Pflasterstrasse zurück, welcher sie nun folgten, bis sie um eine Ecke bogen, wo der Mallabas sich in einem breiten Tal quer durch die Sonnenberge schlängelte. Etwa zehn Kilometer vor ihnen erhoben sich hohe Mauern und Türme. Arior flüsterte leise zu sich selbst: „Das ist also die grosse Mallabas Festung!“
Die Gemäuer dieser Festung erstreckten sich quer durch das etwa drei Kilometer breite Tal zu den steilen Felswänden. Von einem in der Mitte stehenden Hof aus hellem, fein gearbeitetem Stein fielen drei halbkreisförmige Mauerbänder auf die obere und die untere Seite des Tals herab. Die Mauern bildeten auf diese Weise drei ovale Mauerringe um die Burg. In der Mitte der ganzen Festung floss der Mallabas, der Meerfluss, in einem hohen und breiten Tunnel hindurch. Die Mauern, aus hellem Stein gebaut, schimmerten im Sonnenlicht bläulich. Der Hof mit seinen vielen Gebäuden war weit über die Ebene hinweg zu sehen.
Haldrior belehrte Arior: „Diese Festung ist, wie du möglicherweise weisst, einst die Grenze gewesen. Sie wurde nicht einmal während den grossen Skralgaskriegen aufgegeben, als diese dunklen Kreaturen schon fast vor ihren Toren standen. Nur dank dieser Festung konnten sich unsere Männer mit Verstärkung einiger Eyilreä aus Milrea und einigen Kämpfern eines Volkes, dessen Namen ich nicht weiss, ungestört hier sammeln und den Skralgas, welche schon die ersten Steine mit ihren schwarzen Katapulten über die Mauern Marsat geschleudert hatten, in den Rücken fallen. Daraufhin liess der damalige und letzte König einen Ausfall machen, welchen er selbst anführte. So konnten die Skralgas nicht mehr fliehen. Unser Volk siegte, obwohl es wegen seiner mehrfachen Unterzahl schwere Verluste zu beklagen hatte. Auch der König fiel. Seine Frau floh mit ihrem einzigen Sohn und wurde nie mehr gesehen. Möglicherweise ist die königliche Linie zu jener Zeit erloschen. Die Linie der Statthalter wurde ausgesandt, den König zu suchen. Es hiess, sollte der König nicht innerhalb dreier Generationen zurückkehren, würden die Statthalter den Thron Marsats erben. Wir sind nun die zweite Generation, und sollte ich noch einen Sohn oder eine Tochter haben, würden diese den Thron bald altershalber besteigen können.“
Fröhlich ging Jakob Korbflechter über die saftig grüne Wiese hinauf zu seinem Baumhaus, in welchem er wohnte. Hell leuchtete die Messingzahl neun von seiner Eiche, denn er wohnte am Eichenhügelweg neun, einem Weg, der sich von Eiche zu Eiche hinauf und von den Hügeln herunter schlängelte. Das Haus umschlang in etwa fünf Metern Höhe eine Eiche. Eine Rampe führte hinauf zum Haus und eine Strickleiter hing herunter. Nachdem Jakob nach dem Gemüse in seinem Acker gesehen hatte, ging er selbstverständlich die Rampe hinauf, die Leiter wäre für ihn und seinen rundlichen Körper zu anstrengend gewesen. Er öffnete die Tür zu seinem gemütlichen Zuhause. Am Rande seiner Baumhütte hatte er einen Herd mit einem Eisenkamin hingestellt. Der Eisenkamin sorgte dafür, dass der Rauch die Blätter der Eiche nicht erreichte. Auf diesem Herd wollte Jakob nun Tee aufsetzen, doch in keinem seiner Krüge konnte er einen einzigen Tropfen Wasser finden. Er hasste es zwar, aber es war unumgänglich, er musste einen Kessel hinunterlassen in den Teich des Kanals, welcher rauschend an seinem Baum vorbeiführte. Schnaufend zog er ihn mit einer Kurbel hoch, als er plötzlich einen Esel den Dorfweg entlang galoppieren hörte. Jakob stellte seine spitzen Ohren steif und lauschte, denn sie, die Kobolde, hörten gut mit ihren spitzen Lauschern, welche aus ihrem Krausehaar hervorguckten. Sie hörten Geräusche, welche weit entfernt waren, Geräusche, welche die Menschen nicht hören konnten.
Jakob sah nun, wie ein Eselreiter mit der roten Tracht der Grenzwachen auf dem Weg nach Kobelstein zur Tagsatzung war. Die Tracht des Reiters war staubig, und der Esel hinkte am vorderen rechten Bein. Der Reiter musste einer der Feldpöstler sein, denn er hatte die dicke braune Ledertasche dabei, welche alle Feldpöstler in Koboldien trugen. Erst als der Esel am Dorfteich seinen Durst stillte, merkte Jakob, wie ihm der Kessel mit einem lauten Klatscher wieder hinuntergefallen war. Mürrisch zog er ihn wieder herauf und setzte sich seinen Pfefferminztee auf. Für heute hatte er genug vom Körbe flechten, er wollte nur noch auf seiner Terrasse hoch über seiner grünen Wiese sitzen, dazu seinen Tee trinken und von seinem besten Kraut aus der Pfeife seines Urgrossvaters rauchen.
Er hatte sich bereits in seinen Lehnstuhl gesetzt, als er sah, dass der Eselreiter plötzlich von seinem Reittier fiel. Einer seiner Schuhe, er glich mehr einem Strumpf mit Ledersohle, blieb im Steigbügel hängen.
Zuerst wollte Jakob sitzen bleiben und es den Kobolden im Dorf überlassen, sich um den Reiter zu kümmern, doch fiel ihm ein, dass vermutlich alle Bewohner in ihren Blauteichler Baumhäusern sassen und sich von der Hitze der Sommertage erholten.
Als er sah, dass sich der Reiter nicht wieder erhob, entschloss er sich schweren Herzens, die bequeme Seite in sich zu überwinden und dem Reiter zu helfen, schliesslich war es die Pflicht jedes Kobolds, Reisenden ein Dach anzubieten. Rasch nahm er seinen Hut und begab sich die Rampe hinab auf die grüne Wiese. Fast auf jedem der umliegenden Hügel standen ebenfalls Bäume mit Hütten, während sich an einem Teich in der Mitte der Hügel das kleine Dorf Blauteichen befand, welches sich halbkreisförmig um den an den Teich angrenzenden Platz legte. Er fragte sich, ob niemand ausser ihm den armen Reiter gesehen habe.
Schliesslich kam er beim Mann in der roten Tracht an, der ohnmächtig zu sein schien. Er lag mit dem Gesicht auf den staubigen Pflastersteinen, während ihn sein Esel unablässig mit der feuchten Schnauze anstupste. Der Esel war einer der besten, die Jakob je gesehen hatte. Der Feldpöstler musste ein Eilbote sein, welcher von der Westgrenze bei Grünwald auf dem Weg zur Tagsatzung in Kobelstein unterwegs war. Hastig kehrte Jakob den ohnmächtigen Reiter um. Als dieser immer noch mit geschlossen Augen da lag, machte er sich auf den Weg zum kühlen Teich. Glücklicherweise hatte jemand einen Kessel am Ufer vergessen, welchen Jakob nun füllte. Quakende Frösche sprangen um seine Füsse, doch bekamen sie vom grauhaarigen Kobold keine Beachtung geschenkt. Rasch kehrte Jakob zum Reiter zurück und leerte ihm etwas Wassers über den Kopf, bis dieser prustend aus seiner Ohnmacht aufwachte. Erschrocken sah sich der Reiter um. Zuerst konnte der junge Bote nur die Umrisse eines älteren Kobolds erkennen, welcher über ihn gebeugt war, doch rief er nach einer kurzen Weile freudig aus: „Onkel, was machst du denn hier?“
Nun erkannte Jakob das staubige Gesicht, es war sein Neffe Theophil Korbflechter, der Sohn seines Bruders Theobold Korbflechter.
„Du bist es“, antwortete Jakob erfreut, „zum Glück habe ich dich gesehen, komm zu mir nach Hause, dort kannst du dich ausruhen und mir alles erzählen.“
„Zuerst muss ich zur Post, Onkel“, antwortete Theophil matt, „diese Nachricht muss so schnell wie möglich nach Kobelstein, der Satzungsrat muss sie so schnell wie möglich erhalten.“
„Gib mir deine Tasche, Neffe, ich werde sie zur Post bringen und ihnen sagen, sie müssten sie sofort nach Kobelstein bringen“, antwortete Jakob nun beruhigend. Er nahm dem Esel den Sattel ab und legte ihn unter Theophils Kopf, welcher sich nun im Schatten seines Esels ausruhte, bis sein Onkel zurückkommen würde.
Jakob rannte schnell zur Poststelle von Blauteichen, einem Steinhaus in der Mitte des Dörfchens. Auf der Veranda sassen der Sheriff und der Poststellenleiter eingenickt über einem Schachspiel. Durch die offene Tür sah man, wie der Schreiberling mit dem Kopf auf seinem Schreibtisch lag und die Postboten friedlich auf den Bänken nebenan schliefen. Zuerst wollte Jakob weder den Poststellenleiter noch den Sheriff wecken, doch nahm er seinen ganzen Mut zusammen und tätschelte dem Poststellenleiter Friedrich Schreiber auf die Schulter. Dieser schreckte hoch und stiess dabei das Schachspiel vom Tischchen, was wiederum den Sheriff Angalbold Schneider aufweckte. Dieser herrschte sein Gegenüber zornig an, bis er sah, dass Friedrich Schreiber vorwurfsvoll zu Jakob blickte.
„Können Sie nicht mal aufpassen, Herr Korbflechter“, begann Herr Schreiber, doch hielt er inne, als seine nun beginnende Schimpftirade vom Sheriff unterbrochen wurde, sodass er lieber seinen Mund hielt.
„Lass ihn, Friedrich, er hatte sicher einen Grund, unser Nachmittagsschläfchen zu unterbrechen“, meinte der Sheriff. Als Antwort hielt Jakob die Tasche mit der Feldpost hoch und begann: „Diese Tasche kommt von der Grenze, sie muss so schnell wie möglich nach Kobelstein. Schickt bitte Euren schnellsten Boten, Herr Schreiber, es sei wirklich dringend.“ Der Kobold, welcher gerade aufgewacht war, zögerte einen Augenblick, bis der Sheriff ihn aufforderte: „Tut, was Herr Korbflechter sagt, es scheint wirklich wichtig zu sein.“
Dann stand der angesprochene Kobold auf, begab sich zur Tür und rief dem eingeschlafenen Schreiberling zu: „Friedrich, sende sofort den schnellsten Postboten nach Kobelstein, gib ihm diese Tasche hier mit!“
Der Schreiberling war Friedrich Schreiber Junior, der Sohn des Poststellenleiters. Dieser weckte sofort einen der Boten, während er sich, noch müde, die Augen rieb. Der Bote gähnte mehrere Male, bis er endlich verstand, was er zu tun hatte. Rasch packte er die Tasche, nahm den Hinterausgang zum Stall und sattelte seinen Esel. Kurz darauf hörte man nur noch das Hufklappern des davongaloppierenden Esels.
Die beiden Schachpartner waren froh, dass sie ihre Partie neu beginnen konnten. Während Jakob die Poststelle verliess, zapften sich beide einen Krug Bier am alten Eichenfass hinter dem Schreibtisch, stopften ihre Pfeifen neu und setzten sich wieder in ihre Schaukelstühle.
Jakob begab sich gleich wieder zu seinem, in der Zwischenzeit eingeschlafenen Neffen. Er weckte ihn und half ihm auf. Wacklig kam Theophil auf die Beine. Sie gingen den Hügel zu Jakobs Haus hinauf, wo der Esel sich das grüne, saftige Gras im Schatten der grossen Eiche schmecken liess. Jakob gab seinem Neffen eine Pfeife und eine Tasse Tee. Dessen blasses Gesicht bekam nun etwas Farbe und sah nach ein paar Keksen wieder munterer aus.
„Nun erzähl!“, meinte Jakob, „Was ist passiert? Was ist so dringend?“
„Es war so“, begann Theophil zu erzählen, „wir sassen wie immer auf der Veranda des Grenzpostens, wie wir es fast jeden warmen Sommertag tun, denn wer kommt an unseren Grenzen schon vorbei ausser ein paar Säumer und Reisende? Doch war das gestern nicht so. Plötzlich kam eine der Patrouillen auf der Oststrasse herbeigerannt. Verdutzt sahen wir sie an, doch dann schrie einer plötzlich: „Packt eure Armbrüste, eure Dolche und Säbel, setzt eure Helme auf. Es droht Gefahr.“
Natürlich hielten wir ihn zuerst für durchgedreht, doch sahen wir eine Schnittwunde an seiner Wange. Wir rannten rasch ins Haus und packten unsere Sachen. Keinen Moment zu früh, denn gerade rannte der Rest der Patrouille auf den Posten zu. Ein paar unserer besten Armbrustschützen postierten sich versteckt auf dem Dach.
Dann kamen sie um die Biegung, dreizehn dunkle Gestalten mit schwarz verbrannter ledriger Haut, sie trugen schwarze Rüstungen, und man sah schon von weitem, wie sie ihre gelben Zähne fletschten. Dicht hinter ihnen folgten einige üble Menschengestalten. Sie alle trugen Pfeilbogen, auch diese dunklen Kreaturen. Sie feuerten einen Pfeil nach dem anderen auf die vier übrig gebliebenen Grenzwächter ab. Glücklicherweise traf keiner. Dann sahen sie unseren Posten. Vor Mordlust geifernd kamen sie auf uns zugerannt. Sie sahen nur zehn leicht bewaffnete und leicht gerüstete Kobolde vor sich stehen, die deutlich kleiner waren als sie, doch sahen sie weder die Armbrustschützen noch den Mut in unseren Herzen. Die ersten wurden von Pfeilen getroffen, bevor sie uns erreichten. Die anderen waren von unserer heftigen Gegenwehr so überrascht, dass sie sich nach kurzer Zeit ergaben. Von den dunkeln Kreaturen überlebte keine, doch konnten wir zwei der Menschen im Posten einsperren und kurz darauf dem Sheriff der Grenzstadt übergeben, welcher die beiden nun sicher verwahrt, bis sie nach Kobelstein gebracht werden.
Dann wurde ich abgesandt, um die Tagsatzung zu benachrichtigen. Ich bin Tag und Nacht ohne Rast geritten, du weisst ja, zu was das geführt hat.“
„Das tönt ja fürchterlich!“, erwiderte Jakob erschrocken, „Weisst du nicht, was oder wer diese dunklen Gestalten waren?“
„Sie ähneln einzig den alten Sagengestalten, welche unsere Tagsatzungstruppen gemeinsam mit den Hochmenschen bekämpft haben sollen, doch weiss man ja, was man von so alten Sagen halten soll. Ausserdem habe ich noch nie einen dieser Menschen gesehen, welche in Palästen und Festungen gelebt haben sollen, einzig ein paar reisende Händler und ein paar menschliche Banditen habe ich gesehen, die nicht aus der kleinen friedlichen hölzernen Menschenstadt jenseits des Holzwassers kommen.“
„Hm“, machte Jakob nachdenklich, „vielleicht ist an diesen Sagen mehr dran als du meinst. Vor langer Zeit, als ich noch jünger war als du, habe ich mich etwas in die Welt hinausgewagt, ich bin durch eine grosse Geisterstadt gewandert, einzig ein paar edel aussehende Menschen sah ich dort. Es war eine prächtige Stadt aus hellem Stein. Ich hatte es damals all meinen Freunden erzählt, doch glaubte mir keiner, darum erzähle ich es erst heute wieder. Ich habe diesen Anblick niemals vergessen. Es heisst, es habe noch weit grössere Städte gegeben als jene, die ich damals gesehen habe.“
„Das kann schon sein, Onkel“, antwortete Theophil, „doch hat mich dein Bruder erzogen, er hat mir solche Dinge immer ausgeredet.“
„Tja“, machte Jakob verächtlich, „mein Bruder und sein Korbflechter-Grossgeschäft. Ich bin mit meinem Laden hier zufrieden, er jedoch will immer grösser werden. Ich habe gehört, er habe neulich ein Geschäft in Salzbergen gekauft, wo er bereits einzelne Körbe an Händler der Gnome verkauft haben soll.“
Darauf meinte Theophil nachdenklich: „Du hast schon recht, er hat das grösste Korbflechtergeschäft in ganz Koboldien, er wird von allen gut bezahlt, von den Gnomen soll er sogar mit Gold entlöhnt werden. Mit ihren groben Händen sind diese Bergarbeiter halt nicht in der Lage, Körbe für ihre Sachen zu flechten, sie können einzig Eisenkessel schmieden, das ist nicht dasselbe.“
„Apropos Gnome“, meinte nun Jakob, als hätte er einen glanzvollen Einfall, „denkst du, sie würden uns helfen unsere Grenzen zu schützen?“
„Sie würden uns sicherlich ein paar Männer schicken, sollten sie die alten Sagen für wahr halten, schliesslich heisst es dort, diese dunklen Kreaturen wären die ärgsten Feinde der Gnome gewesen.“
In der Zwischenzeit schien die Sonne nur noch rötlich über die weit entfernten Sonnenberge im Osten. Die Baumwipfel säuselten im lauen Wind, und von den meisten Baumhäusern sah man grauen Rauch in den rot glühenden Himmel aufsteigen.
Auch Jakob stellte eine Bratpfanne und eine Kanne auf seinen Herd. Nebenan dampfte ein Kochtopf mit Kartoffeln vor sich hin. In der Bratpfanne lagen vier Spiegeleier und in der dampfenden Kanne brodelte ein feiner Grüntee, der beste im ganzen Westen Koboldiens, Grüntee aus dem Flusshohblatt, welches an den Hängen der Ufer des Boldenbachs wuchs. Der Boldenbach war einer der grössten Bäche Koboldiens, welcher aus den Sonnenbergen nach Westen floss, dann einen Bogen nach Süden machte und in die Königsflut mündete, wie die Kobolde den grossen Fluss nannten. Der Boldenbach bildete die Nord- und Westgrenze Koboldiens.
Nachdem Jakob auch noch den Fisch gebraten hatte, welchen er am Morgen zuvor im Dorfteich gefangen hatte, trug er das Essen auf den hölzernen Tisch auf dem Balkon. Theophils Esel hatte sich bereits unter ihnen zur Ruhe gelegt und stiess regelmässig schnaubend warme Luft aus seinen Nüstern.
Theophil griff wacker zu, sein Hunger war trotz des Nachmittagstees immer noch riesengross, es schien, als könnte er den Hunger nicht stillen. Die Forelle war aber sehr nahrhaft, und Theophil wurde satt und müde. Jakob holte für sich seine gewöhnliche Pfeife und für seinen Neffen jene, die er vor mehreren Jahren einmal selbst geschnitzt hatte. Gähnend meinte Theophil zu seinem Onkel, während er runde Rauchringe in den Nachthimmel blies: „Wenn ich mal älter bin, will ich ein gemütliches Leben wie du und nicht ein so emsiges wie mein Vater. Er mag ja einen schönen Landsitz mit eigenem Park und Wäldchen haben, doch ist er immer unterwegs und kann sich nicht in einer gemütlichen Baumhütte ausruhen.“
„Es ist wirklich ein gemütliches Leben, das ich führe“, stimmte Jakob seinem Neffen zu, „doch muss jeder sein eigenes Leben finden, es gibt weder ein richtiges noch ein falsches Leben, solange man sich nicht dem Bösen verschreibt.“
Fragend sah Theophil seinen Onkel an, denn den letzten Teil hatte er nicht verstanden, doch wollte er nicht fragen. Lieber genoss er den Wind in seinen schwarzen Locken, der seine spitzen Ohren bog. Er sah seinen Onkel an, der in die Ferne blickte und meinte: „In Koboldien fragt sich niemand, was jenseits unserer Grenzen ist, mich hingegen nahm es immer Wunder, doch kein Kobold konnte es mir je erzählen.“
Kurz darauf hörte Jakob ein leises Schnarchen aus dem Lehnstuhl neben ihm und sah, dass sein Neffe friedlich eingeschlafen war. Leise ging er ins Haus und holte eine Wolldecke aus einem Schrank, mit der er den jungen Kobold zudeckte. Dann, als er wieder ein paar Rauchringe ausgeblasen hatte, schlief auch er friedlich ein. Nebeneinander in ihren Lehnstühlen schliefen sie, bis sie beide von den grellen Strahlen der Morgensonne geweckt wurden.
Der Teich schimmerte silbern, und der Esel stiess ein lautes „Iah, Iah“ aus. Gähnend meinte Jakob darauf: „Wie heisst eigentlich dein Esel?“
„Iahrio“, antwortete Theophil verschlafen, „es heisst, er heisse ähnlich wie einst ein König der Hochmenschen, da er der beste aller Esel sei.“
„Dann kannst du stolz darauf sein“, erwiderte Jakob, „dass du ihn reiten darfst, schliesslich glaube ich wirklich, dass man seinesgleichen kaum finden würde. Er ist ein Prachtsesel.“
Als hätte Iahrio das verstanden, stiess er wieder seinen Ruf aus, der von einem anderen Esel beantwortet wurde, welcher soeben einen Heuwagen auf das Feld zog.
Ein älterer Kobold sass auf dem Wagen und hielt Pfeife rauchend eine Heugabel in der Hand. Jakob winkte ihm zu und rief: „Guten Morgen, Herr Stellmann!“
Rubold Stellmann winkte zurück und rief seinerseits: „Guten Morgen, Herr Korbflechter!“
Theophil sah verwirrt in die Gegend. Als er merkte, dass alles ruhig war, wandte er sich wieder um.
Nachdem sie gefrühstückt hatten, gingen sie zusammen ins Dorf. Theophil machte sich auf den Weg zur Post, während Jakob zu seinem Laden ging. Theophil schritt in das Postgebäude und sah sich um. Einzig Friedrich Schreiber war auf und fragte den Fremden: „Was wollt Ihr, Herr, wollt ihr etwas verschicken, etwas abholen oder ein Konto eröffnen?“
„Nein“, erwiderte Theophil, „nichts von all dem. Ich bin Theophil Korbflechter, der Neffe des alten Jakob. Ihr habt hier gestern meine Tasche abgeschickt, darum bitte ich Euch, mich sofort zu benachrichtigen, sollte heute oder morgen eine Meldung der Tagsatzung eintreffen.“
Erst jetzt fiel dem Kobold hinter dem Schreibtisch auf, dass die roten Kleider des Kobolds keine verstaubte Festbekleidung waren, sondern die Tracht der Grenzwachen. Sofort erwiderte der verdutzte Schreiber: „Selbstverständlich werdet Ihr Meldung erhalten, sobald eine hier eintrifft, Herr Korbflechter.“
Der Tag verging, doch es traf keine Meldung ein. Auch während der nächsten Nacht, als Theophil wachsam auf dem Balkon seines Onkels sass während dieser schlief, sah er keinen Boten kommen. Unruhig wippte er mit dem Schaukelstuhl auf den knarrenden Fichtenbrettern. Er dachte über alles Mögliche nach, bis ihm die Augen zufielen und er zu schnarchen begann. Erst am nächsten Morgen hörte er von weitem Hufschläge, die so schnell waren, dass es ein Bote sein musste.
Rasch rannte Theophil zur Poststelle, wo der Bote schon fast angekommen war.
Nun sah er, dass es kein Postbote war, sondern einer der Boten der Tagsatzung, welcher ebenfalls ganz in Rot gekleidet war. Auf dem Kopf trug er einen hohen steifen Filzhut. Als der Bote von seinem Esel gestiegen war, erkannte Theophil seinen langjährigen Freund Gilbert Hofheimer. Hoch erfreut ging Theophil auf Gilbert zu, sie umarmten sich, denn seit langer Zeit hatten sich die beiden nicht mehr gesehen und sie hätten sich nun viel zu erzählen gehabt. Doch dafür blieb den beiden Jugendfreunden keine Zeit.
„Dann bist du auch mal von der Nordgrenze weggekommen“, meinte Theophil erfreut zu Gilbert.
„Ja“, antwortete der müde Gilbert mit einem matten Lächeln, „auch ich musste mal da weg, es mag ja gemütlich sein, solange nichts läuft, doch waren die Winter kälter denn je und es wurde langweilig, darum habe ich um eine Versetzung nach Kobelstein gebeten. Dein Vater war dabei übrigens sehr behilflich.“
Beim letzten Satz grinsten sich beide spitzbübisch an, bis Theophil das Wort ergriff: „Was hat der Tagsatzungsrat beschlossen? Werden sie die Kobolde zur Bereitschaft rufen, um gerüstet zu sein?“
„Das wird möglicherweise noch kommen“, antwortete Gilbert mit ernster Miene, „doch hat der Tagsatzungsrat auf den Rat der Gelehrten gehört, welche es für sinnvoll empfanden, die Hochmenschen aufzusuchen, um dem Erscheinen dieser bösen Gestalten auf den Grund zu gehen. Ich wurde hergeschickt, um dir mitzuteilen, dass wir und einige weitere Kobolde nach Osten entsandt werden, dort soll es gemäss den Gelehrten noch einige weise Hochmenschen geben, doch scheint dieses Unternehmen gefahrvoll. Darum lässt dir die Tagsatzung die Wahl, ob du mitkommen willst oder nicht. Sie würde es aber begrüssen, wenn einer derer mitreitet, welche die Kreaturen gesehen haben. Nimmst du an?“
„Selbstverständlich“, erwiderte Theophil, „es ist mir eine Ehre, und zudem werde ich auf diese Weise über unsere Grenzen in die Welt hinauskommen. Ich freue mich ehrlich gesagt jetzt schon darauf.“
Theophil machte sich rasch auf den Weg, seinen Onkel zu wecken und ihm die neusten Nachrichten mitzuteilen. Er spürte plötzlich keine Müdigkeit mehr sondern Abenteuerlust, er konnte das tun, worüber er mit seinem Onkel gestern gesprochen hatte, er konnte in die Welt hinaus! Sein Onkel sah ihn besorgt an, als Theophil ihm alles erzählt hatte und meinte nur: „Tu, was du für richtig hältst, denn das ist meistens auch das Richtige. Doch sei gewarnt, in der Welt lauern Gefahren, es ist nicht überall so friedlich wie hier in Koboldien und wie ich es mir für alle wünschen würde.“
Nun war sich Theophil etwas unsicher, doch würde sich eine solche Möglichkeit kaum je wieder ergeben.
Er ass noch einige Kekse zum Frühstück, sattelte seinen Esel, nahm seinen Säbel, seine kleine Armbrust und machte sich, nachdem er sich von seinem Onkel verabschiedet hatte, auf den Weg. Laut rief ihm Jakob nach: „Du musst auf jeden Fall zurückkommen, dann will ich alles hören, was du gesehen hast.“
„Natürlich werde ich zurückkehren, Onkel, ich werde dir jede Einzelheit erzählen, du wirst alles hören, was ich erlebt habe“, rief nun Theophil über seine Schulter zurück.
Freudig sprangen sich die Esel der beiden Boten entgegen, denn auch sie kannten sich. Beide Kobolde fragten sich, was diese Esel wohl im Augenblick dachten.
Rasch machten sie kehrt, nachdem sie Jakob noch ein letztes Mal zugewinkt hatten. Sie mussten schnellstmöglich nach Kobelstein gelangen. Gilbert ritt voran über die Ost-West-Strasse, wie die Strasse von der Westgrenze nach Kobelstein auch genannt wurde. Sie kamen rasch voran, es war noch kühl, und die Gräser schienen saftig in der Sonne, bevor die Mittagshitze kam. Iahrio, Theophils Esel, sah man an, dass er es genoss, wieder schmerzfrei galoppieren zu können. Die blauen Bäche, grünen Hügel und dunkelgrünen Wälder zogen an ihnen vorbei. Ihnen war diese Gegend altbekannt, häufig waren sie hier als Kinder umhergestreift und hatten sich vorgestellt, wie sie wagemutig Abenteuer bestehen würden. Sie sahen nahe der Strasse ihre Lieblingsplätze, auf denen sie einst gespielt hatten.
Ihr erstes Ziel war die Tagsatzung in Kobelstein, welche sie spätestens nach zwei anständigen Tagesritten erreicht haben sollten. Wohin es dann genau gehen würde, wusste keiner. Gilbert meinte nur: „Ich habe gehört, der Weg führe zu einer Festung namens Mallabas, doch habe ich keine Ahnung, wo das ist und wer dort wohnt. Ich nehme an, dass dort ein Menschenfürst in seinem Schloss wohnt.“
Theophil antwortete mit einem komischen Laut, der wie „könnte sein“ klang, für Gilbert jedoch unverständlich war. Dann und wann sprachen sie wieder miteinander oder schwiegen, sodass einzig das Hufgetrappel der Esel zu hören war. Sie trafen manchen Bauern und grüssten höflich. Schliesslich wurden sie in ihren Uniformen besonders höflich gegrüsst, noch höflicher, als es für Kobolde üblich war.
Lange ritten sie geradeaus über viele Hügel, über hölzerne Brücken, die über sprudelnde Bäche gespannt waren, und durch grüne Wälder, die den Weg säumten. Der Weg war in gutem Zustand, denn er wurde von den Wegmachern regelmässig gepflegt. Mancherorts, vor allem in der Nähe der Dörfer, war der Weg mit fein gehauenen Steinen gepflastert oder streckenweise auch mit grösseren Steinplatten belegt, wenn der Boden weich oder sumpfig war, und manchmal war es einfach nur eine staubige Strasse, sonst jedoch tadellos. Schon von weitem sahen sie die hohen Bäume von Kobelstein, Fichten, Eichen, Ahorn und weitere Baumarten mit den Baumhäusern. Teilweise lagen gleich fünf Baumhauswohnungen um ein und denselben Baum, und jede befand sich mindestens vier Meter über dem Waldboden.
Nachdem sie den Wald mit den sogenannten Wohnbäumen durchquert hatten, kamen viele kleine Steinhäuser zum Vorschein, welche geordnet in einem Kreis um einen Platz gebaut waren. Die beiden Reiter sahen von der Kuppe über die ganze Stadt, selbst den grossen Platz in der Stadtmitte. Am anderen Ende des Platzes stand ein helles Steingebäude mit vielen Fenstern, das mit bunten Wimpeln und sorgfältigen Schnitzereien geschmückt war. Auf einem Platz weiter links herrschte emsiges Treiben, es war der Marktplatz. Weit über die Häuser hinaus hörte man die Kaufbolde, wie die Kaufleute unter den Kobolden genannt wurden. Sie priesen ihre Ware an oder feilschten um den Preis.
Eine Stadtmauer gab es nicht, da es kaum Diebe, geschweige denn Feinde gab, doch waren da einige Wachposten, schlafende allerdings, welche eigentlich dafür hätten sorgen sollen, dass keine jugendlichen Kobolde Waren mitgehen liessen.
Theophil und Gilbert ritten durch einen Bogen zwischen die Häuser hinein. Freundlich wurden sie von allen Seiten her gegrüsst, einige Bürger verbeugten sich sogar ein wenig vor ihnen, während ein paar Kinder gleich damit begannen Ritter zu spielen, als sie die beiden Reiter sahen.
Dann kamen sie auf den Hauptplatz vor der Tagsatzung, dem Regierungsgebäude von ganz Koboldien. Im Bogen des Eingangs standen zwei grossgewachsene Kobolde Wache. Sie waren mit einem regenbogenfarbenen Waffenrock bekleidet und trugen einen hohen Soldatenhut. Stramm standen sie da, eine Hellebarde in der Hand und einen Säbel umgeschnallt.
Beide trugen zwei silberne Streifen auf ihren Schultern. Das war das Zeichen der Wache in den Tagsatzungstruppen Koboldiens.
Als sich die beiden Reiter aus dem Sattel schwangen, kam Theophil ein leicht rundlicher Kobold mit steifem Hut entgegengerannt.
Freudig sprang auch Theophil ihm entgegen und rief ihm zu: „Oberbataillonär Salzmann, es freut mich Euch zu sehen.“
Krebold Salzmann war ein Oberbataillonär in den Tagsatzungstruppen, er befehligte das Oberbataillon, welchem fünf Bataillone unterstellt waren.
Als ob es nicht schon kompliziert genug gewesen wäre, setzte sich jedes Bataillon aus fünf Oberpatrouillen zusammen, welche wiederum aus fünf Patrouillen bestanden. Eine Patrouille bestand in der Regel aus elf Mann, einem Patroullionär und zehn Soldaten, doch waren selten mehr als ein Zehntel der Kobolde an den Waffen. Sie wurden gut ausgebildet, gingen dann aber wieder ihren eigenen Berufen nach. Salzmann war einer von drei Oberbataillonären, welche nur im Kriegsfall dem Koboldoral, einer Art General unter den Kobolden, unterstanden. Freudig erwiderte Salzmann: „Bin ich froh Euch wohlauf zu sehen, Obereilbote Korbflechter.“
Bei dem freudigen Lachen verrutschte Salzmanns Hut mit den zwei goldenen Sonnenblumen, die seinen Rang bezeichneten. Stolz rückte der Kobold seinen Hut wieder über den langen, spitzen Ohren zurecht, welche sich dabei etwas zur Seite bogen. Salzmann begrüsste nun auch Gilbert freudig, doch nicht so erfreut wie Theophil, von dem er gehört hatte, dass dieser, ohne längere Zeit innezuhalten, bis zu seiner Ohnmacht geritten war.
Dann führte er die beiden durch den geschnitzten Eingangsbogen in eine längliche Eingangshalle aus glattem Stein. In der Mitte der Halle befand sich ein längliches Wasserbecken, das in einem blumenverzierten Springbrunnen endete. Überall am Rande der Halle standen Sonnenblumen, das Wappenzeichen Koboldiens. Die hohen Sonnenblumen wurden durch grosse Fenster am Dach beleuchtet.
Zu beiden Seiten führten Türen aus den Säulengängen weg. Am Ende des Saales befand sich ein grosses Portal. Die Eichenflügel waren beschlagen, und wenn man sie verschloss, bildeten sie eine grosse Sonnenblume aus Gold. Theophil dachte, dass innerhalb dieser Tür wohl die Tagsatzung tagen würde.
Die beiden wurden von Salzmann in einen Nebenraum geführt, einen hohen Raum mit vielen Schnitzereien. In der Mitte stand ein langer Tisch unter einem eisernen Kronleuchter mit weissen Bienenwachskerzen, welcher mitten in einer feingearbeiteten Schnitzerei an der Decke hing. Am anderen Ende des Raumes stand ein schwerer, dunkler Ahornschreibtisch, auf welchem eine grosse, goldene Sonnenblume eingelassen war.
Salzmann ging auf den Schreibtisch zu und salutierte vor dem Kobold, der mit dem Rücken zu ihm an seinem Schreibtisch sass.
„Ich hoffe, Ihr bringt mir für einmal gute Nachrichten, Oberbataillonär Salzmann“, meinte der Kobold mit sorgenerfüllter Stimme, während er zum Fenster hinaus schaute. Salzmann antwortete nicht gleich, er überlegte, was genau er sagen sollte. Dabei traten die Adern auf seiner breiten Stirn hervor, und seine spitzigen Ohren wackelten nervös unter seinem Hut.
Erst als der Mann am Schreibtisch sich zu ihnen umwandte, fasste er sich wieder.
„Natürlich, natürlich“, begann Salzmann hastig und merkte, wie ihm der Schweiss aus den Poren trat, „natürlich, Herr Boldorratsmeister Mühlmann, natürlich habe ich heute einige gute Nachrichten. Der Bote, Theophil Korbflechter, ist eingetroffen, zusammen mit Gilbert Hofheimer. Theophil Korbflechter ist einer jener, welche beim Zwischenfall an der Grenze dabei waren.“
Herr Mühlmann stand nun auf und kam auf sie zu. Er war ein älterer Herr, etwas älter als Theophils Onkel Jakob. Der graue, gut gepflegte Backenbart des Mannes fiel Theophil als Erstes auf, bevor er etwas belustigt zusah, wie unter der grünen Weste des Boldorratsmeisters zufrieden sein Bäuchlein auf und ab hüpfte, im Takt zu dessen Schritten. Während nun auch die beiden Boten salutierten, wurden sie von Herrn Mühlmann freundlich begrüsst.
„Ihr müsst mir alles genau erzählen, Herr Korbflechter, so schnell es geht“, meinte der rundliche Mann zu Theophil, „setzt Euch doch.“
Sie setzten sich an den langen Tisch. Die Holzstühle mit den Lederpolstern gefielen Theophil besonders gut. Mühlmann bat einen der schick gekleideten Angestellten, ihnen Tee und Kekse zu bringen, worauf sie sich diese schmecken liessen. Während sie den Tee aus ihren Tassen schlürften, begann Theophil von den Ereignissen an der Westgrenze zu erzählen. Herr Mühlmann kommentierte meist mit einem „Oh Schande“ oder mit dem alten Sprichwort „Da würde ja der alte Bondogart erschrecken“.
Als Theophil geendet und sich ein paar Krümel von der Tracht gestrichen hatte, meinte Mühlmann nachdenklich: „Ja, ich denke, wir müssen die Menschen suchen, jene, die in den Sagen unsere grossen Verbündeten gewesen sein sollen. Ich werde Euch beiden acht weitere Boten zur Seite stellen. Ihr beide sollt zusammen mit diesen Boten die alte Festung im Tal der Könige, welches die Sonnenberge durchquert, aufsuchen und die Menschen dort um Rat fragen.“
Dann warf Salzmann, der bisher geschwiegen hatte, ein: „Sollten wir nicht auch mehr Kobolde in die Tagsatzungstruppen einberufen, um die Grenze zu schützen? Schliesslich könnte es wiederholt zu solchen Vorkommnissen kommen.“ „Ich werde mich darum kümmern“, erwiderte Mühlmann immer noch nachdenklich, „die Tagsatzung wird möglicherweise sogar einen Koboldoral bestimmen.“
Dabei begannen Salzmanns Augen zu leuchten, denn er hoffte, diesen Posten zu erhalten, schliesslich war er der dienstälteste Oberbataillonär.
Die Sonne stieg golden über dem verschneiten Garland auf und liess die riesige uralte Ruine auf dem Hügel silbern erstrahlen. Das Städtchen war ruhig und die Luft durch die nächtlichen Schneefälle eiskalt. Ein wunderschöner, jedoch eiskalter Wintertag kündigte sich an. Der Name des Städtchens war Gar, niemand wusste genau, woher der Namen kam. Gar lag an einem Hügel gegenüber dem Ruinenhügel. Dazwischen erstreckte sich eine leicht bewaldete Ebene, und mitten über diese Ebene verlief eine breite Pflasterstrasse, die es schon gab, ehe die Geschichte der Stadt mitten im Königreich von Cammal niedergeschrieben wurde. Gar bestand mehrheitlich aus einfachen Holzhäusern. Nur wenige Häuser besassen Teilbauten aus dem grauen Stein eines Steinbruchs, der sich manche Wegstunde von Gar entfernt befand. Das Fichtenholz stammte mehrheitlich von den bewaldeten Hügeln in der Gegend. Einige wenige Bürger konnten es sich leisten, an ihren Häusern Schnitzereien anzubringen. Die Häuserreihen des Städtchens standen eng beieinander. Um vom Haupttor zu den Seitentoren in den Holzmauern zu gelangen, welche Gar umgaben, musste man zuerst an die oberste Stelle des Orts gehen, um die richtige Strasse zu wählen. Einzig mehrere langgezogene flache Holzhäuser standen ausserhalb der Mauer. In jenen Gebäuden wurden Holz, Stein und viele weitere Dinge verarbeitet und veredelt. Sie hatten einen grossen Teil zu Gars Wohlstand und Reichtum beigetragen und waren der Stolz des Bürgermeisters, natürlich neben den edlen steinernen Schatzkammern mit ihren grünen Ziegeldächern und ihren prall gefüllten Tresoren. Von der breiten alten Pflasterstrasse, die an Gar vorbeiführte, zweigten weitere gepflegte Strassen ab, während die Wege, welche die Dörfer des gesamten Garlands miteinander verbanden, nicht so sorgfältig instand gehalten wurden. Sie wurden unbefahrbar, sobald starker Regen einsetzte.
Die meisten Familien Gars gehörten verschiedenen Sippen an. Es gab fünf davon, die Herdinger, die Arninger, die Oringer, die Thoringer und die Fredinger. Einige Sippen waren nicht gut aufeinander zu sprechen, Heiraten zwischen den Sippen waren selten. Es gab aber auch Familien, die keiner Sippe angehörten.
Die Strassen waren noch leer, nur über der Bäckerei stieg ein feiner Rauch auf. Einzig die Glocken der Wachablösungen waren zu hören, als der Sohn eines Schmiedes, Larior, erwachte und zum Fenster seines Dachzimmers hinausschaute. Larior war mittelgross für sein Alter, hatte braune Haare und blaugraue Augen. Seine Familie gehörte zu jenen, welche aus keiner Sippe stammten. Er blieb noch eine Weile unter seiner warmen Wolldecke liegen und hörte den Stimmen seines Vaters und seines Bruders zu, die nebenan miteinander sprachen. Das taten sie oft, doch schien das Gespräch der beiden an diesem Tage anders zu verlaufen. Arior, Lariors Vater, sprach hastig, während die Antworten von Lariors Bruder Grindor eher erstaunt klangen.
„Du hast spezielle Talente, „meinte Arior zu seinem älteren Sohn, „du weisst bestimmt schon länger, dass unser Blut jenes der Jäger, des alten Volkes, ist. Ich sehe, dass du bewandert bist in der Staatskunde unserer Stadt und des Reiches, möglicherweise wirst du eines Tages die Stellung deines Chefs übernehmen können und vielleicht irgendwann später an den Hof nach Cammal ziehen und als Berater tätig werden. Dies wäre das Nächstliegende, doch wird sich womöglich bald vieles ändern und jemand unseres Volkes wird dich in seinen Dienst stellen wollen. An diesem Tag, so hoffe ich, wirst du dieses Angebot annehmen, denn es wird ein wichtiger Tag für alle Angehörigen des alten Volkes.“
„Was die Jäger betrifft, verstehe ich schon, doch nicht, was dieses Volk erreichen soll“, erwiderte Grindor verunsichert.
„Früh genug wirst du das erfahren“, erklärte Arior mit seiner tiefen Stimme, „doch wenn die Zeit gekommen ist, denke ich, dass du eine taugliche bedeutsame Stellung einnehmen könntest. Du interessierst dich im Gegensatz zu deinem Bruder mehr für die Zukunft als für die Vergangenheit. Die Angewohnheit, eher daran zu denken, wie es vor Jahrtausenden gewesen ist, als das alte Volk noch in Glanzzeiten lebte, ist in unserem Volk nur zu sehr verbreitet, anstatt vorauszudenken und in Betracht zu ziehen, dass nichts mehr genauso sein wird wie damals, sondern dass es von Neuem aufgebaut werden muss. Das ist alles, was du nun zu wissen brauchst, doch sage deinem Bruder nichts davon. Ebenfalls würde ich sagen, dass du mehr Kopfarbeiter bist, während er in der Entschlossenheit seine Stärke hat. So wird jeder seine Rolle einnehmen können, sofern er das will.“
Verwirrt und etwas verärgert hörte Larior zu, bis sie sich schliesslich ins untere Stockwerk begaben und er den Hammer seines Vaters in der Schmiede hörte.
Als Larior die Treppe hinunterging, sah er seinen Vater an der Esse, wie er begann, neue Schwerter für die Stadtwache zu schmieden und die alten zu schleifen. Das Feuer, welches den Stahl aufheizte, liess eine angenehme Wärme durch das Haus streichen, während draussen der kalte Winter sein Unwesen trieb. Lariors Vater war weit herum für seine Schmiedekunst bekannt, doch er verriet niemandem sein Geheimnis. Er war grösser und anders aussehend als die anderen Männer in der Gegend.
Die Schmiede wurde nur durch eine alte Holztüre vom Wohnraum getrennt, wo Lariors Mutter, Auwalla, schon ein Frühstück zubereitete. Sie war im Vergleich zu den anderen Frauen ebenfalls gross, ihr Haar war blond und ihre Haut bleich. Sie sah in einer gewissen Art den Menschen hier sehr unähnlich. Das Haus war weder besonders gross noch besonders klein, Lariors Familie war eine der wohlhabenderen Handwerkerfamilien in Gar. Das Frühstück war heute üppiger als sonst, denn genau vor sechzehn Jahren, am selben Kalendertag, hatte Larior das Licht der Welt erblickt. Nach dem Morgenessen und den Glückwünschen seiner Mutter, seines Vaters und seines älteren Bruders Grindor, welcher ziemlich gross war, aber von eher schmächtiger Statur, wurde Larior von seinem Vater in den Keller mitgenommen, in welchem eine uralte Kiste stand. Larior hatte die Kiste schon mehrmals gesehen, doch, wenn er seinen Vater danach fragte, bekam er nie eine Antwort. Und jedes Mal, wenn er dann das Gesicht seines Vaters ansah, sah er eine Art Wehmut, als würde sein Vater etwas vermissen oder sich nach etwas sehnen. Nun führte ihn sein Vater zu dieser Kiste. „Das, was ich dir jetzt zeige, darfst du weder deinem Bruder noch sonst jemandem erzählen“, erklärte er, während er das massive Schloss mit einem feingearbeiteten glänzenden Schlüssel öffnete. Er hob den Deckel langsam an, ein merkwürdiger Glanz schimmerte aus der Truhe. Larior sah, dass die alte schäbige Kiste von innen reich verziert war, doch sein Vater gewährte ihm nur einen kurzen Blick in die Truhe, bevor er den Deckel wieder leise schloss. Larior konnte einzig eine alte Halskette mit einem Birkenblatt als Anhänger und ein Schwert mit schmutzigem Heft in einer Scheide erkennen. Während er darüber nachdachte, was das bedeutete, was sein Vater ihm soeben gezeigt hatte, begann dieser leise zu sprechen: „Irgendwann wird die Truhe dir gehören, hüte sie gut! Auch wenn die Gegenstände darin nicht danach aussehen, sind sie dennoch von grossem Wert.“
Darauf war Larior noch verwirrter als zuvor, er konnte nicht mehr anders, er musste seinen Vater fragen: „Was hat das alles zu bedeuten, ich bin noch ganz jung, aber wo kommen wir überhaupt her, wir sehen nicht aus wie die Leute hier?“
„Die Bedeutung vieler Dinge, mein Junge“, flüsterte sein Vater, „erfahren wir erst, wenn wir sie erleben. So wirst auch du sie irgendwann verstehen.“
„Was werde ich verstehen?“, hakte Larior weiter nach. Er bekam als Antwort aber nur ein mageres „Du wirst verstehen“, zurück. Larior musste sich damit zufrieden geben, denn er spürte, dass sein Vater das, was er verheimlichte, nicht preisgeben wollte. Vater und Sohn gingen wieder hinauf in den Wohnraum. Sein Vater kehrte bald wieder an seine Arbeit in der Schmiede zurück und Larior ging hinaus auf die Strasse, um für seine Mutter auf dem Markt Einkäufe zu besorgen. Als er zur Tür hinausging, schlug ihm eine Eiseskälte entgegen. Der Junge verschwand gleich wieder im Haus, um seine Jacke aus Bärenfell zu holen. Auf halber Strecke zum Marktplatz fiel ihm ein, dass bei dieser Kälte der Markt in der Markthalle beim Rathaus abgehalten wurde. So konnte er gleich auch Grindor, seinem Bruder, welcher für den Bürgermeister arbeitete, einen Besuch abstatten. Am Eingang zum Rathaus, dem einzigen Haus im Städtchen, das mehrheitlich