Die Zerstörung der EU - Peter Michael Lingens - E-Book

Die Zerstörung der EU E-Book

Peter Michael Lingens

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Beschreibung

In aller Stille steuert die EU auf die größte Krise ihrer Geschichte zu. Zentrale Ursache dieses Niedergangs ist die Wirtschaftspolitik der deutschen Regierung: Ihr Spar-Wahn hemmt Europas Wirtschaftswachstum. Ihr Abgehen von einer Lohnpolitik, bei der die Reallöhne mit der Produktivität steigen, sprengt die europäische Gemeinschaft. Die österreichische Bundesregierung hat sich der deutschen Politik, unter anderem weil Deutschland ihr größter Handelspartner ist, angeschlossen und wird damit auf die Dauer nicht gut fahren. Der Journalist und Buchautor Peter Michael Lingens analysiert die Rollen Deutschlands als Sprengmeister und Österreichs als Mitläufer.

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PETER MICHAEL LINGENS

Die Zerstörung der EU

Deutschland als Sprengmeister Österreich als Mitläufer

FALTER VERLAG

© 2019 Falter Verlagsgesellschaft m.b.H.

1011 Wien, Marc-Aurel-Straße 9

T: +43/1/536 60-0, E: [email protected], W: www.falter.at

Alle Rechte vorbehalten. Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub: 978-3-85439-654-3

ISBN Kindle: 978-3-85439-647-5

ISBN Printausgabe: 978-3-85439-633-8

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2019

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Die Thesen dieses Buches

Gelbe Karte für Macron

Das Drama Italiens

Das geleugnete Fiasko

Die einzigartige Rettung der Iberischen Halbinsel

Wie der Sparpakt Österreich schadet

Der verschwiegene Vorteil der Briten

Flüchtlinge als fatale Verschärfung

Das neue Deutschland

Wie die Deutschen den US-Dollar missverstehen

Was den Euro vom US-Dollar trennt

Die deutsche Führungsrolle nach der Krise

Was private Schulden von Staatsschulden trennt

Warum muss ein soveräner Staat nie pleitegehen?

Die gefährlichen privaten Schulden

Die Infektion der EU durch die USA

Sparen als protestantische Tugend

Weshalb muss Sparen die Wirtschaft bremsen?

Der Unfug von schwarzen Nullen und Überschüssen

Woher kommen die Schuldengrenzen?

Das fatale Misstrauen gegenüber dem Staat

Warum ist der Staat kein Unternehmen?

Der neoliberale Kampf gegen QE

Das Wunder von Wörgl

Warum wehren sich die Bürger nicht?

Lohnzurückhaltung – die deutsche Wunderwaffe

Die Agenda 2010

Die Wirkung der Wunderwaffe

Ist Freihandel immer das Beste?

Was bedeutet Lohnzurückhaltung zu Hause?

Die politischen Folgen der Lohnzurückhaltung

Der Jammer der Sozialdemokratie

Der rechte Weg, weg von der Sozialdemokratie

Wie Neoliberale den Markt missverstehen

Was bedeutet Neoliberalismus in der Praxis?

Wo bleibt eine neue Wirtschaftspolitik?

Epilog: Gregor Gysi zur Einführung des Euro

Der Autor

Endnoten

Für Anna, Max, Michael, Noah und Ben, die in einer erfolgreicheren EU leben sollen

DIE THESEN DIESES BUCHES

Umfragen zu Ende des Jahre 2018 bescheinigen der EU die größte Zustimmung der Bevölkerung seit 25 Jahren. Dieses Buch bescheinigt ihr zu Beginn des Jahres 2019 die schwerste Krise ihrer Geschichte. Die Erklärung für dieses Paradoxon ist die mediale Aufbereitung des Brexit: Nachdem die Briten ihn 2016 beschlossen hatten, befassten sich Europas Zeitungen und Fernsehstationen von Monat zu Monate weniger mit dieser dramatischen Schwächung der EU, stattdessen immer intensiver mit den gewaltigen Problemen, die sich Großbritannien mit dem Verlassen der EU angeblich einhandelt. Das hat Leser und Zuhörer entsprechend beeindruckt und sie ziehen daraus den Kurz-Schluss, dass es doch ein entscheidender Vorteil sei, der EU anzugehören. Selbst Heinz-Christian Strache, Marine Le Pen oder Matteo Salvini fordern nicht mehr den Austritt ihrer Heimatländer aus der Europäischen Union, sondern nur ihre Reform.

Das tut auch dieses Buch – wenn auch aus anderer Perspektive. In denkbar ungewollter Gemeinsamkeit mit Matteo Salvini halte auch ich die aktuelle Wirtschaftspolitik der EU, voran der Eurozone, für katastrophal und vertrete in diesem Zusammenhang folgende drei Thesen:

Erstens: Sparen des Staates, wie der Vertrag von Maastricht es fordert, wie Deutschlands vormaliger Finanzminister Wolfgang Schäuble es predigt und wie Kanzlerin Angela Merkel es via Sparpakt der gesamten EU mit Ausnahme Großbritanniens und Tschechiens unter Strafandrohung verordnet hat, ist wirtschaftlich maximal kontraproduktiv. Denn Wirtschaftswachstum kann nur zustande kommen, wenn mehr verkauft wird, und es kann aus Gründen der Mathematik nur mehr verkauft werden, wenn zugleich mehr eingekauft wird. Wenn von den drei großen potenziellen Einkäufern einer Volkswirtschaft – Konsumenten, Unternehmen und Staat – einer, nämlich der Staat, seine Einkäufe zum Zweck des Sparens einschränkt (ohne dass Konsumenten und Unternehmer ihre Einkäufe ausgeweitet hätten), ist es denkunmöglich, dass der Gesamtverkauf wächst. Wenn er es, wie etwa in Deutschland, dennoch tut, dann zulasten anderer Volkswirtschaften, deren Konsumenten, Unternehmen und staatliche Stellen sich an Deutschlands Stelle verschulden. Sofern es EU-Mitglieder sind, verstoßen sie damit gegen den von Deutschland initiierten Sparpakt. Diese absurde Konstellation ist verantwortlich für die, verglichen mit Großbritannien oder den USA, so schleppende Erholung der Eurozone.

Zweitens: Deutschlands „Lohnzurückhaltung“, die seine Unternehmen seit der rot-grünen Regierung Gerhard Schröders im Jahr 2000 üben, verdient die Bezeichnung „Lohndumping“: Die Waren deutscher Unternehmen nehmen den Waren aller anderen Volkswirtschaften, voran jenen Norditaliens und Frankreichs, immer mehr Marktanteile weg, ohne dass sich die Qualität deutscher Waren oder die Effizienz ihrer Herstellung erhöht hätte. Vielmehr subventionieren Deutschlands Arbeitnehmer Deutschlands Warenpreise durch real sinkende Löhne. Damit vermindert sich zugleich Deutschlands Kaufkraft, so dass weder deutsche noch gar französische oder italienische Unternehmen auf dem deutschen Markt mit ausreichendem Warenabsatz rechnen können. Das erschüttert Europas Wirtschaftsgefüge gleich doppelt. In den Ländern, die solcherart Marktanteile an Deutschland verlieren, kommt es zwingend zu hohen Arbeitslosenraten und explodierender Jugendarbeitslosigkeit, während in Deutschland Arbeitskräfte-Knappheit eintritt. Das deutsche Verhalten ist unvereinbar mit den Regeln fairen Wettbewerbs auf einem freien Markt und verstößt gegen die in der EU vereinbarte Zielinflation von 1,9 Prozent.

Drittens: Der „Neoliberalismus“ als Wirtschaftsideologie begünstigt das in „erstens“ und „zweitens“ angeführte Fehlverhalten. Er ist voller ökonomischer Missverständnisse bezüglich jener wirtschaftlichen Bedingungen, die er selbst für wirtschaftlich optimal hält. Neoliberale Vorstellungen vom Sinn „betriebsspezifischer“ Lohnverhandlungen oder bezüglich der Funktion von Gewerkschaften sind ebenso falsch wie die neoliberale Vorstellung vom maximalen Wohlergehen der Bevölkerung oder vom Entstehen gefährlicher Inflation.

Leider konzentrieren sich alle drei Fehlverhalten in der Politik von deutschen Regierungen, die ich bezüglich ihrer sonstigen Außen-, Innen- und Umweltpolitik durchaus schätze. Angela Merkel ist für mich eine der wenigen Staatschefs, die Wladimir Putin mit der nötigen Reserve begegnen, und ihr Verhalten anlässlich der in Budapest gestrandeten Flüchtlinge habe ich in einem Kommentar für Profil „ein deutsches Märchen“ genannt, auch wenn ich heute erkennen muss, dass das Zusammentreffen des Flüchtlingsproblems mit den Problemen der europäischen Wirtschaft zu einer extrem explosiven Gemengelage geführt hat. Aber diese Gemengelage wäre ungleich weniger explosiv, wenn die Wirtschaftspolitik der EU – in Wahrheit die Wirtschaftspolitik Angela Merkels und Wolfgang Schäubles – keine so katastrophale wäre.

Weil Deutschland eigentlich nie von der D-Mark lassen wollte, war der Euro von Beginn an falsch – ganz anders als der US-Dollar – konstruiert. Aus den gleichen deutschen Missverständnissen heraus wird er von einer von Deutschland angeführten EU so katastrophal verwaltet. Deutschlands Schuldenphobie würgt die Konjunktur der Eurozone ab und behindert ihre nachhaltige Erholung. Die von der SPD mit der Agenda 2010 initiierte deutsche Lohnpolitik verhindert faire unternehmerische Konkurrenz. Voran durch dieses doppelte Fehlverhalten Deutschlands ist die EU akut von der Zerstörung bedroht. Dass das innerhalb der EU voran an der Eurozone liegt, hat damit zu tun, dass dort das Gros der großen „alten“ Volkswirtschaften angesiedelt ist, während für neu hinzugestoßene, meist exkommunistische, ein günstigeres Investitions- und Nachfrageverhalten gilt.

Österreich hat sich der deutschen Politik teils zwangsläufig – weil Deutschland sein größter Handelspartner ist –, teils aus Sebastian Kurz’ neoliberaler Überzeugung angeschlossen und wird damit als ihr Mitläufer langfristig nicht gut fahren.

Das – in groben Zügen – will ich in diesem Buch belegen. Dazu den mangelnden Widerstand einer Sozialdemokratie, die sich ebenfalls zunehmend neoliberalen Wirtschaftsmissverständnissen hingegeben hat und so ihren Niedergang zementiert. Denn die ökonomischen Missverständnisse des Neoliberalismus sind für die deutsche Politik ebenso verantwortlich wie die schwäbische (protestantische) Überzeugung, dass „Schuld“ auf sich lädt, wer Schulden macht. Obwohl diese beiden Ideologien – denn das, und nicht ökonomische Theorien, sind sie – einander vielfach widersprechen, machen sie weltweit Furore und verantworten das auch weltweit größte ökonomische Problem: die immer gewaltigere Konzentration von Vermögen und Macht in einem immer winzigeren Teil der Bevölkerung.

Zur Entstehung dieses Buches

Ein paar Hinweise zur Gedanken- und Datenbasis dieses Buches: Ich nutze gerne fremde Erkenntnisse, denn im Grunde bin ich nicht mehr als ein recherchierender Reporter. Bei allen meinen Überlegungen zum „Sparen des Staates“ habe ich der Aussage des emeritierten Professors für Finanzwissenschaften der Universität Wien, Erich W. Streissler, vertraut, der anlässlich eines Seminars erklärte: „In einem hat Keynes sicher recht – in einer Krise darf und kann der Staat nicht sparen.“ Dem „Traktat“ von Richard Winter habe ich Überlegungen zum Unterschied von Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft, zur Funktion des Geldes und zur Inflation entnommen. Und Professor Heiner Flassbeck, von 1998 bis 1999 Staatssekretär im deutschen Bundesministerium für Finanzen und von Januar 2003 bis Ende 2012 Chef-Volkswirt der UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung, hat mich auf die überragende Bedeutung der deutschen „Lohnzurückhaltung“ aufmerksam gemacht. Sein Wirtschafts-Nachrichtendienst Makroskop ist zu meiner täglichen Lektüre geworden. Neben der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als Reibebaum: Ihre Kommentare sagen zwar fast durchwegs das Gegenteil von dem, was ich im Falter schreibe – aber man findet dort immer auch Berichte, Analysen, Gastbeiträge und Fakten, die es erleichtern, ihnen zu widersprechen.

Nicht zuletzt ist das meiste dessen, von dem ich in diesem Buch nachweise, dass es leider eigetreten ist, vor zwanzig Jahren vorhergesagt worden: In einer Rede des deutschen PDS-Abgeordneten Gregor Gysi anlässlich der Einführung des Euro. Prophetisch sagte er voraus, dass es unmöglich sei, Europa durch den Euro zu einen – nur ein bereits solidarisch geeintes Europa könne schlussendlich eine gemeinsame Währung beschließen. Ich habe Gysis Rede dem Buch daher als Epilog angehängt.

Soweit ich in meinen Texten Zahlen bezüglich des realen, „kaufkraftbereinigten“ BIP pro Kopf (BIP/Kopf PPP), der Arbeitslosigkeit oder der ominösen (wenig sinnvollen) „Staatsschuldenquote“ verwende, stammen sie aus der Datenbank der Weltbank, der OECD oder von statista.de. Wenn sie – selten genug – aus einer anderen Quelle stammen, führe ich diese an.

GELBE KARTE FÜR MACRON

Die Situation hätte symbolischer nicht sein können: Emmanuel Macron, Europas „Jupiter“, wie Medien ihn getauft hatten, der strahlende „Hoffnungsträger“ der Europäischen Union, dem man zugetraut hatte, ihr wieder Kraft zu verleihen, sie wieder mit dem einstigen Geist von Aufbruch in eine bessere Zukunft zu erfüllen, musste sich bei seiner Bevölkerung entschuldigen, ihr eine Erhöhung der Mindestlöhne und Mindestpensionen zugestehen, die nach Ansicht der EU die Defizitgrenzen des Sparpaktes sprengt, und dennoch den „sozialen Notstand“ ausrufen.

Nur so konnte er sich gerade noch im Amt halten.

Denn die Proteste hunderttausender „Gelbwesten“, die ihn zu diesen Zugeständnissen gezwungen haben, dürften sich zwar, zunehmend von Rowdies und Wirrköpfen gekapert, langsam totlaufen, aber die überwältigende Mehrheit der Franzosen – je nach Umfrage sechzig bis siebzig Prozent – hat sich mit ihren Zielen identifiziert. Zielen, die man, so unterschiedlich, wirr und widersprüchlich sie auch waren – so wurden gleichermaßen höhere und niedrigere Steuern gefordert oder katholische „Gelbwesten“ verlangten etwa das Ende der Homo-Ehe –, ökonomisch auf einige wenige simple Ansprüche reduzieren kann: Wir wollen Löhne und Pensionen, von denen wir leben können! Wir wollen nicht täglich Angst um unseren Job haben! Wir brauchen dringendst Arbeit für unsere Jugend! Und wir halten nichts von Macrons Rezepten zur Verbesserung unserer Lage – er ist ein Präsident der Reichen!

Dass so viele der „Gelbwesten“ Macrons Kopf fordern, muss ihn besonders nachdenklich stimmen, denn 52 Prozent von ihnen haben ihn ursprünglich gewählt.

In Deutschland glauben Ökonomen die wahren Gründe der Revolte gegen Macron zu kennen: dass Frankreich nämlich wirtschaftliche Reformen, wie sie in Deutschland stattgefunden haben, durch Jahrzehnte versäumt hätte; dass die Bevölkerung nicht verstünde, wie dringend diese Reformen wären; dass die Strukturen Frankreichs eben zu verkrustet wären.

In Zeitungen und Zeitschrift Deutschlands und Österreichs kann man lesen, worin diese Verkrustung besteht: im viel zu großen Zentralismus; in den zu starken kommunistischen Gewerkschaften; in zu vielen versäumten „Hausaufgaben“; im noch immer zu großen Anteil der Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt; in der mangelnden Flexibilität des Arbeitsmarktes; in der zu großen Kluft zwischen Stadt und Land; in der zu geringen Bereitschaft einer abgehobenen Elite, sich mit den Problemen des „kleinen Mannes“ auseinanderzusetzen. Und natürlich auch in der Verschonung dieser Elite vor Strafverfolgung wegen Korruption.

Eine Menge davon ist richtig. Dennoch hatte dieses Frankreich noch 2005, vor nur 13 Jahren, trotz all dieser seiner behaupteten oder wirklichen Fehler ein reales, kaufkraftbereinigtes BIP pro Kopf, das mit 36.505 US-Dollar nur um 1198 US-Dollar unter dem deutschen von 37.703 US-Dollar lag.

2017 lag es mit 38.605 US-Dollar um 6624 US-Dollar unter dem deutschen von 45.229 US-Dollar. Der Abstand hat sich in 13 Jahren mehr als verfünffacht. Dazwischen liegen 18 Jahre deutscher Marktanteilsgewinne dank „Lohnzurückhaltung“, die ich, wie ich begründen werde, Lohndumping nenne. Und dazwischen liegt ein Sparpakt, der die deutsche Wirtschaft, aus Gründen, auf die ich eingehen werde, weit weniger Wachstum als alle anderen Volkswirtschaften Europas gekostet hat.

Natürlich ist das kaufkraftbereinigte BIP pro Kopf keine perfekte Kennzahl wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, schon deshalb nicht, weil zum Beispiel eine Feuerkatastrophe, deren Schäden behoben werden müssen, es ebenso erhöht wie Rettungsaktionen für bankrotte Banken. Aber im Großen und Ganzen kennzeichnet das BIP/Kopf PPP diese wirtschaftliche Leistungsfähigkeit sehr wohl.

Frankreich ist keine schwache Volkswirtschaft. Es hat viele gute, ausreichend große Unternehmen, seine Klein- und Mittelbetriebe könnten noch besser – den österreichischen oder deutschen vergleichbarer – sein, aber dafür hat es eine große, nicht konjunkturabhängige Luxusindustrie, und seine Banken sind sehr viel stärker als deutsche Geldinstitute. Frankreich hat gute Patente, sehr gute Schulen und sehr gute Universitäten.

Nur für Deutsche sind Renault-Motoren, trotz zweier Weltmeistertitel für Red Bull in der Formel 1, ganz unvergleichlich schlechtere Motoren als jene von Mercedes oder BMW. Das reale BIP pro Kopf als übliche Kennzahl wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit war es im Jahr 2005 jedenfalls nicht – mit seinen 36.505 US-Dollar war es nur um 3,1 Prozent geringer als das deutsche.

Wie fast überall in Europa ist dieses BIP bis 2009 kontinuierlich gewachsen und mit der Wirtschaftskrise ist es in Frankreich beträchtlich, von 37.755 auf 36.324 US-Dollar, in Deutschland wegen seiner Exportabhängigkeit sogar noch stärker, von 40.989 auf 38.784 US-Dollar, eingebrochen. Danach erholten sich die beiden Volkswirtschaften bis 2011 deutlich – in Frankreich auf 37.440 US-Dollar pro Kopf, in Deutschland dank massiver Investitionen im Sinne Keynes sogar auf 42.692 US-Dollar. Danach bremste der Sparpakt beider wirtschaftliche Erholung deutlich ein, aber Deutschland steigerte sein BIP/Kopf dennoch in den folgenden sechs Jahren bis 2017 (dem letzten Jahr, für das bei Redaktionsschluss exakte Zahlen vorliegen) auf 45.229 US-Dollar. Frankreichs BIP hingegen legt nur mehr auf 38.605 US-Dollar zu.

Aus einem Abstand von nur rund 1200 US-Dollar zugunsten Deutschlands im Jahr 2005 ist einer von rund 6600 US-Dollar im Jahr 2017 geworden (siehe Grafik).

Quelle: The World Bank

Die Entwicklung des deutschen realen BIP pro Kopf im Verhältnis zum französischen: Bei beiden bremst der 2012 beschlossene Sparpakt die Erholung massiv. 2017 ist der Abstand dank Deutschlands Lohnpolitik mehr als fünf Mal so groß wie er 2005 gewesen ist.

Der so dramatisch vergrößerte Abstand hat sicherlich mehrere Gründe, aber zweifelsfrei einen Hauptgrund, der in deutschen und österreichischen Medien so gut wie keine Erwähnung findet: Während Frankreich seine Löhne jedes Jahr um den Produktivitätszuwachs plus Inflation erhöhte und so, wie in der EU vereinbart, eine Inflationsrate von ca. 1,9 Prozent einhielt, tat Deutschland das seit Gerhard Schröder nicht mehr. Daher die Reallohnverluste der deutschen Arbeitnehmer. Daher freilich der gewaltige Konkurrenzvorteil der mit relativ immer weniger Lohnkosten belasteten deutschen Produkte. In acht Jahren hat er sich zu einem Lohnstückkosten-Vorsprung deutscher Waren gegenüber französischen Waren von rund zwanzig Prozent addiert.

Entwicklung der Lohnstückkosten in Deutschland und Frankreich

Im Vergleich zur „Goldenen Lohnregel“, wie sie seit Einführung des Euro im Jahr 1999 gilt. Die Goldene Lohnregel drückt aus, dass die Lohnstückkosten in den einzelnen Euroländern um jährlich 1,9 Prozent steigen müssen – das ist die Zielinflation der Europäischen Zentralbank.

Quelle: iAGS 2017/taz

Die Lohnstückkosten Deutschlands verringerten sich gegenüber jenen Frankreichs ständig – 2017 betrug der Abstand zulasten Frankreichs zwanzig Prozent.

Entsprechend massiv haben französische Unternehmen allenthalben, in der EU, in Russland, den USA, Südamerika oder China, Marktanteile an deutsche Unternehmen verloren. Mit Deutschland selbst wuchs Frankreichs Handelsbilanzdefizit allein zwischen 1998 und 2007 um den Faktor 30 von 1.317.100.000 US-Dollar (1998) auf 40.461.100.000 US-Dollar (2008). Deutschlands Exporte nach Frankreich selbst sind 2017 um 41,04 Milliarden höher als seine Importe aus Frankreich.

Dem entspricht die schlechte Auslastung französischer und die perfekte Auslastung deutscher Unternehmen. Dem entsprechen 3,75 Prozent Arbeitslosigkeit in Deutschland und 9,4 Prozent Arbeitslosigkeit in Frankreich, obwohl dort viele Menschen die Arbeitssuche längst aufgegeben haben. Dem entspricht ein Anteil jugendlicher Arbeitsloser (zwischen 15 und 24 Jahren) von 6,76 Prozent in Deutschland gegenüber 22 Prozent in Frankreich.

Dem entspricht die Stimmung in Frankreich.

Emmanuel Macron hat versucht, bei Angela Merkel gegen Deutschlands durch Lohndumping bedingten Handelsbilanzüberschuss zu argumentieren – erfolglos. Er hat versucht, Deutschland zu einem Milliarden-Investitionsprogramm zu bewegen, das Deutschland selbst, der gesamten EU und natürlich auch dem benachbarten Frankreich durch Aufträge zugutegekommen wäre und gleichzeitig den Lohnstückkosten-Abstand verringert hätte, weil Deutschlands Löhne stärker gestiegen wären. Vergebens. Denn Deutschland produziert lieber Überschüsse oder wenigstens schwarze Nullen, als massiv zu investieren. Zuletzt hat Macron versucht, der EU selbst ein Milliarden-Investitionsprogramm schmackhaft zu machen, das ein eigener EU-Finanzminister (er wird dabei wohl an einen Franzosen gedacht haben) bewilligen könnte und einmal mehr auch Frankreich zugutegekommen wäre. Wieder wegen deutschen, aber auch heftigen österreichischen Einspruchs vergebens. (Kurz wollte das EU-Budget angesichts des Ausscheidens der Briten eher verringert wissen.)1

Nur mithilfe massiver Mehrverschuldung Frankreichs könnte Macron die Aufträge bereitstellen, die Frankreichs Unternehmen fehlen, was ihm nicht nur der Sparpakt, sondern auch sein eigenes neoliberales Wirtschaftsverständnis verbietet: Auch Macron selbst glaubt, dass Sparen des Staates ein richtiges Rezept zur Überwindung einer wirtschaftlichen Schwächephase ist.

Die Möglichkeit, Deutschland die verlorenen Marktanteile wieder abzujagen, ist eine rein theoretische. Denn dazu müsste es Macron gelingen, Frankreichs Lohnstückkosten durch „Hartzige“ Bestimmungen am Arbeitsmarkt um 25 Prozent abzusenken, weil man Marktanteile nur zurückgewinnen kann, indem man die Preise seines Konkurrenten unterbietet. Frankreich müsste sein Lohnniveau also um mindestens 25 Prozent senken.

Das provozierte eine Revolution, an der gemessen die Revolte der „Gelbwesten“ ein harmloser Kinderjausen-Zwischenfall wäre. Gleichzeitig verminderte es Frankreichs Inlandskaufkraft, die die Konjunktur derzeit aufrechthält, in einem Ausmaß, das sie in kürzester Zeit zusammenbrechen ließe.

Ich sehe nicht, wie sich Macron ohne Hilfe Deutschlands – durch massive deutsche Investitionen, die angesichts des dort herrschenden Arbeitskräftemangels die deutschen Löhne deutlich steigerten, zugleich aber auch französischen Anbietern zugutekämen – aus dieser desolaten politischen Lage befreien soll. Zumal Le Pen sehr geschickt agiert: Sie hat die „Gelbwesten“ ihrer „unverbrüchlichen Unterstützung“ versichert, sich aber, anders als die Führer der linken Opposition, nicht an ihren Demonstrationen beteiligt, so dass sie nicht mit brennenden Autos und eingeschlagenen Scheiben identifiziert wird. Wie Heinz-Christian Strache, der sich nie mit den braunen Ausrutschern seiner Funktionäre identifiziert, wirkt sie auf diese Weise „staatsmännisch“ und wurde auch schon von Macron ins Elysée geladen.

Ich sehe sie nach den nächsten Wahlen dort residieren.

DAS DRAMA ITALIENS

Im Fokus des Interesses an der EU stand bis zu den französischen Feuerzeichen zweifellos Italien. Voran die Daten seines Niederganges:

• Italiens reales BIP pro Kopf, das zwischen 2003 und 2005 gleichauf mit dem deutschen lag, verringerte sich mit dem Sparpakt drastisch und liegt dank Marktanteilsverlusten im Export heute 8,7 Prozent unter dem Vorkrisenniveau. Von Deutschlands BIP ist es dank Marktanteilsverlusten 10.000 US-Dollar pro Kopf entfernt.

Der Niedergang als Schaubild

Quelle: The World Bank

• Dieser Entwicklung des BIP entsprechend haben sich die Realeinkommen der Italiener vermindert. Wie überall bei den Geringverdienern mit Abstand am stärksten – ihre Einkommen liegen durchwegs an der Armutsschwelle – bei den Superreichen vergleichsweise unerheblich.

• Italiens Staatsschuld stieg während des „Sparens“ von 1671,4 Milliarden Euro im Jahr 2008 bis 2017 um rund ein Drittel auf 2256 Milliarden. Die berühmte Staatsschuldenquote (Schulden pro BIP), die sowohl diesen Anstieg der Schulden wie den Absturz des BIP zu verkraften hatte, schnellte von 102,4 Prozent auf 131,8 Prozent hoch.

• Die Arbeitslosigkeit hat sich von 6,7 Prozent im Jahr 2008 auf 11,2 Prozent im Jahr 2017 fast verdoppelt. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt um die zwanzig, im Süden um die fünfzig Prozent. Einmal mehr trotz Abwanderung vieler Arbeitssuchender und obwohl viele Langzeitarbeitslose das Suchen aufgegeben haben. Italiens Bevölkerung ist extrem unterbeschäftigt: Frauen arbeiten besonders selten, prekäre, Minimal- und Teilzeitbeschäftigung sind besonders weit verbreitet.

In dieser ernüchternden wirtschaftlichen Situation erhielten, exakt wie zuvor in Griechenland, die linksanarchische Fünf-Sterne-Bewegung und die rechtsextreme Lega Nord extremen Zulauf. Nachdem sie mit dem Schlachtruf „Die Sparpolitik muss ein Ende haben“ in den Wahlkampf gezogen waren, errangen sie bei den Wahlen im März 2018 den fast unvermeidlichen Erdrutschsieg. Wieder ganz nach dem Muster Griechenlands, wo die linke Syriza Alexis Tsipras’ mit der weit rechten Goldenen Morgenröte koaliert, einigten sich die linksanarchische Fünf-Sterne-Bewegung unter Luigi Di Maio und die neofaschistische Lega Nord Matteo Salvinis auf eine ähnlich seltsame Koalition, bei der die gegenseitigen Sympathien etwa der von Mäusen für Schlangen entsprechen.

Einzige inhaltliche Klammer: die Verzweiflung am Sparpakt.

Nachdem Salvini den fachlich angesehenen, aber politisch umstrittenen Ökonomen Paolo Savona als Lega-Wunschkandidaten für das Amt des Finanzministers durch den Ökonomen Giovanni Tria ersetzt hatte, weil Savona als überaus EU-kritisch gilt, durfte der Elder Statesman Guiseppe Conte mit dem zähneknirschenden Einverständnis der EU eine Fünf-Sterne-Lega-Nord-Regierung bilden, denn anders als Savona gilt Tria nicht als ein Mann, der den Euro-Austritt Italiens für eine mögliche Alternative hält. Allerdings hätten sich Lega und Fünf Sterne auch mit Savona nicht für den Euro-Austritt ausgesprochen, sondern nur die Lockerung des Sparpaktes gefordert.

Dabei ist es geblieben: Im Herbst 2018 legte Italien der EU, wie vom Sparpakt vorgeschrieben, einen Haushaltsentwurf mit folgenden Eckpunkten zur Kenntnisnahme und Begutachtung vor:

• Sie beantragte (und beschloss mittlerweile), eine „Notstandshilfe“ von 780 Euro einzuführen, die sie „Grundgehalt“ nennt, obwohl sie daran gebunden ist, zumindest den dritten angebotenen Job anzunehmen. Der Ökonom Alexander Grasse durfte das in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung entgegen der Blattlinie „sinnvoll“, ja „sozial überfällig“ nennen. Ökonomisch stellte es de facto eine Art Mindestlohn dar, den Arbeitgeber schwer unterbieten können.

• Mit dem Ziel, dem Bürger mehr Geld in der Tasche zu lassen, will die Regierung die Lohn- und Einkommenssteuern, aber auch die Unternehmenssteuern als Flat Tax gestalten und deutlich senken. Denn wenn selbst Geringverdienern mehr Geld in der Tasche bleibt, so hofft sie, werden sie mehr Waren kaufen und Italiens Wirtschaft damit Auftrieb geben. Auch in Österreich hat sich das Wachstum sofort verbessert, nachdem Hans Jörg Schelling die von Michael Spindelegger immer wieder hinausgeschobene steuerliche Entlastung der Bevölkerung endlich durchgeführt hat.

• Aus den gleichen Gründen hat die Regierung auch eine Mindestpension von 680 Euro beschlossen, die Grasse gleichfalls „überfällig“ nennen durfte.

• Schließlich plante die Regierung Steueramnestien, die dazu führen sollten, dass die Italiener in der Schweiz gebunkertes Geld wieder nach Hause bringen. Auch das ist nicht abwegig, aber Beobachter fürchten (nicht zu Unecht), dass die vorzeitige Ankündigung dieser Möglichkeit dazu führte, dass vorerst noch mehr hinterzogen wurde.

Die Kommission hat diesen Haushaltsentwurf wie erwartet erst einmal entrüstet zurückgewiesen, weil er dem Sparpakt – meines Erachtens auf mäßig sinnvolle, wenn auch halb so dramatische Weise – widerspricht. Aber beide Seiten setzten auf drastische Rhetorik: Matteo Salvini erklärte sofort, auf dem Entwurf beharren zu wollen, die EU ihrerseits auf dessen Zurückweisung.

Das eröffnete folgende Szenarien:

• Das in meinen Augen mit Abstand vernünftigste hätte darin bestanden, den Sparpakt aufzugeben. Aber es war nicht zu erwarten, dass Angela Merkel, Jean-Claude Juncker oder auch nur Sebastian Kurz dem zustimmen.

• Das zweite bestand darin, dass sich die Konfrontation zuspitzt: dass die Lega Nord dank immer wilderer Anti-EU-Rhetorik bei Neuwahlen stärkste Kraft wird und entsprechend glaubwürdig mit dem Austritt aus dem Euro droht, was einem Scheitern des Euro denkbar nahe käme.

• Drittens konnte die EU damit spekulieren, Italiens Regierung in die Knie zu zwingen. Vor allem in der deutschen und österreichischen Regierung war man der Überzeugung, die „Märkte“ würden das besorgen: die Zinsen, zu denen Italien sich Geld leiht, dozierten Kurz und Löger, würden derart steigen, dass Salvini gar nichts anderes übrig bliebe als einzulenken. Sie sind tatsächlich etwas gestiegen, weil die EZB es nicht verhindert hat: Man hätte es dem Italiener Mario Draghi zweifellos als Parteilichkeit ausgelegt, hätte er einen entsprechenden Versuch unternommen. Dennoch liegt darin ein grundsätzliches Problem: Liegt doch normalerweise der Sinn von Eingriffen der Zentralbank darin, die wirtschaftliche Situation eines Landes maximal abzustützen.

Doch zu Italiens Glück reagierten „die Finanzmärkte“ nicht so entrüstet wie die EU-Kommission auf Salvinis Absage an den Sparpakt: Italien konnte – wenn auch zu verschlechterten Bedingungen – erfolgreich eine größere Zahl neuer Staatsanleihen platzieren. Nicht einmal die Ratingagenturen stuften die Bonität italienischer Anleihen vorerst herab.

Hätten die „Märkte“ Italiens Staatsschuldenquote so ernst wie Kurz, Löger, Deutschlands Finanzminister Olaf Scholz und die EU-Kommission genommen, so hätte die Kommission Italien nicht nur eine Milliardenstrafe androhen, sondern es in der Folge wie Griechenland unter Kuratel stellen und „sanieren“ – durch gekürzte Staatsausgaben, gekürzte Beamtengehälter, gekürzte Pensionen und Sozialleistungen –, zum Schuldenabbau zwingen müssen. Das wäre, so meine Behauptung, exakt wie in Griechenland ausgegangen: Auch Italien wäre im Eilzugstempo restlos ruiniert gewesen. (Siehe „Das geleugnete Fiasko“, S. 27)

Die „Märkte“ waren also einsichtiger als die genannten Politiker und der Kommission und Italien blieb ein sofortiges Fiasko durch die EU-Wirtschaftspolitik erspart. Somit kann die Kommission ohne Gesichtsverlust weiterwursteln: Der Sparpakt wurde zwar nicht aufgegeben, aber Italien braucht sich auch nicht wirklich daran zu halten. Man akzeptierte ein paar unerhebliche Veränderungen gegenüber dem Ur-Entwurf, die angeblich nicht zu einem Defizit von 2,4, sondern nur von 2,04 Prozent führen werden, und hofft aufs Beste – denn schlechter kann es, im Gegensatz zu den Warnungen Jean-Claude Junckers, nicht werden.

Die gleiche Geschichte, anders erzählt

Weil Italien damit aber zweifellos keineswegs saniert ist, möchte ich hier ausführen, was ich selbst für die Ursache der Probleme des Landes halte. Dabei unterscheide ich so weit wie möglich zwischen aktuellen und permanenten Ursachen.

Die permanenten sind altbekannt: überschießende Korruption; eine Justiz, die ihr nicht gewachsen ist, weil die Politik sie nicht unterstützt; ein desolates Steuersystem, das die Steuerhinterziehung zur Norm gemacht hat; eine viel zu große, schlecht geführte, verlustreiche staatliche Industrie; und vor allem ein kaum zu überwindendes, weil gesellschaftlich bedingtes Nord-Süd-Gefälle.

Aber trotz dieser seit jeher vorhandenen Hürden ist Italiens reales BIP pro Kopf bis 1991 auf beachtliche 31.599 US-Dollar gestiegen und lag damit, trotz des zurückgebliebenen Südens, kaum messbar unter Österreichs 32.098 US-Dollar. Denn das Land besitzt – auch heute noch – hervorragende Wissenschaftler und Techniker und sein Norden ist hoch industrialisiert; italienische Produkte zeichnen sich durch besondere Schönheit aus; und die Italiener sind auch in keiner Weise faul – pro Jahr arbeiten sie mehr als Deutsche oder Österreicher.

Der Euro-Beitritt, so war man im In- wie im Ausland überzeugt, würde Italiens Aufstieg weiter fördern. Zumal es sich in der Vorbereitung darauf als Musterschüler erwies: Ganz im Sinne des Maastricht-Vertrages produziert sein Staatshaushalt bereits seit 1995 ständig – Hartwig Löger müsste in Standing Ovations ausbrechen – „Primärüberschüsse“.

In Wirklichkeit entzogen diese Überschüsse des Staates – wie das auch Österreichs aktuelle Überschüsse tun werden – der Wirtschaft nötige Investitionen: Bis zum Jahr 2000 hatte sich der Pro-Kopf-Abstand zu Österreich, wo Hannes Androsch in den 1970er-Jahren als Finanzminister Schulden statt Überschüsse produzierte, auf 2491 US-Dollar erhöht. Der gewaltig intensivierte EU-interne Handel ließ es bis 2007 zwar auf die angeführten 38.610 US-Dollar steigen, der Abstand zu Österreich aber war zu diesem Zeitpunkt bereits auf 6831 US-Dollar angewachsen und ist bis 2017 auf 10.216 US-Dollar hochgeschnellt.

Dem entsprechen die Gefühle von Italienern, wenn sie sich mit den benachbarten Österreichern vergleichen.

Dass Italien derart litt, liegt, abseits der miserablen, hyperkorrupten Wirtschaftspolitik unter Silvio Berlusconi und des widersinnigen Sparpaktes, exakt wie in Frankreich an der dramatisch verschärften industriellen Konkurrenz durch Deutschland. Wieder am deutsch-italienischen Handel selbst demonstriert: Zwischen 1998 und 2007 stieg Italiens Handelsbilanzdefizit gegenüber Deutschland um den Faktor 38 von 585.570.000 US-Dollar auf 22.637.560.000 US-Dollar. Der ebenso populäre wie einflussreiche deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn kritisiert zu Recht, dass Italien seine Löhne schon seit 1995 wesentlich stärker als der EU-Durchschnitt (und stärker als seinen Zuwachs an Produktivität) anhob und damit gegenüber Deutschland massiv an Konkurrenzfähigkeit einbüßte. Was er nicht kritisiert, ist, dass der Abstand nur deshalb so unüberbrückbar groß geworden ist, weil Deutschland gleichzeitig „Lohnzurückhaltung“ übte, so dass seine Lohnstückkosten 2017 um dreißig Prozent unter den italienischen lagen. Das ließ die italienische Industrie sowohl im eigenen Land wie auch innerhalb und außerhalb der EU entsprechend Marktanteile verlieren und ist auch für Italien so desaströs wie für Frankreich. (Auch Österreichs Lohnstückkosten lagen dank „Lohnzurückhaltung“ um circa zwanzig Prozent unter den italienischen, was eine nicht ganz so rühmliche Erklärung für seinen mittlerweile beinahe „deutschen“ Vorsprung beim realen BIP pro Kopf ist.)

Entwicklung der Lohnstückkosten in Deutschland und Italien

Im Vergleich zur „Goldenen Lohnregel“, wie sie seit Einführung des Euro im Jahr 1999 gilt. Die Goldene Lohnregel drückt aus, dass die Lohnstückkosten in den einzelnen Euroländern um jährlich 1,9 Prozent steigen müssen – das ist die Zielinflation der Europäischen Zentralbank.

Quelle: iAGS 2017/taz

Deutschlands Lohnstückkosten lagen um bis zu dreißig Prozent (jene Österreichs um bis zu zwanzig Prozent) unter den italienischen – entsprechend stark litt Italiens Industrie.

Italien hat zwar nach wie vor einen Handelsbilanzüberschuss – aber nicht, weil seine Exporte so hoch, sondern weil seine Importe so gering geworden sind; die unterbeschäftigte italienische Bevölkerung hat für ihre Einkäufe immer weniger Geld in der Tasche.

Das wieder war einer der Gründe, warum der Haushaltsentwurf der Regierung so sehr die Kaufkraft der Bevölkerung steigern wollte, indem er vorsah, die Lohnsteuer zu senken, eine Mindestpension und eine Mindestsicherung einzuführen, die freilich daran gebunden sein sollte, angebotene Jobs anzunehmen.

Darin lag allerdings schon wieder ein Problem dieser Maßnahme: Im zurückgebliebenen Süden wird man Arbeitsuchenden keine Jobs anbieten können, die sie nicht annähmen, obwohl sie zumutbar wären, einfach aus dem Grund, weil es keine gibt – daher wäre es schwer argumentierbar, ihnen keine Mindestsicherung auszuzahlen, noch dazu, wenn man sie „Grundgehalt“ nennt – entsprechend schwer ist es aus gängiger Sicht, diese Mindestsicherung zu finanzieren.

Auch die sozial berechtigte Erhöhung der Mindestpension wird gleich wieder zu einem sehr ernsthaften Problem, wenn man gleichzeitig die von der Vorregierung verfügte Anpassung ans Lebensalter rückgängig macht. Denn wenn eine eher schrumpfende Zahl von arbeitenden Menschen das immer längere Leben alter Menschen finanzieren soll, entsteht ein reales Problem: Die Pensionskasse kann beides zusammen schwer leisten.

Eine sinnvolle Verbesserung hätte allenfalls Umverteilung durch die Einführung einer ernsthaften Vermögenssteuer mit sich gebracht, aber die hatte Salvini so wenig im Programm wie die Österreichische Volkspartei.

Trotzdem könnte die insgesamt geplante bessere finanzielle Absicherung der Bevölkerung durch Mindestpension und Mindestsicherung im Verein mit der „Flattax“ den Konsum und damit Italiens Wirtschaft beleben.

Aber kaum in ausreichendem Maß und kaum „nachhaltig“.

Nachhaltig belebt würde Italiens Wirtschaft nur durch massive Investitionen in die Infrastruktur – von Verkehrsverbindungen (z. B. sicheren Autobahnbrücken) über Digitalisierung bis zur Errichtung erdbebensicherer Bauwerke von der Toskana bis Sizilien. Von verbesserten Schulen im ganzen Süden bis zu endlich höheren Investitionen in Forschung und Entwicklung, um Norditaliens Industrie durch neue Entdeckungen neue Chancen zu eröffnen.

Nur solche Investitionen könnten dauerhaft Arbeitsplätze schaffen.

Um zu verhindern, dass die Bevölkerung revoltiert, bevor sie überhaupt in Angriff genommen werden, ist es aber dennoch nicht absurd, ihr eine „überfällige“ (Grasse) Mindestsicherung und Mindestpension zuzugestehen.

„Nachhaltige“ Investitionen des Staates im vorhin angeführten Sinn fehlten im Entwurf aber so gut wie vollständig. Ob aus Angst vor einer noch größeren Überschreitung des Defizits oder aus Unverstand, kann ich nicht eruieren. (Schon weil nicht klar ist, welche Infrastruktur-Investitionen der mittlerweile gelockerte Sparpakt nicht mehr dem Defizit zurechnet und damit zulässt.)

Für Hans-Werner Sinn ist es (erwartungsgemäß) klar, dass Italien auf keinen Fall zusätzliche Schulden machen darf. Für mich ist unklar, wie seine Wirtschaft dann wachsen soll. Aber ich gebe sofort zu, dass Italiens Sanierung sehr viel einfacher wäre, wenn das vor Geld strotzende Deutschland diese Schulden machte und Großaufträge vergäbe, die zum Beispiel u. a. von der italienischen Industrie wahrgenommen werden könnten.

Die Möglichkeit, die an Deutschland verlorenen Marktanteile wieder zurückzugewinnen, was das Problem an der Wurzel löste, sind in Italien nämlich noch theoretischer als in Frankreich: Es müsste sein Lohnniveau um 35 Prozent absenken, um deutsche Preise zu unterbieten. Die Kaufkraft, und mit ihr die Inlandskonjunktur, bräche in der Sekunde zusammen – der Aufstand folgte in der Sekunde.

Aber in Deutschland ist man sich leider keine Sekunde bewusst, was man im Nachbarland mit seinem Lohndumping und seinem Sparpakt angerichtet hat.