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'In dieser Geschichte bin ich nicht der Held, Pimlico. Ich bin nur ein weiterer Schurke. Das solltest du nie vergessen.' Es war einmal … Ich war 18 Jahre alt und Studentin. Dann wurde ich erwürgt, wiederbelebt und verkauft. Jetzt bin ich Pimlico und das Eigentum eines kranken Bastards, gefangen in einem Martyrium aus Schmerz und Erniedrigung. Ich leide und schweige. Aber ich gebe nicht auf. Ich kann nicht. Und dann betrat er meinen Käfig der Stille: Elder Prest. Der einzige Mann, der mich anschaute und mich tatsächlich sah. Der einzige Mann, der gnadenloser ist als mein Besitzer. Er will mich aus Gründen, die ich nicht verstehe. Dark Romance von Pepper Winters. Jedes Buch der New York Times-Bestsellerautorin ist eine gewaltige Reise voller Schmerz und Leidenschaft.
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Seitenzahl: 406
Veröffentlichungsjahr: 2019
Aus dem Amerikanischen von René Ulmer
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Pennies (Dollar #1)
erschien 2016 im Verlag Pepper Winters.
Copyright © 2016 by Pepper Winters
Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig
Lektorat: Katrin Hoppe
Titelbild unter Verwendung von: iStock/Shutterworx
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-718-9
www.Festa-Verlag.de
Danke an alle, die diese Reise mit mir angetreten haben. Für jede Kritik, jede Nachricht, jeden Blick in eure Seele. Es macht keinen Unterschied, ob dies mein zehntes Buch oder mein hundertstes ist, ich liebe nach wie vor jeden Leser, jedes Lächeln, und bin dankbar für all die wundervollen Dinge, die mir das Schreiben geschenkt hat.
Prolog
Tasmin
Freiheit.
Was für ein einfaches Wort.
Wer sie hatte, für den war sie von ziemlich geringer Bedeutung. Aber für diejenigen, auf die das nicht zutraf, war sie das wertvollste Versprechen von allen.
Ich nehme an, ich hatte Glück, überhaupt zu wissen, wie sich Freiheit anfühlte.
Ich war 18 Jahre lang frei. Ich konnte lernen, was ich wollte, mich anfreunden, mit wem ich wollte, und mit Jungs flirten, die meinen hohen Ansprüchen gerecht wurden.
Ich war ein ganz normales Mädchen mit Idealen und Träumen, dem die Gesellschaft eingeredet hatte, nichts könne ihm etwas anhaben. Dass ich eine hervorragende Karriere anstreben solle und nichts mich aufhalten könne. Regeln würden mich schützen, die Polizei würde die Monster fernhalten, während ich unschuldig und naiv gegenüber der Finsternis der Welt bleiben dürfe.
Freiheit.
Ich hatte sie.
Und dann verlor ich sie.
Ermordet, wiederbelebt und verkauft.
So viele Jahre lang lebte ich ohne sie.
Bis zu dem Tag, an dem er meinen Käfig betrat.
Er, mit den schwarzen Augen und einer noch dunkleren Seele.
Der Mann, der meinen Besitzer herausforderte.
Und meine Gefangenschaft auf einen völlig neuen Pfad lenkte.
Kapitel 1
Tasmin
LIEBES TAGEBUCH!
Nein, das klang nicht richtig. Viel zu unbekümmert für meine Geschichte.
Liebes Universum!
Vergiss es. Zu großspurig.
An die Person, die das liest.
Zu vage.
An die Person, von der ich mir wünsche, dass sie mir hilft.
Dafür würde ich Ärger bekommen. Und ich wollte nicht schwach klingen. Nicht wenn diese Worte alles waren, wodurch sich ein Fremder an mich erinnern würde.
An …
Ich tippte mir mit dem zerbrochenen Bleistift gegen die Schläfe und versuchte, mich zu konzentrieren. Seit Wochen war ich nun schon eingesperrt. Wie ein Tier im Zoo, das sich an seinen neuen Käfig gewöhnen sollte. Man hatte mich gefüttert, gewaschen und sich um meine Verletzungen gekümmert, die ich von meiner groben Ankunft davongetragen hatte. Es gab für mich ein Bett mit Bettwäsche, eine funktionierende Toilette und eine Dusche mit einer Flasche Shampoo. Ich hatte alles Nötige, was ein menschliches oder nicht menschliches Wesen zum Leben benötigte.
Aber ich lebte nicht.
Ich starb.
Man konnte es mir nur nicht ansehen.
Moment … ich hab’s.
In diesem Augenblick fiel mir der perfekte Empfänger für meinen traurigen Brief ein. Diese Anrede war das Einzige, was in dieser falschen, so furchtbar falschen neuen Welt stimmte.
An Niemand.
Als ich diese zwei Worte vor mir sah, erfasste mich die Flut der Erinnerungen. Mit der linken Hand hielt ich zitternd das Toilettenpapier fest, während die rechte darüber flog und meine Vergangenheit herausströmen ließ.
ICH WAR 18, als ich gestorben bin.
An diesen Tag erinnere ich mich besser als an jeden anderen meines kurzen Lebens. Ich weiß, du verdrehst jetzt die Augen und sagst, das ist ja auch erst drei Wochen her. Aber glaube mir, ich werde es nie vergessen. Man sagt, bestimmte Ereignisse brennen sich auf ewig in deinen Geist. Ich hatte nie das Gefühl, so etwas schon erlebt zu haben. Bis jetzt. Weißt du, Niemand, vermutlich hättest du mich eine verzogene Göre genannt. Manche würden vielleicht sogar sagen, dass ich das hier verdient habe. Nein, das ist nicht wahr. So etwas könnte man nicht mal seinem schlimmsten Feind wünschen. Traurige Tatsache ist, nur du weißt, dass ich nicht tot bin. Ich lebe, hocke in dieser Zelle und warte darauf, verkauft zu werden. Man hat mir wehgetan, mich berührt, mich auf jede erdenkliche Weise misshandelt, außer Vergewaltigung. Und man hat mir alles genommen, was ich mal gewesen bin.
Und meine Mutter? Für die bin ich tot. Gestorben. Wer weiß, ob sie jemals erfahren wird, was wirklich mit mir geschehen ist.
Mein Bleistift bewegte sich nicht mehr. Ich holte schwer Luft, zitterte heftig, als ich erneut durchlebte, was mir widerfahren war.
Mein Wille weiterzuatmen war verschwunden. Es hatte eine Weile gedauert, bis man mich gebrochen hatte, aber es war ihnen gelungen. Und jetzt, nachdem sie ihr Ziel erreicht hatten, war ich nicht mehr als eine Fracht, die darauf wartete, dass sie sich mit ihrer Transaktion die Taschen füllten.
Tagelang war ich allein mit meinen chaotischen Gedanken, schrecklichen Erinnerungen und der überwältigenden Angst vor dem, was mich erwarten würde. Aber das war, bevor ich den zerbissenen, zerbrochenen Bleistift unter meinem Bett gefunden hatte.
Diese Entdeckung war besser als Essen oder Freiheit gewesen; aus dem einzigen Grund, dass meine Händler diese Dinge kontrollierten. Ich hatte keinen Einfluss darauf, wann das Frühstück oder das Abendessen kam, und genauso wenig konnte ich verhindern, dass man mich an den Höchstbietenden verkaufen würde.
Ich hatte keine Kontrolle darüber, dass ich allein in dieses winzige Zimmer gesperrt war, das mal ein Hotelzimmer war, bevor man das Gebäude für geschmacklosere Unterbringungen erworben hatte. Die Handtücher waren zerschlissen und trugen ein zehn Jahre altes Emblem, die Teppiche waren mit Wirbeln aus Gold und Bronze durchzogen, was mir verriet, dass die Inneneinrichtung seit den 70ern nicht mehr erneuert worden war.
Hatte der Bleistift so lange unter meinem Bett gelegen? Stammten die Bissspuren von einem ungeduldigen Kleinkind, das darauf gewartet hatte, dass seine Eltern endlich fertig wurden, um die neue Stadt zu erkunden? Oder hatte ihn ein Zimmermädchen verloren, als es auf dem Bett gestärkte weiße Laken mit militärischer Genauigkeit glatt gestrichen hatte?
Ich würde das nie herausfinden.
Aber da ich sonst nichts zu tun hatte, stellte ich mir gerne Dinge vor. Ich verbrachte meine schmerzhaft langweiligen Tage damit, jeden noch so kleinen Winkel meines Gefängnisses zu erforschen. Man hatte meinen Willen gebrochen, meinen Widerstand fortgespült, aber meinen entschlossenen Drang konnte man mir nicht nehmen. Den Instinkt, über den jeder verfügte – oder zumindest dachte ich, dass ihn jeder hätte.
Ich war schon so lange allein, dass ich keine Ahnung hatte, was die anderen Mädchen, die man mit mir zusammen hergebracht hatte, jetzt taten. Lagen sie ausgestreckt auf dem Bett und erwarteten ihre Zukunft? Kauerten sie sich in einer Ecke zusammen und flehten ihre Väter herbei, um diesen Albtraum zu beenden? Oder akzeptierten sie ihn, weil das einfacher war, als sich zu wehren?
Und ich? Ich strich mit meinen wund geriebenen Fingerspitzen über jede Wand, jeden Riss, jeden gestrichenen und verriegelten Fensterrahmen. Ich kroch auf Händen und Knien, suchte nach etwas, das mir helfen könnte. Dabei wusste ich nicht, ob ich eine Waffe suchte, mit der ich mir meinen Weg hier raus erkämpfen könnte, oder etwas, womit ich meinem Leid ein Ende setzen würde, bevor es wirklich begann.
Ich hatte Tage gebraucht, um jeden Quadratzentimeter abzusuchen. Aber alles, was ich fand, war der Bleistiftstummel. Ein Geschenk. Ein Schatz. Die Spitze war fast bis auf das Holz abgerieben, und bald würde ich einen Weg finden müssen, meinen wertvollen Besitz wieder anzuspitzen, aber diesen Gedanken hob ich mir für später auf. So wie ich alle anderen Sorgen wegzuschieben gelernt hatte. Darin war ich mittlerweile Meister.
Was ich nicht gefunden hatte, war Papier. Nicht in den Schubladen des abgenutzten Schreibtischs oder in der Kommode, auf der der kaputte Fernseher stand. Nur Toilettenpapier. Und der Bleistift war davon nicht besonders begeistert. Das Papier riss häufiger, als dass er seine silbrig grauen Linien darauf hinterließ.
Trotzdem war ich dazu entschlossen, irgendwas zurückzulassen. Etwas von mir, das mir diese Dreckskerle nicht genommen hatten und auch nie nehmen könnten.
Ich holte noch einmal tief Luft, schob meine aktuelle Lage beiseite und packte den Bleistift fester. Ein Blick zur Tür versicherte mir, dass ich allein war. Ich zog das Stück Toilettenpapier glatt und schrieb weiter.
Ich wünschte, ich könnte sagen, ein Monster hätte mich getötet. Dass ein schrecklicher Unfall schuld war. Und das kann ich sogar … bis zu einem gewissen Punkt.
Allerdings liegt der wahre Grund dafür, dass ich tot und kurz davor bin, als neues Spielzeug verkauft zu werden, darin, wie ich aufgewachsen bin.
Die Gelassenheit und das Selbstbewusstsein, die mir meine Mutter eingehämmert hatte? Sie haben mir keine schillernde Karriere oder einen gut aussehenden Ehemann eingebracht. Es hat Leute genervt. Ich wirkte überheblich, besserwisserisch und eitel.
Es hat mich zum Ziel gemacht.
Ich weißnicht, ob irgendjemand außer dir, Niemand, diesen Zettel jemals finden wird, aber ich hoffe, man wird vergessen, was ich jetzt zugebe. Ich bin das Einzelkind einer alleinerziehenden Mutter. Ich liebe meine Mutter. Das tue ich wirklich.
Aber wenn ich das, was mich erwartet, irgendwie überlebe und wie ein Wunder meine Freiheit zurückbekomme, werde ich an das Folgende denken, wenn ich im Fegefeuer Rede und Antwort stehen muss.
Ich liebe meine Mutter, und ich hasse sie.
Ich vermisse meine Mutter, aber ich will sie nie wiedersehen.
Ich habe meiner Mutter gehorcht, aber ich werde sie bis in alle Ewigkeit verfluchen.
Sie ist die Einzige, der ich die Schuld geben kann.
Diejenige, die dafür verantwortlich ist, dass ich nichts weiter als eine Hure sein werde.
Kapitel 2
Tasmin
Zwei Tage vergingen.
In der Welt, aus der man mich gerissen hatte, waren zwei Tage nichts. Zweimal Weckerklingeln, zwei Vorlesungen an der Universität, zwei Abende, an denen man mit Freunden telefonierte, und zwei Nächte wundervoll sicheren Schlafs in der Illusion, dass einem niemand etwas antun könnte.
Aber in dieser neuen Welt?
Zwei Tage reichten aus, um mir juckende Stellen einzubilden, die ich kratzen konnte, nur um etwas zu spüren. Zwei Tage bedeuteten, dass ich meinen Bleistift abgerieben hatte und vorsichtig das Holz abschälte, um die Mine freizulegen, damit ich mich mit irgendetwas beschäftigen konnte.
Zwei Tage bedeuteten, dass ich weiter an meinem Toilettenpapierroman schrieb, während ich nicht einmal wusste, ob mein kurzer Aufenthalt im Limbus nach Ablauf von 48 Stunden vorbei sein würde.
Die Verhandlungen waren vorbei.
Mein Verkaufsdatum war festgelegt.
Sie kamen am Abend, zur Essenszeit. Anstatt wie sonst durch ein Loch in der Wand ungewürzten Reis oder wässrigen Eintopf zu mir hereinzuschieben, wurde die Tür geöffnet.
Die Tür öffnete sich!
Zum ersten Mal seit Wochen.
Ich war so einsam gewesen, dass ich auf der Suche nach Gesellschaft mein immer bleicher werdendes Gesicht im schmutzigen Spiegel angestarrt hatte. Die Aussicht auf Besuch ließ mein Herz einen Satz machen. Als man mich verschleppte, besaß mein Körper die weichen Rundungen einer Jugendlichen, kecke Brüste und einen runden Bauch. Mein braunes Haar war lockig und in einem kräftigen Schokoladenton gefärbt gewesen, da meine Mutter darauf bestanden hatte, dass ich mich schick machen lasse, um bei einer ihrer Wohltätigkeitsveranstaltungen so vorzeigbar wie möglich auszusehen.
Genau die Veranstaltung, von der man mich geraubt hatte.
Davor hatte ich nur an Oberflächlichkeiten gedacht, mir Gedanken darüber gemacht, wie ich meinen Babyspeck loswürde und mein Make-up wie die Models auf YouTube hinbekäme. Trotz meines peniblen Äußeren war ich intelligent und hatte gerade ein Psychologiestudium an einer namhaften Universität begonnen – genau wie meine Mutter es wollte. Ich sollte in ihre Fußstapfen treten. Sie hatte mein ganzes Leben bereits geplant.
Jetzt waren meine Erscheinung und meine Gedanken die einer völlig anderen. Ich war keine Jugendliche mehr, sondern eine Frau. Meine Haare hatten wieder ihr dunkles Sirupbraun. Dank der unregelmäßigen, kalorienarmen Ernährung waren meine Rundungen wie weggeschmolzen.
Ich vermute, in Freiheit wäre ich damit sehr zufrieden gewesen. Schließlich hatte ich nun, was ich immer wollte. Ich war schlanker und machte mir keine Gedanken mehr übers Haarefärben oder über Mode. Aber stattdessen hasste ich meine Verwandlung, denn sie war ein weiteres Glied in der sprichwörtlichen Kette um meinen Hals.
»Komm.« Der Mann schnippte mit den Fingern. Eigentlich hätte es erleichternd sein sollen, einen anderen Menschen zu sehen. Irgendwas in mir verlangte nach Gesellschaft – selbst wenn sie den Untergang verhieß. Aber ich konnte weder Augen noch Mund oder Nase erkennen. Er war wie ein Geist, eine Karikatur, die sich hinter dieser schwarz-weißen venezianischen Maske eines Narren mit Tränen auf der Wange versteckte. Waren die Tränen meinetwegen? Oder waren sie nur Spott?
Ich trat einen Schritt auf ihn zu, hasste die Gehorsamkeit, die man mir während meiner ersten Tage der Gefangenschaft eingeprügelt hatte. Die blauen Flecken waren verblasst, anders als die Lektionen.
Dann jedoch stoppte ich, sah zu den Fetzen Toilettenpapier zurück.
Zu den Briefen, die meine Geschichte erzählten.
Eine Geschichte, die eine völlig neue Richtung erhalten würde, sobald ich dieses Zimmer verließ.
Ich besaß nichts mehr von Wert. Die Lumpen an mir gehörten nicht mir, sie stammten von den unzähligen Frauen, die man vor mir verschachert hatte. Die Kissen, auf denen ich mich in den Schlaf geweint hatte, gehörten nicht mir. Nicht einmal mein Leben gehörte noch mir. Das Verlangen, meine dahingeschmierten Gedanken zu behalten, war Unsinn, aber ich konnte nicht noch ein Stück von mir zurücklassen.
Wenn ich mich dieser neuen Herausforderung schon stellen musste, dann würde ich es mit meiner Vergangenheit tun, zusammengeknüllt in meiner Faust, und sie wie einen Talisman bei mir tragen, der mich daran erinnerte: Wenn ich trotz alldem noch atmen konnte, konnte ich es auch aufschreiben, und wenn ich es aufschrieb, konnte ich mich davon befreien.
»Jetzt, Mädchen!« Der Mann stapfte in das Zimmer, seine riesige Gestalt strahlte Gewalt aus.
Bevor er mich packen konnte, rannte ich zu dem Schreibtisch zurück, schnappte mir die dünnen Stücke meines Lebens. Ich klammerte mich daran, ging geduckt um ihn herum und verschwand durch die Tür.
Durch die Tür!
Ich bin nicht mehr im Zimmer.
Die Vertrautheit meines Gefängnisses war Vergangenheit, während ich barfuß durch den Flur ging, der mit demselben gold- und bronzefarbenen Teppich ausgelegt war. Hinter mir dröhnten die schweren Schritte meines Kerkermeisters.
Er packte mich nicht, genauso wenig zwang er mich dazu, langsamer zu gehen. Er wusste so gut wie ich, dass es keinen Ausweg gab. Auf der Fahrt hierher hatten sie mir die Augen verbunden, aber innerhalb des Gebäudes verzichteten sie darauf.
Während wir wie in einem normalen Hotel an geschlossenen Zimmertüren vorbeigingen, zwang ich mich, aufrecht zu gehen und mich gegen das zu wappnen, was mich erwartete.
Du kannst das hier überstehen.
Sie wollten mich lebendig, nicht tot.
Aus irgendeinem Grund bot dieser Gedanke nicht den erwarteten Trost … er sorgte eher dafür, dass ich noch mehr Angst bekam.
»In den Aufzug. Wir fahren runter«, donnerte die Stimme des Mannes durch die klaustrophobische Enge des Flurs.
Ich bog nach links in das offene Foyer ab und näherte mich zwei silbernen Türpaaren. Als ich den Rufknopf drückte, verfluchte ich das leichte Zittern meiner Hand.
Sofort ertönte das Klingeln und die Türhälften teilten sich, luden mich ein, in den schäbigen, verspiegelten Raum dahinter zu treten.
Ich wollte mein Spiegelbild nicht ansehen, also ging ich hinein und drehte mich sofort zur sich bereits schließenden Tür um. Die verblassten gelben Shorts, die man mir gegeben hatte, bedeckten meine Beine kaum. Mit dürren Armen umschlang ich die letzten Überbleibsel meines jugendlichen Körpers unter dem weiten grauen, mottenzerfressenen T-Shirt. Ich hatte kein Interesse daran, mich zu sehen, weil meine Erscheinung nichts von der innewohnenden Seele verriet.
Ja, ich wirkte gebrochen.
Ja, ich gehorchte ohne Widerspruch.
Aber es war mir irgendwie gelungen, die Bruchstücke in meinem Inneren zu etwas zusammenzufügen, das mir wichtig war. Ich war jetzt stärker als nach meiner Ankunft. Ich war nicht länger das weinende Mädchen, das man grob ausgezogen, gewaschen und zusammen mit anderen Frauen katalogisiert hatte. Ich behielt meine Schreie für mich, weil sie dann niemand hören konnte.
Niemand konnte sie gegen mich benutzen. Schweigen war eine Waffe, die ich besser nutzen konnte als Panik. Und wenn das bedeutete, dass ich kein Sterbenswörtchen sagen würde, bis ich wieder frei war, dann war das eben so.
Der Mann drängte sich neben mich, drückte auf den Knopf für das vierte Stockwerk.
Anhand der Nummern auf den Zimmertüren, an denen wir vorbeigekommen waren, hatte ich mir zusammengereimt, dass man mich im zwölften Stockwerk eingesperrt hatte. Wie viele Mädchen waren dort noch? Auf wie vielen Etagen befanden sich Gefangene, die auf ihren Verkauf warteten?
Die Fahrt nach unten war ein bisschen zu schnell, und die Schwerkraft drohte mir den Magen umzudrehen. Ich hielt den Atem an, als sich die Tür wieder öffnete und einen identischen Flur zeigte.
Der Mann drückte mir einen Finger zwischen die Schulterblätter.
Ich machte einen Satz nach vorn. Kein Stolpern. Kein Betteln. Keine einzige Frage und auch kein Flehen.
Es war sinnlos.
Ich rieb mir die Wange, die nur wenige Stunden nach meiner Ankunft vor ein paar Wochen die Schläge einstecken musste. Ich hatte alles Mögliche verlangt. Ich hatte ihnen damit gedroht, was passieren würde, sobald meine Mutter sie fand. Ich hatte mich für eine Prinzessin ausgegeben, mit einem Regiment von Rittern, die nach mir suchen würden.
Die Stiefel in meinem Bauch und die Fäuste in meinem Gesicht hatten mir schnell verdeutlicht, dass alles, worauf ich vertraute, nur eine Lüge war.
»Da lang.« Der Mann deutete nach links, den Flur hinunter.
Ich zitterte, als ich in die angegebene Richtung ging, während der weiche Teppich unter meinen nackten Füßen sein Bestes tat, um mich zu trösten. Das Hotel war die perfekte Umrahmung für das Nichts. Die Temperatur war angenehm, darum fror oder schwitzte ich nie. Die Beleuchtung war gleichmäßig, verhinderte, dass ich die Augen zusammenkneifen oder mich anstrengen musste, um etwas zu erkennen. Jeder meiner Sinne wurde kontrolliert, bis ich vergaß, wie sich der Wind auf meiner Haut oder die Sonne in meinem Gesicht anfühlte.
Würde ich jetzt rausdürfen?
Wohin bringt er mich?
Der Mann ging voraus, schob eine Tür zum alten Fitnessraum auf. Das Hotel musste mal ein Viersterneladen gewesen sein, bevor man es gekauft und ruiniert hatte.
Ich betrat den Frauenumkleideraum mit seinen fleckigen elfenbeinfarbenen Fliesen und den uralten Haartrocknern, die wie Gasmasken aussahen. Ich wartete auf weitere Anweisungen. An einem Haken hing ein Kleidersack, geschlossen, aber durchsichtig, und darin befand sich ein weißes Kleid. Sogar in dem Sack stellten die perlenbestickte Korsage und das Diamanthalstuch auf dem Kleiderbügel klar, dass etwas so Edles nichts an einem dermaßen heruntergekommenen Ort verloren hatte.
Der Mann hinter der venezianischen Maske murmelte: »Geh duschen, mach dir die Haare und zieh dich um. In einer Stunde hol ich dich ab.«
Eine Stunde, um mich herzurichten?
Wofür?
Er beugte sich zu mir runter, und ich konnte frittiertes Essen und Bier an ihm riechen. »Komm bloß nicht auf die Idee wegzulaufen.« Als zwei andere Mädchen hereinkamen, neigte er den Kopf zur Seite und zog sich einen Schritt zurück. »Ah, Gesellschaft.«
Der Aufpasser der Neuankömmlinge deutete auf ähnliche Kleidersäcke an der gegenüberliegenden Wand. Ihre Kleider waren schwarz und grau. »Macht euch fertig.«
Wie die Sinneseindrücke durch gesteuerte Luftzufuhr, Wärme und gewährte Stimuli unterlag auch unsere Kleidung ihrer Kontrolle. Weiß, schwarz und grau. Monoton, ohne einen Hauch von Farbe.
Mein Aufpasser nickte seinem Kollegen hinter der Löwenmaske zu. »Du passt auf. Ich sag dem Boss Bescheid, dass wir fast so weit sind.«
Die Mädchen beäugten mich. Ich beäugte sie. Gemeinsam sahen wir die Männer an, die unser Schicksal in ihren dreckigen Pfoten hielten. Mir brannte die Frage, was mit uns geschehen würde, auf der Zunge. Aber ich hielt mich zurück. Nicht weil mir der Mut dazu fehlte, sondern weil ich die Antwort bereits kannte: das kalte Lachen, die spöttischen Untertöne und die nichtssagende Antwort, die Angst machen sollte, anstatt etwas zu erklären.
Nein, ich würde nicht fragen.
Aber das Mädchen, das mir in seinem zerschlissenen rosafarbenen Sommerkleid und dem zerzausten Haar am nächsten stand, sah das offenbar anders. »Warum tun Sie das? Was wird mit uns passieren?«
Venezianische Maske sah Löwe an. Gemeinsam näherten sie sich ihr, drängten sie rückwärts gegen die geflieste Wand. Anstatt handgreiflich zu werden, schüchterten sie sie durch ihre bloße Präsenz ein. Daraus schloss ich, dass sie uns anfangs wehgetan hatten, um uns zu kontrollieren, jetzt aber waren wir unversehrt mehr wert.
Denn welchen Wert hatte schon hässliche, beschädigte Ware?
»Ich hab es dir bereits gesagt. Du wirst verkauft, mein hübscher Engel.« Löwe streichelte ihre Wange. »Man wird dich auswählen, Geld überweisen, und sobald das schöne, schöne Geld bei uns ist, bist du weg. Bye-bye. Nicht länger unser Problem.«
Das andere Mädchen mit stumpfem rotem Haar stolperte nach hinten, den Mund zu einem lautlosen Schrei aufgerissen.
Als hätten sie es nicht geahnt! Als hätten sie nicht genauso lange wie ich einsam in einem Zimmer eingesperrt verbracht und nicht mit so etwas gerechnet. Vielleicht habe ich zu viele finstere Bücher gelesen oder mir im Fernsehen zu viele Verbrechenssendungen angesehen. Jedenfalls war ich nicht blöd und auf keinen Fall war ich noch naiv.
So wie ich nie auf die Universität zurückkehren würde, um meinen Abschluss in Psychologie zu machen, würden auch diese Mädchen nie wieder in ihr altes Leben zurückkehren. Anders als ich, die ich die Schuld meiner Mutter gab, waren ihre Sündenböcke möglicherweise schlechte Freunde oder dumme Entscheidungen, wie zu viel Alkohol oder der falschen Person zu vertrauen.
Was auch immer der Grund für unser Hiersein war, wir befanden uns auf demselben Pfad. Nur mit unterschiedlichen Zielen, abhängig davon, wer uns kaufte.
Ich wandte mich von den Tränen und dem Gelächter ab, zog mir Shorts und T-Shirt aus, legte mein wertvolles Toilettenpapier auf die Kommode und ging direkt unter eine Dusche.
Es gab keinerlei Sichtschutz. Während ich das Wasser auf Körpertemperatur regelte und das geruchsneutrale Shampoo in meine Haare rieb, war meine Nacktheit jedem frei zugänglich.
Vor einem Monat wäre ich noch vor Scham erstarrt, wenn mich ein Fremder nackt gesehen hätte.
Mittlerweile war mir das egal, weil ich ohnehin keine Kontrolle darüber hatte, wer mich ansah oder berührte – oder letztendlich vergewaltigte und damit zerstörte.
Denk nicht daran.
Mit knirschenden Zähnen schäumte ich das Shampoo auf. Die Seife verströmte kein Aroma, keinerlei Trost. Mir fehlten mein Wassermelonen-Körperpeeling und der Erdbeer-Lipgloss. Ich sehnte mich nach kohlensäurehaltigen Getränken und einer weichen Kuscheldecke nach einem langen Tag voller Vorlesungen.
Was würde ich nicht dafür geben, wieder etwas zu riechen. Wieder etwas zu hören. Wieder etwas zu spüren.
Während die anderen Mädchen um ihr Leben trauerten und Angst vor der Zukunft hatten, gab ich mich der Erleichterung hin. Ich war froh, dass diese Phase nun hinter mir lag. Noch eine Stunde in diesem Zimmer, und ich hätte den Verstand verloren. So hatte ich zumindest etwas zu tun, jemanden zum Herausfordern, einen Ort, an den ich gehen konnte.
Und wer weiß, vielleicht finde ich eine Fluchtmöglichkeit.
Als ich den Kopf unter den Wasserstrahl hielt, schirmte mich das Geräusch der Dusche von allen anderen Tönen ab. Ich hielt die Augen geschlossen, während ich mir die Haare wusch, und drehte mich nicht um, bis ich mich am ganzen Körper gewaschen hatte, benutzte den Rasierer, den sie mir gegeben hatten, und wickelte mich in ein weiteres zerschlissenes Handtuch.
Die Männer waren weg und die Frauen hatten es wie ich gemacht, waren unter die Duschen gegangen und wuschen sich gehorsam, auch wenn sie weinten.
Das war nicht einfach zur Reinigung oder zur Vorbereitung.
Das war eine Taufe für die Hölle.
Kapitel 3
Tasmin
An Niemand,
meine Mutter hat mir immer gesagt, Fieslinge seien auch Menschen.
Sie hat mich davor gewarnt, jemanden nach dem ersten Eindruck zu beurteilen oder wie andere zur Oberflächlichkeit zu neigen. Sie hat gesagt, es stehe mir nicht zu, über andere zu urteilen – solange ich nicht weiß, ob sie leiden oder ein schreckliches Leben führen, während sie auf anderen herumhacken.
Nun, meine gegenwärtige Lage würde wohl rechtfertigen, ihr zu widersprechen, allerdings sind diese Männer keine Fieslinge, es sind Monster. Also würde ich sagen, die Regel meiner Mutter bleibt unangefochten.
Urteile nicht. Hör zu.
Sie hat mir versichert, dass mir das gute Dienste leisten und ich mir auf diese Weise nur Freunde und keine Feinde machen würde. Was sie mir nicht gesagt hat, war, dass niemand es mag, wie ein Versuchsobjekt beobachtet zu werden, und niemand mag einen mitfühlenden Besserwisser.
Und genau so bin ich zum Ziel geworden.
Oder zumindest … glaube ich das.
Verstehst du, Niemand? Alles hat wie ein ganz normaler Abend angefangen. Ich habe mich in meinem Schlafzimmer, das gegenüber von dem meiner Mutter liegt, angezogen. Ich bin in die niedrigen Schuhe geschlüpft, die sie mir ausgesucht hat, habe mir das schulterfreie Abendkleid angezogen, das sie auch ausgesucht hat, und bin in das von ihr gerufene Taxi gestiegen.
Ich war dankbar, dass ich dabei sein durfte, denn normalerweise war das nicht der Fall.
Ich war stolz auf meine Mutter. Respektvoll, umsichtig … aber ich habe sie nicht verehrt. Sie hat mich geliebt, allerdings hatte sie keine Zeit für alberne Kinder, nicht einmal wenn dieses alberne Kind ihr eigenes war. Sie hat dafür gesorgt, dass ich gebildet war, mich ausdrücken und mich selbst beschäftigen konnte, während sie sich täglich mit erwachsenen Fieslingen rumschlagen musste. Sie hat für den Staat gearbeitet und dabei die Last von Psychopathen und Pädophilen auf sich genommen.
Sie hat uns alle wie Versuchskaninchen behandelt, wollte in unseren Verstand – wenn ich was angestellt habe, hat sie immer nach dem Grund gefragt, anstatt mich auszuschimpfen. Sie verlangte Worte statt einer Zurschaustellung undeutlicher Gefühle.
Meine Freunde haben mich als verrückt bezeichnet, weil ich auf den Rat meiner Mutter vertraut habe. Aber ich war ein braves Mädchen, eine liebe Tochter, ein Kind unter der Führung einer Frau, die ihren Lebensunterhalt damit verdient, den Schleier zu lüften, hinter dem sich Menschen verstecken. Sie hat mich glauben lassen, ich hätte dieselbe magische Gabe und es wäre meine Pflicht, denen zu helfen, die ohne diese Gabe geboren waren.
Sie hat mich zu dem gemacht, was ich war.
Ich vermute, ich sollte dankbar dafür sein, denn ohne ihre strikte Erziehung wäre ich genau wie diese Mädchen, die jetzt schniefend in der Ecke sitzen, während wir darauf warten, was wohl als Nächstes geschehen wird. Ich danke der Frau, die mich auf diese Welt gebracht hat, dass sie mir diese Fähigkeiten gegeben hat. Aber das bedeutet nicht, dass ich ihr jemals verzeihen werde.
Von neun Uhr abends bis Mitternacht war ich in Sicherheit. Ich habe mich unter die Anzugträger gemischt und mich flüsternd unterhalten, habe meine Mutter mit der Gelassenheit repräsentiert, die sie von mir erwartete.
Zur Geisterstunde allerdings, wenn die Regeln durchlässiger werden und sich die Müdigkeit unter die spaßigen Unklarheiten schleicht, bin ich einem Mann begegnet. Während meine Mutter damit beschäftigt war, Gönner mit ihrem Wortwitz und ihrem groben Charme um den Finger zu wickeln und auf diese Weise Spenden für ihre Stiftung für das geistige Wohl von Menschen im Todestrakt zu gewinnen (ich habe keine Ahnung, warum irgendwer dafür etwas spenden sollte), hat ein geheimnisvoller Mann namens Mr. Kewet mit mir geflirtet.
Er hat über meine dummen Witze gelacht. Er ist auf meine kindischen Launen eingegangen. Und ich bin auf jeden seiner verdammten, heimtückischen Tricks hereingefallen.
Während andere diesem Mann aus dem Weg gingen, instinktiv etwas Böses spürten, hatte ich es mir zur Aufgabe gemacht, dafür zu sorgen, dass er sich willkommen fühlte. Ich habe nicht auf die warnende Stimme in meinem Kopf gehört; stattdessen habe ich auf die Regel »Urteile nicht. Hör zu!« vertraut.
Was mir meine Mutter beigebracht hat, war falsch.
Sie hat dafür gesorgt, dass ich eher Mitgefühl als Angst verspüre.
Sie hat mich an das Gute glauben lassen, anstatt mir zu ermöglichen, das Böse zu erkennen.
Ich habe mit meinem Mörder getanzt.
Ich habe gelächelt, als er mich draußen bedrängt hat.
Ich habe versucht, ihn zu beruhigen, während er mir gedroht hat.
Und als seine Hände würgend an meiner Kehle lagen, habe ich noch immer geglaubt, ich könnte ihn retten.
Er hat mich auf dem Balkon vor dem Ballsaal getötet, nur Meter von meiner Mutter entfernt.
Und während er das getan hat, habe ich die ganze Zeit geglaubt, man müsse ihn retten, nicht mich.
»Die Zeit ist um. Besser, ihr seid fertig.«
Mein Bleistift verharrte reglos über meinem Toilettenpapier. Ich musste aufschreiben, was passiert war, nachdem ich in Mr. Kewets mörderischer Umarmung das Bewusstsein verloren hatte. Wie er mich in einer Welt wiederbelebt hatte, die ich nicht wiedererkannte. Wie alles, was ich gewusst und einen Sinn ergeben hatte, verwirrend und absolut fremd geworden war.
Aber Venezianische Maske war zurück und verschränkte die Arme vor seiner massiven Brust. Sogar seine Stimme war nichtssagend, ohne Akzent oder sonstigen Hinweis auf seine Herkunft. Ohne Gesichtszüge oder andere Anhaltspunkte konnte ich unmöglich sagen, wohin man mich gebracht hatte oder in welchem Land ich schließlich war.
Ich knüllte meine Handvoll bleistiftgeschriebener Absätze zusammen, stopfte das Papier unter meine perlenbestickte Korsage. Meine Finger strichen das dekorative Kleid hinauf, kaum merklich über meine Kehle. Selbst jetzt zeichneten mich noch Schatten von Blessuren. Erwürgt zu werden war ein schmerzhafter Tod. Und einer, der seine Spuren hinterließ, in Form von Schmerzen und Malen, immer da, um mich daran zu erinnern, sobald ich in einen Spiegel sah.
Er hatte mich getötet. Ich hatte ihn nicht aufhalten können.
Also, warum hatte er mich wiederbelebt?
Warum hätte es da nicht zu Ende sein können, anstatt nur der Anfang von dem hier?
Weil du lebendig um einiges mehr wert bist.
Ich drückte den Rücken durch.
Ich hatte mir das Haar geföhnt und Mascara und Lippenstift aufgelegt. Ich wusste nicht, warum ich mir die Mühe machte. Dennoch, Schönheit könnte der Fluch sein, der mir zu einem angenehmeren Schicksal verhelfen mochte. In meiner beunruhigenden Grübelei nahm ich an, je mehr jemand für mich bezahlte, umso besser würde es mir danach ergehen.
Es sei denn, das geht nach hinten los, und ein psychopathischer Milliardär kauft mich für Zielübungen.
Meine Kehle war wie zugeschnürt, während mein Herz verbissen nach einer Trittleiter suchte, um aus meiner Brust zu flüchten. Ich schluckte es wieder runter. Sosehr ich das hier vermeiden wollte – wenn ich auch nur den Hauch einer Chance hatte, es zu überleben, dann musste mein Herz weiterschlagen.
Ich strich mein weißes Abendkleid glatt, als würde ich gleich dem Premierminister vorgestellt werden. Der Rotschopf hatte mir dabei geholfen, die Knöpfe auf meinem Rücken zu schließen. Der Satin küsste meinen Körper, ich trug keinerlei Unterwäsche, die die empfindliche Haut meiner Brustwarzen oder meiner Körpermitte geschützt hätte. Der Saum des Kleids flüsterte über den Boden, ein Millimeter mehr, und es wäre zu lang. Es saß perfekt, so wie die weißen High Heels Größe 38 an meinen Füßen.
Weiß hatte mir noch nie gefallen. Ich trug viel lieber Schwarz – weil es einen Hauch von Autorität verlieh (zumindest laut meiner Mutter) – oder Pastelltöne und Farben, die meiner Stimmung entsprachen.
Weiß war zu empfindlich. Minuten nachdem man es angezogen hatte, wirkte es schon schmutzig. Aber es strahlte auch Unschuld aus, und ich verstand, warum meine Händler diese Farbe gewählt hatten. Mein Haar schien mehr zu glänzen; meine grünen Augen wirkten größer, meine Haut strahlender.
Das Mädchen in Schwarz wirkte schroff und älter, während der Rotschopf in Grau blass und wie bereit für die eigene Beerdigung aussah.
Wenn wir schon in die Wolfshöhle spazieren würden, dann wollte ich zumindest nicht schon vorher nach Blut riechen. Mit zurückgezogenen Schultern ging ich an dem Wächter vorbei und folgte Löwenmaske.
Schweigend ging ich hinter unseren Aufpassern her und führte unsere erbärmliche Sklavenkarawane den Flur entlang, in die Aufzüge und runter in das zweite Stockwerk.
Dort wehte uns Tumult, vermischt mit den Klängen von Unterhaltungen, entgegen. Männliches Gelächter und ein leises Piano.
Es war schon so lange her, dass ich Musik gehört oder warme, aneinanderstoßende Körper gespürt hatte, dass ich kurz ins Träumen geriet. Ich vergaß, dass ich distanziert und unberührt bleiben musste, und kam abrupt zum Stehen. Durch meine Achtlosigkeit handelte ich mir einen Schlag ein, woraufhin mich Löwenmaske weiterschob.
Zum ersten Mal, seit ich während der ersten Schläge Widerworte gegeben hatte, strauchelte ich, und mein Geist durchlebte erneut alles, was man mir eingebläut hatte.
Von überall aus dem Raum richteten sich die Blicke auf mich.
Gierige Blicke.
Irre Blicke.
Lüsterne, schreckliche Blicke.
Alle stammten sie von einem wahren Sammelsurium aus Pappmaschee und Gips in Gestalt von Pariser Masken.
Ein Scheinwerfer senkte sich von der glitzernden Silberkugel an der Decke direkt auf uns. Das Piano verstummte, während Venezianer und Löwe die beiden Mädchen und mich in die Mitte von dem führten, was früher mal eine Tanzfläche gewesen war.
Jetzt war es ein Marktplatz. Komplett mit Podium zur Begutachtung der Ware und einem Auktionator samt Hammer. Die beiden Mädchen schluchzten leise, als man sie zu einer Gruppe von anderen Frauen stellte. Frauen, die wie ich in diesem Hotel gelebt hatten, die ich aber noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Frauen jeden Alters und jeder Ethnie, die man alle verschleppt hatte und jetzt wie Vieh behandelte.
Meinen Freunden würde ich nicht wirklich fehlen, da sie mich ohnehin nicht verstanden. Ich hatte keinen Freund, der um mich trauern, keinen Vater, der nach mir suchen würde. Was Kontakte und Familie anging, war ich alles andere als reich gesegnet.
Ich nahm an, das würde es mir einfacher machen, das Verlangen zu lieben und geliebt zu werden einfach abzuschalten, da ich so etwas ohnehin nie wieder spüren würde. Aber es schmerzte auch mehr, denn hätte ich diese Dinge gehabt, könnte ich zumindest sagen, dass ich kurz gelebt hatte; dass ich meine Freiheit nicht als selbstverständlich betrachtet hatte.
Ab jetzt würde ich nichts als Gefangenschaft erleben.
Als ein Mann in einem perfekt gebügelten Smoking und mit einer Scharfrichtermaske durch den Raum marschierte und sich ein Mikrofon an die verdeckten Lippen hielt, ergriff erwartungsvolle Stille die Versammelten.
»Willkommen, meine Herren, beim VMS, auch bekannt als der vierteljährliche Markt der Schönheiten.« Er gestikulierte ausschweifend in Richtung der Ware. »Wie Sie sehen können, haben wir heute Abend einiges zu bieten.«
Nacheinander deutete er auf jede von uns.
Wir waren die Einzigen ohne Masken und zur Schau gestellt.
Eine nach der anderen sackten wir in uns zusammen.
Zwölf waren vor mir dran.
Ich war die glückliche 13.
Oder war das die glücklose 13? Ich brauchte nur noch eine schwarze Katze, eine Leiter, um darunter durchzugehen, und den Aberglauben an Hexen, um mich ein für alle Mal zu verfluchen.
Der Mann stolzierte herum, als hätte er höchstpersönlich jede Einzelne von uns erschaffen. Wenn er dafür verantwortlich war, dass man uns alles genommen und dann zu nichts degradiert hatte, dann stimmte das vielleicht sogar. Vielleicht gehörten wir ihm. Vielleicht gehörte ich ihm, und er hatte jedes Recht, etwas zu verkaufen, das ich nicht wiedererkannte.
»Wie immer halten wir eine Auswahl an Schönheiten für Ihr Vergnügen bereit. Sie hatten alle Gelegenheit, die von uns zur Verfügung gestellten Akten und Fotos zu begutachten.«
Moment, was für Fotos und was für Akten?
Gab es Kameras in unseren Zimmern? Hatte man uns heimlich begutachtet und ausspioniert? Meine Brust hob und senkte sich, drückte gegen die Worte, die ich auf das gestohlene Toilettenpapier gekritzelt hatte. Wusste man davon? Würde man es mir wegnehmen?
Meine Fragen hielten mich beschäftigt, während der Mann über die Tanzfläche kam, die Erste in der Reihe schnappte, sie mit sich zog und auf das Podium drängte. Er hielt sie, bis sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte.
Der Scheinwerfer zeigte ihre Anspannung, jeden Schrecken, jede Träne. Unter diesem grellen Licht konnte sie nichts verbergen. Die Nacktheit in ihrem Gesicht wurde noch schlimmer, als ihr nichts Menschenähnliches entgegenblickte. Nur Tier- und Robotermasken und alles dazwischen.
Ich will nicht wie sie aussehen.
Ich würde diesen Arschlöchern meine Angst nicht zeigen. Wenn sie sich weigerten, uns ihre Gesichter zu zeigen, würde ich mich weigern, mich zu zeigen. Ich hatte keine Federn oder Diamanten, hinter denen ich mich verstecken konnte, dafür aber meinen Willen.
Vier Frauen später hatte ich meine Gesichtszüge endlich hinter einer starren, gefühllosen Hülle verborgen. Es dauerte vier weitere, bis ich jede Emotion aus meinem Blick verbannen und alles, was von mir noch übrig war, packen konnte, um es in einen brandneuen Koffer (oder sollte ich Seelenkoffer sagen?) zu stopfen und den Deckel zu schließen. Die letzten vier Mädchen gaben mir die Zeit, die ich brauchte, um diesen Seelenkoffer zu verriegeln, alle meine Geheimnisse, Hoffnungen und Wünsche zu verdrängen und den Schlüssel wegzuwerfen.
Ich hieß Tasmin Blythe, aber als ich an der Reihe war und man mich zwang, stolz und aufrecht auf das Podium zu steigen, gab man mir einen neuen Namen. Einen Namen, der mich für immer daran erinnern würde, woher ich kam, der mir aber gleichzeitig alles andere nahm.
Pimlico.
Wie der Londoner Vorort, wo die Veranstaltung meiner Mutter stattgefunden hatte.
Ich war nicht mehr Tasmin. Pimlico … Pim.
Ich bin froh.
Ich musste nicht länger so tun, als wäre ich stark und stünde über allem. Pimlico war stark und sie stand über allem. Tasmin war tief in meinem Innersten weggesperrt, während ich gegen das grelle Licht anblinzelte und das Vernichtendste hörte, was man sich vorstellen konnte.
»Ich zahle 100.000.«
»Ich erhöhe auf 200.000.«
»Ich überbiete Sie alle und verdopple.« Der ganze Raum keuchte auf, als die Silhouette eines großen, schlanken Mannes die Tanzfläche betrat. »400.000 für das Mädchen in Weiß.«
Es widerte mich an.
Wie konnten sie es wagen, meinen Wert festzulegen? Was meine Mitsklavinnen wert waren? Ein Menschenleben hatte kein Preisschild.
Mein Leben hatte kein Preisschild.
Seit dem dritten Tag meiner Gefangenschaft hatte ich kein Wort gesprochen. Ich hatte ihre Fragen über mein Alter oder meine sexuelle Vorgeschichte nicht beantwortet. Ich hatte mich geweigert, irgendetwas preiszugeben.
Ich hatte dieses kleine bisschen Macht genutzt, obwohl sie dank meines Führerscheins und sozialer Medien bestimmt alles wussten, was sie brauchten.
Aber jetzt … hier, am Abend meines Verkaufs, hatte ich etwas zu sagen.
Ich ballte die Fäuste, funkelte den schemenhaften Mann an, der mich besitzen wollte. Meine Stimme ertönte, weich, aber deutlich, das einzige weibliche Geräusch in einem Nest voller Männer.
»Ich biete eine Million. Erlauben Sie, dass ich mich selbst kaufe, und ich werde das alles hier vergessen.«
Man hatte die verkauften Mädchen bereits zu ihren neuen Herren gebracht, an die sie sich nun klammerten, und jetzt keuchten sie überrascht auf. Meine Dreistigkeit könnte mein Leben verkürzen oder es verlängern. So oder so, es war ein Glücksspiel, auf das ich mich nur zu gern einließ.
Ich hatte keine Million. Meine Mutter vielleicht, wenn sie zwei unserer Wohnungen in London verkaufte. Aber so, wie ich meine anderen Sorgen beiseitegeschoben hatte, um sie ein andermal zu bewältigen, tat ich dasselbe mit dieser.
Geld war nichts weiter als Geld.
Pennys wurden zu Dollars und Dollars zu Hundertern.
Letztendlich war das hübsch bedruckte Papier dank der Inflation wertlos, da es diejenigen, die es besaßen, nicht glücklich machen konnte.
Mein Leben andererseits würde im Wert steigen. Je länger ich lebte, umso weiser und reicher an Erfahrungen würde ich werden. Es war eine Investition, keine Schuld. Und ich würde alles, was ich hatte, investieren, um mir selbst eine Zukunft zu geben.
Der Mann trat aus dem grellen Licht, seine Silhouette schälte sich zu einer festen Form heraus. Sein schmutzig blondes Haar war das Einzige, was hinter seiner fürstlichen Maske eines englischen Lords zu erkennen war. »Du bietest für dich selbst?«
Seine Stimme klang ausländisch, aber ich konnte den Akzent nicht einordnen. Vielleicht aus dem Mittelmeerraum?
Ich neigte den Kopf, durch das Podium stand ich höher als er, und ich blickte auf ihn hinab, als wäre er mein Untergebener und ich seine Königin.
Ich würde über ihn triumphieren. Ich würde mich nie beugen.
»Korrekt. Ich bin zu teuer für Sie. Eine Million Pfund, nicht Dollar. Ich biete weit mehr als Ihre lächerliche Summe.«
Der Auktionator war ratlos, wusste nicht, wie er mit dieser Wendung der Ereignisse umgehen sollte. Seine Aufgabe war es, Geld zu machen. Frauen zu verkaufen brachte viel ein, aber wenn er mehr damit verdienen konnte, mich an mich selbst zu verkaufen, was kümmerte es ihn, wenn bestimmte Regeln dafür gebrochen wurden?
Er würde sein Geld in jedem Fall bekommen.
Ich ignorierte den Mann in der Maske des englischen Lords und sah den Scharfrichter an, betete darum, dass er seinen Hammer fallen ließ und mein Angebot annahm. »Eine Million, Sir, und ich gehe, ohne auch nur ein Wort hierüber zu verlieren.«
Was ist mit den anderen Mädchen?
Meine Mutter würde mich für die Scham und die Schuldgefühle ausschimpfen, die ich beim Gedanken an die verkauften Frauen empfand. Aber sie wäre auch stolz auf mich, weil ich mich mit Entschlossenheit und Überzeugung für einen Weg entschieden hatte. Eigenschaften, von denen sie immer gesagt hatte, ich hätte sie nicht.
Bist du jetzt zufrieden, Mutter?
Im Raum erhob sich diskutierendes Gemurmel, während ich mitten in diesem Meer aus gedämpften Stimmen stand.
Einen Moment lang hatte ich mir törichterweise eingebildet, ich hätte gewonnen. Dass ich zum perfekten Zeitpunkt gehandelt und meine Freiheit zurückbekommen hätte. Aber ich hatte meine letzte Lektion noch nicht erhalten.
Hochmut kommt vor dem Fall.
Und ich stand direkt am Abgrund.
»Ich halte Ihr Gebot und erhöhe«, murmelte Lord Maske. »Eine Million und 500.000 Pfund, nicht Dollar. Was halten Sie davon?«
Bevor ich antworten konnte – bevor ich mein Gebot erhöhen und etwas an meiner Lage ändern konnte –, fiel der schreckliche Hammer.
»Verkauft!«, rief der Auktionator. »An Mr. Lord, für eine Million und 500.000 Pfund.«
An Niemand,
das war das letzte Mal, dass ich gesprochen habe. Das letzte Mal, dass ich verloren habe. Das letzte Mal, dass ich wusste, wie es ist, nicht jeden Tag Schmerzen zu erleben.
Von diesem Tag an war ich Pimlico, die Stumme, die schweigsame Frau in Weiß.
Egal was dieser Mann mir angetan hat, er konnte mich nicht brechen.
Egal wie sehr er mich geschlagen oder wie er mich sexuell bestraft hat, ich bin stumm und stark geblieben.
Ich würde gern behaupten, ich hätte eine Fluchtmöglichkeit gefunden. Dass ich weggelaufen bin. Dass ich dir aus einem idyllischen Coffeeshop in London schreibe, mit einem gut aussehenden Freund zu meiner Linken und einer besten Freundin zu meiner Rechten.
Aber ich war noch nie eine gute Lügnerin.
Dieser Toilettenpapierroman sollte nie Fiktion sein.
Er ist meine Autobiografie, damit sich vielleicht eines Tages, wenn mein Wert Vergangenheit ist und jeder Penny, den mein Herr für mich bezahlte, eingefordert wurde, jemand an die stumme Sklavin erinnert, die so viel ertragen musste.
Vielleicht werde ich dann frei sein.
Kapitel 4
Pimlico
Anstatt aufzuzählen, was ich verloren hatte und nie wiedersehen würde, dachte ich viel lieber an die Dinge, die ich hatte.
Damit konnte ich mich beschäftigen, während mein Verkauf geregelt wurde und sich der Raum nach und nach leerte, als die erfolgreichen Bieter ihre neuen Besitztümer mit nach Hause nahmen. Man drehte mir die Arme auf den Rücken, wickelte mir eine grobe Schnur um die Handgelenke, als wäre sie eine Art kranker Ehering.
Ich sagte kein Wort, als man mir die Augen verband und die Welt hinter einem schwarzen Schleier verschwand, gab keinen Mucks von mir, als mich herrische Hände aus dem warmen, mit Pianoklängen erfüllten Ballsaal hinaus, ungesehene Flure entlang und durch ein Foyer führten.
Es wurde leise geflüstert, als man mich wie einen Flüchtling auf die Rückbank eines Autos schob. Mein weißes Kleid und der Schal zierten mich noch immer wie ein wertvolles Spielzeug, frisch aus dem Regal.
Ich wusste nicht, ob mich ein schrottreifer Honda oder ein teurer Maybach vom Hotel de Sexhandel zu einem privaten Flugfeld brachte. Und ohne die Unterstützung der Hände, die mich gekauft hatten, durfte ich nichts sehen, berühren oder mich bewegen.
Er sprach nicht mit mir. Ich sprach nicht mit ihm. Und die Angestellten um uns herum mussten nichts sagen, weil sie ihre Anweisungen hatten, die sie detailliert befolgten.
Ich musste mich unter etwas hindurchducken, von dem ich annahm, dass es der Rumpf eines Privatflugzeugs war. Dann lotsten mich sachte Schubser einen Steg hinauf, bevor man mich zu einem Sitz führte, auf den ich mich setzen sollte. Zumindest war ich endlich aus dieser sämtlicher Sinneseindrücke beraubten, elenden Zelle raus und hatte, was ich brauchte.
Schnipsel und Empfindungen von Leben umgaben mich. Die Stadtluft auf meinem Gesicht, die Geräusche der Zivilisation, während wir Straßen entlangfuhren, vorbei an nichts ahnenden Eltern und Pärchen, und jetzt … saß ich mit durchgedrücktem Rücken, verschnürten Handgelenken und mit verbundenen Augen auf dem weichsten Leder, das man sich vorstellen konnte.
Die Eindrücke schärften meine Sinne. Der herbe Geruch von Alkohol, vollmundige Schwaden aus Zimt und Kaviar und der kräftige Duft eines Rasierwassers.
Während meiner Gefangenschaft hatte ich nicht versucht mich zu befreien, indem ich eine Dummheit machte. Ich hatte nie widersprochen (nicht nach den ersten Willkommensprügeln) und ich hatte auch kein Essen verweigert. Diese blödsinnigen Ideen, eher zu verhungern und mit Worten zu kämpfen, hatte man mir nach meiner Ankunft innerhalb von Stunden ausgetrieben.
Unter diesen neuen Umständen würde ich nicht damit aufhören, gerissen zu bleiben. Ich würde nicht schreien oder versuchen, mich mit meinem Kerkermeister anzufreunden. Stattdessen würde ich schweigen und stark bleiben und nie so blöd sein, Nahrung abzulehnen, die mir dieser Mann geben wollte.
Ich brauchte all die Gesundheit und Entschlossenheit, die ich aufbieten konnte.
Eisige Champagnerblasen perlten an meinen Lippen.
Es war schon sehr lange her, dass ich etwas so Intensives geschmeckt hatte. Ich öffnete den Mund, trank in winzigen Schlucken.
Nach exakt zwei davon war die Flöte wieder fort. Die Triebwerke des Privatflugzeugs erwachten heulend zum Leben, jemand schob mich tiefer in den Sitz, um über meinem Schoß einen Sicherheitsgurt zu schließen, und knisternd verkündete ein unbekannter Pilot über den Lautsprecher, dass wir bereit für den Start seien.
Ich wollte wissen, wohin wir flogen.
Ich wollte wissen, wer mein neuer Widersacher war.
Ich wollte wissen, wie lange ich durchhalten konnte, bevor die Maske, die ich mir auf dem Podium zugelegt hatte, zerbrechen würde.
Pappmaschee hielt nur so lange, bis es durchweichte und auseinanderfiel. Wie wäre es mit einer Verkleidung aus reiner Sturheit und Rebellion? Wie lange würde die halten?
Aber etwas zu wollen hieß nicht, es zu bekommen. Mir blieb keine andere Wahl, als mich zurückzulehnen, während der Flieger die Startbahn entlangraste und sich in die Luft erhob. Der steile Steigflug ließ es in meinen Ohren knacken. Lange sagte niemand ein Wort. Niemand band mich los oder nahm mir die Augenbinde ab.
Minuten wurden zu Stunden, und ich gab es auf, darauf zu warten, dass der Mann etwas sagte. Ich entspannte mich, so gut es ging, konzentrierte mich auf mein Innerstes und bewahrte meinen Verstand, indem ich mich geistig auf den nächsten Schritt vorbereitete.
Ich hatte gewusst, dass es so weit kommen würde, seit dieser Dreckskerl mich erwürgt und dann mit Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzdruckmassage wiederbelebt hatte. Ich hatte niemanden mehr, auf den ich mich verlassen konnte. Niemanden, der mir sagte, was ich tun und wie ich mich verhalten sollte. Das alles war nun ganz allein mir überlassen. Was für Schmerzen oder Misshandlungen mich in Zukunft auch erwarteten oder auch nicht, es lag allein in meiner Verantwortung, mir da durchzuhelfen. Ich musste meine Tränen abwischen und Trost in meinen eigenen Armen finden, egal wie blutig sie sein mochten.
In diesem Eingeständnis lagen nicht nur Furcht und Entsetzen, sondern auch Ermutigung. Ich musste nur auf mich selbst achtgeben. So auf mich allein gestellt, durfte ich selbstsüchtig sein. Ich konnte mich vor sämtlichen Emotionen verschließen und mein Herz genauso verstummen lassen wie meinen Mund.
Die anderen verkauften Mädchen würden in Vergessenheit geraten, also machte ich mir über ihre Existenz keine Gedanken. Ich würde meine Mutter ignorieren und so zu einer eigenständigen Persönlichkeit werden, nicht länger ihr Protegé.
Das war die einzige Möglichkeit, wie ich überleben würde.
Während die Minuten dahinstrichen und das Flugzeug lange genug in der Luft war, damit zwei Flugbegleiterinnen Zeit hatten, meinen Käufer zu bedienen, und der Pilot verkündete, dass der Flug noch eine weitere Stunde dauere, kämpften meine Nerven eine Schlacht, die sie zu verlieren drohten.
Trotz meines positiven Denkens konnte ich nichts gegen das beständige Ticktack in meinem Inneren tun, das die Zeit bis zum nächsten Ereignis herunterzählte, das ich überstehen musste.
Ich versuchte Ruhe zu bewahren – meinen aufgewühlten Verstand davon abzuhalten, Fragen zu stellen. Aber alles, was ich wissen wollte, war, wen ich ertragen musste, während ich meine Flucht plante.
Wer war dieser Scheißkerl, der Geld gegen ein Leben eintauschte?
Was erwartete er von mir?
Und wie oft war er mit so etwas schon davongekommen?
»Bringen wir die notwendigen Vorstellungen hinter uns, oder was denkst du?«
Ich erstarrte, als die Stimme des Mannes die bleierne Stille durchbrach. Sein Timing ließ es mir kalt den Rücken runterlaufen, fast als hätte er meine Gedanken gehört.
Erwartete er von mir, mit ihm zu sprechen, ohne ihn zu sehen? Ohne seine Körpersprache zu sehen, durch die ich so viel mehr erfahren würde, als wenn ich weiterhin blind blieb?
Ich hatte mir geschworen, nie wieder zu sprechen. Niemals. Aber in diesem Augenblick wäre es für mich von Vorteil, nicht für ihn.
Ich gestattete mir fünf Worte. Eine magere Ansammlung von Silben, bevor ich wieder in Schweigen versinken würde.
»Binden Sie mich erst los.«
Es dauerte lange, bis er reagierte. Dann ertönte das leise Rascheln seines Anzugs, während er sich vorlehnte und meine Schultern vom Sitz wegschob. Seine Berührung ließ meine Haut kribbeln, sie sträubte sich vor Hass.