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»Ich war schlimmer als er. Seine Absichten waren immerhin klar gewesen. Aber meine?« Als sich der nächtliche Sturm über dem Meer gelegt hat, müssen Elder und Pim der Wahrheit ins Auge blicken. Ihre Verbindung ist stärker, als Pim glaubte … und viel gefährlicher, als Elder guttut. Er muss eine Entscheidung treffen. Um ihretwillen, um seinetwillen. »Er war in meinen Körper eingedrungen, in meinen Verstand, in meine Erinnerungen und in mein Elend. Er hatte mich zurück in die Welt der Lebenden gezerrt. Er hätte mich beinahe zerstört.« Im dritten Band ihrer Bestseller-Serie lässt Pepper Winters Pim und Elder in einem Psychodrama ums seelische Überleben kämpfen.
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Seitenzahl: 465
Veröffentlichungsjahr: 2020
Aus dem Amerikanischen von René Ulmer
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Hundreds(Dollar #3)
erschien 2017 im Verlag Pepper Winters.
Copyright © 2017 by Pepper Winters
Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Festa Verlag, Leipzig
Lektorat: Katrin Hoppe
Titelbild unter Verwendung von: iStock/Shutterworx
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-869-8
www.Festa-Verlag.de
Prolog
Pimlico
Als er mich nahm, hätte er mich beinahe zerstört.
Er war in meinen Körper eingedrungen, in meinen Verstand, in meine Erinnerungen und in mein Elend. Er war in den Teil meines Selbst vorgedrungen, den ich vor Alriks Qualen verborgen hatte. Er hatte an die Tür geklopft, hinter der sich Tasmin versteckte, die Schlösser abgerissen und mich zurück in die Welt der Lebenden gezerrt.
Irgendwie, indem er sich in mich drängte, hatte er schreckliche, alte Erinnerungen gegen verwirrende neue ausgetauscht. Er hatte mir gezeigt, dass ich stärker war, als ich gedacht hatte, und wie ich den Trost finden kann, der mir so lange verwehrt war.
Mit einem Akt ungezügelter Brutalität hatte er in mir eine Welt geweckt, in der Sex nicht länger meinen Tod bedeutete. In der ich nicht verwelkte, sobald mich ein Mann berührte. In der ich nicht zersplitterte, wenn ich sprach.
Er hätte mich beinahe zerstört.
Beinahe.
Aber nicht gänzlich.
Und ich erhob mich aus der Asche.
Kapitel 1
Elder
Was zur Hölle hatte ich mir nur dabei gedacht?
Wie konnte ich mich nur so gehen lassen?
Ich war schlimmer als er. Schlimmer als das Monster, das sie gefangen gehalten hatte.
Seine Absichten waren immerhin klar gewesen. Aber meine? Ich hatte sie glauben lassen, ich würde sie beschützen und mich um sie kümmern, nur um im unpassendsten Moment die Kontrolle zu verlieren.
Scheiße!
Während ich mir mit den Fingern durch das Haar fuhr, verfluchte ich ihr Zittern. Ich musste mich unter Kontrolle bringen, bevor ich noch völlig die Beherrschung verlor. Ich konnte es mir nicht leisten, in den Ort voller Verstrickungen abzudriften, aus dem ich mich so mühsam herausgekämpft hatte.
Mein Herz raste. Mein Blut rauschte. Diese verdammte Reue trieb mich in den Wahnsinn.
Der dicke Teppich zeigte die Spur, wo ich die ganze Nacht auf und ab gegangen war. Seit ich Pimlico in ihr Zimmer gebracht hatte, konnte ich nichts anderes tun.
Mein Körper fand keine Ruhe, während mein Geist von den Erinnerungen gequält wurde, wie ich in sie eingedrungen war – das Gefühl ihrer unvorstellbaren Hitze, die Erschütterung, als sie zu schluchzen begann.
Ich bekam weder ihre Tränen noch ihre ersten Worte aus meinem Verstand.
Mein Körper wusste nicht, ob er nach dem schlimmsten sexuellen Erlebnis meines Lebens Erleichterung brauchte oder den Frauen ein für alle Mal abschwören sollte.
Auch Stunden später spürte ich sie noch immer. Ich litt noch immer an ihren sanften Bewegungen auf meinem Schoß, während sie weinte, nach mir schlug und zu wissen verlangte, wo ich vor zwei Jahren gewesen war.
Ihre Tränen waren meine Schande. Ihre Fragen meine Strafe.
Dieses Etwas, das eigentlich heilen und sich zu dem weiterentwickeln sollte, was immer da zwischen uns erblühte – ich hatte es genommen und in eine weitere Vergewaltigung verwandelt.
Ich hatte nicht gewartet, bis sie bereit war, und dadurch hatte ich jetzt auch mich selbst zerstört.
Mein Cello lag noch immer auf dem Boden, wo ich es gelassen hatte. Ich wollte es würgen, es töten und ihm Foltermusik entlocken. Ich brauchte Akkorde und Rhythmen, um den verwirrenden Gefühlen einen Sinn zu verleihen. Ich brauchte meine Krücke, mit der ich mich an meine geistige Gesundheit klammerte.
Aber ich hielt Abstand.
Ich konnte ihr nicht noch mehr wehtun, als ich es bereits getan hatte.
Musik war meine Erlösung, aber für Pimlico war sie ein Albtraum.
Jedes Mal wenn ich spielte, hatte mich Pimlico aufgesucht. Meine Musik schickte sie in die Hölle zurück, während mich ihre Anwesenheit in meinem Leben zu ihr in die flammenden Abgründe zerrte.
Ich würde nicht spielen, weil ich nicht wollte, dass sie wieder zu mir kam. Sie musste mir eine Weile fernbleiben. Ich konnte nicht in ihrer Gegenwart sein, bis ich herausfand, wer ich war, wer ich sein wollte und wie ich verfickt noch mal wieder ein Gentleman sein konnte.
Gedanken daran, sie loszuwerden, quälten mich. Es wäre eine Erleichterung, sie von meiner Jacht zu bringen und zurückzulassen.
Das wäre das Richtige und Beste, was ich tun könnte.
Besonders jetzt.
Jetzt, nachdem ich mich vergessen hatte.
Vielleicht würde ich mich um ihre Freilassung kümmern.
Vielleicht würde ich sie einem anderen geben.
Was auch immer … Das Beste wäre, sie wegzuschicken und nie wiederzusehen.
Kapitel 2
Pimlico
Lieber Niemand,
er hat mit mir geschlafen.
Er hat mir endlich gezeigt, was er vorhat. Was er erwartet. Wie es von jetzt an sein wird …
Ich warf den Füller durchs Zimmer.
Hör auf.
Das stimmt nicht.
Ja, er hatte mir wehgetan. Ja, er war in mich eingedrungen. Und ja, er hatte getan, wovon ich immer befürchtet hatte, dass er es mit mir tun würde.
Aber er war nicht grausam gewesen. Er hatte mich weder geschlagen noch beleidigt. Er hatte mich nicht dafür getötet, dass ich in seinen Armen weinte, ihn anschrie und schlug.
Er hatte mich festgehalten. Mich beruhigt. Mich getröstet.
Er hatte etwas Falsches genommen und es irgendwie zu etwas … Richtigem gemacht? Nein, nicht richtig, aber auf alle Fälle anders als jede sexuelle Erfahrung, die ich bisher gehabt hatte.
Er konnte mich mit Leichtigkeit bestehlen. Er konnte mich viel zu leicht verletzen.
Aber das hatte er nicht.
Er hatte mich festgehalten und meine Tränen weggeküsst.
Er hat zugelassen, dass ich ihn schlage.
Beim Gedanken an seine Sanftheit schüttelte ich den Kopf. Er hatte mich gegen meinen Willen berührt und war ohne meine Zustimmung in mich eingedrungen, aber danach hatte er so viel getan, um seinen Fehler wiedergutzumachen.
Du erlaubst ihm, dich zu vergewaltigen?
Ich kletterte aus dem Bett, hob den Füller vom Boden auf und ging zur Matratze zurück, während ich versuchte, meine Gedanken zu entwirren.
Ich erlaubte es ihm nicht, nicht wirklich, aber ich würde ihm auch nicht die ganze Schuld geben. Ich war nicht wirklich unschuldig daran. Ich war keine Gefangene mehr – eine, die ihr teuflischer Herr nach Lust und Laune benutzen konnte. Ich war frei – zumindest so frei, wie man auf einer Jacht mitten im Ozean sein konnte. Ich lebte mit einem Mann zusammen, den ich unheimlich attraktiv, fremdartig und geheimnisvoll fand.
Mittlerweile mochte ich ihn.
Ich hatte seinen Kuss erwidert.
Auf Marokkos Straßen hatte ich mich für ihn entschieden.
Was da auch immer zwischen uns war, man konnte es nicht benennen, aber wir waren dadurch verbunden, auch wenn wir uns auf ungewöhnliche Weise begegnet waren.
Eine solche Verbindung hatte ich noch nie zu jemandem gehabt. Nie hatte ich in den Augen eines Mannes unverhohlene Leidenschaft gesehen und ihm trotzdem vertraut, dass er mir nicht wehtun würde. Seine Selbstkontrolle trieb mich dazu, leichtsinnige Dinge zu tun, wie davon zu träumen, wie es wäre, ohne die Last meiner Vergangenheit mit ihm zusammen zu sein.
Selbstsüchtig dachte ich dabei nur an mich. Daran, was Elder für meine Genesung tun konnte, und nicht daran, wie es für ihn war, sein Zuhause mit einer Irren zu teilen, die Kleidung, Berührungen oder Musik verabscheute.
Meine Probleme waren nicht seine Schuld, also warum sollte ich ihn deswegen bestrafen?
Weil es dir nicht gut geht. Du bist dabei zu genesen.
Ja, mit jedem Tag ging es mir besser, seinetwegen. Er war der wahre Grund, warum ich am Leben war, meine Zunge noch hatte, anstatt tot und zungenlos zu sein.
Ich hatte ihm zu viel zugemutet – ich hatte mein Misstrauen und meine Angst nicht abgelegt.
Auf keinen Fall würde es einfach mit mir werden. Verdammt, den Großteil der Zeit konnte ich mich selbst nicht ausstehen. Ich hatte nicht gewusst, wie ermüdend es sein würde, mit einer Stummen zusammenzuleben, die damit kämpfte, ihre Sexualität zurückzugewinnen, während sie sie gleichzeitig verabscheute.
Ich hatte ihm widersprüchliche Signale gegeben.
Ihm und mir.
Nimm ihn nicht in Schutz.
Seufzend malte ich ein Herz auf meinen Handrücken.
Ich nahm ihn nicht in Schutz. Ich fing langsam wieder an, wie ein normales Mädchen zu leben. Ein Mädchen, das nicht unter der Last seines Leids erstickte. Ein Mädchen, das einen Teil der Schuld auf sich nahm, weil es wusste: Menschen waren nicht perfekt. Ich hatte so viel meines früheren Lebens unter Verschluss gehalten, dass es Zeit brauchte, die rostigen Riegel zu öffnen und die eingestaubten Erinnerungen wieder hervorzuholen. Mit jeder dieser Erinnerungen wirbelte dieser Staub auf dem Dachboden meines Verstandes auf, der alles undeutlich machte, bis er sich legte und die Klarheit zurückkehrte.
Ich hatte Psychologie-Lehrbücher gelesen, die mir einen Einblick in die Unbeständigkeit und die Abartigkeiten der menschlichen Spezies gewährten. Ich hatte aus erster Hand gelernt, wie man die schlimmsten Subjekte der Gesellschaft mit subtiler Körpersprache manipulieren konnte. Ich hatte gelernt, die Stimmung einer Person anhand ihres Verhaltens vorauszuahnen.
Es war Zeit, diese Fähigkeiten zu nutzen und zur Abwechslung mich selbst zu analysieren, anstatt mich mit Händen und Füßen gegen meine Entwicklung zu stemmen.
Dann bekam ich halt eine Gänsehaut, wenn ich Kleidung trug. Andere fanden es unangenehm, wenn ich nackt herumlief.
Dann blutete mir halt beim Klang von Musik das Herz und mein Verstand verschanzte sich hinter einer Mauer. Elder musste spielen, um seine eigenen Dämonen zum Schweigen zu bringen.
Dann war ich halt noch immer seiner Gnade ausgeliefert, abhängig von seiner Wohltätigkeit, solange er mich ertragen wollte. Ich musste die Zeit, die er mir bereits gegeben hatte, würdigen.
Ich hatte genug davon, immer nur das Opfer zu sein.
Und ich hatte genug davon, auf diese Weise zu leben. So ängstlich, verschüchtert und im wahrsten Sinne des Wortes kaputt.
Seit ich in Elders Armen hatte weinen dürfen – er mir eine sichere Zuflucht für meine Tränen bot –, war er der perfekte Gentleman gewesen. Nachdem sich meine Panik gelegt hatte, hatte er sich langsam zurückgezogen und sich meinem Körper und meinem Herzen entzogen.
So lange schon hasste ich jede Art von Berührung. Aber in meine eigene Traurigkeit gehüllt, mit Elder in meinem Körper, hatte sich etwas verändert. Durch sein Eindringen gab es jetzt eine ungewollte, aber dennoch tiefere Verbindung in unserer seltsamen Beziehung.
Kein einziges Mal regte er sich, versuchte, sein eigenes Vergnügen einzufordern. Er stieß nicht in mich, kam nicht, und genauso wenig ächzte er frustriert, weil wir uns trennten. Er legte mich so sanft auf sein Bett, als würde ich sonst zersplittern.
Er zog seine Hose an, wickelte mich in seine Bettdecke und trug mich in meine Kabine zurück.
Ich kuschelte mich in seine Arme, ließ ihn für mich sorgen. Ich sagte nichts, als er mich auf mein Bett legte und mir mit all der Zärtlichkeit, die ich so vermisst hatte, einen Kuss auf die Stirn gab.
Bleib.
Ich wollte, dass er blieb. Obwohl unser erstes sexuelles Erlebnis überstürzt und einseitig verlaufen war, voller Musik und fauligem Vergnügen, erkannte ich, ich wollte nicht, dass er ging.
Meine ersten Worte an ihn waren verdammend und voller Verurteilung gewesen. Ich hatte Angst, dass er gehen und ich ihn nie wiedersehen würde.
Bleib.
Aber er ging.
Er gab mir einen weiteren süßen, kaum spürbaren Kuss, schob mein Haar beiseite und blickte mir in die Augen, als würde er nach etwas suchen. Hass, Abscheu? Ich wusste es nicht.
Er biss die Zähne zusammen. Seine schwarzen Augen waren traurig, unergründlich. Und dann war er weg.
Das war gestern gewesen.
Die ganze Nacht bekam ich kein Auge zu, und den nächsten Morgen und Nachmittag verbrachte ich mit der Erinnerung, wie sich sein Körper in meinem angefühlt hatte – die Dicke, die Wärme. Wie er mich ausfüllte, dadurch hatte ich eine komplexe Mischung aus Angst und Macht gekostet. Angst wegen meiner Vergangenheit. Macht daraus, wie er mich ansah.
Er hatte mich in diesen Gefühlen ertrinken lassen, bis er sich zurückzog, uns von einer wieder zu zwei Personen machte.
Im Grunde war es Sex gewesen, es ließ sich aber mit keinem bisher erlebten Sex vergleichen. Ich hatte kein Vergnügen dabei gehabt – genau wie all die verhassten Male mit Alrik.
Aber das war gelogen.
Es hatte Vergnügen gegeben.
Darin, sich endlich gehen zu lassen und nach so langer Zeit wieder zu sprechen.
Vergnügen zu weinen.
Selbst das Wissen, dass ich ihn mit meinen unaufhörlichen Fragen verletzte, hatte mir Vergnügen bereitet.
Ich kroch zum Rand des Bettes, setzte die Füße auf den Boden, nahm mein Notizbuch und meinen Füller an mich. Elder hatte alle Teile meines Selbst zerstreut, mein Herz geplündert und meine Überlebensinstinkte ausgeschaltet. Was aber stattdessen blieb, war so viel besser.
Ich wurde nicht länger von Löchern aus Misstrauen und Selbstmordgedanken gequält.
Ich war wie neugeboren und bereit, diejenige zu sein, die ich gewesen war, bevor man mich bei dieser widerlichen Auktion verkauft hatte.
Mit einer neuen Zeile an Niemand brachte ich den Füller aufs Papier.
Ich bin bereit zu genesen, Niemand. Wird er mir die Möglichkeit dazu geben, oder wird er erwarten, mich bei unserem nächsten Treffen wieder zu nehmen?
Mit Tinte zu schreiben war so viel einfacher als mit einem abgenutzten Bleistiftstummel. Die Frage an sich war düster und von Drängen getrübt. Ich wollte unbedingt wissen, ob Elder weiterhin freundlich bleiben und mir Zeit geben würde, bis ich aus freien Stücken in sein Bett kam, oder ob er beenden würde, was er letzte Nacht begonnen hatte.
Was davon auch eintreten mochte, ich würde überleben, da ich mich endlich dazu entschlossen hatte, lieber zu leben, anstatt zu sterben. Ich hatte endlich den Punkt erreicht, an dem ich zu meiner Vergangenheit »Fick dich« und »Hallo« zu meiner Zukunft sagen konnte.
Ich werde mit ihm reden, Niemand, nach so langem Schweigen habe ich so viele Fragen. Wenn ich frage, wird er mir bestimmt antworten.
Ein seltsames Gefühl von Verurteilung überkam mich. Als wäre sich Niemand da nicht so sicher – als würde mein eingebildeter Retter an meiner neu gewonnenen Überzeugung, dass Elder nicht nur ein weiteres Monster war, zweifeln.
Bisher hatte ich nichts als beruhigenden Trost empfunden. Es war beunruhigend, diesen Krieg in meinem Inneren zu spüren.
Wenn ich Elder fragen würde, was er mit mir vorhabe, würde er mir bestimmt die Wahrheit sagen. Oder zumindest seine Version der Wahrheit.
Aber er hat dir deine vorherige Frage nicht beantwortet.
Ich zögerte, biss mir auf die Unterlippe.
Das stimmte.
Er hatte meine Schläge ertragen, aber nie geantwortet. Egal wie oft ich gefragt hatte.
Wo warst du vor zwei Jahren?
Ich ließ die Schultern hängen.
Ich hätte das nie fragen sollen. Die Frage war grausam, weil es nicht seine Schuld war. Wie konnte ich ihm diese Schuld aufbürden? Damals hatte er mich nicht gekannt. Er hatte mich so wenig gekannt wie ich ihn. Ich konnte ihm das Geschehene nicht vorwerfen, weil er keine Schuld daran hatte.
Wo warst du vor zwei Jahren?
Seine Antwort war unwichtig.
Sie war bedeutungslos. Denn jetzt war ich mehr Mensch als Tier – ich konnte analysieren und überlegen, anstatt nur zwischen Kampf und Flucht zu wählen.
Schwer seufzend kritzelte ich:
Es ist unwichtig, wo er vor zwei Jahren war. Ich habe mein Leben geführt und er seines. Ich kann ihn nicht dafür hassen, dass er Alrik nicht davon abgehalten hat, mich zu kaufen. Der Schmerz, den ich erlitten habe, ist meiner, nicht seiner. Genau wie seine Tragödien, die ich nicht verhindern konnte, seine sind.
Es war eine Wohltat, die Dinge loszuwerden, die ich so lange in mich hineingefressen hatte. Ich war so wütend auf Elder gewesen. Ich hatte ihn für Dinge verantwortlich gemacht, für die er nichts konnte. Ich hatte ihn für sein Cellospiel gehasst. Ich hatte mich gegen ihn gewehrt, als er mich zum Sprechen ermutigt hatte. Ich hatte mich geweigert, etwas anzuziehen. Ich hatte ihn bestraft, bis er sich vergessen hatte.
Damit entschuldigte ich sein Verhalten nicht.
Das waren lediglich die Tatsachen.
Und ich weigerte mich, weiter so selbstbezogen zu sein.
Ich muss mich entschuldigen.
Ein Teil von mir verdrehte die Augen.
Du willst dich ernsthaft bei dem Mann entschuldigen, der dich ohne deine Zustimmung genommen hat?
Ich warf Füller und Notizbuch auf das Bett, nahm den weißen Morgenmantel, der auf der Decke lag, und schlüpfte hinein. Dieses Mal ließ ich nicht zu, dass mir klaustrophobische Gefühle die angenehme Empfindung wärmender Kleidung auf meiner Haut nahmen.
Von jetzt an war ich normal. Und normale Mädchen trugen Kleidung.
Vielleicht hatte mich Elder ohne meine Einwilligung genommen, aber damit hatte er mir auch einen Horizont aus Mut gezeigt, der jenseits des zersplitterten Firmaments meines Verstands existierte.
Mich bei ihm zu entschuldigen, in der Öffentlichkeit Kleidung zu tragen und ihm für seine Gastfreundschaft zu danken, war das Richtige. Alles andere – die lauernden Blicke, die Küsse, die in meinem Bauch die Schmetterlinge aufscheuchten, das zu Tränen rührende Cellospiel –, damit konnte ich zurechtkommen, jetzt, da ich dabei war zu genesen.
Mein Brief an Niemand lag unbeachtet auf dem Bett und ich verspürte nicht den Wunsch, ihn zu beenden. Ich musste lernen, ohne meinen stummen Brieffreund als Krücke zu überleben.
Ich tapste ins Badezimmer, betrachtete mich im Spiegel.
Dafür, dass ich nicht geschlafen hatte, sah ich gar nicht so übel aus. Lediglich schwache Ringe unter den Augen und zerzaustes Haar, weil ich, durch meine eigenen Gedanken von Kopfschmerzen gepeinigt, die Finger hindurchgezogen hatte.
Gestern war ich noch Pimlico gewesen.
Heute würde ich versuchen, mehr wie Tasmin zu sein.
Ungeachtet dessen, was zwischen uns geschehen war – oder vielleicht gerade deswegen –, fühlte ich mich stärker und lebendiger als je zuvor, seit ich auf der Phantom und in Elders Reich aufgewacht war.
Ich drehte das warme Wasser auf, schlüpfte aus dem Morgenmantel und stieg unter die Dusche.
Während Seifenblasen über meine Haut glitten, entschied ich, dass meine Vergangenheit nicht länger meine Zukunft bestimmen würde. Sobald ich sauber war, würde ich auf das Oberdeck gehen, nach Elder suchen und herausfinden, wo uns dieser Neuanfang hinführen würde.
Kapitel 3
Elder
»Sir?«
Selix betrat mein Quartier.
Ich hatte den Großteil des Tages damit verbracht, die Zeichnungen für Alriks Jacht fertigzustellen. Nur weil er tot war, bedeutete das nicht, dass ich das Schiff, für das er bezahlt hatte, nicht vollenden würde. Ich hielt meinen Teil einer Geschäftsvereinbarung immer ein. Allerdings bedeutete es, dass dieses Schiff einen neuen Besitzer finden würde.
Ich legte den Bleistift weg, knackte mit dem Nacken. »Ja?«
»Sie ist gerade an Deck gekommen. Ich weiß, Sie haben diesmal nicht um Benachrichtigung gebeten, aber ich dachte mir, Sie wollen es vielleicht wissen.«
Ich runzelte die Stirn. Ich war mir nicht ganz sicher, warum er annahm, dass es mich interessieren würde. Soweit er wusste, war heute ein Tag wie jeder andere auch, und es war nichts geschehen. Er wusste nicht, was ich getan hatte … Oder etwa doch?
Als ich aufstand, sah ich ihn, meine rechte Hand, meinen Freund, mit zusammengezogenen Augen an. »Wenn sie will, darf sie an Deck sein.« Wir segelten schon den ganzen Nachmittag ruhig dahin. Am Horizont gab es keinerlei Anzeichen für einen Sturm wie den, den wir gemeinsam überstanden hatten. Pim konnte tun, wonach immer ihr war, und ich ging ihr dabei verflucht noch mal aus dem Weg.
»Natürlich.« Selix legte die Handflächen aneinander, sein langes Haar hing ihm locker über die Schultern. »Ich dachte mir nur, ich halte Sie auf dem Laufenden. Ich hab der Küche auch aufgetragen, ein leichtes Abendessen vorzubereiten.«
Langsam wurde ich wütend. »Hab ich gesagt, ich hätte Hunger?«
Selix feixte. Er wusste, er überschritt seine Kompetenzen, und es war ihm scheißegal. »Nein, aber Sie haben noch nichts gegessen. Und dem Zimmermädchen nach hat sie auch noch nichts gegessen.«
Beim Gedanken an die verzweifelte, schluchzende Pim ballte ich die Fäuste – sie war zu zerstört, um nach dem, was ich getan hatte, überhaupt etwas zu essen. »Jemand muss dafür sorgen, dass sie isst. Sie ist zu abgemagert, um eine Mahlzeit ausfallen zu lassen.«
»Sie hat Frühstück und Mittagessen verweigert, aber da sie ihr Zimmer verlassen hat, wäre das eine gute Gelegenheit, dass Sie ihr sagen, dass sie was essen soll.«
»Ich bin nicht ihr Aufseher.«
»Nein, aber Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, etwas für sie zu sein. Soll mich der Schlag treffen, wenn ich wüsste, was genau.« Er legte die Stirn in Falten. »Nicht dass es mich was angeht.« Er ging rückwärts aus meinem Büro, packte den Türknauf. »Der Koch hat das Abendessen bald fertig. Ob Sie was essen wollen oder nicht, ich sorge dafür, dass das Mädchen was isst.«
Meine Fingernägel gruben sich in meine Handflächen. »Du bist eine ganze Menge, Selix, aber das ist das erste Mal.«
»Das erste Mal was?«
»Dass du verfickt aufdringlich bist.«
Seine Lippen zuckten. »Sie sollten mittlerweile wissen, dass ich nichts für das kann, was sich vor meinen Augen abspielt. Wir haben beide um unser Überleben gekämpft. Und sie macht gerade dasselbe. Bis Sie sie von der Phantom schmeißen, behalte ich sie weiter im Auge und schütze Sie und sie.«
Ich las zwischen den Zeilen.
Solange Pim nicht versuchte, mich zu verletzen, würde er sie respektvoll behandeln – auch wenn sie jedes Recht dazu hätte, nachdem ich mich ihr aufgedrängt hatte. Er hatte einen Eid geschworen, mich zu beschützen, so wie ich ihn beschützt hatte. Allerdings bevorzugte er es, in meinem Schatten zu bleiben, anstatt ein vollständig anerkannter Partner zu werden – obwohl ich ihm für seine Loyalität die Hälfte von allem angeboten hatte.
»Das ist nicht dein Kampf, Selix.«
»Wenn Sie im Ring stehen, ist er es auf alle Fälle.«
»Muss ich dich daran erinnern, dass du mal versucht hast, mich zu töten? Ich glaube, diese Seite von dir ist mir lieber.«
Kichernd schloss er die Tür und sagte noch: »Das war, bevor ich Sie kannte. Hoffen wir mal, das Mädchen lernt Sie auch noch kennen, damit ich es nicht verletzen muss.«
Er ließ mir keine Gelegenheit zu antworten.
Meine verschleierten Andeutungen über unseren Straßenkrieg schwebten noch immer in der Luft. Wir hatten mehrmals versucht, den anderen umzubringen, bis sich unsere gegenseitige Abscheu zu einer Bruderschaft gewandelt hatte. Er war da, als mich das Böse meiner Vergangenheit aufspürte – so wie es das immer tat. Er war da, als ich über einer Leiche stand, den Gestank von Tod in der Nase, aber froh, dass mein Feind am Boden verblutete, nicht ich. Er war da, als ich ihm von der Gruppierung erzählte, die mich bis in alle Ewigkeit jagen würde, und von meinem Ziel, sie auszulöschen, bevor ihnen das mit mir gelang.
Das Klicken der sich schließenden Tür riss meine Gedanken in die Gegenwart zurück.
Ich schüttelte den Kopf, verbannte die lebensbedrohlichen Angelegenheiten und konzentrierte mich stattdessen auf die herzzerreißenden. Seit Jahren lebte ich mit dem Schatten, der mir nach dem Leben trachtete. Pim war noch etwas Neues für mich und ich hatte sie bereits zerstört.
Ging es ihr gut? Warum aß sie nicht? Hatte ich sie so gründlich ruiniert? Wenn sie vorher schon an Selbstmord gedacht hatte – hatte ich es gerade zehn verfickte Male schlimmer gemacht?
Beim Gedanken, dass ich alles zunichtemachte, was ich zu erreichen versuchte, wurde mir schlecht. Mein Magen knurrte, als meine Befürchtungen mein letztes bisschen Energie aufzehrten.
Mit einem hatte Selix recht. Ich hatte Hunger und brauchte etwas zu essen, bevor ich richten konnte, was ich versaut hatte.
Ich ließ meine Zeichnungen liegen, ging durchs Zimmer und hob mein Cello auf. Ich hätte es ordentlich verstauen sollen, konnte es aber den ganzen Morgen nicht anfassen, weil ich dabei jedes Mal an die weinende Pim denken musste.
Mittlerweile waren fast 24 Stunden vergangen und die widersprüchlichen Gefühle waren weniger präsent. Ich konnte es wegräumen. Ich hob das schwere Instrument auf, nahm den Bogen vom Stuhl und ging zu der eigens dafür vorgesehenen gepolsterten Kiste im Wandschrank.
Es brannte mir in den Fingern zu spielen, aber ich ignorierte den Drang.
Sollte ich nachgeben, würde ich mich in Stunden der Musik verlieren, bis der frühe Abend der Mitternacht wich.
Nachdem das Cello weggeschlossen war, zog ich mir ein frisches T-Shirt über und verließ das Zimmer.
Pim war an Deck. Das stellte neutrales Gebiet dar, da es eine Vielzahl Angestellter gab, die allein durch ihre Anwesenheit dafür sorgten, dass die Grenzen eingehalten wurden. Am liebsten würde ich sie nicht sehen, aber ich musste mir selbst in den Arsch treten und mich verdammt noch mal entschuldigen. Zusammen zu essen würde uns einen Grund geben, gemeinsam Zeit zu verbringen. Und wenn sie mich hassen sollte, würde ich mir schleunigst eine Alternative für ihren Aufenthalt hier bei mir einfallen lassen.
Besessenheit hin oder her.
Ich würde Pim nicht zerstören, nur um zu bekommen, was ich brauchte.
Ich hatte so lange ohne einen Fehltritt überlebt.
Ich würde alles Notwendige tun, damit das auch in Zukunft so blieb.
Kapitel 4
Pimlico
Mein Herz spürte ihn schon, bevor ich ihn sah.
Irgendwie hatte sich das Organ, das mich durch so viele Tragödien hindurch am Leben erhalten hatte, auf ihn eingestellt. Hier ging es mir besser, trotzdem bescherte mir seine Anwesenheit eine Gänsehaut.
Ich wusste, wann er in meiner Nähe war, auch wenn ich ihn weder sehen noch hören konnte.
Das Kribbeln meiner Kopfhaut verriet mir, dass er mich sah.
Und ich wusste, er war einzig und allein meinetwegen hier, so wie ich einzig und allein seinetwegen hier war.
Wir mussten uns aussprechen, bevor ich mich noch selbst in den Wahnsinn trieb.
Er hatte sich von mir etwas genommen, das zu geben ich noch nicht bereit gewesen war. Aber dadurch hatte er etwas freigelegt, das ich allein nicht gefunden hätte. Ich schuldete ihm Vergeltung und Dank.
Ich wusste nur nicht, was davon zuerst kommen würde.
Als er sich mir langsam näherte, flüsterten mir lautlose Füße sein Zögern zu.
Er bewegte sich vorsichtig, als würde er befürchten, ich könnte ansonsten flüchten.
Wo sollte ich denn hin? Wie weit könnte ich im endlosen Meer schwimmen, bevor er mich aus dem Salzwasser fischen und sich ein weiteres Stück von mir nehmen würde?
Nein, Flucht war nicht länger eine Option – auch wenn das Meer nicht da gewesen wäre, um sie von vornherein zu verhindern.
Ich werde bleiben und kämpfen.
Die Entschlossenheit spannte meine Schultern an, ich war bereit und willens, in den Krieg zu ziehen.
Mit jedem leisen Schritt kroch sein Schatten über das polierte Deck auf mich zu, bis er neben mir stand.
Die Sonne versank hinter dem Horizont, wurde aus einer goldenen Kugel zu einem halbierten Penny – geteilt durch den Ozean, der den warmen Schein auffing und verteilte. Das glitzernde Licht auf dem dunklen Wasser tanzte mit den Wellen, als wäre es eine Schatzkarte, die Reichtümer unter der Oberfläche versprach.
Seine Anwesenheit ließ meine Knochen schmerzen. Sein Blick lag wie angekettet auf dem Horizont, sein Gesicht war in Töne von Siena und Bronze getaucht.
Meine Finger schlossen sich fester um die Reling, ich tat mein Möglichstes, diese überempfindliche Wahrnehmung zu kontrollieren, die wie Nadelstiche auf mich einprasselte, bis ich aus unsichtbaren, winzigen Verletzungen blutete.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit verging – zwei Minuten oder 20 –, aber schließlich murmelte er etwas, während er weiterhin den Himmel betrachtete: »Es tut mir leid, Pimlico.«
Augenblicklich ließ ich den Kopf hängen, als würden mich tausend Dinge, die ich bedauerte, nach unten zerren. Mir war nicht bewusst gewesen, wie dringend ich das hören musste. Zu wissen, dass er etwas verstand, was Alrik nie begriffen hatte: Es gab Grenzen, und diese zu verletzen war nie in Ordnung. Elder verstand, er hatte sie einfach platt gewalzt, war aber einsichtig und freundlich genug, um dafür Verzeihung zu erbitten.
Mit drei Worten zeigte er mir alles, was nötig war, um zu beweisen, dass er nicht wie die Männer war, die mich verkauft und gekauft hatten. Er war kein Tier. Er war ein Mensch. Und wie alle Menschen hatte er einen Fehler gemacht.
Und mein Fehler war, nicht mit ihm zu reden. Dass ich ihm nicht schon früher vertraut habe. Dass ich ihm nicht für seinen Schutz gedankt habe.
Am meisten berührten mich die Schuld und das Bedauern in seiner Stimme. Nicht die Entschuldigung selbst, sondern die damit verbundenen Gefühle. Kein Mann oder Ungeheuer – egal was sie getan hatten – konnte wahrhaftig bösartig sein, wenn seine Stimme so rein und gut klingen konnte.
Als Elder seine Hand über meine hielt, schluckte ich schwer. Seine Finger schwebten zögerlich über meinen, berührten mich wie ein Hauch, boten nur seine Körperwärme und ein Dach, unter dem meine Hand Schutz suchen konnte.
»Du hast mich gefragt, wo ich vor zwei Jahren war.« Er seufzte leise. »Wochenlang redest du nicht mit mir, und wenn du damit anfängst, ist es eine Frage, auf die es keine richtige Antwort gibt.«
Ich wandte mich halb in seine Richtung. Meine Lippen öffneten sich, um ihm zu sagen, dass er nicht antworten musste – dass es mir nicht zustand, eine solche Frage zu stellen –, aber er fuhr fort.
»Vor zwei Jahren war ich in Dubai und habe ein Geschäft zum Abschluss gebracht.«
Ich zuckte zusammen. Nicht wegen des Ortes, an dem er sich aufgehalten hatte, aber sosehr mir auch bewusst war, dass er nicht bei meiner Versteigerung gewesen war – diese Gewissheit schmerzte dennoch. Ich weiß nicht, welcher Gedanke angenehmer wäre: er im Publikum, verborgen hinter einer widerlichen Pappmaschee-Maske, oder am anderen Ende der Welt, ohne etwas von mir oder meinem Zustand zu wissen.
Ich hakte meinen Daumen um seinen, verband unsere Hände auf der Reling.
Es tut mir leid.
In meinem Kopf hallte die Entschuldigung laut wider, aber mein Mund blieb trocken und stumm. Zu sprechen fiel mir nicht mehr leicht – obwohl ich es wieder konnte. Es war für mich nicht länger selbstverständlich, die Lippen zu öffnen, um mich verbal verständlich zu machen. Das würde Zeit brauchen. Zeit, sich daran zu erinnern, wie man ohne Furcht sprach. Aber Zeit war etwas Magisches und ich vertraute endlich ihrer Macht zu richten, was nicht länger in Ordnung war.
Plötzlich drehte mich Elder um, drückte mich mit dem Rücken gegen die Absperrung. Der Sonnenuntergang war vergessen, als ich in seine gequälten schwarzen Augen blickte.
Die Art, wie er mich ohne Weiteres herumschob, ließ mich hörbar einatmen, aber ich versuchte nicht, ihm zu entkommen. Sein Körper versperrte mir den Weg, während seine Hände neben mir auf der Reling lagen.
Sein Blick haftete auf meinem Mund. Sein Atem beschleunigte sich. »Ich weiß, ich sollte das nicht, aber ich will dich unbedingt wieder küssen.«
Als er mir in die Augen sah, erstarrte ich, seine Zunge benetzte seine Lippen, ließ sie schimmern.
Beim Gedanken, ihn zu küssen, wurde mein Magen zu einem Knoten. War ein Kuss so kurz nach dem, was geschehen war, das Richtige?
Sollten wir nicht erst reden? Darüber, was passiert war, und dann entscheiden, ob Lust eine Daseinsberechtigung hatte, nachdem die Worte ihre Aufgabe erfüllt hatten?
Du hast zwei Jahre schweigend verbracht. Wie kommst du darauf, Worte könnten irgendwas lösen, wenn du dich bis jetzt gegen sie gewehrt hast?
Meine früheren Gewohnheiten versuchten, auf meinen neu gesetzten Zielen herumzutrampeln. Die Stille war vielleicht mein Verbündeter gewesen, aber jetzt konnte sie genauso gut zu meinem Feind werden.
Ich atmete schwerer, versuchte herauszufinden, wie ich die von mir selbst errichtete gläserne Kuppel über mir zertrümmern und wieder normal sein könnte. Um Elder als einen Mann zu sehen und ihn nicht deswegen zu fürchten. Um selbstsicher zu sprechen, während ich in meiner eigenen Verwirrung ertrank.
Taten sprachen lauter als Worte. Der Schaden, den sein Handeln zwischen uns angerichtet hatte, musste auch auf dieselbe Weise getilgt werden.
Worte würden später folgen.
Ich holte tief Luft, stellte mich auf die Zehenspitzen. Meine Hände flogen an seine Schultern. Ich leckte mir über die Lippen, brachte mich in Position für einen Kuss. Um die Kontrolle zu übernehmen und bereitwillig eine sexuelle Verbindung herzustellen, anstatt davor zu flüchten.
Er erstarrte, sein Blick zuckte über mein Gesicht.
Meine Nervosität summte wie Glühwürmchen in meinem Magen herum, langsam näherte ich mich mit meinen Lippen seinen.
Er beugte sich mir nicht entgegen. Er blieb aufrecht stehen, seine Brust hob und senkte sich, sein Geruch stieg mir betörend in die Nase. Er überreichte mir das Geschenk der Entscheidung, während er sich selbst in Ketten legte.
Seine Lippen waren so nahe. Meine verheilte Zunge brannte ein wenig. Ich zog mich zurück, um sowohl ihn als auch mich selbst auf die Probe zu stellen. Um zu sehen, ob er die Entscheidung wirklich mir überließ.
Ein atemloses Schnauben kam ihm über die Lippen, als hätte ich mich nicht eine Winzigkeit entfernt, sondern ihm in die Brust geboxt. Aber er drängte nicht, forderte nicht. Er blieb wie eine Statue stehen; ein Gentleman unter der Last seines eigenen Verlangens.
Verlangen nach mir.
Endlich begriff ich, wie sich sein Verlangen von Alriks unterschied. Elders Verlangen war nicht vom Bösen beschmutzt. Es war rein und voller Gefühle und körperlich. Gefühle, die wir nicht zulassen wollten, die sich aber trotz allem entwickelt hatten.
Ich schnellte nach vorn, drückte meine Lippen auf seine.
Sein Schnauben wurde zu einem stockenden Ächzen.
Seine Lippen waren zärtlich, weich, geschlossen und warteten auf Anweisungen. Anders als zuvor, als er mir keine Wahl gelassen hatte, beschränkte sich die Berührung nur auf unsere Lippen.
Wir beide wussten, wer die Kontrolle hatte, und indem er sie mir überließ, machte ihn das nicht unterwürfig. Wenn überhaupt, machte ihn das nur dominanter. Stark genug, um mir die Gewalt über sich zu gewähren.
Unsere Lippen lagen unschuldig aufeinander. Aber, mein Gott, durch sie waren wir so tief miteinander verbunden.
Ich öffnete sie leicht, lud ihn ein.
Er verkrampfte sich. Sein Atem fächerte über meine Wange.
Mit der Zungenspitze strich ich über seine Lippen. Mit derselben Zunge, die er geheilt und für die er getötet hatte.
Er packte die Reling hinter mir so fest, dass sie zitterte, ließ seine aufgestaute Aggression an seiner Jacht anstatt an mir aus.
Die knisternde Leidenschaft, die sich hinter seiner Selbstbeherrschung verbarg, erlaubte mir, den Kuss zu teilen, ihn zu lenken. Mit meiner Hand auf seinem Herzen neigte ich den Kopf, öffnete mich ihm.
Er verstand meine Erlaubnis.
Nutzte sie ohne Scheu.
Er drückte seine Lippen fester auf meine, seine Zunge drang in meinen Mund vor.
Ihn als sinnlich zu bezeichnen wäre eine Untertreibung. Elder war die Definition von Sinnlichkeit. In der Art, wie sich seine Muskeln verlangend anspannten, das Blähen seiner Nasenflügel und seine Lust, die bis zum Zerreißen gespannt war.
Er küsste mich fest, leidenschaftlich, aber auch respektvoll und voller Zuneigung. Sein Geschmack und würziger Duft ließen meinen Kopf trudeln wie die Schiffsschrauben der Jacht das Meer.
Ein Schwall aus Anziehung und sensiblen Nerven stürmte auf alle meine Sinne ein, bis ich innerlich Funken sprühend knisterte.
Seine bisherigen Küsse wurden mit einem Mal bedeutungslos. Jede Berührung, was immer wir zuvor gemeinsam getan hatten, wurde belanglos.
Dieser Kuss war alles.
Er war Wahrheit.
Er war Aufrichtigkeit.
Er war Furcht einflößend.
Er küsste mich ohne jede Zurückhaltung. Er ließ seine Maske fallen, ließ mich schmecken, was er nie sagen würde.
Er war Gewalt und Zärtlichkeit.
Er war Besessenheit und Vernunft.
»Scheiße, Pim.« Er ließ die Reling los, legte seine Hände an meine Wangen. Seine Finger waren lang genug, um bis in meinen Nacken zu reichen, mich festzuhalten. Der Kuss wurde intensiver, seine Zunge rang mit meiner, während unsere Zähne mit fast schon unmenschlichem Verlangen aufeinandertrafen.
Ich verstand nicht, warum ich mich so sehr nach ihm verzehrte, wo ich doch gestern erst in seinen Armen geweint hatte, nachdem er in mich eingedrungen war. Wie konnte ich mich von einem verschüchterten und von Sex angewiderten Wesen so plötzlich in etwas verwandeln, das sich so … feucht und so schwer fühlte?
Überall spürte ich diese Schwere – in meinen Brüsten, zwischen meinen Schenkeln, in meinem Verstand. Ich wog mehr als die ganze Welt, aber in seinen Armen vertraute ich darauf, dass er mich halten würde, auch wenn ich unter diesem Gewicht versank.
Ich bog den Rücken durch, drückte mich an ihn. Ich brauchte Reibung, Berührung. Ich handelte allem zuwider, was mir mal so wichtig gewesen war.
Ich riss ihn aus seiner Trance.
Elder löste die Lippen von meinen, taumelte einen Schritt zurück, strich sich mit den Händen aufgebracht durchs Gesicht. »Scheiße, das wollte ich nicht.«
Ich hob einen zitternden Finger an meinen geröteten, berauschten Mund.
Du hast nicht damit angefangen.
Er runzelte kaum merklich die Stirn, kniff die Lippen zusammen. »Moment … Ich habe nicht damit angefangen.«
Ich gestattete alten Gewohnheiten, für mich zu antworten. Ich verengte die Augen, gab ihm damit jede Antwort, die er brauchte.
Ich habe dich geküsst, weil du mir die Wahl gelassen hast.
Mit fragendem Blick hob er die Schultern. »Warum? Warum hast du mich nach dem, was ich dir gestern angetan habe, geküsst?« Er schüttelte den Kopf, als könnte er nicht glauben, dass ich so etwas tun würde. »Wie kannst du mich küssen, nachdem ich das Schlimmste, das möglich ist, gemacht habe?«
Ich löste mich von der Reling, streckte die Hand nach seiner aus. Als sich unsere Fingerspitzen berührten, zitterte ich, und während die Sekunden verstrichen, umschloss seine Hand langsam meine.
Ich schluckte, bereitete mich vor, stellte mich auf die Probe. »M… Mir tut es leid.«
Beim Klang meiner Stimme versteifte er sich, verengte die Augen. Dieses seltene Gut, nachdem er schon so lange verlangte. »Was?« Das Wort war wie ein Fauchen, voller Gift. »Du entschuldigst dich bei mir? Was zur Hölle, Pim?«
Er versuchte, die Finger aus meinen zu lösen, wollte Abstand gewinnen, um zu vermeiden, dass er nach mir schlug oder mir seinen Ekel zeigte, weil ich etwas von der Schuld auf mich nahm. »Du hast dich nicht zu entschuldigen. Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen musst. Verstanden?«
Ich ließ seine Hand nicht los, zog aus der Berührung den Mut weiterzusprechen. Aus irgendeinem Grund hatte ich keine Angst mehr davor, Zuneigung zu zeigen, auch wenn es nur etwas so Schlichtes wie ineinander verschränkte Finger waren. »Es war falsch von mir, zu fragen …«
Er riss seine Hand aus meiner, rammte sie förmlich in die Tasche seiner Jeans. »Nein, war es nicht.« Er ging vor mir auf und ab. »Du hattest jedes Recht zu fragen. Ich würde dasselbe wissen wollen. Scheiße, ich wüsste gern, wo jeder vor zwei Jahren war. Wo war die Polizei? Deine Familie? Freunde? Warum ist niemand aufgetaucht, um für dich zu kämpfen?«
Ich zuckte zusammen, weigerte mich, alte Erinnerungen hereinzulassen, obwohl sie gegen die Tür hämmerten, hinter der sie mein Verstand unter Verschluss hielt.
Er blieb stehen, kam dann auf mich zu, legte mir die Hände auf die Hüften.
Das Gewicht und die Hitze ließen mich keuchen, allerdings wurde ich nicht aus Angst rot. Er betrachtete mich sorgfältig, versuchte festzustellen, wie weit er gehen konnte. »Du hattest jedes Recht zu fragen, und ich wünschte, ich hätte eine bessere Antwort für dich. Ich wünschte, ich könnte die Vergangenheit ändern und dafür sorgen, dass man dich nie entführt hätte. Aber, Pim …« Er wurde leiser, ungeachtet dessen klang er aufrichtig. »Wenn ich dort gewesen wäre. Wenn ich im selben Raum mit dir gewesen wäre und dich vor diesen Drecksäcken gesehen hätte, mit einem Preisschild über dem Kopf, ich hätte nicht tatenlos zugesehen, wie man dich verkauft. Ich hätte dich gekauft, verstehst du? Was immer uns bei Alrik zueinander geführt hat, es hätte mich auch damals zu dir gezogen.«
Tränen wallten auf, liefen mir ungewollt die Wangen hinab. Es war so falsch, von dem Gedanken gerührt zu sein, dass mich ein anderer Mann gekauft hätte. Aber bei Elder war das etwas anderes. Seine Art von Besitz drehte sich nicht darum, mich so weit zu erniedrigen, bis er sich überlegen fühlen konnte. Ihm ging es darum, mich auf ein Podest zu erheben, damit ich ihm gleichgestellt war, weil ich auf diese Weise stark genug wäre, ihm zu geben, was er letztendlich wollte.
Langsam fange ich an, dich zu verstehen, Elder Prest.
Er wollte meinen Körper. Aber etwas anderes wollte er noch mehr. Und das konnte er erst bekommen, wenn ich geheilt war.
Seine Finger drückten meine Hüftknochen. »Ich wäre derjenige gewesen, der dich gekauft hätte. Ich hätte jeden gottverfluchten Penny für die Ehre, dich zu besitzen, ausgegeben, selbst für eine einzige Nacht. Und dann wäre ich zu Sinnen gekommen und hätte dich gehen lassen.« Er ließ mich los, schob mir eine von der Meeresbrise losgerissene Strähne hinter das Ohr. »Ich kann nicht sagen, dass ich dich gekauft und nie angefasst hätte. Es ist zu schwer, mich in deiner Gegenwart unter Kontrolle zu halten. Aber ich verspreche dir, wenn ich dich gefickt hätte, dann hättest du dabei keine Schmerzen gehabt. Du müsstest dich nicht mit Missbrauchserinnerungen herumplagen. Du wärst voll und ganz beteiligt gewesen. Und wer weiß? Vielleicht hätten wir uns verliebt und hätten erkannt, dass man Glück für keinen Preis der Welt kaufen kann. Dass es nur Schicksal war.«
Sein Blick wurde sanfter, als er mir mit dem Daumen sacht über die Wange strich. »Aber wir werden nie herausfinden, ob das, was wir empfinden, mehr als Lust hätte sein können. Denn du bist gebrochen und ich habe nicht das Recht, dir noch mehr Schaden zuzufügen. Letzte Nacht habe ich mein Versprechen gebrochen. Ich habe dich verletzt. Und was ich von dir will … ist zu viel verlangt. Ich kann das nicht mehr. Ich werde das Richtige tun und dich freilassen.«
Moment … Was?
Ich erstarrte, versuchte festzustellen, ob er es ernst meinte.
Ich …
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.
So wie gestern, nachdem er mich genommen hatte, brauchte ich seine Hilfe, um nicht zu zerspringen. Er zerstörte mich, hielt mich aber auch gleichermaßen zusammen. Mein Albtraum und mein Retter.
Er konnte mir nicht etwas so Schmerzhaftes und Herrliches geben und mir dann sagen, dass er mich loswerden wollte.
Wut kochte hoch. Ich drückte gegen seine Hände, zwang ihn, mich loszulassen. »Nachdem du also in mir gesteckt hast, hast du keine Verwendung mehr für mich, ist es das?«
Er riss die Augen auf. »Was? Nein! Natürlich nicht. Ich will …«
»Du willst mich loswerden, um jeden Beweis deines Kontrollverlusts loszuwerden.«
»Darum geht es doch gar nicht …«
Meine Kehle brannte, aber trotz des Schmerzes fauchte ich: »Mach, was du willst. Werde mich los. Du wirst schon sehen, ob mich das interessiert.« Ich kämpfte gegen mein plötzlich aufkommendes Zittern an. »Aber das solltest du wissen: Heute bin ich nicht vor dir weggelaufen, habe mich nicht versteckt. Ich hätte mich in meinem Zimmer verschanzen können. Wegen dem, was du mit mir gemacht hast, was du mir für Gefühle gegeben hast. Ich hätte über Bord springen können, um es hinter mich zu bringen. Das habe ich aber nicht.«
Ich schluckte, befeuchtete meine Kehle, stellte sicher, dass meine Zunge nach jahrelangem Schweigen in der Lage war, meiner Tirade Ausdruck zu verleihen.
Elder öffnete den Mund, um mir zuvorzukommen, aber ich knurrte: »Ich stehe hier, weil ich stark genug bin, über das zwischen uns Vorgefallene zu reden. Ich bin mutig genug, dich zu küssen, auch wenn ich genau weiß, was das letzte Mal passiert ist.«
Ich stieß ihm einen Finger in die Brust. »Vielleicht bezeichnest du mich als gebrochen, aber wie könnte ich diese Dinge tun, wenn ich noch immer das Mädchen wäre, das du aus diesem weißen Kerker getragen hast? Ich dachte, du wärst bereit, mir durch diese Zeit zu helfen. Dass die Gründe, aus denen du mich gestohlen hast, nur der Anfang wären. Du hast gewusst, wie verkorkst ich bin, trotzdem hast du mir einen Grund zu kämpfen gegeben.« Ich kräuselte die Lippen. »Und jetzt bin ich bereit zu kämpfen, zu reden, zu streiten, dir entgegenzutreten, und du willst mich nicht?« Ich lachte kalt. »Du bist nicht der Mann, für den ich dich gehalten habe. Du bist ein Feigling.«
Er wich zurück, sein Gesicht glich einer von einem Erdbeben gesprungenen Zementplatte. »Du hast recht damit, dass du mich nicht kennst. Darum gebe ich dir deine Freiheit.«
»Ich weiß genug.« Ich betrachtete ihn von Kopf bis Fuß. »Du hast Angst vor mir.«
Seine an den Seiten hängenden Hände zuckten. »Falsch.«
»Du hast Angst davor, was du mit mir tun wirst.«
»Stimmt, beschissene Angst.«
Sein Geständnis brachte mich eine Sekunde lang zum Schweigen.
Er nutzte diese Gelegenheit, zerfetzte die Stille mit seinem eigenen Argument. »Du denkst, weil ich dich jetzt hatte – wegen diesem kurzen Moment, den ich in dir war –, habe ich alles bekommen, was ich brauche, und werfe dich weg, als wärst du nichts?« Er fletschte die Zähne. »Scheiße, Pim. Ganz im Gegenteil. Jetzt, nachdem ich dich gespürt habe, brauche ich dich so verflucht dringend, dass mir deswegen alles wehtut. Mein Herz schmerzt. Mein Körper leidet. Alles besteht nur noch aus verfickten Schmerzen. Dir so nahe zu sein ist eine Qual, weil ich dich nur über diese Reling beugen und ficken will.«
Er ächzte gedehnt, während wir beide nur allzu deutlich an diese Möglichkeit denken mussten. »Ich will mich an dich drücken und in dich stoßen. Ich will so viel mit dir machen. Dinge, für die du nicht bereit bist und nie sein wirst. Und genau darum lasse ich dich gehen, Pim. Wage es nicht zu behaupten, ich hätte Angst vor dir. Das habe ich nicht.« Er saugte Luft in seine Lunge. »Ich habe vor mir selbst Angst.«
Verstand er nicht, dass ich schlechte Menschen kannte und er keiner von ihnen war? Er war nicht unschuldig, aber darunter verbarg sich ein Kern aus Gold. »Was, wenn ich nicht gehen will?«
Er schnaufte. »Was?«
Die Frage sprach das aus, was ich dachte.
Was sage ich da?
Die ganze Zeit hatte ich wie besessen nach einem Weg zurück in die Freiheit gesucht, um nach Hause zurückzugehen und nach besten Kräften in eine normale Existenz zurückzufinden. Aber das war, bevor mir Elder gezeigt hatte, dass ich nie wieder Tasmin sein konnte. Ich konnte zu einer neuen Version von ihr werden, aber nicht wieder zu dem Mädchen, das an Tagträume und Sicherheit glaubte. Ich würde nach Hause gehen … irgendwann. Sobald ich wiederhergestellt war.
Aber noch nicht.
Er könnte dich an einen anderen verkaufen.
Nein, das glaubte ich nicht. Nach allem, was er gerade gesagt hatte, könnte er nie so kaltherzig sein. Vor einer Woche hätte ich es noch für möglich gehalten, aber das war, bevor ich angefangen hatte, wirklich zuzuhören. Zu sehen.
Ich senkte die Stimme, trotzdem schwang mein Begehren, dass er mich verstand, mit jeder Silbe mit. »Du sagst die ganze Zeit, dass du dabei nur an mich denkst. Dass du mich gehen lassen willst, um mich vor dir zu schützen.« Ich ging einen Schritt auf ihn zu. »Aber ich glaube, es ist, um dich selbst zu schützen. Wenn ich bei dir bleibe, hast du mehr zu verlieren als ich.«
»Auf jeden beschissenen Fall. Ich könnte mich selbst verlieren.«
»An mich?«
»Ja. Natürlich an dich. Mein Herz, meinen Schwanz. Gottverdammt, alles.«
»Wenn du mich behältst, werde ich das nicht zulassen.«
»Nein.«
»Halte dich an dein Versprechen, dass ich mich dir abkaufen kann. Mach mich stark, indem du mich würdig machst.« Ich sagte nicht, wie sehr ich wollte, dass er mich wieder anfasst, oder dass ich bereit für einen weiteren Kuss und zaghaftes Ergründen von Dingen war, die zu hassen ich gelernt hatte. Menschlicher Kontakt widerte mich nicht mehr an; ich war nur vorsichtig. Er hatte mir gezeigt, dass nicht alle Männer beim Sex nur Gewalt im Sinn hatten.
Ich wollte wissen, was er im Sinn hatte.
Ich wollte, dass er es mir zeigte.
Denn nur dann konnte ich Freiheit erlangen. Menschlich sein. Eine Frau sein, nicht seine ängstliche Gefangene.
»Das werde ich nicht tun.« Er schüttelte den Kopf. »Wir steuern einen Hafen an. Ich versuche, deine Mutter zu finden, und sobald ich sie habe, bringe ich dich nach Hause. Ich mache, was ich von Anfang an hätte tun sollen.«
Er seufzte schwer, sah in Richtung des gräulichen Zwielichts, wo sich bis eben noch der atemberaubende Sonnenuntergang abgespielt hatte. »Wenn du wieder bei denen bist, denen du vertraust, verabschieden wir uns und ich verschwinde. Ein für alle Mal.«
Kapitel 5
Elder
Gottverdammt. Sobald ich in ihrer Nähe war, tat ich ständig etwas, das ich hinterher bereute.
Zuerst der Kuss und dann erzählte ich ihr, dass ich sie freilassen wollte.
Ich hatte mich noch nicht einmal festgelegt, wie ich vorgehen wollte, aber sie untergrub meine Selbstkontrolle dermaßen, dass ich es einfach erzählt hatte.
Mit den Worten wollte ich sie mir vom Leib halten. Sie waren mein Schutz vor ihr.
Die ganze Zeit war sie mir ausgewichen – hatte keine Mühen gescheut, Berührungen oder Worte zu vermeiden. Jetzt aber verfolgte sie mich. Sie küsste mich. Sie wehrte sich, wenn ich ihr versprach, ihr zu geben, was sie die ganze Zeit gewollt hatte.
Warum?
Ich entfernte mich, ging auf die Brücke zu. Mir war egal, ob sie mir folgte; ich brauchte ein paar Sekunden, um mich zu sammeln.
Die Tatsache, dass sie in ganzen Sätzen sprach und nicht in abgehackten Bruchstücken, oder dass sie mich trotz dem, was geschehen war, geküsst hatte, war für mich nicht das Schockierendste. Sondern die Tatsache, dass sie sich dagegen wehrte, dass ich sie freilassen wollte.
Hatte ich mich die ganze Zeit darin geirrt, was sie wollte? Sehnte sich nicht jeder Gefangene nach Freiheit? Oder war es bereits zu spät und sie fühlte sich im Käfig eines Herrn wohler als in Freiheit, wo niemand jeden ihrer Schritte vorschrieb?
Als ich die Mitte des Schiffs erreichte und mich der Barriere näherte, die das Deck vom Meer trennte, grub ich mir die Finger ins Haar. Von meinen hastigen Schritten etwas außer Atem zwang ich mich zur Ruhe und dazu, tief und gleichmäßig zu atmen, um so das Chaos aus Bedürfnissen zu besänftigen, die in mir miteinander stritten.
Das Meer glitzerte grau und schwarz, entließ den Mond in den Himmel.
Hinter mir schnaubte jemand. Ich sah über die Schulter zurück.
Mein Gott, ich konnte ihr nicht entkommen. Ihre Stimme wiederzufinden hatte sie unglaublich stark gemacht. Stärker als ich gehofft oder erwartet hätte, aber jetzt ging es mir auf den Geist, denn was sie wollte, passte nicht zu dem, was ich wollte.
Ich habe verflucht noch mal das Sagen, nicht sie.
Es war bedeutungslos, dass ich sie gegen ihren Willen genommen oder verkündet hatte, dass ich sie wegschicken würde, sobald sie gesund war. Sie verfolgte mich, mit entschlossen geballten Fäusten und in der Brise peitschendem Haar.
Ihre Wangen glühten, sie hatte ihre Lippen geschürzt und in ihren Augen erkannte ich unnachgiebige Schatten. Sie schluckte, verzog das Gesicht. Ihre Stimme zu benutzen bereitete ihr noch immer Schmerzen.
»Elder …«
»Was willst du, Pim?« Ich riss den Blick von ihr los und sah wieder zum endlosen Horizont. Ein Horizont, der mich nicht verurteilte oder verspottete. Eine unveränderliche Aussicht – ob das jetzt gut oder schlecht war. »Heute Abend ist kein guter Zeitpunkt, um zu reden.«
Das gilt für jeden Abend, den du in meiner Nähe bist und ich dich nicht haben kann.
Ich schob die Hand in die Hosentasche, ertastete den Joint, den ich darin aufbewahrte. Ich hatte ihn vor ein paar Stunden gerollt, war aber noch nicht dazu gekommen, ihn zu rauchen.
Meine Gedanken mochten durcheinander sein, aber sie waren nicht unkontrollierbar. Zumindest noch nicht. Aber sollte mir Pim weiter nachstellen, würde es mir schwerfallen, nicht nachzugeben. Und dann wären wir beide am Arsch.
»Ich möchte …« Sie hustete. »Wir müssen …«
»Sir?« Eine Angestellte mit schwarzem Pferdeschwanz näherte sich hinter Pim. »Tut mir leid, wenn ich störe, aber das Abendessen ist fertig.«
Pim schenkte ihr ein Lächeln, bevor sie respektvoll das Kinn senkte. Sie sprach nicht mit ihr – als wäre ihre Stimme nur für mich bestimmt.
Ich musste zugeben, das hatte eine Wirkung auf mich. Mir gefiel nicht, dass all ihre Antworten und Fragen ausschließlich für mich waren.
Scheiße.
»Danke.« Ich stieß mich von der Reling ab, ging an Pim vorbei. Obwohl Selix diesen schlechten Scherz einer Verabredung in die Wege geleitet hatte, wollte ich nichts essen. Ich wollte nicht dasitzen, sie ansehen, mir Dinge wünschen und begehren. Ich wollte nicht mit ihr über die Richtigkeit meiner Entscheidung streiten. Aber ich konnte sie nicht wegschicken.
Das wäre wie ein Schlag ins Gesicht – besonders nach dem, was ich getan hatte.
Ich erschauderte, als ich bei der Erinnerung daran, in ihr zu sein, hart wurde. Ekel sollte meine einzige Reaktion darauf sein. Ganz bestimmt nicht das irre Verlangen, es noch mal zu tun.
Ohne zurückzublicken murmelte ich: »Komm, kleine Maus. Wenn du unbedingt über deine Zukunft reden willst, kannst du dabei zumindest was essen.«
Sie schnaubte, folgte aber ein paar Schritte hinter mir.
Es gefiel mir nicht. Ich hasste das Gefühl, dass sie mich beobachtete, meinen Rücken, meine Beine und meinen Arsch betrachtete, während sie im Geheimen an Dinge denken und ihrer Mimik freien Lauf lassen konnte. Ihre Blicke waren wie Peitschenhiebe.
Als wir den Speiseraum betraten, in dem sie sich das letzte Mal ausgezogen und mich fast zum Ausflippen gebracht hatte, setzten wir uns auf dieselben Stühle wie zuvor und warteten schweigend, während die Angestellten gegrillten Tintenfisch, mit Chili gefüllte Calamari und grüne Thai-Muscheln hereinbrachten.
Dem Chefkoch war heute offenbar nach Meeresfrüchten.
Pim sah mich an.
Ich deutete auf die Platte. »Bedien dich.«
Stirnrunzelnd nahm sie sich einen Löffel von jeder der Delikatessen, bevor sie noch ein frisch gebackenes Brötchen und etwas Butter auf ihren Teller legte. Nachdem sie fertig war, suchte ich mir von der Vorspeise etwas aus und nahm einen Bissen. Natürlich war es köstlich. Mein Koch zauberte jedes Mal einen Gaumenschmaus.
Ich hatte gehofft, wir würden den ersten Gang schweigend schaffen, aber Pim hatte andere Pläne.
Sie schluckte ihren Bissen, trank einen Schluck eisgekühltes Wasser und sagte: »Was meine Zukunft angeht.«
»Was ist damit?« Ich bestrich mein Brötchen mit Butter, während ich standhaft ihren Blick mied. Je länger ich in ihrer Nähe war, umso mehr sehnte ich mich nach der trägen Entspannung, die das Gras in meiner Tasche versprach.
Manche Männer rauchten nach dem Essen Zigarren. Ich rauchte Gras – wenn ich es brauchte. Heute brauchte ich es auf alle Fälle. Hauptsächlich um das Mädchen vor mir zu schützen. Und um zu verhindern, dass ich mir mein Grab noch tiefer schaufelte.
»Glaubst du nicht, dass ich ein Mitspracherecht haben sollte?«
Mein Messer landete klappernd auf dem Teller. »Willst du sagen, ich hätte dir deine Entscheidungsfreiheit genommen?«
Sag nicht Ja. Obwohl es stimmte.
Sie fummelte nervös mit ihrem Besteck herum. »Was ich sagen will, ist: Ich habe es satt, keine Kontrolle zu haben.« Sie sah über die Schulter zurück, sprach leiser, damit die Angestellten sie nicht hören konnten. »Letzte Nacht … sind mit mir viele Dinge passiert.«
»Scheiße.« Ich rammte den Ellbogen auf den Tisch, kniff mir in den Nasenrücken. »Ich hab dir bereits gesagt, wie sehr es mir leidtut. Ich kann nicht schlafen und mich kaum konzentrieren. Aber ich versuche es wiedergutzumachen, indem ich dich verdammt noch mal freilasse.«
»Du machst es nicht wieder gut«, widersprach sie wütend. »Du machst, was das Leichteste für dich ist. Mich ignorierst du dabei.«
Ich ließ die Hand sinken, betrachtete sie verärgert. »Habe ich hier nicht das Sagen? Immerhin habe ich dich auf meine Jacht eingeladen. Ich habe dir Dinge gezeigt, die vor dir noch niemand gesehen hat. Ich habe dich beschützt.« Selbstgefälligkeit half dabei, meine eigene Verletzlichkeit unter Halbwahrheiten zu begraben. »Wenn ich nicht wäre, könntest du nicht einmal sprechen. Wenn ich nicht wäre, hättest du dich mittlerweile vermutlich ins Meer gestürzt.«
Sie erstarrte, ihre Wut war ihr deutlich anzusehen.
Die Angestellten kamen wieder herein, räumten die kaum angerührte Platte ab und servierten stattdessen das Hauptgericht, das aus geräuchertem Schwertfisch mit Gnocchi in Kräuterbutter bestand. Es duftete himmlisch, aber nichts konnte mich von Pimlico ablenken oder sie von mir.
Wir duellierten uns mit Blicken, fragten uns, wer zuerst aufgeben würde.
Pim nahm ihre Gabel, löste den Blick. Damit hatte sie nicht unbedingt verloren. Sie hatte es geschafft, mein Innerstes auszuhöhlen. Sie öffnete die Lippen, als sie die Gabel wie einen Zauberstab, der ihr magische Kräfte verleihen konnte, streichelte.
Langsam zog ein Lächeln über ihre Züge hinweg. »Ich wollte wirklich mit dir streiten – um wie Erwachsene über das Geschehene zu reden. Aber das ist unnötig.« Sie hob die Gabel. »Das ist jeder Beweis, den ich brauche.«
Ich legte die Stirn in Falten. »Wie meinst du das?«