4,99 €
'Wäre es Schwäche, wenn ich mir jetzt das Leben nehmen würde, oder noch ein Zeichen von Stärke, weil ich es ihm verwehre?' Die schwer verletzte Pim ist zwar gerettet, doch nicht frei: Ihr Gefängnis ist jetzt eine Yacht mitten im Ozean. Ihr neuer Besitzer ist ein steinreicher, kaltblütiger Killer, der verwirrend anziehend auf die schweigende Sklavin wirkt. Ja, Pim verdankt Elder Prest ihr Leben. Aber dennoch ist er ein Monster. Und er will alles von ihr. Ihre Stimme ist nur der Anfang… Im zweiten Band ihrer Dollar-Serie taucht Pepper Winters tief ein in die düsteren Abgründe der Leidenschaft. Ein erschütterndes Drama von der Meisterin der Dark Erotic.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 466
Veröffentlichungsjahr: 2019
Aus dem Amerikanischen von René Ulmer
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Dollars (Dollar #2)
erschien 2016 im Verlag Pepper Winters.
Copyright © 2016 by Pepper Winters
Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig
Lektorat: Katrin Hoppe
Titelbild unter Verwendung von: iStock/Shutterworx
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-728-8
www.Festa-Verlag.de
Prolog
Pimlico
Es kommt der Punkt im Leben, wo Entschlossenheit die Umstände überflügelt. Wo Willenskraft sich über das hinwegsetzt, was getan werden sollte.
Ich hatte zwei Jahre lang an diesem Punkt gelebt.
Ich kämpfte meine Schlachten schweigend. Ich lebte in einem Kriegsgebiet – ohne ein einziges Wort. Das tat ich nicht willentlich. Ich tat es, weil ich keine andere Wahl hatte.
Mein idiotischer Wille zu überleben ließ mich weitermachen, obwohl ich sterben wollte. Er ließ mich hoffen, auch wenn dazu kein Grund bestand. Und jeder Tag garantierte Bestrafung, besonders nachdem jener Fremde mit der Drachentätowierung mein Gefängnis betreten hatte.
Er machte es schlimmer.
So viel schlimmer.
Aber dann kam er zurück.
Er stahl mich.
Gerade noch rechtzeitig.
Kapitel 1
Elder
Die Ankunft an den Docks entspannte mich ein wenig.
Nicht dass ich angespannt war.
Töten brachte mich nicht aus der Fassung. Eine blutende, sterbende Frau zu stehlen beschleunigte nicht meinen Herzschlag. Ich hatte schon Schlimmeres getan, gesehen, durchgemacht.
Nur ein weiterer normaler Tag in meiner Welt.
Allerdings hatte Pimlico während der letzten Kilometer durch Kretas Hauptstadt wieder das Bewusstsein verloren – entweder wegen Schmerz, Schock oder Blutverlust.
Wahrscheinlich alles zusammen.
Ich würde nicht zulassen, dass alles umsonst gewesen war. Ich wollte sie. Ich wollte sie behalten – vorläufig – egal, welche Wirkung es auf mich haben würde oder welche Kämpfe mir deswegen im Stundentakt bevorstanden.
In dem Augenblick, als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte, war mein Weg entschieden. Für einen Mann wie mich war das unausweichlich.
Ihre Kraft, ihre Blessuren … alles an ihr schrie nach einem endgültigen Ende, dennoch klammerte sie sich noch immer an die Hoffnung. Dieser blinde Glaube, ihre Bereitschaft zur Vergebung und die dumme Überzeugung, sie könnte gewinnen, heftete sich an meine Besessenheit und sorgte dafür, dass es mir etwas bedeutete.
Das wollte ich nicht. Ich wollte nicht, dass mir irgendwer, irgendwas etwas bedeutete. Es war verdammt noch mal zu schmerzhaft. Aber Pimlico … man hatte sie in ein beschissenes Leben gestoßen, und irgendwie brachte sie es trotzdem fertig, immer noch vor Erwartung zu strahlen, dass sie irgendwie, irgendwann frei sein würde.
Frei.
Ich schnaubte.
Ich hatte sie mit der Absicht gestohlen, sie zu behalten, nicht zu befreien.
Ihr Blut und Schweigen zwangen mich dazu, auf diese fehlgeleitete Hoffnung in ihrem Blick zu reagieren, aber nur um zu versichern, dass ich sie am Leben erhalten und ihr ein besseres Leben bieten konnte, während sie nach wie vor jemandem gehörte.
Mir.
Sie gehört jetzt mir.
Und das machte meine ganze Existenz ein riesiges beschissenes Stück komplizierter.
Ich ging über die breite Landungsbrücke an Bord der luxuriösen, über 200 Millionen teuren Jacht und überließ es Selix, sich um den Wagen zu kümmern (er hatte seine eigene Parkbucht im Laderaum unter Deck). Der teure Glanz und die unberührbare Macht eines solchen Schiffes fesselten meine Aufmerksamkeit bei Weitem nicht so sehr wie das Gespenst, das ich auf meinen Armen trug.
Ihr Blut tränkte meinen Blazer, badete mich in karmesinroter Gewalt, während die neuen weißen Seile der Takelage strahlten und die hölzernen Balustraden vor nautischer Geschwindigkeit schimmerten.
Pimlico regte sich, blinzelte bei dem Anblick des türkisfarbenen Meers und dem plötzlichen Tumult der weiß gekleideten Besatzung, die übers Deck eilte, um alles zum Ablegen vorzubereiten. Bislang hatten mir ihre Uniformen gefallen, wie adrett sie mein Zuhause aussehen ließen. Jetzt hasste ich alles Weiße. Diese Farblosigkeit verbarg Lügen, Sünden und Misshandlungen. Alrik und seine Farbwahl hatten dafür gesorgt, dass ich die Kleidungsvorschriften so bald wie möglich ändern wollte.
Pimlico sackte wieder bewusstlos in sich zusammen, ohne dass die Blutung aus ihrem Mund nachließ.
Sie an Land in ein Krankenhaus zu bringen stellte keine Option dar. Alle Ärzte auf Kreta waren Metzger. Ich lebte aus gutem Grund nicht an Land. Ich hasste arrogante Arschlöcher und hirntote Schwachköpfe, die sich einredeten, irgendwer würde sich für ihre Meinung interessieren.
Stattdessen betrachtete ich das Meer als mein Zuhause.
In den letzten vier Jahren hatte ich jeden Tag auf seinen Wellen gelebt, war durch seine Weiten geschwommen. Selbst an Land schwangen meine Beine zur Strömung des Meers. Wieder das sanfte Rollen zu spüren spülte meine immer größer werdende Sorge darüber, wozu ich mich verdammt hatte, hinweg und ließ mich zum ersten Mal, seit wir vor fünf Tagen angelegt hatten, wieder tief durchatmen.
Fünf Tage waren verflucht noch mal viel zu lange.
Ich musste weit weg von hier gelangen. Ich brauchte den freien Horizont und die einsame Weite.
Ich ignorierte die Blicke der Besatzung, die flüchtig in meine Richtung schweiften, ehe sie an dem Mädchen kleben blieben, das auf meinem Weg rubinrote Tropfen hinterließ. Ich ging auf das erste Deck und drückte den silberfarbenen Knopf des Fahrstuhls.
Die Türen klafften auf, als hätten sie schon ungeduldig darauf gewartet, und schlossen sich leise hinter mir, während ich Knopf neun drückte.
Die Spiegel an allen vier Wänden warfen meine Reflexion hin und her, zeigten einen Mann, der seine Grenzen überlebbarer Umstände überschritten hatte. Das Kratzen in meinem Inneren setzte bereits ein. Die immer wiederkehrenden Gedanken, was ich als Gegenleistung von ihr erwarten würde. Ich hatte mein eigenes Leben versaut, um ihres zu retten.
Sie schuldet mir mehr, als sie jemals zurückzahlen kann.
Der Fahrstuhl wurde langsamer, und als sich die Türen wieder öffneten, erwartete mich Michaels bereits.
»Selix hat angerufen und mir gesagt, ich soll den Operationssaal vorbereiten. Was ist passiert?« Er warf einen Blick auf die gestohlene Sklavin in meinen Armen. Das Blut ließ ihn nicht zurückschrecken, genauso wenig bedachte er mich mit einem anklagenden Blick. Hauptsächlich weil er mich kannte. Er wusste, ich wurde denen gegenüber, die es verdienten, gewalttätig, aber Unschuldige versuchte ich stets rauszuhalten.
Dass Selix Pimlicos Ankunft angekündigt hatte, bewies mir einmal mehr, dass er jeden Cent seines horrenden Gehalts wert war. »Ihre Zunge ist teilweise abgetrennt.«
»Aber nicht ganz?« Michaels verengte die Augen, hob ihr Kinn vorsichtig mit einem Finger. »Damit kann ich arbeiten.«
Ich mochte seine direkte Art. Ich hatte den englischen Arzt während seines Studienurlaubs in Indien aufgespürt. Er war einer der Besten auf seinem Gebiet, und das beinhaltete spezielle Operationstechniken und andere komplizierte Behandlungsmethoden. Ich vertraute ihm – besonders nach dem, was er vor zwei Jahren für mich getan hatte, als mich meine beschissene Arroganz fast umgebracht hätte.
Ich drückte das bewusstlose Mädchen an mich. »Schwerer Blutverlust. Mehrere Verletzungen – manche alt, manche frisch. Ich glaube nicht, dass sie in den letzten Jahren einen Arzt gesehen hat.«
Michaels nickte. »Okidoki. Der Operationssaal ist vorbereitet. Erst mal kümmere ich mich um ihre Zunge, danach folgt eine vollständige Untersuchung.« Er schnippte mit den Fingern und zwei Schwestern rollten eine Trage heran, warteten, bis ich Pimlico auf den grünen Stoff gelegt hatte.
Meine Arme schmerzten von ihrem Gewicht, aber das war nicht das Einzige, was mir wehtat. Mir gefiel nicht, dass sie so litt.
Scheiße, reiß dich zusammen.
Wenn ich schon so früh Mitgefühl und Beschützerinstinkt für sie zuließ, würde ich keine Woche durchstehen.
»Wie lange wird es dauern?«
Michaels blickte finster drein, das rote Haar und seine Blässe verrieten seine angelsächsischen Wurzeln. »Schwierig zu sagen, bevor klar ist, was getan werden muss. Kommen Sie in ein paar Stunden noch mal vorbei, dann weiß ich mehr.«
Ungeduld knurrte mich an, aber ich drängte sie zurück. Ein paar Stunden, um den Tod zurückzudrängen und sie in meiner Welt zu behalten? Das war nicht zu viel verlangt.
Nach einem knappen Nicken verließ ich den medizinischen Bereich und begab mich für etwas frische Luft wieder nach oben an Deck. Dieses Ritual vergaß ich nie. Wenn wir den Hafen verließen, musste ich am Bug stehen.
Pims Blut klebte noch immer an meinen Händen, als ich über ein makelloses Deck aus Eiche, Kirsche und Teak schritt. Mein Verstand überschlug sich vor Dingen, die ich zu erledigen hatte. Der Drang, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen – damit ich nicht wieder in meine persönliche Hölle abrutschte –, tadelte mich.
Da Pimlico nun mir gehörte, konnte ich mein Begehren nicht länger ignorieren. Sie war nahe. Sie befand sich auf meinem Schiff. Je früher ich akzeptierte, dass ich sie haben konnte, wann immer ich sie verflucht noch mal wollte, und Regeln dafür aufstellen musste, damit ich uns nicht beide zerstörte, umso besser.
Mir war egal, dass ich ihr Blut an den Fingern hatte, als ich mir durchs Haar fuhr, während ich am Bug der Jacht stand. Unter mir grummelten Motoren. Schiffsschrauben zerstückelten die Flut zu Sushi und setzten das große Monstrum langsam in Bewegung.
Ich sah über die Schulter zurück zur Brücke, von der aus mein Captain und sein Team das Schiff mit Präzision kontrollierten. Ein so großes Boot aus dem Hafen zu manövrieren war nie einfach, und mein Herz klopfte, als sich die Phantom von ihrem Steg löste und dann allmählich auf die offene See beschleunigte.
Als salzige Luft den Smog vertrieb und das Schaukeln einer sich bewegenden Welt das Gewöhnliche an Land auslöschte, schloss ich die Augen und zwang mich, mich endlich zu entspannen.
Je mehr Fahrt die Phantom machte, umso schneller trocknete Pims Blut an mir. Ich hätte mein ganzes schändliches Vermögen gegeben, um in das Meer zu springen und meine besudelte Haut zu waschen. Aber ich musste mich gedulden.
Sobald wir weit genug weg waren, würde ich mir diesen Wunsch erfüllen. Vorläufig gab ich mich damit zufrieden, Kreta hinter mir zu lassen.
Ich dachte zurück, erinnerte mich an den Dreck, aus dem ich gestiegen war; den Schlamm, den ich abgeschüttelt hatte; und den Schmutz, den ich in meine Welt gelassen hatte, um zu überleben.
Vor ein paar Jahren hatte ich mich in Gassen verkrochen, ein Messer geschwungen, um die eine Person zu schützen, die mir wichtig war. Jetzt stand ich auf einem Multi-Millionen-Dollar-Prestigeobjekt mit seidigen Decks, nahtlosen Fenstern und einem wie eine Patrone geformten Rumpf, während ich dieselbe spottende Sonne ansah, die mir dabei zugesehen hatte, wie ich vom armen Schlucker zum Prinzen geworden war.
Bis heute hatte ich den Mann akzeptiert, zu dem ich geworden war, um das zu ermöglichen. Ich war mit dem Mann zufrieden gewesen, zu dem ich geworden war. Aber Pimlico ließ mich nicht los – quälte mich mit Erinnerungen an schwere Zeiten, Hunger und Hilflosigkeit.
Weil sie genauso litt, wie ich es getan hatte, zwang sie mich dazu, mich an Dinge zu erinnern, an die ich nicht denken wollte. Ihr Gefängnis war ein Zuhause mit einem Monster darin gewesen. Mein Gefängnis hatte aus Straßen mit Gangs bestanden.
Hier endeten unsere Gemeinsamkeiten.
Anders als sie, die den Teufel um den Tod angebettelt und ein Halbleben in einer Welt geführt hatte, aus der ein Entkommen unmöglich war, hatte ich betrogen, gestohlen und mir eine Brücke aus dem Elend in die Unantastbarkeit errichtet.
Wie sie hatte ich die getötet, die mir Unrecht angetan hatten.
Dafür war ich verdammt stolz auf sie.
Zu sehen, wie sie den Abzug ohne Reue durchzog, hatte mich überrascht und beeindruckt.
Sie war so verflucht stark.
Ich wollte sehen, wie tief diese Kraft reichte.
Es würde noch ein wenig dauern, bis das Land hinter dem Horizont verschwand, aber sobald Pimlico aufwachte, würde sie nicht länger Terra Firma gehören.
Sie würde nicht Alrik, irgendwelchen Arschlöchern oder dem Tod gehören.
Nein.
Sobald sie aufwachte, würde sie mir und dem Meer gehören.
Und es gab keine Fluchtmöglichkeit, wenn endloses Wasser ihr neues Gefängnis und ich ihr neuer Kerkermeister war.
Mir tut leid, was ich dir antun werde, Pim.
Aber du gehörst jetzt mir.
Kapitel 2
Pimlico
Mein erster Gedanke befasste sich mit Wasser, Trinken und Durst.
Der zweite mit Schmerz.
Schmerz.
Schmerz.
Meine Hände zuckten an meinen Mund. Ich wollte meine misshandelte Zunge berühren. Aber irgendwer packte mein Handgelenk, hielt mich davon ab.
»Ah, nicht anfassen. Sie müssen sämtliche Fremdkörper – darunter auch schmutzige Finger – von der Verletzung fernhalten.«
Ich riss die Augen auf, blinzelte, versuchte, mich auf den Mann mit dem zotteligen roten Haar zu konzentrieren. Seine Augen waren die ersten seit so langer Zeit, in denen sich keine Spur von Sünde oder verdorbener Boshaftigkeit fand. Sein hübsches Gesicht war normal. Er war normal. Kein Scheusal oder Troll.
Das ist nicht Mr. Prest.
Wo bin ich?
Auf der Suche nach einem Namensschild glitt mein Blick über seinen Arztkittel.
Nichts.
Nicht einmal ein Stethoskop um seinen Hals oder ein Thermometer, das aus seiner Brusttasche lugte. Das Einzige, was seine makellose Kleidung verunstaltete, war ein grässlicher Blutfleck oberhalb seiner Brust.
Er folgte meinem Blick. »Ja, Sie, ähm, Sie haben sich auf dem Operationstisch übergeben, bevor ich Ihnen das Narkosemittel verabreichen konnte.« Er runzelte die Stirn. »Erinnern Sie sich an etwas von dem, was passiert ist?«
Moment, hat mich Mr. Prest in einem Krankenhaus abgesetzt?
Bin ich frei?
Mein Herz hüpfte jubelnd in einer Cheerleader-Uniform herum.
Er nahm mein Handgelenk, zählte meinen Puls, schenkte den Prellungen und den Seilmalen, an die ich mich längst gewöhnt hatte, keinerlei Beachtung. »Sie werden sich in den nächsten Stunden erschöpft fühlen, aber ich halte Ihre Schmerzen mit Morphium unter Kontrolle. Sollten Sie sich unwohl fühlen, dann lassen Sie es mich wissen, und ich werde versuchen zu helfen.«
Unwohl?
Redete er sich ein, was auch immer er mir für Medikamente über die intravenöse Leitung in den Handrücken pumpte, würde den Schmerz betäuben?
Offensichtlich hat er noch nie eine teilweise abgetrennte Zunge gehabt.
Das Gefühl war schlimmer als jeder Stiefeltritt oder jede Faust. Und seltsamer als jede Misshandlung, die ich je ertragen musste. Der Muskel war dick angeschwollen und fühlte sich so völlig anders an, als es eine Zunge tun sollte.
Während ich durch die Nase atmete, befahl ich dem verdammten Ding, sich zu bewegen. Ich zuckte zusammen, als der Zug an den harten Nahtknoten Blitze aus Schmerz durch meinen Körper schoss.
Wird sie jemals wieder mehr sein als ein Fremdkörper in meinem Mund?
Bin ich jetzt wirklich stumm?
Er stand da, beobachtete mich, verlagerte sein Gewicht, während die unangenehme Stille andauerte. Erneut trug meine Macht über die Stille den Sieg davon. In ihr fand ich Zuflucht; ich könnte ewig in ihr leben.
Der einzige Mann, der Stille gegen mich benutzte, war Mr. Prest.
Und er ist nicht hier.
Ich verstand nicht, warum sich mein Herzschlag erst erwartungsvoll beschleunigte, um dann zu bedrohlicher Enttäuschung abzuebben.
Warum ist er nicht hier?
Der Arzt räusperte sich. »Ich heiße Andrew Michaels. Ich bin der Chirurg und leite das kleine medizinische Team hier an Bord der Phantom.«
An Bord? Also bin ich nicht im Krankenhaus? Nicht … frei?
Um vor den Gedanken um meine Gefangenschaft zu flüchten, konzentrierte ich mich auf den Namen, den ich schon einmal gehört hatte.
Was ist die Phantom?
Ich starrte ihn eindringlich an, ignorierte das Wattepolster unter meinem Kinn, das meinen Speichel aufsaugen sollte, und das entsetzliche, ständige Pochen in meinem Mund.
Michaels verstand meine stumme Bitte um mehr Informationen nicht, stattdessen ging er um mein Bett herum, zog die Schublade eines Nachttisches rechts von meinem Tropf auf.
Er schob die Hand hinein, und als er sie wieder herauszog, hielt sie ein Notizbuch mit einem gespenstischen rauchgrauen Logo darauf. Seine Finger verschwanden ein weiteres Mal in der Schublade; ich hörte leises Klappern, dann förderte er einen Kugelschreiber zutage. Mit beidem drehte er sich zu mir um und versuchte etwas unbeholfen, mir die Utensilien zu übergeben.
Ich regte mich nicht.
Nicht wegen meiner Schmerzen und weil mein Körper über all die Misshandlungen weinte, die er erlitten hatte, sondern weil ich mich ernsthaft nicht daran erinnern konnte, wie ich ein Geschenk entgegennehmen sollte, das mir nicht sofort wehtun würde, sobald ich danach griff.
»Damit Sie sich verständlich machen können. Ich bin sicher, Sie haben Fragen.« Er versuchte noch einmal, mir das Notizbuch samt Kugelschreiber zu geben.
Ich knirschte mit den Zähnen, übte Druck auf meine geschwollene Zunge aus. Das Gefühl war fremdartig und so unvorstellbar falsch. Die Naht kitzelte an meinem Gaumen und ich schluckte den widerlichen Geschmack nach altem Blut hinunter.
Ich schauderte.
Allmählich baute sich eine Panikattacke auf … ein Sturm mit gezackten Blitzen und Sturmböen.
Meine Seele wurde klaustrophobisch, als wollte sie diese kalte, tote Hülle abstreifen, um eine neue, weniger beschädigte zu finden. Ich fühlte mich schmutzig, benutzt und ohne Wert, und das nicht nur, weil ich seit Ewigkeiten nicht geduscht hatte. Die vergangenen Jahre klebten an mir, auch wenn Meister A tot sein mochte.
Die Erinnerung daran ließ mich zusammenfahren.
Er ist tot.
Ich habe ihn getötet.
Die heranbrausende Panikattacke zögerte plötzlich, wirbelte in dem Wissen, dass ich endlich gewonnen hatte. Ich hatte nicht sterben müssen, um mich von ihm zu befreien.
Er war gestorben.
Mir lief es kalt den Rücken runter, als ich mich an den harten Druckpunkt des Abzugs erinnerte und an das aufblühende Rot. Wenn ich über die Kraft verfügte, den Mann zu töten, der mir das angetan hatte, dann hatte ich auch die Kraft, weiterhin stark zu bleiben und herauszufinden, was diese neue Zukunft für mich bedeutete.
Moment …
Eine andere Erinnerung drängte den Mord in den Hintergrund – irgendwas mit Meer, einem Boot und ihm. Mr. Prest.
Nun, das beantwortet die Frage.
Ich war nicht frei. Ich war noch immer die Gefangene eines Mannes, der mein Leben in Händen hielt.
Elder Prest mochte vieles sein, aber er hatte sich um mich gekümmert, mich medizinisch versorgen lassen und mich der Pflege eines normalen, menschlichen Wesens überlassen, das keinen Sex oder Schreie erwartete.
Im Moment war das ausreichend.
Ich habe Glück zu sein, wo ich gerade bin.
Wenn eine halb abgetrennte Zunge der Preis dafür war, sollte mir das recht sein.
Ich nahm das Notizbuch und den Kugelschreiber. Die Nadel in meinem Handrücken pikte, als ich die Finger um das erste alltägliche Ding legte, das man mir seit so langer Zeit gab.
Es folgte kein Schlag, keine Faust. Kein Lachen und keine Drohung. Nur ein freundliches Lächeln und ein aufmunterndes Nicken.
In dem Moment, als ich das angenehme Papier auf meiner Haut spürte, überkam mich der überwältigende Wunsch, Niemand zu schreiben. Ihm zu verraten, was geschehen war und dass meine zukünftigen Briefe auf richtigem Papier statt auf Toilettenpapier kommen würden.
Er hat immer noch meine anderen Briefe.
Mein Blick zuckte durch das unscheinbare, fensterlose Zimmer, in dem sich das künstliche Licht sachte über die Wände fächerte, um Tageslicht zu simulieren. Wo hatte Mr. Prest den Blazer mit meinen gestohlenen Geschichten?
Elder.
Er hat dir gesagt, du sollst ihn Elder nennen.
Aber warum?
Er hatte Meister A strikt verboten, ihn mit seinem Vornamen anzureden, aber ich durfte ihn, wann immer ich wollte, benutzen?
Das verstand ich nicht.
»Sie können doch schreiben, oder?« Andrew Michaels räusperte sich. »Ihren Verletzungen zufolge hat man Sie sehr lange misshandelt. Haben Sie gelernt zu lesen? Wie man einen Kugelschreiber benutzt?« Er neigte den Kopf in Richtung Tür. »Wenn Ihnen das lieber ist, kann ich eine Frau holen, die Ihnen behilflich ist. Mir ist nur gerade der Gedanke gekommen, dass Sie vielleicht keinen Mann um sich haben wollen.«
Ich ließ ihn noch etwas weiterreden, während meine Finger über das Geschenk aus Notizbuch und Kugelschreiber streichelten.
»Ich bin der Chirurg, der sich um Ihre Verletzung gekümmert hat. Ich habe dafür gesorgt, dass Ihre Zunge wieder ordentlich angenäht wurde, und sie mit internen und externen Nähten versehen – keine Sorge, sie lösen sich innerhalb einer Woche oder so von selbst auf.«
Eine Woche?
Das würde doch wohl kaum ausreichen, oder?
»Die Zunge ist der Teil unseres Körpers, der am schnellsten heilt. Sie sollten sie schon bald wieder normal bewegen können. Schwellung und Schmerz werden mit jedem Tag abnehmen. Allerdings kann ich Ihnen nicht garantieren, dass Ihre Geschmacksknospen und das Wärmeempfinden vollständig wiederhergestellt sein werden. Ich fürchte, das liegt außerhalb meiner Fachkompetenz.«
Mein Verstand überschlug sich vor Informationen und daraus resultierenden Fragen.
Werde ich sprechen können?
Darf ich nach Hause, sobald es mir wieder besser geht?
»Ich war so frei, mich auch um Ihre anderen Verletzungen zu kümmern, während Sie unter Narkose standen.« Er deutete auf den Plastikgips um meine bandagierte Hand und auf eine weitere Bandage, die sich bei jedem Einatmen um meinen Brustkorb spannte. »Sie hatten mehrere schwer geprellte Rippen, und offensichtlich wussten Sie, dass die Knochen Ihrer Hand gebrochen sind.« Sein Lächeln war freundlich und voller Autorität – wie bei allen anderen Ärzten, mit denen ich jemals zu tun gehabt hatte. »Ich habe mein Möglichstes getan, um Sie zu versorgen, aber ich schwöre Ihnen, sonst habe ich Sie nirgends berührt.«
Wäre ich nicht so schockiert, dass sich ein Mann nach besten Kräften bemühte, mir zu versichern, nichts gegen meinen Willen getan zu haben, während ich bewusstlos war, hätte ich vielleicht gelächelt.
Ich hätte vielleicht zum ersten Mal nach ihm gegriffen und ihm dankbar den Arm getätschelt.
Aber diese ganze Aufmerksamkeit – freundliche, heilsame Aufmerksamkeit – machte mich nervös. Ich konnte nicht anders, als Ausschau nach dem Dämon zu halten, der mich als Gegenleistung für diese Freundlichkeit blutig schlagen würde.
Ich senkte den Blick. Ich wollte allein sein, damit ich meinen Körper untersuchen und mir die fehlenden Puzzleteile der letzten Stunden zusammenklauben konnte.
Alles, woran ich denken konnte, war Elder und wie er mich in seinem Wagen festgehalten hatte. Er hatte sich nicht an dem Blut in meinem Gesicht gestört, oder daran, dass er für mich ein Verbrechen begangen hatte. Stattdessen erlaubte er mir, seinen Namen zu benutzen, und hatte mich hierhergebracht.
Was erwartet er als Gegenleistung?
Nichts war umsonst, und ein Mord, damit ich lebte, war die größte vorstellbare Schuld.
Dr. Michaels wandte den Blick nicht ab, als ich das Notizbuch aufschlug und mit einem Klicken die Mine des Kugelschreibers ausfuhr. Unbeantwortete Fragen und Ängste bereiteten mir Kopfschmerzen. Mein einziges Ventil für diese Art von Sorgen war Niemand. Der Einzige, dem ich mich anvertrauen konnte.
Es juckte mir in den Fingern, meine Worte zu Papier zu bringen; zu schreiben, so schnell ich konnte. Um Freiheit zu fordern, etwas zu essen und so fantastische Dinge wie meine Mutter zu finden oder dass mich meine Freunde wieder im Leben willkommen hießen. Aber alles, was ich fertigbrachte, war, das sauber linierte Papier zu streicheln und leise zu schniefen, während meine Tränen ungehemmt flossen.
Ich wollte nicht weinen – ich hatte nicht einmal bemerkt, wie sich die Flüssigkeit gesammelt hatte, bis die Tränen unerlaubt meine Wangen hinabliefen. Ich konnte den Tropfen keinen Einhalt gebieten. So wenig, wie ich etwas gegen das Pochen meiner Zunge tun konnte oder gegen die niederschmetternden Erinnerungen an das, was mir dieser sadistische Hurensohn angetan hatte.
Lange Minuten vergingen, in denen ich den Arzt vergaß und mich in mein Innerstes zurückzog. Die Stille wurde zu viel für ihn; er räusperte sich erneut. »Ich werde Sie jetzt allein lassen, damit Sie sich ausruhen können. Sie haben sicher eine Menge durchgemacht.«
Beruhigend senkte er die Stimme: »Was auch immer passiert ist, es ist vorbei. Lassen Sie sich von den Erinnerungen nicht übermannen, in Ordnung? Sie sind in Sicherheit.«
Milde lächelnd tätschelte er meine Hand. »Solange Sie auf der Phantom sind, wird sich Mr. Prest um Sie kümmern.«
Kapitel 3
Elder
»Sir, das Mädchen ist wach.«
Ich riss den Blick vom leuchtenden Bildschirm meines Laptops los. Selix stand in einem frischen Anzug und mit sauber zurückgebundenem Haar in der Tür. Ob bei der Büroarbeit an einem ruhigen Tag auf See oder durch enge Gassen rasend mit einem sterbenden Mädchen auf der Rückbank, sein Aussehen änderte sich nie. Sogar während unserer Tage auf der Straße hatte er genau so ausgesehen. Vielleicht nicht in einem Anzug, aber seine berechnende Intelligenz und das lange Haar hatten schon damals sein Aussehen bestimmt.
Dafür respektierte ich ihn.
Ich wünschte mir nur, ich könnte dieselbe Gelassenheit wie er ausstrahlen. Mein Innerstes war ein durcheinandergewürfelter Haufen. Mein Temperament brüllte lähmend danach, diese Tiere immer wieder in Stücke zu reißen und dann Pim als Gegenleistung dazu zu zwingen, endlich mit mir zu sprechen.
Gottverdammt, ich habe es mir verdient.
Da sie sich nun in meinem Reich befand, würde ihr Schweigen nicht viel nützen. Ich hatte sie mir genommen. Meine Bedürfnisse würden nun noch schwerer zu ignorieren sein – und nur ihre Stimme würde mir vorübergehend Erleichterung verschaffen.
Ich lehnte mich auf meinem Sessel zurück, schenkte Selix meine volle Aufmerksamkeit. Seit wir ausgelaufen waren, hatte ich per Satellitenverbindung die Polizeikanäle und die Verbrechensnetzwerke auf der Suche nach einem Hinweis auf das Blutbad in Alriks Haus überwacht.
Es störte mich, dass es selbst sechs Stunden später noch keine Meldungen darüber gab; und es ging mir gehörig gegen den Strich, dass der dritte Freund, der an jenem Abend am Essen teilgenommen hatte, nicht aufgetaucht war, um ebenfalls getötet zu werden.
Er war noch immer dort draußen.
Vergewaltigte und verletzte – verschmutzte die Welt mit seiner Existenz.
Irgendwann würde ich ihn aufspüren und seinem Elend ein Ende bereiten, aber vorläufig gab es Wichtigeres, um das ich mich kümmern musste.
»Konnte Michaels ihre Zunge retten?« Meine Stimme war wie schabender Granit. Ich hatte seit Stunden kein Wort gesagt, und der Schlafmangel tat sein Übriges.
»Ich glaube, darüber möchte er mit Ihnen persönlich sprechen.« Selix ging zur Seite und ließ den Schiffsarzt in mein Büro treten. Kaum dass Michaels vor mir stand, nickte Selix und verschwand durch die Tür, die er leise hinter sich schloss.
»Darf ich annehmen, da Sie nun wieder zu Hause sind, können Sie sich etwas entspannen?« Michaels näherte sich meinem Schreibtisch.
»Es ist angenehmer als das Elend an Land.« Ich wechselte gleich zum Grund seines Besuchs; mir fehlte die Zeit zum Plaudern: »Also? Wie geht es dem Mädchen?« Ich klappte den Laptop zu, versteckte das Programm, mit dessen Hilfe ich mir den Zugang zu illegalen Antworten verschaffte. Ich vertraute meinen Angestellten, aber sie mussten nicht mehr über mich wissen, als dass ich ihnen ihre Gehälter zahlte und dafür hervorragende Arbeit erwartete.
Er faltete die Hände über seinem frischen schwarzen Hemd samt dazu passender Hose. Er musste sich umgezogen haben, nachdem er mit Pimlico fertig gewesen war. »Sie ist wach und ansprechbar. Selbstverständlich kann sie nicht sprechen, aber ich habe ihr ein Notizbuch und einen Kugelschreiber gegeben, damit sie sich bei Bedarf mitteilen kann.«
»Und, hat sie?«
»Hat sie was?«
Was dachte er denn? Sich in Luft aufgelöst? »Sich mitgeteilt?«
Er rieb sich den Nacken. »Ah, nein. Nicht unbedingt. Sie hat die Sachen angenommen, aber noch nichts geschrieben.« Er hüstelte. »Ich weiß nicht, wo Sie sie gefunden haben, aber ihr Körper hat einiges an Misshandlung durchgemacht. Ihre Wirbelsäule entspricht der einer 40-Jährigen, nicht der einer Frau Anfang 20. Man muss sich um ihre Zähne kümmern, und einige der Prellungen haben zu inneren Verletzungen geführt, nicht nur zu Hautverfär- bungen.«
»Wird sie überleben?«
»Schwer zu sagen. Sie hat bisher überlebt. Sie wird Hilfe, gesundes Essen und medizinische Versorgung bekommen, aber sie wird nie in der Lage sein, ausgiebig Sport zu treiben oder sich generell körperlich schwerer zu belasten, ohne sich dabei unwohl zu fühlen. Sehr wahrscheinlich werden ihre Verletzungen zu einem frühen Einsetzen von Arthritis führen; man wird sie überwachen müssen, ob es zu Versteifungen oder einer Erwärmung innerhalb der Knochen kommt.«
Scheiße.
Man hatte ihr nicht nur Jahre der Freiheit und des Glücks gestohlen, sie würde auch mit langfristigen Folgen zu kämpfen haben. Hatte sie nicht schon genug durchgemacht?
Scheiße, das Leben ist nicht gerecht.
»Und das ist noch nicht einmal das Schlimmste«, ergänzte Michaels.
Ich erstarrte. »Was meinen Sie?«
»Ich meine … wie alt war sie, als sie in Gefangenschaft kam?« Er hob die Hand, um mir zu bedeuten, dass er noch nicht fertig war. »Und Sie müssen nicht bestätigen oder abstreiten, dass ich damit recht habe. Ich habe genug Fälle wie diesen gesehen, um zu wissen, dass sie eine Sklavin war.«
Meine Atmung wurde flach. Ich hatte Michaels angestellt, weil er der Beste war. Aber der Beste zu sein bedeutete auch, dass er intelligent war. Und er war verdammt noch mal schlauer, als gut für ihn war.
»Das ist nicht Ihr Problem.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Vergessen Sie es.«
»Ich weiß, dass es nicht mein Problem ist, aber ich bemerke, dass Sie es zu Ihrem gemacht haben. Es wäre gut, ihre Vergangenheit zu kennen, ihre Familie – Himmel, am besten wäre es, Sie würden sie bei der nächsten Polizeiwache absetzen.«
Nicht einmal Selix würde es wagen, mir so unverhohlen Ratschläge zu erteilen.
Ich ballte die Hände zu Fäusten. »Wie ich Ihnen bereits geraten habe, vergessen Sie’s. Sie hat Sie nicht zu interessieren.«
»Falsch. Ich muss mich für sie interessieren. Zumindest für ihren Gesundheitszustand.« Neugierde verdunkelte seine Miene. »Wissen Sie irgendetwas über sie? Die Art, wie sie das Notizbuch angesehen hat, lässt mich vermuten, dass sie weder lesen noch schreiben kann. Sie ist ein ausgehungertes, gebrochenes Wesen, dem es an den notwendigen Fähigkeiten für ein eigenständiges Leben oder eine nennenswerte Zukunft mangelt.«
Meine Sicht trübte sich rot. »Sie ist nicht gebrochen.«
»Nun, das sehe ich anders. Sie hat ein paar Knochen …«
»Knochen bedeuten nicht, dass sie als Person gebrochen ist.«
»Ja, aber …«
»Und sie ist keine Analphabetin.«
Michaels stockte. »Woher wissen Sie das?«
Weil ich ihre Briefe gelesen habe – einen Blick auf ihre Geheimnisse erhascht habe.
»Offenbar wollen Sie, dass ich mich wiederhole: Das geht Sie verdammt noch mal einen Scheiß an!«
Meine Wut machte ihm keine Angst. Er arbeitete seit Jahren für mich und wusste, wie weit er gehen konnte. Dreister Mistkerl.
Er fuhr fort: »Na schön, also wissen wir zumindest, dass sie sprechen kann – oder zumindest schreiben –, wenn sie so weit ist. Allerdings denke ich, es wäre das Beste, wenn …«
Ich schluckte mein Knurren hinunter. »Wenn was?«
Er seufzte, sackte ein wenig unter meinem spürbaren Unmut zusammen. »Wenn wir sie im nächsten Hafen absetzen und das Thema vergessen – wie ich gesagt habe, bringen Sie sie zur Polizei. Sicher, ihr Körper kann heilen. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um zu gewährleisten, dass es ihr körperlich so gut wie möglich geht. Aber das Problem bleibt ihr Geisteszustand.«
Ich lockerte die Fäuste, ballte sie erneut. Meine Geduld war allmählich erschöpft. Ich hatte zu viel Mist zu erledigen, bevor ich dem neuesten Gast an Bord der Phantom einen Besuch abstatten konnte, und Michaels ging mir auf die Nerven, indem er Dinge von Pim annahm, für die er keine Belege hatte.
Du kennst sie genauso wenig.
Schon, aber zumindest wollte ich sie kennenlernen. Ich war ihr aus Gründen, die ich selbst noch nicht verstand, etwas schuldig. Ich hatte nicht vor, sie loszuwerden, nur weil sie möglicherweise geistig instabil war.
Scheiße, in gewisser Hinsicht war jeder von uns geistig instabil. Ich würde nicht so scheinheilig sein und das Gegenteil behaupten.
Sie war eine der stärksten Frauen, denen ich je begegnet war, und sie hatte kein Wort gesagt. Diese Art von Kraft … auf Männer wie mich hatte sie eine Wirkung. Sie weckte in mir den Wunsch, sie gleichermaßen zu brechen und zu beschützen. Sie entfachte einen Krieg zwischen dem Engel und dem Teufel auf meinen Schultern, und nur die Zeit konnte zeigen, welcher Teil gewinnen würde.
Meine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Es gibt nichts, was wir bezüglich ihres Verstands diskutieren müssen.«
»Aber sie braucht jemanden, mit dem sie reden kann …«
»Falls sie jemals redet.«
Michaels straffte seine Haltung, als hätte ich seine medizinische Fachkenntnis infrage gestellt. »Ich habe sie wieder zusammengenäht. Sie wird sprechen können. Fraglich ist nur, ob ihr Verstand dazu in der Lage sein wird, nicht ihr Körper.«
Ich wischte mir über das Gesicht, lächelte verkniffen. »Und dafür bin ich dankbar. Ich möchte Ihnen wieder einmal für Ihre vorbildliche Fürsorge danken. Allerdings müssen Sie sich nicht mit ihrer geistigen Genesung befassen.«
»Werden Sie sich darum kümmern?« Er verschränkte die Arme.
Seine Dreistigkeit ließ mein Blut zischen. »Und wenn ich Ja sage?«
»Dann würde ich sagen, dass Sie sie und sich dazu verdammen zu versagen.« Er neigte den Kopf. »Das soll natürlich keine Beleidigung sein.«
Ich funkelte seine entschuldigende Haltung an. »So habe ich es aber aufgefasst. Allerdings nicht so sehr, um Sie zu feuern.«
Wir lächelten einander an.
Die Anspannung verflüchtigte sich.
Er sagte: »Ich werde Ihnen nicht vorschreiben, wie Sie sich um sie kümmern sollen. Das geht mich nichts an – so wie Sie immer wieder betonen –, aber ich kenne Sie. Ich weiß, womit Sie zu kämpfen haben, und ich weiß, wie Sie es bewältigen. Dieses Mädchen …« Er zögerte, zwang sich, aufrichtig zu bleiben, auch wenn ich es vielleicht nicht hören wollte. »Dieses Mädchen ist beschädigt. Und das aus gutem Grund. Was für Tricks Sie auch zu kennen glauben, um ein Leben voller Misshandlungen in Ordnung zu bringen … nun, ich will Sie nur warnen. Es wird nicht einfach werden. Kann sein, dass es nicht funktioniert. Und Sie müssen bereit sein, sie loszuwerden, wenn ihre Verletzlichkeit bei Ihnen für einen Rückfall zu sorgen droht.«
Ich stand auf.
Diese Unterredung war vorbei.
Michaels würde sich ihr nicht noch einmal nähern, es sei denn aus rein medizinischen Gründen. Ich gestattete anderen keinen Zugang zu jenen, die ich als verletzlich betrachtete. Ganz besonders wenn sich mein Beschützerinstinkt meldete. Mit meinem Beschluss, ihre Heilung und ihr Wohlergehen zu meiner Aufgabe zu machen, hatte ich Pimlico bereits verdammt.
Sie war mein, als Besitz und Verantwortung, was bedeutete, ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden waren ausschließlich meine Angelegenheit, oblagen niemand anderem.
Niemand.
Der Inhalt ihrer Briefe zog mir den Magen zusammen. Jedes Papierquadrat war sicher in meinem Schreibtisch verstaut.
In den sechs Stunden, seit wir auf See waren, hatte ich jedes einzelne davon gelesen.
Zwei Jahre Gedanken und Flehen.
Zwei Jahre Informationen, die ich dazu nutzen würde, sie zu brechen und wieder aufzubauen, um von ihr letztendlich das zu bekommen, was ich haben wollte.
Ihre Briefe verrieten mir ihre Geheimnisse, warfen Fragen auf, die ich nicht stellen konnte. Noch mehr Komplikationen bei der Wiederherstellung ihres Verstands.
»Danke, Michaels. Ungeachtet Ihrer Bedenken weiß ich Ihr kompetentes Urteil zu schätzen.«
Er nickte, wusste, wann er einlenken musste. »Nichts zu danken.« Er ging zur Tür, legte die Hand auf den Türknauf. »Sie hat eine Menge durchgemacht. Ungeachtet dessen, was ich gesagt habe, bin ich froh, dass Sie sie gefunden haben. Sie haben sie aus einer schlimmen Situation gerettet, und ich bin mir sicher, sie wird dafür unendlich dankbar sein.«
Während er mich noch einmal anlächelte, hinausging und die Tür hinter sich schloss, blieben meine gut trainierten Gesichtszüge gelassen. Sobald ich alleine war, übernahmen meine wahren Gefühle die Kontrolle.
Frustration, Erwartung … aber vor allem Ekel. Nicht wegen der angedeuteten Dankbarkeit, die Pimlico mir gegenüber empfinden würde. Sondern wegen der Gründe, aus denen Michaels mich dazu drängte, die Finger von dieser Sache zu lassen.
Er hat recht.
Ich sollte sie heilen und ziehen lassen.
Ich sollte sie an das Leben zurückgeben, aus dem man sie gestohlen hatte.
Andererseits, was ich tun sollte und was nicht, war stets mein größtes Problem gewesen.
Ich war nicht dazu geeignet, einen Verstand zu heilen, und ich war verdammt noch mal nicht in der Lage, mein Verlangen davon abzuhalten, dem zu widersprechen, was akzeptabel war.
Sie hatte Glück gehabt, dass ich sie aus diesem Höllenloch gerettet hatte. Allerdings war es weniger Glück, dass ausgerechnet ich sie gestohlen hatte.
Pim befand sich nicht länger in einer tragischen Situation mit Alrik.
Jetzt ist sie in einer mit mir.
Kapitel 4
Pimlico
Lieber Niemand,
ich werde das hier zerfetzen, sobald ich damit fertig bin, weil ich keinen sicheren Ort habe, um es zu verstecken. Aber ich musste dir sagen, was passiert ist.
Ich muss dir die guten Neuigkeiten mitteilen.
Die besten Neuigkeiten.
Die Neuigkeiten, auf die ich zwei Jahre lang gewartet habe, um sie dir zu schreiben.
Er ist tot.
Er ist tot.
O Gott, egal wie oft ich diese drei Worte schreibe, ich fühle mich trotzdem ganz hibbelig und aufgeregt.
Er ist tot.
Sie sind tot.
Jeder einzelne Hurensohn (abgesehen von Monty) ist tot.
Ich habe Meister A abgeknallt.
Bist du stolz auf mich? Freust du dich für mich?
Ich möchte weiter mit dir reden, aber ich weiß nicht, wie lange man mich noch alleine lässt. Ich will mich nicht erwischen lassen. Er hat unsere früheren Unterhaltungen gestohlen, aber mehr wird er nicht bekommen.
Vielleicht kann ich dir in ein paar Wochen, wenn alles verheilt ist, meine Geständnisse zuflüstern, anstatt sie aufzuschreiben.
Vielleicht wird das Leben dann normal sein.
Ich hatte gerade meinen letzten Brief zerfetzt und die kleinen Stückchen in die Schublade fallen lassen, als sich die Tür öffnete. Ich hatte mich nicht von der weichen Matratze mit den übertrieben gestärkten weißen Laken mit Entspannung einlullen lassen. Auch nicht von den Medikamenten oder was sonst noch intravenös in meinen Körper tropfte.
Ich dachte, dass es wieder der Arzt wäre.
Ich wollte, dass es wieder der Arzt war. Ich wollte mehr Zeit für mich haben, bevor ich mich meiner neuen Zukunft stellen musste.
Mein Wunsch wurde nicht erfüllt.
Mein erster Frieden seit Langem verschwand im selben Moment, als er in das Zimmer pirschte.
Unsere Blicke trafen sich.
Wieder einmal hörte die Welt auf, sich zu drehen, und stellte sich stattdessen auf den Kopf. Was auch immer er für eine Macht über mich in meinem weißen Zimmer gehabt hatte, sie bestand noch immer – und da ich mich jetzt in seinem Zuhause, unter seiner Kontrolle befand, war sie noch stärker und berauschender als zuvor.
Elder blieb ein paar Meter entfernt stehen, sein Blick fiel auf meine rissigen, wunden Lippen, dann auf mein sich deutlich abzeichnendes Gerippe unter dem gelben Nachthemd, das man mir angezogen hatte.
Sicher sollte die fröhliche Farbe von Butterblumen etwas Licht in meine triste Existenz bringen, stattdessen betonte sie nur das Grün und Braun meiner abstoßend hässlichen Prellungen.
Ich wollte frei sein.
Und wenn ich nicht frei sein konnte, dann wollte ich nackt sein. Wie üblich. Ich mochte die Einschränkungen nicht, genauso wenig wie die kranke Konditionierung, dass Kleidung mein Feind und nicht vertrauenswürdig war. Ich zupfte an dem gelben Nachthemd, versuchte, nicht die Nase zu rümpfen. Die Farbe von Zitronen verlieh mir ein jugendliches Aussehen, während ihm die der Mitternacht hervorragend stand. Wenn ich schon Kleidung tragen musste, dann würde ich sehr viel lieber etwas Schwarzes wie er haben. Schwarz würde meine Verfärbungen verbergen und mir eine kultivierte Kraft verleihen, wie es Nacktheit und Weiß nicht konnten.
Seine schwarzen Augen, mandelförmig und hoheitsvoll, hielten meine gefangen. Sein Körper strahlte kontrollierte Macht aus, unter der etwas Lebensbedrohliches schwelte. Während ich ihn auf dieselbe Weise betrachtete wie er mich, ließ sein kräftiges Kinn deutlich erkennen, dass er die Zähne zusammenbiss.
Meine Lippen kribbelten, erinnerten sich daran, wie er – mit all seiner männlichen Gewalt – auf die Knie gefallen war, die Hände an mein Gesicht gelegt und mich geküsst hatte, als würde dieselbe Kraft, die mich zu ihm zog, ihn zu mir ziehen.
Als er die Arme verschränkte, die tauartigen Muskeln unter dem Stoff betonte und Hände, die bereit waren, Gefahr oder Tod zu verbreiten, fiel ein Schatten über seine Augen. »Wie ich sehe, bist du hier genauso starrsinnig, wie du es dort warst.«
Mein Blick flammte auf; fragend schob ich den Unterkiefer vor.
Was zur Hölle soll das heißen?
»Sieh mich nicht so an, stumme Maus.«
Benutz nicht den Spitznamen meines Vaters.
Der Name Maus gehörte ihm nicht, auch wenn das bei meinem Körper vorerst anders aussah.
Er bemerkte meine Gereiztheit nicht.
Als er sich näherte, klackten die Absätze seiner schwarzen Schuhe auf den weißen Fliesen. Sein dunkelgraues T-Shirt und die Jeans passten nicht zu den gepflegten Schuhen.
Mein Blick schweifte über seine muskulösen Beine zum Boden, dessen Fugen und Farbe mich etwas zu sehr an Meister A’s Zuhause erinnerten. Ich wusste, es hatte hygienische Gründe und drückte nicht etwa eine persönliche Vorliebe aus, trotzdem wurde mir dabei unwohl.
»Ich denke über Weiß genauso wie du.« Seine Stimme wehte etwas von der Macht, die er über mich hatte, von seinem Körper zu meinem und glitt in meine Ohren. »Es ist eine widerwärtige Farbe, und ich werde sie aus meinem Zuhause verbannen.«
Ich hasste die Überzeugungskraft, die er auf meine Trommelfelle ausübte, und sank in mich zusammen.
Er denkt, er kann meine Körpersprache so einfach lesen.
Das sorgte nur dafür, dass ich mich tief in mir selbst verkriechen wollte, obwohl ich ihm vor Minuten noch in die Augen sehen und mich für alles bei ihm bedanken wollte, was er getan hatte. Seine Hand packen, um sie voller Wertschätzung zu drücken.
»Wie geht es deiner Zunge?«
Der Drang, den schmerzenden Muskel gegen den Gaumen zu drücken, um festzustellen, ob er noch intakt war, ließ mich zusammenzucken. Während meiner Stunde allein war es mir schwergefallen, sie nicht anzufassen, sie zu untersuchen. Ich wollte einen Spiegel, um festzustellen, wie knapp ich einer lebenslangen Behinderung entgangen war.
»Ich vermute, es ist unangenehm.«
Du sorgst dafür, dass ich mich unangenehm fühle.
Ich konnte ihn nicht bitten zu gehen. Aber ich wollte, dass er verschwand. Ich war weder emotional noch mental dazu in der Lage, mich ihm, seinen Fragen oder der Zukunft, wie auch immer er sie geplant hatte, zu stellen.
Kannst du gehen? Nur für eine Weile?
Meine Unfreundlichkeit erschreckte mich, und schweigend ergänzte ich: Ich bin dir dankbar. Wirklich. Aber genauso wäre ich dir dankbar, wenn du mich einfach in Ruhe lässt.
Er kicherte, bemerkte meine Nachricht an ihn nicht. »Zumindest hast du noch eine Zunge.«
Das stimmt.
Meine Gereiztheit angesichts seiner Überheblichkeit ließ ein wenig nach.
Ich schürzte die Lippen, zuckte zusammen, als die untere dabei aufplatzte. Sie war wohl angeschwollen dank irgendwelcher Geräte, die man bei der Operation benutzt hatte, um meinen Mund offen zu halten.
Ich hatte mich daran gewöhnt, Männer in meiner Umgebung zu tolerieren, auch wenn ich lauthals schreiend um einen Augenblick alleine bat – was gut war, da Elder offenbar nicht vorhatte zu gehen. Wenn er hier war, um etwas über mich zu erfahren, mich aus Spaß zu befragen, dann würde ich dasselbe tun. Ich würde alles festhalten und aufmerksam sein. Ich würde versuchen herauszufinden, was er wollte, bevor er den Mund öffnete, um es zu sagen.
Mich nervte die selbstgefällige Art, mit der er die Arme vor seiner Brust verschränkte. »Hast du vor, sie zu benutzen, da du jetzt frei bist?«
Ich bin frei?
Ich rutschte auf meinen Kissen höher.
Du meinst, du gibst mir Zeit, mich zu erholen, und dann bringst du mich nach London zurück, zu meiner Mutter, zur Universität, zu Cafés und der alltäglichen Normalität von allem, was ich verpasst habe?
Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Sein definiertes Kinn, die Tiefe seiner Augen und seine schmerzlich gefährliche Präsenz schüchterten mich ein. Er war der Inbegriff von berechnend und umwerfend.
Ein Mann, mit dem man sich nicht anlegen sollte. Ein Mörder, dem man nicht mit mangelndem Respekt begegnen sollte. »Ich habe mich falsch ausgedrückt. Was ich gemeint habe, ist, dass du jetzt von ihm befreit bist.« Er überragte mich, sein Schatten küsste jeden Quadratzentimeter meiner Haut. »Nicht frei im eigentlichen Sinn. Du schuldest mir was, Pimlico. Ich habe dir gesagt, dass ich nicht der Held bin.«
Ja, aber entgegen deinem Versprechen, es nicht zu tun, hast du mich gerettet.
Das war ein Fortschritt – wenn auch nur ein kleiner.
»Brauchst du etwas?« Er ging um das Ende meines Bettes herum, betrachtete alles mit einem gewissen Misstrauen, als würde er eine unsichtbare Bedrohung im Auge behalten.
Und wenn, würde ich dich nicht darum bitten.
Nicht weil ich wütend darüber war, dass man mich gestohlen hatte (wieder einmal), sondern weil er bereits zu viel getan hatte.
Er hatte mir mein Leben zurückgegeben. Was könnte ich sonst noch verlangen?
Frei zu sein, natürlich.
Das war immer mein großes Ziel gewesen. Vorläufig musste ich mich mit den Veränderungen meiner Situation zufriedengeben und darüber nachdenken, ob ich mich gegen ihn wehren, mich unterwerfen oder auf Zeit spielen und ihn irgendwann töten sollte.
Ich wusste nicht, wofür ich mich letztendlich entscheiden würde, aber … er hatte recht. Ich stand in seiner Schuld. Und ich wollte ihm nicht noch mehr schulden.
Du könntest einfach alles beenden – so wie ursprünglich geplant.
Kurz überkam mich das flatternde Gefühl von Freiheit. Elder Prest hatte vielleicht meine Umstände verändert, aber er war dennoch ein Monster, das ich überleben musste. Wäre es schwach, wenn ich mir jetzt das Leben nehmen würde, oder noch ein Zeichen von Stärke, weil ich es ihm verwehre?
Ich hatte viel zu lange mit Gedanken an den Tod existiert, um das verführerische Flüstern von ewigem Schlaf so ohne Weiteres hinter mir zu lassen. Für mich war Selbstmord nie eine feige Alternative gewesen, sondern mein letzter Triumph. Das würde ich nicht aufgeben. Noch nicht.
»Bist du müde? Wir sind schon eine Weile auf See; die Sonne geht bald unter.« Sein Blick wurde so schneidend wie scharfkantige Feuersteine. »Hast du Hunger?«
Seine Frage blieb unbeantwortet.
Die Infusion versorgte mich mit allem, was ich benötigte – darum meldete sich auch mein Magen nicht. Und selbst wenn ich Hunger hätte, wie sollte ich etwas essen? Meine Zunge verweigerte jede Bewegung, und Michaels hatte mich davor gewarnt, irgendwelche Fremdkörper in den Mund zu nehmen. Dazu gehörte bis auf Weiteres bestimmt auch jede Art von Essen.
Ich wandte den Blick ab, schob die Mine des Kugelschreibers klickend aus ihrem Gehäuse, ließ sie wieder verschwinden, als Elder aufhörte, am Fußende meines Bettes auf und ab zu gehen. »Ich nehme an, Michaels hat bereits an die Nahrungs- und Flüssigkeitsversorgung gedacht.« Er rieb sich das Kinn, seine Finger kratzten über Bartstoppeln. Die Unentschlossenheit grub sich tief in seine gut aussehenden Gesichtszüge. »In dem Fall lasse ich dich schlafen. Ich habe morgen viel zu tun und brauche auch etwas Erholung.«
Er ging zur Tür, sah mit verengten Augen zu mir zurück. »Ich schlage vor, dass du dich entspannst und zulässt, dass ich mich um dich kümmere. Du wirst deine Kraft brauchen.«
Anstatt mit Blut füllte mein Herz plötzlich sämtliche Adern mit Eiskristallen.
Was meinst du?
Kraft wofür?
Das plötzliche Anspannen meiner Muskeln förderte ein anderes Problem zutage. Ich hatte es bisher nur am Rande bemerkt, aber auf einmal wurde es unangenehm stechend.
Meine Blase.
O nein.
Auf der Suche nach einer Toilette zuckte mein Blick durch das Zimmer.
Vielleicht hast du einen Katheter.
Ich wollte die Decke anheben, nachsehen. Der Gedanke, ins Bett zu machen, entsetzte mich, aber ich war lange narkotisiert gewesen. Als man mir mit 15 die Mandeln entfernt hatte, war es während der Operation zu Komplikationen gekommen. Man hatte mich über Nacht zur Beobachtung dabehalten und mir einen Katheter gelegt, damit ich nicht aufstand und die Wunde hinten in meiner Kehle reizte.
Ist das jetzt genauso?
Woher sollte ich das wissen?
Ich könnte einfach pinkeln und es auf die unangenehme Weise herausfinden, oder ich könnte aus dem Bett klettern und irgendwie den Tropf mitschleifen, bis ich eine Toilette fand.
In beiden Fällen musste ich warten, bis Elder weg war, um mich nicht zu blamieren.
Also wartete ich darauf, dass er ging.
Allerdings tat er das nicht.
Er betrachtete mich mit zur Seite geneigtem Kopf, sah die Anspannung in meinen Schultern und meine in die Decke gekrallten Hände. Langsam kam er von der Tür wieder auf mich zu. »Alles in Ordnung?«
Ich nickte nicht, ließ seine Frage unbeantwortet – es war keine Verweigerung, nur das Ergebnis eines Lebens voller Selbstschutz.
Er seufzte verärgert. »Du kannst mir Hinweise geben, Pimlico.«
Kann ich nicht, nicht bei so was.
Es war zu peinlich.
Geh.
Sobald Michaels zurückkam, würde ich ihm eine Mitteilung schreiben und um die Hilfe einer Schwester bitten, oder ich würde mich selbst darum kümmern. Ich fühlte mich kräftig genug, um aus dem Bett zu steigen. Wegen der Operation würde ich auf wackeligen Beinen stehen, aber ich konnte es schaffen.
So wie ich es immer getan habe.
Mit dem Kinn deutete ich auf die Tür.
Ich war ihm zu großem Dank verpflichtet, und er würde ihn bekommen. Ich würde mich erkenntlich zeigen. Ich würde einen Weg finden (selbst wenn er für mich abscheulich sein sollte), aber nicht jetzt.
Elder knurrte. »Gottverdammt, du musst mich nicht anschweigen.«
Falls du es vergessen hast, meine Zunge funktioniert nicht.
Ein finsteres Lächeln verzog seine Lippen, als er wieder einmal meine Gedanken las. »Ich weiß, dass du wegen deiner Zunge im Moment nicht sprechen kannst, aber dein Körper ist in Ordnung.«
Ich sah auf die hässlichen Prellungen und Narben.
In Ordnung? Wie kannst du das sagen?
Wie konnte er die grotesken Male auf meiner Haut ignorieren und jemanden sehen, den ich schon längst vergessen hatte?
Er kicherte barsch. »Damit habe ich nicht gemeint, dass du nicht verletzt bist und dass dir dieser Drecksack nicht übel mitgespielt hat. Aber du kannst mit den Armen winken und den Kopf schütteln. Da du jetzt in Sicherheit bist, kannst du mir auch antworten.«
Bin ich in Sicherheit?
Sein Blick verfinsterte sich, während er das Kinn senkte. »Sieh mich nicht so an. Wenn ich sage, dass du in Sicherheit bist, dann bist du in Sicherheit. Verstanden?«
Dieses Mal war der Drang zu nicken stärker. Ich ignorierte ihn dennoch.
Sicher vor Meister A, aber bin ich auch vor dir sicher?
Die unausgesprochene Frage hing wie eine Zimtwolke zwischen uns und passte zum würzigen Geruch seines Rasierwassers.
Er wusste, was ich dachte, sagte aber nichts dazu. Er gab mir eine Kostprobe meiner eigenen Medizin.
Das war nur fair.
Ich konnte nachempfinden, wie frustrierend Gespräche mit jemandem waren, der nicht antwortete. Meister A hatte mich diese Frustration lange genug spüren lassen.
Alrik.
Er hieß Alrik.
Er ist nicht mehr dein Meister.
Als Elder plötzlich an die Seite meines Bettes trat und meinen Unterarm berührte, zuckte ich zusammen.
Meine Haut straffte sich unter seiner Berührung, wurde wärmer.
»Du verheimlichst mir etwas.«
Ich verheimliche dir vieles.
»Ich denke, ich weiß, was es ist.«
Das bezweifle ich.
Ich wand mich ein wenig, als sich seine Finger um mein Handgelenk legten. Die Anspannung meines Körpers wirkte sich auch auf meine Blase aus, erinnerte mich daran, dass ich ihn schnellstens loswerden sollte, ansonsten würde ich ins Bett machen.
»Ich habe verboten, dass man dir einen legt.«
Mein Blick loderte auf.
Einen was?
»Nach allem, was du durchgemacht hast, wollte ich nicht, dass du das Gefühl bekommst, man würde dich missbrauchen.«
Ich runzelte die Stirn. Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach.
Er schnaubte, ließ mein Handgelenk los. Er riss die Bettdecke über meinem gelben Nachthemd und meinen fleckigen Beinen zur Seite. »Einen Katheter. Ich habe es verboten. Und deine Operation ist Stunden her. Ich weiß, warum du angespannt bist und die ganze Zeit die Tür anstarrst.«
Scheiße, wie macht er das?
»Du musst auf die Toilette.«
Augenblicklich brannten meine Wangen. Ich senkte den Blick, versuchte, die Bettdecke wieder über meine Beine zu ziehen.
Geh. Dann kann ich mich selbst darum kümmern.
»Wenn du denkst, ich würde dich ohne Hilfe aufstehen lassen, dann bist du nicht nur dumm, sondern auch eine beschissene Idiotin.« Bestimmt und ungeduldig schob er mir einen Arm in den Rücken, löste mich vom weichsten Kissen, das ich seit Jahren hatte, und den anderen unter meine Knie.
»Halt dich an meinem Hals fest.«
Sein Befehl erfolgte einen Sekundenbruchteil, bevor er mich vom Bett auf seine furchteinflößend starken Arme hob.
Ich keuchte – oder zumindest versuchte ich es, mit den Unmengen an Polsterung in meinem Mund – und schlang augenblicklich die Arme um seinen Hals. Der Schlauch des Tropfs flog über seinen Kopf hinweg, die Nadel in meiner Vene pikte.
»Nimm den Tropf und zieh ihn mit.« Elder deutete mit dem Kinn auf das Gestell.
Ich befolgte die Anweisung. Ich hatte nicht vor, das Ding hin und her holpern zu lassen, wenn die einzige Verankerung in meiner Haut steckte.
Meine Finger legten sich gerade um den kalten Stahl, da setzte er sich auch schon in Bewegung.
Die einzigen Geräusche waren Elders Schuhe auf den Fliesen und das beständige Schlagen seines Herzens unter dem T-Shirt und dem beeindruckenden, zischelnden Drachen, von dem ich wusste, dass er sich unter dem Stoff verbarg.
In Sekundenschnelle hatten wir das Zimmer durchquert, und während er mich stützte, beugte er sich vor, um eine Tür zu öffnen, hinter der sich ein Badezimmer mit Dusche, einer flachen Badewanne und einer Toilette samt Waschtisch befand.
Der Anblick des Porzellans ließ mich vor Erwartung schaudern.
Ohne ein Wort stellte mich Elder hin. Langsam verlagerte er mein Gewicht auf meine Beine, ohne dabei den Blick von meinem Gesicht zu nehmen.
Er sorgte dafür, dass ich meine Situation begriff, dass ich frustriert und hibbelig wurde – alles Mögliche – aber Angst war nicht darunter. Wenn mich ein Mann berührte, schnappte sich mein Herz seine Signalpfeife, um wie jedes Mal hineinzublasen, wenn Meister A – nein, Alrik – zu mir gekommen war. Allerdings lag in Elders Blick nicht das geringste sexuelle Interesse, lediglich Sorge um meine Gesundheit.
Sein Atem strich heiß über mich, als er sich einen Schritt entfernte. Allerdings löste er nicht die Hände von meinen Schultern.
Als ich nicht wankte oder das Bewusstsein verlor – obwohl mir etwas schwindelig war –, schnaubte er: »Und wieder einmal habe ich deine Kraft unterschätzt.« Fast widerstrebend ließ er mich los, entfernte sich einen weiteren Schritt. »Selbst nach einer langen Operation und noch weitaus längerer Gefangenschaft schaffst du es, ohne Hilfe zu stehen.«
Diese Feststellung war mehr als nur die Wahrheit, sondern galt für alles, was ich durchgestanden hatte.
»Ich warte draußen. Ruf mich …« Er schmunzelte, bremste sich. »Klopf an die Wand, wenn du fertig bist, ansonsten komme ich rein, sobald ich die Spülung höre.« Mit auf mich gerichtetem Zeigefinger knurrte er: »Komm bloß nicht auf die Idee, dass du alleine in dein Bett zurückgehen wirst. Ich bleibe da draußen.«
O Gott, er wollte draußen stehen und warten? Zuhören? Gekränkt sah ich mich um, tauschte Schwindelgefühl gegen Benommenheit.
Während er hinausging, sah Elder über seine Schulter in den kleinen Spiegel über dem silbernen Waschbecken. Wir blickten uns in die Augen. Sein Schatten lauerte hinter mir, schwarz, voller Sünde, mit schroffen Geheimnissen im Blick, während ich in traurigem (nicht fröhlichem) Gelb und mit Verbänden versehen dastand.
Welten trennten uns, aber aus irgendeinem Grund hatte er mich nicht nur in seine eingeladen, er hatte mich gestohlen, um ein Teil davon zu werden. Ich verstand nicht, warum ich eine solche Einladung verdiente, aber ich musste ihn wissen lassen, nur weil ich noch nicht so weit war zu reden, bedeutete das nicht, dass ich undankbar war.
Ich hatte diesen Mann geküsst.
Ich hatte etwas für diesen Mann empfunden.
Er musste wissen, dass ich ihn nicht als selbstverständlich betrachtete.
Ich blinzelte entschlossen in den Spiegel, senkte mit größtem Respekt das Kinn.
Mit einem hörbaren Atemzug verließ er das Badezimmer und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Fast unhörbar flüsterte er: »Nichts zu danken.«
Unter Schmerzen schlurfte ich zu der Toilette und bereitete mich entsprechend vor. Sein Duft und die nachhallende Präsenz hielten mich im Hier und Jetzt, während ich mich allmählich wieder wohler fühlte. Nachdem ich fertig war, stand ich auf (auf schwankenden Beinen, die noch viel zu schwach waren), um zu spülen.
Ich spannte mich bereits wegen seines ungewollten Besuchs an. Ich brauchte noch etwas Zeit, um meine Gedanken zu ordnen und ein gewisses Gefühl von Normalität zu erlangen.
Als er nicht hereingestürmt kam, nutzte ich die zusätzlichen Sekunden, um mir die Hände zu waschen und auch mein Gesicht, wobei ich es vermied, meinen wunden Mund zu berühren.
Ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, noch immer Alrik zu gehören, und dass er jeden Augenblick zurückkommen würde, um mir wehzutun.
Nachdem ich mein zerzaustes, schmutziges Haar mit Wasser zurückgestrichen hatte, drehte ich mich in der Absicht, gegen die Wand zu klopfen, um.
Allerdings hebelte die Drehung mein bisschen Gleichgewicht aus, sodass ich vom stolzen Wolkenkratzer zu einem Häufchen Elend auf dem Boden wurde.
Knochen und Muskeln protestierten. Mir entkam ein kehliges Ächzen, was weniger nach einem Mädchen und mehr nach einem misshandelten Hund klang.
Autsch.
Die Tür knallte nach innen auf.
Elder sah mich vor sichtbarer Ungeduld vibrierend an. »Ich habe dir gesagt, du sollst verdammt noch mal gegen die Wand klopfen.
Ich war … ich habe es versucht …
Ich ließ den Kopf hängen.
Er kam auf mich zu, bis er über mir stand.