Dollar - Buch 4: Thousands - Pepper Winters - E-Book

Dollar - Buch 4: Thousands E-Book

Pepper Winters

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Beschreibung

Aus Liebe zu Elder hat Pim ihn verlassen. Schutzlos und ohne Geld irrt sie durch die Straßen von Monte Carlo, während Elder mit ihrer Entscheidung hadert. Soll er sie suchen oder in sein altes Leben zurücksegeln – befreit von der Frau, die seine Selbstkontrolle immer wieder ins Wanken bringt? Da erfährt er von Pims Verhaftung und weiß: Er kann nicht mehr ohne sie sein. Doch nicht nur er hat sich in ihre Polizeiakte gehackt. Da ist noch jemand, der von ihr weiß … Ist es seine oder ihre Vergangenheit, die ihnen auf den Fersen ist? Leidenschaft und nervenaufreibende Spannung. Das ist Dark Romance vom Feinsten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 560

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Aus dem Amerikanischen von René Ulmer

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Thousands (Dollar #4)

erschien 2017 im Verlag Pepper Winters.

Copyright © 2017 by Pepper Winters

Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Festa Verlag, Leipzig

Lektorat: Katrin Hoppe

Titelbild unter Verwendung von: iStock/Shutterworx

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-871-1

www.Festa-Verlag.de

Prolog

Elder

Als ich jünger war, glaubte ich, harte Arbeit würde sich letzten Endes auszahlen. Dass die Errungenschaften, die sich meinen Obsessionen verdankten, rechtfertigen würden, was ich denen antat, die ich liebte.

Ich wusste immer, dass ich mich selbst belog.

Ich verstand immer, was das verborgene Stirnrunzeln und die unglücklichen Blicke bedeuteten, als ich mich ungesunden Süchten hingab. Aber erst als man mich verstieß, begriff ich wirklich, wie schrecklich diese Fixierungen sein konnten.

Ich war der Grund für den Tod meiner Angehörigen, und von meiner Familie dafür geächtet zu werden war das Mindeste, was ich verdiente.

Ich war ein Monster.

Das war mir klar.

Bis Pim in mein Leben trat.

Bis mir eine Frau trotz meiner ganzen Fehler ihre Liebe schenkte. Sie zeigte mir, dass ich ein Leben haben konnte, wenn ich mich nur ein wenig besser unter Kontrolle hielt. Wenn ich lernte, mich etwas länger zu beherrschen. Wenn ich endlich einen Ersatz für das Herz fände, das ich schon vor so langer Zeit zerstört hatte.

Und allmählich hatte ich ihr geglaubt.

Ich ließ dieses verdammte Herz wachsen.

Nur damit sie es zerschmettern konnte, indem sie es meiner Familie gleichtat und ging.

Kapitel 1

Elder

Ein-, zwei-, dreimal ging ich im zweiten Badezimmer auf und ab.

Ein-, zwei-, dreimal ging ich zur Tür, drehte fast am Griff, um zu ihr zurückzugehen.

Ein-, zwei-, dreimal setzte ich mich aufs Bett und griff mir an meinen schmerzenden Schädel, zwang mich, die Kontrolle zu bewahren, bis Selix kommen würde.

Ich knirschte mit den Zähnen, während die in mir tobenden Gelüste ununterbrochen in meinem Kopf flüsterten. Es gab kein Entkommen. Keine Hilfe. Ich hatte kein Marihuana mehr und allein zu wissen, dass Pim auf der anderen Seite dieser Tür war – darauf wartete, mir noch mehr Fragen zu stellen, mich weiter zu verhören mit dieser erotischen Beharrlichkeit ihres Blickes und dem anbetungswürdigen Mut in ihrer aufrechten Haltung –, machte es mir nur noch schwerer, mich von ihr fernzuhalten.

Mein Gott!

Sogar mit einer Wand und einer abgesperrten Tür zwischen uns war es mir unmöglich, auf Abstand zu bleiben. Dieser Morgen war verdammt hart, aber die vergangene Nacht war die längste gewesen, die ich jemals erdulden musste.

Ich hatte Pim die Wahrheit gesagt, wie schwer es mir gefallen war wegzubleiben. Einzig die Erinnerung an meinen kleinen Bruder gab mir die Kraft dazu. Die Erinnerung an die Gräueltaten, die ich begangen hatte, und die vielen anderen, die ich vielleicht begehen könnte, sollte ich dem tückischen Wispern in meinem Kopf nachgeben.

Wieder einmal zuckte ich zusammen, dachte an ihr Gesicht, als ich ihr absichtlich das Herz brach.

Mein grausames »Du bist es nicht wert« hallte krank durch mein Innerstes und verbrannte mich in Selbsthass.

Sie hatte mich zu Recht als Lügner bezeichnet.

Ich war ein verdammter Lügner, der sich nicht an seine eigene Geschichte halten konnte. Nicht einmal sich selbst gegenüber. So oft hatte ich ihr die Wahrheit gesagt, nur um sie sofort wieder zu verfälschen.

Erst sagte ich, ich wolle nicht ihren Körper, nur ihren Verstand.

Gleich darauf gestand ich ihr mein Gefühl, nicht atmen zu können, wenn ich sie nicht berührte.

Einmal sagte ich ihr, sie schulde mir jeden Penny, mit dem ich sie bewertete.

Dann widersprach ich dieser scheinheiligen Behauptung und bot ihr ihre schuldenfreie Freiheit an.

Aber sie kaufte es mir nicht ab.

Sie stand vor mir, akzeptierte meine Lügen, als würde sie nicht meine Worte hören, sondern nur das, was ich zu verheimlichen versuchte.

Ohne dass ich es bemerkt hatte, war sie in meine Adern geschwommen und hatte meine Seele infiltriert. Als ich begriff, was sie getan hatte … war es bereits zu spät. Sie hatte in meine Brust gegriffen und sich mein Herz geholt. Sie hatte es zerstückelt, filetiert und in eine verdammte Bratpfanne geworfen.

Ich hatte die Möglichkeit, meinen Schmerz zu beenden.

Ich brauchte nur sechs Schritte zur Tür zu gehen, aufzuschließen und mich meiner verabscheuten Sucht zu ergeben. Wenn ich mich nur für mich selbst interessierte, was soll’s? Ich würde nicht hier sitzen, mich wie ein Drogenabhängiger wiegen, die Sekunden zählen, bis Selix endlich kam, um es zu richten. Ich wäre da draußen, bis zu den Eiern in Pim.

Aber da sie sich mein Herz geholt hatte, gab sie mir bedauerlicherweise auch etwas zurück, das mir seit dem Tag, an dem meine Kindheit und Familie in Flammen aufgegangen waren, gefehlt hatte.

Sie hatte mir ein Gewissen gegeben.

Und eine sogar noch größere Dosis Selbstkontrolle, mich niemals wieder vor alles andere zu stellen – egal wie laut die Stimme der Verführung in mir heulte.

Ich würde sie nicht noch mal gefährden. Eher würde ich mir einen Pflock in meine herzlose Brust rammen.

Sie war es wert.

Zehnmal, nein, tausendmal war sie es wert.

Sie war mehr wert als jedes Vermögen oder Vergeltung. Und das besiegelte meinen Handel mit dem Teufel, der auf meiner Schulter saß.

Ich konnte so nicht weitermachen.

Nichts in der Welt würde mich dazu verleiten, zu ihr zurückzugehen, sie aufs Bett zu drücken und jedes Kleidungsstück zwischen uns wegzureißen. Ich konnte nicht zugeben, dass mein Überleben davon abhing, sie entweder für den Rest unserer Tage nackt unter mir zu haben oder so weit weg von mir, bis sie für mich wieder eine Fremde war und ich zu meinem Leben voller strikter Regeln zurückkonnte.

Beide Optionen waren nicht gesund und auf keinen Fall akzeptabel.

Aber … sie ist es wert.

Und das war die Lüge, die ich niemals richtigstellen würde.

Sie musste glauben, dass sie es nicht wert war.

Sie musste mich für das, was ich getan hatte, hassen.

Sie musste meine Lügen als Wahrheit akzeptieren – musste mich als den Süchtigen sehen, der ich war, und nicht den Schwarm von einem Liebhaber, auf den sie hoffte.

Trotz meiner morbiden Gedanken blieb mir ein Rest geistiger Gesundheit, an den ich mich klammern konnte. Es waren das Wissen, wie mein Verstand funktionierte, und die zaghafte Hoffnung, dass mich zwei Dinge wie zuvor retten konnten.

Abstand und Zeit.

Abkühlen funktionierte und das brauchte ich dringend.

Früher war die »Heilung« von jeder aktuellen Besessenheit geistige Langeweile gewesen – in diesem Zustand entschied mein Verstand, dass er alles erreicht hatte, was er wollte, und der Nebel lichtete sich, ließ mich die Welt wieder ohne Sucht betrachten.

Auf mich wartete ein ganzes Universum voller Empfindungen jenseits meiner Zwangshandlungen. Und jedes Mal schien es, als wäre ich einem Strudel entkommen, der aus nichts anderem bestand als Origami, Origami, Origami oder kämpfen, kämpfen, kämpfen. Dann konnte ich wieder normal durchatmen, ein Seufzen der Erleichterung, und war endlich wieder heil.

Es dauerte eine Weile. Und eine Garantie gab es nicht. Doch das wäre auch mit Pim möglich. Sie könnte mich irgendwann langweilen …

Ich verdrehte die Augen.

Schwachsinn.

Je mehr Zeit ich mit ihr verbrachte, umso mehr faszinierte sie mich.

Okay, Zeit würde vielleicht nicht funktionieren … aber möglicherweise Abstand.

Die zweite Methode, mich von meinen Zwängen zu lösen: mich vom Auslöser fernzuhalten. Das schreiende Verlangen zu ignorieren, mich in etwas zu verbeißen und mich nur noch damit zu befassen. Den Entzug durchzustehen, egal wie quälend dieser wurde.

Manche Besessenheit dauerte nur einen Tag, bis ich sie hinter mir lassen konnte. Einfache Dinge wie ein Lied, das mir gefiel und ich dann stundenlang immer wieder abspielte, bis ich es nicht mehr hören konnte, ohne an Selbstmord zu denken, während ich zugleich nicht in der Lage war, es abzuschalten.

In solchen Fällen musste ich nur die CD wegwerfen, den iPod verbrennen oder das Internet abschalten, auch wenn mein Cello nach mir rief.

Nach ein paar Tagen harten Entzugs wich der Sturm, der mich dazu verführen wollte, seinen giftigen Regen zu trinken und zwischen seinen widerwärtigen Wolken zu leben, wieder klarem Himmel.

Es hat früher schon funktioniert.

Es kann wieder funktionieren.

Wenn ich Pimlico ein paar Tage aus dem Weg gehen könnte … vielleicht eine Woche … dann könnte ich das Nirwana, in ihr zu sein, vergessen und alles könnte wieder wie früher werden. Platonische Dinge. Retter und Gerettete.

Ich brauche nur Zeit.

Ich sah auf meine Uhr, ignorierte den Drang, ein-, zwei-, dreimal draufzusehen. Seit ich sie angebrüllt hatte, war eine volle Stunde vergangen.

Schuldgefühle nagten an mir.

Ich bin ein Dreckskerl, ihr zu sagen, sie wäre es nicht wert.

Sie war so viel mehr wert, als ich ihr geben konnte, und das machte mir eine Scheißangst. Eher würde ich mich selbst verletzen, bevor ich jemanden verletzte, den ich liebte …

Meine Wirbelsäule wurde zu Stein.

Liebe …

Schon zum zweiten Mal schlich sich dieses hinterhältige Wort in meine Gedanken.

Liebe unter Geschwistern und die von Eltern kannte ich. Ich verstand, was es bedeutete, jemandem mein Herz aus Verwandtschaft und Verpflichtung bedingungslos zu schenken.

Aber der Wandel von Fremden zu Freunden … zu Liebenden.

Alles, was mich ausmachte, auszuliefern und mich darüber zu freuen zu fallen, anstatt auszuflippen, wenn man darüber nachdachte, was das bedeutete.

Bin ich verliebt?

War es das, was in meiner Brust rumorte? Das Übelkeit erregende Wissen, dass ich mich aus dem Fenster stürzen würde, wenn es die einzige Möglichkeit wäre, Pim zu beschützen? Oder war das nur eine andere Ebene von Schuldgefühl, weil ich wusste, was sie durchgemacht hatte?

Die Fragen fauchten durch mein Blut, verzerrten das Verlangen nach körperlicher Intimität zu etwas völlig anderem.

Sie war es, die mich leiden ließ.

Aber sie war auch diejenige, die das wieder richten konnte.

Alle meine bisherigen Rechtfertigungen verpufften.

Ich sah die Tür an, stand davor und gab mir selbst die Erlaubnis. Ich würde ihr ganz genau sagen, was passieren musste. Dass sie zu ihrem eigenen Schutz die nächste Woche in Quarantäne bleiben musste. Sollten wir uns begegnen, dann nur mit Mindestabstand und anderen Anwesenden. Und am wichtigsten: keine Berührungen.

Sollte sie sich daran halten, könnte ich mich wieder unter Kontrolle bringen und wir könnten wieder Freunde sein.

Ich könnte sie weiterhin lieben. Mich um sie kümmern. Sie vergöttern. Und sie würde alles bekommen, was sie wollte.

Mit der Hand fest am Türknauf fiel mein Verstand in seine krankhaften Triebe zurück, wollte verzweifelt Pims Lachen wieder hören, zusehen, wie sie etwas Belangloses stahl und damit auch mein Herz an sich nahm.

Ich brauchte das.

Ich brauchte sie.

Wir können daran arbeiten.

Wir könnten zusammen nach England fahren. Dort würde ich sie freilassen, weil es das Richtige war.

Ich würde für immer ihr Niemand sein, und wer wusste es? Vielleicht könnten wir sogar Brieffreunde bleiben, ich auf dem Meer und auf der Suche nach Vergebung und sie zurück in dem Leben, aus dem man sie geraubt hatte.

Der Gedanke wärmte mein schmerzendes Herz und zermalmte es zugleich unter seinem unerbittlichen Stiefelabsatz.

Mit dem Wunsch, ich hätte einen Joint, um mich zumindest ein wenig zu betäuben, riss ich die Tür auf und betrat die Lounge der Suite.

Ich sah zu der Stelle, wo sie gestanden und mich angefleht hatte, mit ihr zu reden.

Nichts.

Im dicken Teppich waren keine Fußabdrücke von ihr zu sehen, kein Anzeichen, dass sie überhaupt hier gewesen war. Natürlich würde sie nicht über eine Stunde lang da stehen bleiben. Sie würde es sich irgendwo gemütlich machen.

Das Bett.

Dem konnte ich mich nicht nähern – ganz besonders nicht, nachdem wir dort Sex gehabt hatten –, aber ich biss die Zähne zusammen und stakste ins Schlafzimmer. Zu den zerwühlten Laken und dem noch immer wahrnehmbaren Geruch von Traurigkeit und Lust.

Leer.

Sofort fehlte sie mir.

Nirgends gab es ein feminines Rascheln. Kein Kribbeln ihres Blicks auf meinem Körper.

Keine stille Maus oder mutige Pimlico.

Das Zimmer war verlassen.

Mein Magen wurde zu Blei, während ich mich langsam zum Badezimmer umdrehte und aller Logik zum Trotz damit rechnete, sie würde jeden Moment herauskommen. Ich könnte zu ihr gehen, um sie in eine Knochen zermalmende Umarmung zu ziehen.

Eine Umarmung, der Küsse folgen würden.

Ein Kuss, der zu Berührungen führen würde.

Eine Berührung, die zu Ficken werden würde.

Ein Albtraum,

den

ich

niemals

beenden

könnte.

Ich holte tief Luft, kniff mir in den Nasenrücken, verdrängte diese Gedanken und konzentrierte mich auf das verwaiste Zimmer.

Sie war weg.

Was vermutlich gut war. Geradezu hervorragend. Aber zu wissen, dass sie sich rausgeschlichen hatte, während ich nebenan mit Schmollen beschäftigt war, riss mir die Haut vom Leib.

Dann bemerkte ich den gefalteten Zettel auf dem Bett.

Ach du Scheiße.

Ich kratzte mir über die Kopfhaut, schüttelte den Kopf, als würde Leugnen etwas an der Endgültigkeit des weißen Papiers ändern.

»Nein.« Ich wich zurück, anstatt es mir zu holen.

Ich wusste schon, was darauf stand. Das war meine Schuld. Ich hatte ihr Angst gemacht. Ich hatte sie verletzt. Mit meinem Handeln und meinen barschen Worten hatte ich ihr zu verstehen gegeben, dass sie gehen sollte. Ich hatte es gewollt, auch wenn ich es abstreiten würde.

»Scheiße.«

Sie war stärker, als gut für sie war. Sie hatte ihr Misstrauen Fremden gegenüber ignoriert und einer verdorbenen Welt mir gegenüber den Vorzug gegeben.

Ich zwang mich hinzugehen, nahm den Brief an mich.

Aus ihren Briefen an Niemand kannte ich ihre Handschrift. Ich überflog den Text – nahm den Grundton auf, blieb jedoch unfähig, die lähmende Botschaft in ihrer Gänze zu verarbeiten.

Sätze wie: Ich habe immer gewusst, dass unsere gemeinsame Zeit endlich sein würde – so wie du.

Und: Also ist dies mein Abschied, Elder.

Sie waren zu schmerzhaft, um sie einfach hinzunehmen.

Stattdessen blieb mein Blick auf dem durchgestrichenen Pimli… am Ende hängen und ich erstarrte.

Gottverdammt, konnte der Schmerz noch schlimmer werden?

Ich zerknüllte den Zettel, gab mein Bestes, um zu verbergen, was ich gerade gesehen hatte – was sie mir gegeben hatte! Aber die sechs kleinen Buchstaben ihrer Unterschrift hatten sich bereits in meine Netzhaut gebrannt.

Nicht der Name, den sie durch ihr Unglück erhalten hatte.

Ihr wahrer Namen.

Der Name, den mir Selix gestern, beim Gespräch über den Aufenthaltsort ihrer Mutter, genannt hatte. Der Name, den ich kannte, ohne es ihr zu sagen – und das, während ich mehr von ihrem Herzen verlangte, als ich jemals verdienen würde.

Tasmin.

»Scheiße.« Ich ließ den Kopf hängen, knüllte den Brief vor Wut noch fester zusammen. Sie hatte mir ihren Nachnamen nicht verraten, aber das war belanglos.

Den kannte ich auch.

Ich hatte ihr die Möglichkeit verwehrt, ihn mir zu verraten, und das machte mich zu einem beschissenen Menschen.

Tasmin Blythe.

Die Psychologiestudentin aus West London mit guten Noten, einer einsamen Existenz und dem perfekten Verhalten einer Vorzeigetochter von einer der erfolgreichsten Psychologinnen des Vereinigten Königreichs.

Selix hatte das alles herausgefunden, aber das hatte mir noch nicht gereicht.

Ich hatte Google bemüht. Anstatt Pim alles zu fragen, was ich wissen wollte, verlagerte ich mich wieder einmal aufs Schnüffeln. Ich hatte ihre Briefe an Niemand gelesen und jetzt las ich Dinge über sie, die Dritte online veröffentlicht hatten.

Egal was mir Google auch für Informationen gab, nichts davon war mit dem zu vergleichen, was ich während unserer gemeinsamen Zeit erfahren hatte. Google konnte mir etwas über die Nacht ihrer Entführung sagen. Es konnte mir die Vermisstenanzeigen liefern, Zeitungsartikel über diesen aufsteigenden Stern und dass die Polizei keinerlei Spuren hatte. Aber es konnte mir nicht sagen, wie sie duftete, wie sie lachte, wie sie stöhnte. Es konnte mir nichts darüber erzählen, wie sich ihre Augen bei einem Kompliment weiteten oder wie sich ihre Zähne in ihre Unterlippe gruben, wenn ich ihre Kehle küsste.

Aber Google hatte mir Dinge verraten, die Pim selbst nicht wusste. Auf ein paar Monate nach ihrer Entführung datiert tauchten weitere Dokumente auf, aber die befassten sich mit ihrer Mutter. Plötzlich stand die Mutter im Rampenlicht, stellte mit ihren abscheulichen Taten sogar das Verschwinden ihrer Tochter in den Schatten.

Ich hatte mich vollkommen geirrt.

Ich dachte, ich wollte Informationen. Dass ich jedes Geheimnis und jede verborgene Absicht wollte. Aber dieses Wissen über einen Computerbildschirm zu erlangen war leer und unbefriedigend.

Was ich wirklich wollte, war Pim. Ich wollte die Schönheit ihrer Stimme, während sie mir von ihrem Unterricht erzählte. Ich wollte die Perfektion ihres Gesichts, wenn sie sich an Haustiere ihrer Kindheit oder Lieblingsplätze erinnerte.

Das mit Pim hatte für mich als eine Art persönlicher Wohltätigkeitsfall begonnen, aber jetzt war es so viel mehr. Sie war gegangen, bevor ich ihr sagen konnte, warum ich sie verflucht noch mal so sehr brauchte.

Du könntest ihr folgen.

Ich kannte ihre Adresse.

Mit Google Earth hatte ich mir ihre frühere Wohnung angesehen, war mit Street View durch dieselben mit Kopfstein gepflasterten Gassen gegangen wie sie vor ihrer Entführung.

Ich könnte dort auf sie warten. Oder ich könnte durch Monte Carlo streifen, sie aufspüren und ihr die Wahrheit über das erzählen, was ihre Mutter getan hatte und was das für ihre Zukunft bedeutete.

Aber wenn ich das tat, könnte ich sie für nichts in der Welt wieder gehen lassen. Auf sie würde keinerlei Sicherheitsnetz warten. Kein glückliches Ende. Nur ich, der ein Leben in sexueller Frustration führen würde, während sie sich weiter einsam und abgelehnt fühlte.

Sie war gegangen.

Wenn es mir irgendwie gelingen würde, dasselbe zu tun, könnte es genau das sein, was wir brauchten, um einander zu überleben.

Ich stand neben dem Bett, wartete auf eine Erleuchtung, was ich tun sollte.

Sie verfolgen.

Sie vergessen.

Sie erobern.

Sie zurücklassen.

Eine, zwei Möglichkeiten.

Eine, zwei Entscheidungen.

Eine, zwei potenzielle Katastrophen.

Ich wünschte, ich hätte noch eine dritte Option, nur um den Tic in meinem Schädel auszugleichen.

Das irre Zählen hörte nicht auf; ich rieb mir die Schläfen. Das hatte mir Pim angetan. Ich wünschte mir, die Fähigkeit zu besitzen, meine Gefühle einfach abzuschalten. Ich wünschte, ich könnte sie einfach so zurücklassen, wie sie mich zurückgelassen hatte.

Meine Beine brüllten danach, sie zu jagen und zurückzuzerren – notfalls um sich tretend und schreiend. Aber noch während ich mir vorstellte, sie durch die Innenstadt von Monte Carlo zu verfolgen, überkam mich eine überwältigende Niedergeschlagenheit.

Sie hatte diese Entscheidung für uns beide getroffen.

Sie hatte den Mut aufgebracht, sich einer Zukunft voller Beschwerlichkeiten zu stellen.

Es war vorbei.

Ende.

Erledigt.

So wie es sein muss.

Ich hasste es. Ich trauerte deswegen. Ich spürte bereits, wie ich daran zerbrach.

Ich warf den Brief durchs Zimmer, holte mein Handy aus der Tasche und wählte Selix’ Nummer.

Schon während des ersten Klingelns ging er ran. »Ich weiß, ich weiß. Ich bin spät dran. Bin fast da.«

»Spielt keine Rolle mehr.« Meine Stimme war wie gesplittertes Glas.

Selix stockte. »Was ist passiert?«

In meinem derzeitigen Zustand konnte ich diese Frage nicht beantworten. »Ich hoffe bei Gott, du hast die Büchse aus meinem Nachttisch dabei, um die ich dich gebeten habe.«

»Ich habe die Büchse.«

Ich ließ die Schultern hängen, konnte bereits den kränklichen Rauch des Joints schmecken. Mir fehlte die Kraft, meine tobenden Gedanken zu beruhigen, aber das Gras konnte es bestimmt.

»Gut. Sag Jolfer, wir legen gleich nach unserer Rückkehr ab.«

»Schon erledigt. Der Captain hat die Nahrungs- und Treibstoffvorräte der Jacht aufgestockt und ist bereit abzufahren, sobald Sie es sind.«

»Gut.«

Als ich nicht auflegte oder mehr Anweisungen gab, fragte Selix: »Sonst noch was?«

»Ja, Pimlico ist weg.«

Mein Gott, ich wollte nicht so verflucht mitgenommen klingen. Meine dämliche Stimme verriet mich. Mein dämliches Herz legte mich lahm. Das dumme, verfickte Universum hatte sie mir vor die Nase gesetzt.

»Wollen Sie sie suchen?« Selix’ Tonfall war gelassen … in keinster Weise anmaßend, trotzdem richteten sich meine Nackenhaare auf.

Ja.

Nein.

Ich habe keine verfluchte Ahnung.

»Komm … mich einfach abholen. Ich hab lange genug gewartet. Ich muss wieder aufs Meer.«

»Ich bin wortwörtlich noch zwei Straßen entfernt. Der Verkehr ist die Hölle.« Er räusperte sich, bevor er die Grenze überschritt, an deren Rand er so gerne entlangstolzierte.

»Hören Sie, wenn Sie meine Meinung wissen wollen, ich glaube, es ist gut, dass sie weg ist. Damit ist sie nicht mehr Ihr Problem.«

Jetzt, nachdem ich sie gekostet habe, wird sie für immer mein Problem sein.

Doch das musste Selix nicht hören. »Ich hab deine Meinungen noch nie gemocht. Das gilt auch dieses Mal. Halt die Klappe und fahr. Je früher wir von diesem gottverfluchten Ort wegkommen, umso besser.«

»Ich nehme an, ich lasse die Hawks wissen, dass Ihre Begleitung jetzt doch nicht mitkommt?«

»Fick dich.«

Selix kicherte. »Hey, ich könnte jederzeit als Ihre Verabredung mitkommen.« Eine Hupe ertönte, bevor er weitersprach: »Hören Sie, hier ist noch eine Meinung, die Sie vermutlich nicht mögen werden. Sie fahren so oder so nach England. Soll ich sie aufstöbern und an Bord bringen? Sie müssten sie nicht sehen. Ich würde sie von Ihnen fernhalten. Dann wissen Sie zumindest, dass sie wieder dort ist, wo sie hingehört, und Sie können sie ein für alle Mal vergessen. Sie hätten Ihren Beitrag geleistet.«

Noch während sich Selix’ Vorschlag wie ein Lauffeuer durch meine Adern brannte, schüttelte ich den Kopf. »Du weißt so gut wie ich, dass sie da niemanden hat, bei dem sie unterkommen kann. Ihre Mutter …«

»Ich weiß«, fiel er mir ins Wort. »Aber scheiß drauf. Sie hat doch bestimmt noch mehr Familie.«

Hat sie nicht.

Genau wie ich.

Und das war nur eine weitere Last auf meinen Schultern.

Ich wollte nichts mehr davon hören.

Pim hatte ihre Wahl getroffen.

Ich traf meine.

Sie war auf sich allein gestellt.

Es spielte keine Rolle, dass ich mir immer um sie Gedanken machen würde. Ich würde sie nicht noch mal verletzen. Sie hatte sich ihre Freiheit verdient. England oder Monaco – ihr Schicksal wäre dasselbe, weil sie kein Zuhause mehr hatte.

Sie würde sich ein Neues schaffen, weit weg von mir.

Von Alrik.

Von allen.

»Genug von deinen gottverdammten Meinungen, Selix. Bring mir diese Büchse. Erwähne ihren Namen nie wieder. Vergiss, dass es sie jemals gab. Ich erwarte, dass wir noch diese Stunde ablegen. Wenn du das nicht schaffst, schwimmst du mit den gottverfluchten Fischen.«

Kapitel 2

Pimlico

Vor zwei Tagen war es noch ein Abenteuer gewesen, durch diese Straßen zu schlendern.

Ich hatte Bill und Lance im Schlepptau gehabt – die mir Mut gaben, weil sie für Elder arbeiteten, und Elder war mein Schutzengel. Wenn mich jemand anrempelte, erschrak ich nicht. Wenn mir ein Mann in den Weg trat, geriet ich nicht in Panik.

Heute war alles anders.

Ich hatte den ganzen Tag allein verbracht.

Verletzlich, verloren, ängstlich.

Männer lächelten und ich sah nur Monster.

Frauen lachten und ich sah nur Opfer.

Der Morgen wich dem Nachmittag und ich wanderte lustlos, mit gebrochenem Herzen und unglücklich durch die Gegend, während ich die ganze Zeit an meiner übereilten Entscheidung, Elder zu verlassen, zweifelte.

Egal welcher Straße ich folgte oder für welche Richtung ich mich entschied, immer wieder sah ich über meine Schulter … hoffend.

Hoffend, er würde um eine Ecke kommen und mit mir schimpfen, weil ich einen solchen Brief hinterlassen hatte. Ich wünschte mir, er würde an einer Kurve auftauchen und mich vor Wut besinnungslos küssen, weil ich mir eingeredet hatte, ich hätte die Willenskraft wegzubleiben.

Minuten wurden zu Stunden und diese albernen Fantasien blieben unerfüllt.

Er tauchte nicht auf.

Und ich kehrte nicht um.

Ich war seinetwegen gegangen. Ich war weggelaufen, um ihn zu heilen. Ich dachte, ich wäre selbstlos genug, um es durchzuziehen, aber als der Nachmittag zum Abend wurde und sich der Abend der Mitternacht näherte, fragte ich mich, welche neue Höchstleistung in Sachen Hirnrissigkeit ich wohl erreicht hatte.

Verdiente ich es nicht, in Sicherheit und umsorgt zu sein?

Hatte ich mir nicht das Recht verdient, zu lieben und im Gegenzug geliebt zu werden?

Er liebt dich nicht.

Ich rieb über meine eiskalte Haut. Elder hatte mir nie gesagt, wie er empfand. Soweit ich wusste, war ich für ihn immer noch nicht mehr als eine Eroberung, und meine Abwesenheit würde eher Erleichterung als Trauer hervorrufen.

Du weißt, das stimmt nicht.

Aber mir fehlte die Willenskraft, mich selbst zu überzeugen, denn wenn ich das tat … was sollte mich dann noch davon abhalten, zu ihm zurückzulaufen und ihn zu zwingen, in Qual zu leben, weil ich mir kein Leben ohne ihn vorstellen konnte?

Nein.

Ich werde es nicht tun.

Während ich weiter durch die Straßen von Monte Carlo streifte, waren meine Gedanken (egal wie zerstreut) mein einziger Besitz. Ich hatte kein Gepäck, keine Decken und kein Geld, um feindselige Gehwege gegen ein einladendes Bett zu tauschen.

Das war meine Strafe dafür, dass ich einem Mann gesagt hatte, er habe sich mein Herz verdient, nur um dann ohne Abschied zu verschwinden. Mein leerer Magen wagte nicht zu knurren. Er verdiente kein Essen. Meine arthritischen Knochen wagten es nicht, zu klagen. Sie hatten sich diese unangenehmen Umstände selbst zuzuschreiben. Und auf keinen Fall gestattete ich den stechenden Schmerzen meines Herzens, sich auch nur eine Träne von mir zu erschleichen.

Das war meine Schuld. Und ich würde den Preis zahlen, damit Elder es nicht tun musste.

Ganze 24 Stunden lebte ich im Limbus.

Als die braven Urlauber die Gehwege frei machten, um betrunkenen Feierwütigen zu weichen, hielt ich mich in den Schatten und außer Sicht.

Vor den Nachtklubs liefen Sicherheitskräfte Streife und die Menge an Polizisten nahm zu – um die Reichen und Berühmten vor schlechten Entscheidungen und schrecklichen Konsequenzen zu schützen.

Das war die längste Nacht meines Lebens. Nicht nur weil ich mich nirgends hinsetzen und ausruhen konnte, sondern weil ich mich die ganze Zeit dazu zwang, in Bewegung zu bleiben, um den Augen anderer Nachtschwärmer zu entgehen.

In diesem Teil der Stadt gab es keine Obdachlosen und der Glamour nagte an einem Teil von mir, von dem ich bis dahin nicht wusste, dass es ihn überhaupt in mir gab: ein gewisser Hass auf Reichtum.

Man mochte mich misshandelt haben, aber mein Gefängnis war ein wundervolles Herrenhaus gewesen, dem das Geld aus jeder Ecke tropfte. Dann hatte man mich gerettet und auf die Phantom gebracht, die ihre Existenz Elders zwielichtigen Machenschaften verdankte.

Ich liebte mein Zimmer auf der Phantom, doch bis heute Nacht, in der ich schließlich etwas Kies unter die Sandalen und Schmutz auf die Hände bekam, hatte ich vergessen, wie es war, nicht alles zu besitzen.

Umgeben zu sein von Schaufenstern mit 1000-Dollar-Kleidern, die ich mir nicht leisten konnte. Teures Essen in exklusiven Restaurants zu riechen, während ich Hunger hatte.

Da begriff ich, dass man mir noch etwas anderes genommen hatte: die Wertschätzung von Dingen. Nicht dass ich das Leben auf der Phantom mit all dem Luxus jemals als selbstverständlich betrachtet hatte, natürlich nicht, aber es war angenehm, sich zur Abwechslung mal Gedanken über normale Dinge zu machen – Dinge, die Tasmin aufregten, während Pimlico sie in ihrem Dasein als Spielzeug vergessen hatte.

Dass ich nicht sagen konnte, wie viele Stunden vergangen waren. Dass ich nicht wusste, wohin ich gehen sollte – oder wie ich dorthin kam. Probleme, die mit der Alltäglichkeit des Lebens zu tun hatten und damit, für mich selbst die Verantwortung zu tragen.

Diese Gedanken lenkten mich von meinen Plattfüßen und dem schmerzenden Rücken ab, während sich langsam das Morgengrauen anschlich und hübsch zurechtgemachte Frauen zu angetrunkenen Begleiterinnen mit verschmiertem Make-up und Männer von gut aussehenden Teufelskerlen zu moralisch fragwürdigen Halunken wurden.

Als ich mich vor einem Einheimischen wegduckte und in den Schatten flüchtete, um nicht von irgendwelchen Sicherheitskräften gesehen zu werden, kratzte ich an der offenen Wunde, für die mein Weggehen von Elder gesorgt hatte. Die ganze Nacht lang hatte mein Verstand Roulette gespielt mit der Entscheidung, entweder wegzubleiben oder zurückzugehen als kleine weiße Kugel.

Manchmal landete sie auf Rot. Rot … die Farbe der Liebe, der Leidenschaft, von Blut, Wut und Lust.

Aber manchmal landete sie auf Schwarz. Schwarz … die Farbe von Verzweiflung, Trauer, Falschheit, Hass, Verwirrung und Schmerz.

Nichts davon gab mir eine Antwort, mit der ich leben konnte.

Das Morgengrauen kroch weiter, wurde zum Tagesanbruch.

Ich sah zum Horizont, bemerkte, wie weit ich gelaufen war.

Die Entfernung zu Elder ließ mein Herz stocken. Meine Füße wollten meutern, zurückgehen anstatt weiter.

Ich wollte nur vor ihm knien und versprechen, dass ich ihn nie wieder darum bitten würde, mich zu berühren, zu küssen oder mit mir zu schlafen. Wenn dies der Preis für seine Freundschaft und seinen Schutz war, dann würde ich ihn mit Freuden tausendfach bezahlen.

Würde ich das tun, könnte ich sofort bei ihm sein.

Ich könnte über das Meer fahren.

Sicher.

Warm.

Verliebt.

Wen interessierte es, ob er mich nie wieder berühren oder küssen würde?

Er wäre sicher.

Und mir war Sicherheit sehr viel mehr wert als Romantik.

Oder nicht?

Ich hasste es, dass ich darauf keine eindeutige Antwort mehr hatte.

Er hatte mich verbogen. Er hatte mir gezeigt, dass Sicherheit nur aus Vertrauen entstand. Und Vertrauen hatte die frustrierende Tendenz, zu Zuneigung zu werden, die sich wiederum in Lust verwandelte und dann zu Liebe erblühte.

Du hast ihn nicht deinetwegen verlassen.

Diese Ermahnung – dieser rechtschaffene Dorn in meiner Seite – verlieh mir Kraft.

Ich kann das durchziehen.

Für ihn.

Ich holte tief Luft und ging weiter.

Später Nachmittag und ich steckte immer noch im Herzschmerz-Limbus.

Mir war kein Plan eingefallen. Ich hatte nichts getan, außer Trübsal zu blasen.

Je hungriger und müder ich wurde, umso mehr ließen mir die Menschenmassen kalte Schweißausbrüche den Rücken hinablaufen. Die Sonne brannte auf mich nieder, als wäre ich eine Ameise unter einer Lupe. Jedes Augenpaar wirkte heimtückisch.

Die Straßen schlängelten sich hierhin und dorthin, immer tiefer ins Chaos.

Ich hatte keine Ahnung, wohin ich ging. Keine Ahnung, wie ich an Geld kommen sollte, um nach England zurückzufahren, oder wie ich meine Mutter aufspüren sollte.

Mit jedem Schritt sank ich etwas mehr in mich zusammen und wickelte mich um die Leere in meinem Innern.

Aber als mein schmerzender, leerer Magen immer mehr Aufmerksamkeit forderte, hörte mein Verstand auf, mich mit Bildern von Elder zu quälen, und konzentrierte sich stattdessen aufs Überleben. Ich brauchte Geld. Für Essen, Unterkunft und Reisen. Ich brauchte einen Pass, um über Grenzen zu kommen. Ich brauchte ein Wunder, um das alles zu bekommen.

Oder die geschickten Finger, die ich dank Elder entwickelt hatte.

Der Gedanke, zu stehlen, war nicht neu. Trotz meiner Abneigung hatte ich die ganze Nacht Ausschau nach einfachen Gelegenheiten gehalten. Aber jetzt war ein neuer Tag und meine Kehle war trocken, Kopfschmerzen ließen mich die Augen zusammenkneifen und mir blieb keine andere Wahl mehr. Der Luxus, über solchen Notwendigkeiten zu stehen, war Vergangenheit. Ich sackte gegen ein Gebäude, versuchte mich abseits des Stroms aus Fußgängern zu halten.

Ich wollte nicht wie eine Kriminelle irgendwo herumlungern, aber genauso wenig konnte ich weiter ziellos durch die Gegend laufen.

Ich musste mich klug anstellen.

Es war Zeit, etwas zu stehlen.

Ich widerte mich selbst an, während ich nach potenziellen Opfern Ausschau hielt, mich in den Rhythmus der Stadt einfand. Ich beobachtete lachende Touristen und musterte Geschäftsleute mit kantigem Kinn. Ich versuchte mich an alles zu erinnern, was mir Elder über Taschendiebstahl beigebracht hatte.

An meinen Seiten spreizte ich die Finger, willens, eine Brieftasche oder eine Handtasche zu stibitzen, aber ich war noch ungeübt darin, unsichtbar zu bleiben.

Sosehr es mir auch widerstrebte, mir blieben nur zwei Möglichkeiten: genug stehlen, um nach Hause zurückzukommen, oder mich der Gnade anderer ausliefern. Letzteres hieße, ich müsste blind darauf vertrauen, dass die Polizei nicht korrupt war, dass gute Samariter keine bösen Absichten hegten und dass, wer immer als Nächstes in mein Leben trat, mich nicht misshandeln würde.

Nein.

Das konnte ich nicht.

Ich war zu zerbrechlich dafür. Mein Selbstbewusstsein war noch viel zu frisch, unerprobt. Ich konnte mich nicht vertrauensvoll an andere wenden. Es gab eine Person, der ich vertraute … und vor der war ich weggelaufen. Die zweite Wahl war ich, ich selbst.

Und Niemand.

Niemand … Verdammt.

Das lähmende Gefühl in meiner Brust stammte von Elder und seiner Geschichte, dass ihn seine Familie Niemand nannte.

Mein Tagebuch würde auf ewig mit ihm verbunden sein.

Er hatte die einzige Zuflucht ruiniert, die ich hatte.

Er fehlte mir mehr, als ich ertragen konnte.

Was tat er gerade? Hatte er beschlossen mich ziehen zu lassen und war abgefahren? War er noch da und versuchte mich zu finden?

Von meinem Standort, umgeben von Gebäuden und Fremden, konnte ich das Meer nicht sehen. Ich konnte die Phantom nicht sehen oder den Balkon, auf dem wir gemeinsam dem Sturm getrotzt hatten.

Ich kann nicht sehen, ob er weg ist …

Vier Mädchen gingen an mir vorbei, die Handtaschen von zweien standen sperrangelweit offen und die kreischbunten Brieftaschen bettelten geradezu darum, genommen zu werden.

Es war, als würde mir das Schicksal Anweisungen geben und mir sagen, ich solle mit meinen schmerzhaften Gedanken aufhören. Sollte Elder abgefahren sein, ließ sich das nicht ändern. Wenn er noch hier war, war das nicht meine Sorge.

Ich war gegangen, weil ich ihn liebte.

Und ich würde stehlen, weil ich wieder die Verantwortung für mich übernehmen musste.

Ich klammerte mich an meine Überzeugung, löste mich von der Hauswand und folgte den Mädchen.

Während der ersten Schritte spürte ich nichts. Je länger ich mich dann darauf versteifte, dass ich es tun würde, umso mehr Adrenalin rauschte durch meine Adern. Ich wurde vorsichtig, nervös und paranoid.

Ich schätzte die Mädchen auf Anfang 20. Und aus ihren müden Gesichtern nach langen Nächten und der makellosen, neuen Kleidung schloss ich, sie waren hier, um bis in die Puppen zu feiern, und verfügten über unbegrenzte Budgets.

Glücklicherweise betrachteten mich andere Fußgänger nicht als zu unpassend für die Gegend. Anders als meine auserkorenen Opfer trug ich vielleicht nicht die neueste Laufstegmode, aber angesichts einer draußen verbrachten Nacht war mein Sommerkleid noch immer angemessen; mein Haar noch immer akzeptabel.

Ich war nur das fünfte Rad am Wagen dieses Quartetts zufriedener Shoppingqueens. Niemand bemerkte, dass ich ihnen folgte.

Ihr Plastiklachen ließ meine Ohren klingeln. Sie gaben mit Geschichten darüber an, wie sie letzte Nacht für kostenlose Cocktails mit Männern geflirtet hatten, nur um sie danach wissen zu lassen, sie seien zu hässlich für ihren Geschmack.

Je länger ich ihnen zuhörte, umso weniger mochte ich sie. Nur eines der Mädchen schwieg. Sie nickte nur und lächelte, wenn ihre Freundinnen sie ansahen, ansonsten verzog sie das Gesicht und verdrehte die Augen.

Sie mochte ich, die anderen nicht. Ich wusste nicht, warum diese Antipathie meinen Entschluss festigte, aber ich folgte ihnen weiter, lauerte nun auf die Gelegenheit, sie zu bestehlen, anstatt mich davor zu fürchten.

Schließlich blieben sie vor einem Café stehen, um die Speisekarte zu studieren. Meine Gelegenheit.

Ich machte schlagartig halt. Die Handtaschen von zwei der nervigen Mädchen hingen sorglos über ihren Schultern, aus einer bettelte mich eine silberne Brieftasche an, aus der anderen eine türkisfarbene.

Also tat ich es.

Ohne mich umzusehen, griffen meine Hände gleichzeitig nach der Beute.

Einen Sekundenbruchteil danach drehte ich mich um und ging in die entgegengesetzte Richtung davon.

Während ich mich entfernte, setzte das Zittern ein. Anspannung, die wie eine Lawine von mir abfiel. Ein Rausch Übelkeit erregender Aufregung. Ein Ertrinken in Selbstverachtung.

O mein Gott.

Ich hatte gestohlen, um mich zu bereichern.

Ich hatte keine Entschuldigung zurückgelassen.

Ich hatte die Mädchen nach ihrer dämlichen Unterhaltung und ihrem Verhalten als Miststücke abgestempelt.

Aber ich tat etwas Falsches, nicht sie.

Heilige Scheiße, ich habe sie bestohlen.

Während das Adrenalin in meinem Blut weiter zunahm und mich ganz schwindelig machte, krampfte sich mein Herz unter der Erkenntnis zusammen, dass ich eine Kriminelle geworden war.

Ich achtete nicht auf meinen Weg, als ich mir die andere Brieftasche unter den Arm klemmte und den Reißverschluss der silbernen öffnete. Darin fand ich einen ganzen Haufen 100-Dollar-Scheine und mehr Kreditkarten, als ich je gesehen hatte.

Ich hatte nicht die geringste Ahnung von Kreditkartenbetrug, also nahm ich nur das Bargeld und schloss die Brieftasche wieder. Als ich an einem Café mit seinen in Sonnenlicht badenden Gästen vorbeikam, ließ ich sie auf einem der Außentische liegen, darauf hoffend, ein freundlicher Kellner würde sie finden und zur nächsten Polizeiwache bringen.

Zumindest hätten die Mädchen die Möglichkeit, ihre Karten und anderen Habseligkeiten zurückzubekommen. Ich würde nur das Bargeld behalten. Ich würde es schlau und dankbar nutzen, um nach Hause zu kommen, wo ich nie wieder stehlen müsste.

»Hey, du!«, peitschte mir ein Kreischen um die Ohren.

Die Blondine, die eben noch so hochmütig damit angegeben hatte, wie sie Männer an der Nase herumführte, deutete auf mich. »Haltet sie. Sie ist eine Diebin!« Dabei sah sie auf die türkisfarbene Brieftasche in meiner Hand.

Ihre brünette Freundin schrie: »Das ist meine Brieftasche!«

Fußgänger runzelten die Stirn, wollten sich aber noch nicht einmischen, was mir ein paar Sekunden Panik gewährte, bevor alles explodierte.

Einen Augenblick lang erstarrte ich.

Ich konnte ihre Anschuldigungen nicht abstreiten, da sie ja vollkommen zutrafen. Ich war die Schuldige und wollte nur noch um Vergebung betteln und ihnen ihren Besitz zurückgeben.

Aber wenn ich das tat … würde man mich verhaften und ich wäre wieder eine Gefangene, dieses Mal in einem Gefängnis in Monaco, anstatt zu Hause und frei bei meiner Mutter zu sein.

Nein.

Ich konnte mich nicht wieder einsperren lassen.

Von niemandem.

»Stehen bleiben, du kleine Schlampe!« Als sie sahen, dass mich die Umstehenden nicht zu Boden rissen, nahmen die Mädchen die Sache selbst in die Hand. »Schieb deinen diebischen kleinen Arsch hierher zurück!«

Sie rannten auf mich zu.

Ich türmte.

Ich dachte nicht nach. Instinkte übernahmen die Kontrolle.

Ich rannte so schnell ich konnte unter heißem Sonnenschein durch überfüllte Straßen. Ich schlängelte mich durch die Massen. Ich sah nicht zurück. Meine Lunge brannte, meine Knochen schrien, mein Blick huschte auf der Suche nach einem Ausweg umher.

Ich rannte zwei Stunden oder zwei Minuten – die Angst machte daraus ein aussichtsloses Rennen. Nach Luft schnappend stürmte ich eine Seitenstraße entlang, hoffte, abseits der Hauptstraße könnte ich untertauchen.

Die Hoffnung war vergebens.

O nein …

Entsetzt schluckend erreichte ich eine Sackgasse.

Nein, nein, nein.

Ich wirbelte herum, ging drei Schritte in die Richtung, aus der ich gekommen war, nur um wie angewurzelt stehen zu bleiben, als die Schritte teurer Sandalen die Ankunft meiner Verfolgerinnen ankündigten.

Sie kamen schwer keuchend in die Gasse geschlittert, über ihren perfekt gezupften Augenbrauen tanzten Schweißperlen. Sie sahen umwerfend aus mit ihrem frisierten Haar, perfektem Make-up und strahlend gepflegter Haut. Dennoch konnte das nicht die ihnen innewohnende Hässlichkeit verbergen.

Die Blonde trug ein Pünktchenkleid und höhnte: »Na, sitzt du fest, du kleine Diebin?«

Ich drückte mich in den Schatten, wünschte mir bei Gott, ich hätte das nicht getan, wollte mich verzweifelt entschuldigen. Meine Stimme verließ mich. Schweigen wurde zu meinem alten Freund und Feind.

Den Mädchen war das egal.

Sie kamen auf mich zu. »Gib uns unser Zeug zurück, Schlampe.«

Ich warf ihnen die türkisfarbene Brieftasche zu, die in eine schmutzige Pfütze schlitterte.

»Und meine«, verlangte die Blondine mit auf das Bargeld in meinen Händen gerichtetem Blick.

Ich öffnete den Mund, wollte ihr sagen, dass ich sie nicht mehr hatte. Dass ich sie auf den Tisch eines Cafés gelegt hatte und sie gerne hinführen würde, aber ein schwarzhaariges Mädchen, das beherrschter und auf grausame Art intelligenter als seine Begleiterinnen wirkte, holte sein Handy aus der Tasche.

»Meine Damen, nur keinen Stress.« Kalt lächelnd sagte sie: »Rufen wir doch einfach Harold, damit er sich darum kümmert. Was haltet ihr davon?«

Das Mädchen, das nichts gesagt hatte, etwas abseits seiner Freundinnen stand und sich auch nicht an den boshaften Erzählungen über die verletzten Gefühle von Männern beteiligt hatte, verzog das Gesicht. »Miranda … Ich glaube nicht …«

Die Schwarzhaarige warf ihr einen Blick zu.

Sie hielt den Mund.

Miranda sah mich wieder an, drückte ein paar Tasten auf ihrem Handy. Sie lächelte garstig. »Du hättest dir wirklich nicht nehmen sollen, was dir nicht gehört. Jetzt müssen dir Harold und seine Freunde eine Lektion erteilen.«

Ihre brünette Freundin in grauen Shorts und einem weißen Polohemd hob die Hände. »Moment mal. Wir müssen die Jungs da nicht mit reinziehen.«

Ich hoffte, sie würde sich auf die Seite ihrer stillen Freundin schlagen und verhindern, was immer passieren sollte. Stattdessen grinste sie boshaft. »Die sollen nicht den ganzen Spaß für sich haben. Das können wir auch selbst erledigen.« Irre lachend hob sie die Fäuste. »Nur ein wenig vermöbeln.«

Blondie rümpfte die Nase. »Iiih, ich schlage niemanden. Ich könnte mir einen Nagel abbrechen.« Sie präsentierte ihre grellpinken, mit Glitter besetzten Fingernägel. »Sie sind Gel, Monique. Ich habe gestern Stunden im Salon gesessen, um sie mir machen zu lassen.«

»Niemand bricht sich einen Nagel ab oder macht etwas selbst«, blaffte die schwarzhaarige Hexe. »Wir sind Ladys. Und Ladys prügeln sich nicht.« Sie hob das Kinn. »Ladys üben Vergeltung, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. Und daher wird sich Harold um sie kümmern. Ich wette, es wird ihm viel Spaß machen, ihr zu zeigen, was passiert, wenn man sich etwas ohne Erlaubnis nimmt.«

Die Düsternis in ihrem Tonfall ließ meine Knie weich werden. Wie ihre Augen bei der kaum verhohlenen Anspielung in diesem schrecklichen Satz glitzerten!

So was musste man mir nicht beibringen.

Das wusste ich bereits nur zu gut.

Ich wusste, wie es sich anfühlte, wenn man einem ohne Einwilligung immer wieder Dinge nahm.

Wie man meinen Körper zur Unterhaltung anderer benutzte.

Wie ich keinerlei Mitspracherecht dabei hatte.

Ich kannte diesen Verrat.

Das schreckliche Wissen, dass ich für die Person, die mich verletzte, wertlos war.

O mein Gott, was habe ich getan?

Sie hatten recht.

Ich hatte mir ohne ihr Einverständnis etwas von ihnen genommen. Ich war genauso schlimm wie die Arschlöcher, die mir wehgetan hatten. Sie hatten jedes Recht, verletzt und wütend zu sein. Ich war jahrelang verletzt und wütend gewesen.

Ich wollte den Mund öffnen, mich entschuldigen. Ihnen versichern, dass ich nie wieder stehlen würde, da ich nur zu gut wusste, wie es war, wenn man einem etwas wegnahm.

Aber wieder einmal versagte mir meine Kehle den Dienst, verbarg meine Worte, erstickte mein Flehen. Ich wünschte, ich hätte stumm zu sein nie als Schutz benutzt. Ich wünschte, ich könnte den Fluch brechen und schreien.

Dann quälte mich Miranda mit noch mehr Entsetzen, als sie murmelte: »Harold ist bei Bestrafungen ziemlich einfallsreich. Ich kann mir vorstellen, dass er sich etwas recht Einzigartiges ausdenken wird, um dich daran zu erinnern, dass Stehlen nicht okay ist …« Sie verengte die Augen, sah mich an wie eine Schlange ihre nächste Mahlzeit. »… besonders wenn man uns bestiehlt.«

Die Vorstellungen, die sie heraufbeschwor.

Die Erinnerung an Seile

und Ketten

und Peitschen

und klassische Musik

und Blowjobs

und Vergewaltigungen

und Schmerz.

Nein!

Ich fiel auf geschundene Knie, die genau wegen so was ruiniert waren, kauerte mich vor ihnen unterwürfig zusammen. Mit aneinandergelegten Händen rang ich mit jedem meiner Sicherheitsmechanismen und zwang meine Zunge, sich zu bewegen.

Erbärmlich flehend flüsterte ich: »Es … t…tut mir so leid. Ich wollte nicht … Ich habe keine Entschuldigung. Ich weiß, wie es ist. Ich brauche keine Lektion. Ich hatte schon viel zu viele Lektionen.« Mir liefen Tränen über die Wangen, ohne dass ich eigentlich weinte, als würden meine Augen die Tropfen abgeben, um sich auf die Prügel vorzubereiten, von denen ich wusste, dass sie kommen würden.

Bei Alrik hatte ich nie geschrien.

Bei Alrik hatte ich nie geweint.

Und bei dieser Bestrafung würde ich es auch nicht tun.

Alte Gewohnheiten legte man nur schwer ab.

»Bitte …«, zischte ich. »Bitte, macht das nicht.«

Blondie und das Mädchen, das nicht wie ihre Freundinnen war, wichen mit Besorgnis auf ihren hübschen Gesichtern zurück.

Blondie wechselte von Schimpfen zu Vernunft. »Hey, Miranda … weißt du, was? Ist doch nichts passiert. Wir haben das Geld zurück. Ich kann meine Karten sperren. Ist schon in Ordnung …«

»Sehe ich genauso«, stimmte das nette Mädchen zu und zupfte an der Schwarzhaarigen. »Komm, gehen wir einfach.«

Aber Miranda schüttelte sie ab. Dasselbe Funkeln, das auch Alrik in den Augen gehabt hatte, flackerte noch strahlender. »Nö. Was geschehen ist, ist geschehen. Sie verdient eine Strafe.« Mit dem Telefon am Ohr kam sie näher, und als derjenige, den sie anrief, ranging, lächelte sie. »Harold, Baby? Ja, ich bin’s. Hör mal, du musst herkommen. Eine Tussi hat gerade versucht, uns zu bestehlen.« Ihr Lächeln wandelte sich von bösartig zu geradezu tödlich. »Ja, genau das habe ich gesagt. Ich wusste doch, dass du es verstehst.« Sie nickte. »Ja. Ich habe ihr gesagt, dass du kommst, um dich mit ihr zu ›unterhalten‹. Sorg dafür, dass sie es nicht noch mal macht.«

Sie lachte über etwas, das er sagte, und warf das Haar über die Schulter. »Okay, Baby. Bis in fünf Minuten.« Sie legte auf, streckte mir einen Finger ins Gesicht. »Und jetzt warten wir. Mach dich auf etwas gefasst, Schlampe. Dir stehen eine ganze Menge Schmerzen bevor.«

Kapitel 3

Elder

Das Meer hatte eine Macht, die das Wirrwarr in meinem Verstand besser fortspülen konnte als alles andere. Das war einer der Gründe, warum ich das Meer zu meinem Zuhause gemacht hatte.

Normalerweise wich das Chaos des Festlands im selben Moment von meinen Schultern, in dem ich an Bord ging. Normalerweise konnte ich etwas leichter atmen, mich ein bisschen besser konzentrieren und so tun, als wäre ich normal, nachdem ich gegen meine süchtigen Neigungen gekämpft hatte.

Normalerweise war dabei das Schlüsselwort.

Es war nicht gelegentlich oder selten; es war normalerweise, das meinte: für gewöhnlich, also immer, zuverlässig.

Die verdammte Pimlico hatte das geändert.

Gestern war einer der schwersten Tage meines Lebens gewesen und das sollte was heißen nach dem Mist, den ich schon verbockt hatte.

Selix war im Hotel angekommen. Ich hatte meinen Joint gehabt. Und ich war so lange auf und ab gegangen, um zu entscheiden, was ich tun sollte, bis mein Herz raste, als wäre ich kilometerweit gejoggt.

Bleiben oder gehen?

Akzeptieren oder ablehnen?

Verfolgen oder in See stechen?

Sie war aus der dummen Absicht heraus, mir zu helfen, gegangen.

Was aber, wenn ich gar keine Hilfe wollte?

Was, wenn ich mich verdammt noch mal wie ein Mann verhielt und mir selbst half, anstatt es ihr aufzubürden, sich in eine Welt zu begeben, in der sie nichts und niemanden hatte?

Warum musste ich akzeptieren, dass sie mir ihre Liebe geschenkt hatte, nur um zusammen mit ihr durch die Tür zu verschwinden?

Selix drängte mich in keine der beiden Richtungen. Er saß stundenlang da, blätterte durch ein Hotelmagazin, während ich das Gras in meinem System dazu zwang, mir dabei zu helfen, eine bessere Entscheidung zu treffen.

Und die Entscheidung, die ich traf, war … Ich konnte sie das nicht tun lassen.

Ich konnte nicht zulassen, dass sie sich meinetwegen in Gefahr begab. Das war nicht richtig. Es war nicht gerecht. Ich war nicht der Einzige mit einem verwirrten Verstand. Andere litten unter demselben wie ich, und sie führten ein normales Leben. Sie waren keine beschissenen Feiglinge, misstrauten Ärzten und sperrten sich dagegen, neue Dinge auszuprobieren.

Ich wäre mehr wie sie. Ich würde mein Leben auf die Reihe bekommen. Ich würde Pimlico finden, sie nach England bringen, ohne sie anzufassen. Und sobald wir ankamen, hätte ich mich genug beruhigt, um in ihrer Nähe zu sein, ohne sie ficken zu müssen. Dann, nachdem ich sie wieder in meinem Leben hatte und wusste, sie war in Sicherheit, würde ich zum Arzt gehen und eine Behandlung ausarbeiten oder nach einer Pille suchen, die mir helfen konnte.

Ich würde die Kontrolle über meinen Verstand übernehmen, damit ich mir alles verdiente, was mir Pim so rein und selbstlos gab.

Das war ein Plan, mit dem ich leben konnte.

Also verließ ich mit Selix im Schlepptau das Hotel und patrouillierte stundenlang durch die Straßen, Seitengassen und Hauptstraßen, Läden und Restaurants.

Meine Augen hielten nach dem Aufblitzen von schokoladenbraunem Haar oder sinnlichen Gliedmaßen Ausschau.

Aber ich konnte sie nicht finden.

Nirgends.

Das war egal.

Sie konnte nicht weit sein. Sie musste in Monte Carlo sein. Und als sich die Sonne über unserem ersten getrennten Tag senkte, hatte ich mich der Aufgabe verschworen, sie aufzuspüren – ich wusste, ich würde sie finden, weil ich nicht vorher aufhören würde.

Aber dann klingelte mein Telefon.

Und der Anruf, vor dem ich mich immer gefürchtet hatte, kam endlich.

Die Chinmoku hatten herausgefunden, wo meine Mutter mit ihrem Bruder lebte. Sie waren ihr von meinem Haus auf dem Hügel gefolgt und in der vergangenen Nacht ins Zuhause ihres Bruders eingedrungen. Sie hatten es geschafft, einen Cousin zweiten Grades zu töten, dem ich nie begegnet war, bevor die Sicherheitsmannschaft, die ich mit der Bewachung meiner entfremdeten Familie beauftragt hatte, eingeschritten war und verhinderte, dass noch mehr hingerichtet wurden.

Noch ein Verwandter tot, durch meine Schuld.

Aber zumindest hatten meine Männer die beiden Chinmoku getötet, die den Angriff durchgeführt hatten.

Nur zwei.

Das war eine verfickte Beleidigung vom Anführer der Gruppe, für die ich mal gekämpft hatte. Dachten sie, zwei würden ausreichen, um meine ganze Familie auszulöschen? Sie waren Unzählige und ich war allein. Aber das war egal, ich würde meine Hände so lange in ihr Blut tauchen, bis auch der Letzte von ihnen tot war.

Sie hatten den ersten Zug in diesem längst überfälligen Krieg gemacht.

Jetzt war ich dran.

Meine Männer hatten die Order, jeden fortzuschaffen, sollten die Chinmoku jemals herausfinden, wo sich meine Mutter versteckte. Sie hatten es versucht, mit Argumenten und Drohungen, aber meine Mutter weigerte sich.

Meine Männer hatten ihr Leben gerettet und das Leben meiner Cousins und von jedem, der mit mir verwandt war. Aber in ihren Augen waren meine Männer der Niedergang ihres Lebens.

Ihr war egal, dass sie jetzt tot wäre, würde ich nicht über sie wachen.

Für sie zählte nur, dass mein Vater und mein Bruder tot waren. Und diese Schuld konnte niemals vergeben werden.

Der Sicherheitstrupp hatte sich gemeldet, um darüber zu reden, ob es sinnvoll wäre, meine Familie zu betäuben, um sie dann wegzuschaffen.

Ich wollte schon zustimmen, als ich eine bevölkerte Straße entlangsah, Ladenbesitzer, Kinder und glückliche Männer mit liebenden Frauen beobachtete, und ich konnte es nicht tun.

So wie Pimlico hatten sie ihren freien Willen.

Wer zur Hölle war ich, etwas ohne ihre Zustimmung zu unternehmen?

Also hatte ich aufgelegt und die schwerste Entscheidung meines Lebens getroffen: zu meiner Familie zurückzugehen und mich meinen Taten zu stellen. Endlich mit ihnen zu reden und um Vergebung zu bitten, damit ich sie am Leben halten konnte, bis ich getan hatte, was getan werden musste.

Pimlico gehörte nicht zu meiner Familie, egal wie sehr mein Herz dem widersprach.

Ich musste sofort eine Entscheidung treffen, und es zerriss mich.

Pim würde ohne mich überleben.

Aber meine Familie würde meinetwegen sterben.

Ich hatte nie eine Chance.

Also war ich um zwei Uhr morgens in der Hoffnung an Bord der Phantom gegangen, die zuverlässige Magie zu finden, durch die sich Probleme halbierten, Sorgen leiser wurden, aber dieses Mal … nichts.

Das Schaukeln der Gezeiten beruhigte mich nicht, der Salzgeruch lullte mich nicht ein, und der Horizont mit seinem offenen Himmel verspottete mich, weil es so etwas wie Freiheit nicht gab.

Das war ein sadistischer Scherz; der reinste Selbstbetrug, mir vorzumachen, ich hätte die Freiheit, eine Frau zu lieben, und könnte gleichzeitig weiter in einer Welt leben, in der meine vergangenen Verbrechen noch nicht wiedergutgemacht waren.

Erst musste ich die Dinge geraderücken, bevor ich irgendetwas anderes verdiente.

Als der Motor auf Touren kam und mein Zuhause durch den Hafen schnitt und hinaus aufs offene Meer steuerte, versuchte ich so gut ich konnte den lähmenden Schmerz darüber zu ignorieren, Pim zurückzulassen.

Meine Familie musste an erster Stelle stehen. Ich schuldete ihnen zu viel, um das vergessen zu können. Und das, obwohl ich nur die Frau finden wollte, die mein Herz gestohlen hatte, um vor ihr auf die Knie zu fallen.

Um ihr zu sagen, dass wir möglicherweise nie eine normale Beziehung haben würden, ich sie aber brauchte. Ich wollte selbstsüchtig sein und sie behalten, auch wenn ich wusste, sie gehörte mir nicht.

Ohne sie fühlten sich meine Arme leer und mein Herz nutzlos an, meine Ehre war nichts weiter als Dreck.

Das war gestern.

Dieser neue Tag war genauso schmerzhaft.

»Guten Morgen, Sir.« Als ich die Brücke betrat, lächelte Jolfer, ohne zu wissen, welche Qual ich mit mir herumschleppte.

Ich nickte, erwiderte aber nichts.

Ich war nur aus einem Grund hier. Um zu überprüfen, ob er den Kurs Richtung England nach Amerika geändert hatte.

Mit einem Blick auf die Instrumente und die große nautische Karte, die mit Magneten in der Mitte des Tisches festgemacht war, holte ich tief Luft, versuchte die lähmende Schuld abzuschütteln, dass ich Pim zurücklassen würde.

Jolfer strich über die altmodische Seekarte, die er moderner Technik vorzog. Er hatte sich nicht zu Computerbildschirmen und von Technologie berechneten Kursen weiterentwickelt. Er bevorzugte seinen Sextanten, Strömungen und andere Tricks der Seefahrt, um von A nach B zu kommen.

Wenn ich ehrlich war, bevorzugte ich seine Methode auch. Es ehrte die Vergangenheit der Menschheit auf dem Meer. Abgesehen davon, sollte die Technik der Phantom jemals ausfallen oder wir in einem Rettungsboot sitzen, ohne Siri, die uns sagte, in welche Richtung wir sollten, konnte er zu den Sternen sehen und den Weg nach Hause finden.

So wie ich.

Bevor ich Pimlico begegnet war, hatte ich die meiste Zeit auf der Brücke verbracht. Wenn ich nicht an Deck auf meinem Cello spielte oder im Meer schwamm, war die Brücke mein Lieblingsort an Bord.

Jetzt hasste ich alles und jeden, als mich jede rollende Welle und jedes Schnurren des Motors weiter von ihr wegbrachten.

»Alles bereit?« Ich schluckte meine Abscheu runter.

Sie war gegangen, um mich zu schützen.

Ich ging, um meine Familie zu schützen.

Beide taten wir Dinge für andere, während ich doch nichts lieber wollte, als bei ihr zu sein.

Gottverdammt, was mache ich hier?

Ich konnte sie nicht zurücklassen. Ich konnte nicht so verdammt grausam sein.

Du hast keine andere Wahl.

Du musst fahren.

Jolfer grinste. »Der neue Kurs ist berechnet. Da wir weit genug von Monaco und den seichten Gewässern entfernt sind, wollte ich jetzt Gas geben.«

Ich räusperte mich, versuchte den Klumpen in meiner Kehle loszuwerden. »Gut.«

Jolfer wandte sich an seinen Stellvertreter und sagte: »Fahren wir ab, Martin.«

»Roger, Cap.« Martin drückte auf einen Knopf, gab über das Interkom Befehle an die Besatzung achtern weiter und drehte einen massigen Schlüssel.

Das Surren des Motors wurde lauter, als die riesigen Schiffsschrauben das Wasser nicht mehr gemächlich zerteilten, sondern es stattdessen verschlangen.

Von Scham gezeichnet verließ ich die Brücke und schaffte es kaum bis an die Reling, bevor ich die Fäuste ballte und den Himmel verfluchte.

Dort in der Ferne lag Monaco und wurde mit jeder Sekunde kleiner.

Bald würden mich keine Berge mehr unterdrücken, keine Autoabgase mehr ersticken, keine Menschenmassen mehr um mich herum sein.

Bald würde Monaco nichts weiter sein als eine schlechte Erinnerung.

Pimlico würde ihr Leben ohne mich fortsetzen.

Ich würde meines ohne sie fortsetzen.

Unsere Liebe war vorbei, bevor sie überhaupt begonnen hatte.

Kapitel 4

Pimlico

»Du bist also die Diebin?«

Nicht hinsehen.

Nicht hinsehen.

Nicht hinsehen.

Ich versuchte meinen verzweifelten Befehlen zu gehorchen, aber meine Augen hatten andere Pläne. Weg vom schmutzigen Beton wanderte mein Blick über babyblaue Schuhe und eine marineblaue Hose höher zu einem cremefarbenen Karohemd mit dem Polopferdlogo von Ralph Lauren auf der Brusttasche.

Dort endete mein Blick.

Ich wollte den hübschen, weißen, reichen Jungen mit dem sandblonden Haar und dem dazu passenden Kinnbart nicht sehen.

Ich wollte nicht noch jemanden in meinem Kopf, der mir wehtat und mich in meinen Albträumen heimsuchte, nachdem das hier vorbei war.

Aber ich konnte mich nicht davon abhalten, ihn zu kategorisieren, so wie ich schon vorher viele andere kategorisiert hatte.

Mir fiel seine lässige Haltung auf – entspannt und darauf erpicht anzufangen.

Ich bemerkte seinen höhnischen Blick – hochmütig und selbstbewusst.

Ich beurteilte seine gepflegte Erscheinung – unendlich viel Geld und Ego.

Es schien, als hätte Geld die Macht, bestimmte Leute zu skrupellosen Personen zu verderben.

Er summte vor Langeweile und Boshaftigkeit. Er grinste selbstgerecht und abfällig. Er war eine jüngere Ausführung von Alrik.

Ein Schluchzen schlug seine Fänge in meine Kehle, ließ mich würgen. Ich senkte den Blick wieder, ließ zu, dass braunes, strähniges Haar mich abschirmte, während ich weiter auf dem schmerzenden Dreck kniete.

»Willst deine Schuld wohl nicht zugeben, hm?« Er kicherte, ließ den Blick über die drei Frauen um ihn herum schweifen. Seine schwarzhaarige Freundin Miranda feixte. »Sie hat gebettelt, wir sollen sie gehen lassen, hat aber seitdem kein Wort mehr gesagt.«

Das stille Mädchen stand mit zusammengepressten Lippen und vor der Brust verschränkten Armen etwas abseits, als könnte es so abstreiten, was hier vor sich ging. Sie trug ihr mausbraunes Haar natürlich, während das ihrer Freundinnen nur so vor Pflegeprodukten strotzte. Ihr Make-up beschränkte sich auf Lipgloss und Mascara, kein Puder und Rouge wie bei ihren Freundinnen. Und ihre Augen … sie waren freundlich.

Und schrecklich entschuldigend.

Als Harold einen Schritt auf mich zukam, riss ich den Blick von ihr los. Mein Herz fing an zu surren, während es gleichzeitig kreischend zum Stillstand kam. Die schwierige Frage, ob dieser mächtige Muskel jetzt besser auf Überschall gehen oder sich tot stellen sollte, ließ mich meine Brust reiben.

»Bereit für deine Lektion?« Er neigte den Kopf.

Das nette Mädchen machte einen Satz nach vorn. »Hör mal, das ist jetzt weit genug gegangen. Wir halten sie schon über eine halbe Stunde in dieser Gasse fest. Sie hat sich die ganze Zeit entschuldigt. Ich glaube wirklich, das war ihr erstes Vergehen und dass sie es nicht noch mal machen wird.«

Die freundliche Verteidigung ließ meinen Blick wieder zu dem Mädchen zucken, das meine Schlacht kämpfte, obwohl das alles meine Schuld war. Sie lächelte mich nervös an, fand sich in ihren neu gewonnenen Kreuzzug ein. Sie ging auf ihre Freundin zu. »Lass sie gehen, Miranda. Wir haben Besseres zu tun als …«

»Besseres als dieser Diebin klarzumachen, dass man sich nicht nimmt, was einem nicht gehört?«, fauchte Miranda. »Ich lasse mich nicht übertölpeln, Simone. Niemand nimmt sich, was mir gehört.« Sie trat neben ihren Freund, streichelte seinen Arm, verschränkte ihre Finger mit seinen. »Stimmt doch, Baby?«

Ihr Freund, Alriks jüngerer Doppelgänger, nickte wichtigtuerisch. »Ganz genau. Nur weil wir für so was wie sie nach leichter, reicher Beute aussehen, bedeutet das nicht, dass wir uns gefallen lassen müssen, bestohlen zu werden.«

»Aber wir wurden nicht bestohlen …« Simone seufzte ungeduldig. »Wir haben unser Zeug zurück, abgesehen von Callie, die ihre Karten gesperrt hat, während wir auf dich gewartet haben. Bitte, Harold, lass uns einfach gehen. Monique? Callie?« Sie sah ihre anderen Freundinnen an, die das Ende der Auseinandersetzung abwarteten.

Erstaunlicherweise erwiderte Callie Simones Lächeln. »Mir soll’s recht sein, wenn wir gehen. Wie du gesagt hast, ich habe mein Geld wieder und meine Karten sind gesperrt. Die Bank ist schon dabei, mir neue zu schicken. Für mich ist es okay, wenn wir es dabei belassen.«

»Klasse!« Simone klatschte in die Hände, ging rückwärts in Richtung des Sonnenscheins der geschäftigen Straße, wo sich die Reichen und der Mittelstand bei einem erholsamen Urlaub vermischten. »Gehen wir doch vor der Versace-Party heute Abend noch etwas schwimmen.«

»Nicht so schnell.« Miranda hob einen Finger. »Ich könnte vielleicht darüber nachdenken, das Ganze zu vergessen …«

»Wirst du? Klasse.« Simone strahlte. »Das ist so nett von dir, Miranda.«

»Wenn«, fuhr Miranda fort, »mir diese kleine Diebin in die Augen sieht und sich entschuldigt.«

Ich zuckte zusammen, als sie ihre Wut in meine Richtung lenkte. »Steh auf! Komm her und sag mir, dass es dir leidtut und dass du es nie wieder machst. Dann denke ich vielleicht darüber nach, Harold zu sagen, er soll dir doch keine Lektion erteilen.«

Ich regte mich nicht.

Ich nahm ihr Angebot nicht an, weil ich eine Expertin bei diesen Spielchen war.

Ihre Freundinnen wussten es nicht.

Aber ich schon.

Alrik hatte zu oft mit mir gespielt, als dass ich den Klang einer geheuchelten Einladung vergessen könnte. Er hatte mir Kleidung versprochen – sie mir vor die Nase gehalten, darauf gewartet, dass ich darauf vertraute, dieses Mal, dieses Mal würde er sie mir endlich überlassen.

Nur um mich zu verprügeln, wenn ich es tat.

Er hatte mir frisches Essen angeboten, ließ mich nach zwei Tagen Hungern vom Duft sabbern, lockte mich mit der Hoffnung, dass er dieses Mal, dieses eine Mal vielleicht Gnade zeigen würde.

Nur um es in die Toilette zu werfen, sobald ich danach griff.

In Mirandas Blick lag dieselbe katzenartige Gemeinheit.

Die, die sagte … Komm her … ich will dich etwas quälen, kleine Maus.

Der Spitzname riss meine Gedanken zu Elder, wodurch ich noch mehr litt.