Drück mich mal - Cem Ekmekcioglu - E-Book

Drück mich mal E-Book

Cem Ekmekcioglu

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Beschreibung

Dreimal täglich drücken! Wir alle brauchen Halt im Leben. Leider ist in großen Teilen unserer schnellen und kontaktlosen Internetgesellschaft das Wissen darum verloren gegangen, wie sehr dieser Halt mit dem Bedürfnis zusammenhängt, berührt zu werden. Trost, Beruhigung, Liebe, Lob: Nur wer angefasst wird, kann auch gehalten werden. Cem Ekmekcioglu sagt daher: Drück mich mal! Online geht alles längst und mindestens genauso gut wie offline. Meint man. Was unserer Internetgesellschaft allerdings fehlt ist: Körperkontakt. Die Folgen dieses chronischen Berührungsmangels gehen tief unter die Haut und verändern uns, unsere Psyche leidet darunter ebenso wie unsere Gesundheit. Der Arzt Cem Ekmekcioglu beschreibt in seinem Buch, wie und in welchen Stufen unsere Seele und unser Körper unter der neuen berührungslosen Lebensroutine erodieren, und umgekehrt: wie uns Körperkontakt und Zärtlichkeit glücklich machen, heilen und letztlich die ganze Gesellschaft positiv beeinflussen.

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Seitenzahl: 220

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CEM EKMEKCIOGLU

DRÜCKMICH MAL

Warum Berührungen so wichtig für uns sind

Unter Mitarbeit von Anita Ericson

eBook Edition

Dieses Werk basiert auf dem seit 2013 vergriffenen Buch Der unberührte Mensch (Edition a, Wien). Wir danken dem Verleger der Edition a für die Übertragung der Rechte an mich und Anita Ericson. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde auf die Anführung von Quellenverweisen im laufenden Text verzichtet. Eine vollständige Auflistung aller zitierten Werke finden Sie am Ende des Buches.

Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-567-0© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2015Satz: Publikations Atelier, DreieichDruck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, LeckPrinted in Germany

Inhalt

Vorwort

1 Berührung ist Leben

Halt finden

Berührung ist die Grundlage unserer Existenz

Die Hierarchie der Sinne

Drei feine Unterschiede

2 Die Macht der Berührung

Massage gegen Kummer

Berührung weckt Lebensenergie

Shiatsu als Burn-out-Prophylaxe

Kosmische Schwingungsmuster

Reich mir deine Hand

Berührung beruhigt

Unter der Haut

Berührung kommt an

Zum Leben gestreichelt

Durch Berührungen Traumata benennen

Halten gibt Halt

Sag es mit Berührung

Begrüßung der besonderen Art

Hautsensoren nehmen, was sie bekommen

Der manipulative Touch

3 Wir werden zu wenig berührt

Sich berührend fallen lassen

Wunderdroge Oxytocin

Gewohnheit lässt uns abstumpfen

Rühr mich nicht an

Die ersten Stunden sind entscheidend

Mäuschen allein zuhause

Grenzen setzen

Berührungsängste

Männer brauchen viel Zärtlichkeit

Homo sapiens 2.0

Die Liebe in der Familie

Distanz und Nahkultur

Es war einmal

Limitierter Zutritt

Es geht immer um … Sex

4 Wie uns Berührungsmangel krank macht

Defizite im Gehirn

Sichtbare Berührungsarmut

Der Leidensdruck steigt

Die Mikado-Frau

Berührung als Schutzschild

Weg vom Schirm, rauf auf die Matte

Die Kuschelzelle

Komm mir nicht zu nahe

Einsame Cowboys

Zu stressig

Milchmädchenrechnung

5 Berührungen bekommen und genießen

Es war noch nie so einfach, angenehme Berührungen zu bekommen

Eine Umarmung for free

Begrüßungsrituale

Gib mir fünf

Die Magie der verliebten Berührung

Mehr Berührungsqualität in der Partnerschaft

Modewort Wellness

Massage gegen Schmerzen

Massagen für daheim

Ein Touch gegen sitzenbleiben

Liebe zum Lebensende

Arche Noah unterwegs

Black Beauty

Der Hund im Bett

Wie viel »drücken« ist genug?

Nicht immer ist es angenehm

Epilog

Literatur

Vorwort

Alle Menschen brauchen angenehme Berührungen. Ohne zärtlichen Körperkontakt, ohne regelmäßige Streicheleinheiten trocknen wir wie eine Pflanze aus und verkümmern mit der Zeit. Die Haut steht in enger Verbindung mit dem Gehirn, welches ständig Reize aus der Umwelt aufnimmt und verarbeitet. Wird das Gehirn zu wenig mit wohltuendem Input, etwa sanften Berührungen, »gefüttert«, entwickelt es Störungen. Die Psyche leidet eindeutig unter nicht erwünschter Einsamkeit und damit verbunden auch Berührungslosigkeit.

Aber nicht nur die Psyche, sondern auch der Körper wird in Mitleidenschaft gezogen, wenn man über längere Zeit sozial isoliert lebt und sich einsam fühlt. Stress, hoher Blutdruck oder ein schwächelndes Immunsystem sind beispielsweise Folgen davon. Andererseits sind zärtliche Berührungen in der Lage, Stress abzuwehren und den Blutdruck zu senken, wie wissenschaftliche Untersuchungen eindrucksvoll zeigen konnten. Angenehmer Körperkontakt ist lebenswichtig für den Säugling und übt einen positiven Einfluss auf verschiedenste Körperfunktionen aus. Durch Ausschüttung des »Kuschelhormons« Oxytocins schafft er beispielsweise Wohlbefinden und Zufriedenheit bei Jung und Alt. Berührungen sind außerdem ein wichtiges Kommunikationsmittel, das die Menschen einander näher bringt und gegenseitiges Vertrauen erzeugt. Und Nähe ist das, was vielen fehlt.

Wir leben ohne Übertreibung in einem berührungsfeindlichen Umfeld, das von sozialer Isolation, Einsamkeit und Mangel an zwischenmenschlichem Vertrauen geprägt ist. Hinzu kommt noch die rundum technisierte »schöne neue Welt«, die uns vollkommen im Griff hat. Die neuen Kommunikationsgeräte und die Medienflut haben sich in einer beunruhigend kurzen Zeit still und heimlich zwischen die Menschen gezwängt und ihren Zwischenraum vergrößert. Unsere Hände und Finger mit den hochempfindlichen Tastsensoren berühren nicht mehr andere Hände, nicht eine andere warme Haut, sondern verlockende Touchscreens aus lebloser Masse. All das fordert seinen Tribut: die permanente Berührungslosigkeit.

In diesem Buch möchte ich Ihnen die immens wichtige Bedeutung von angenehmen Berührungen für die seelische und körperliche Gesundheit des Menschen näher bringen und Ihnen ein taktiles Bewusstsein schaffen, so dass Sie mehr darauf achten zu berühren, aber auch berührt zu werden. Ich wünsche Ihnen auf jeden Fall viel Freude und Inspiration beim Lesen dieses Buches. Mögen auch Sie davon profitieren.

Wien, im März 2015

1 Berührung ist Leben

Wie immer das sein mag, der Beweis ergibt unmissverständlich, daß kein Organismus allzu lange ohne äußere kutane Stimulation leben kann. Ashley Montagu, Körperkontakt

Wir alle brauchen Halt im Leben. Leider ist in großen Teilen unserer Gesellschaft das Wissen darum verloren gegangen, wie sehr dieser Halt mit dem Bedürfnis zusammenhängt, berührt zu werden. Nur wer angefasst wird, kann auch gehalten werden. Wir alle, die wir in den westlichen Industriestaaten durch unser Leben hetzen, sind Teil einer Gesellschaft, die an chronischem Berührungsmangel leidet. Viele Menschen, die als Singles leben, schütteln zwar Tag für Tag ihren Geschäftspartnern die Hand – mehr Berührung aber erfahren sie nicht. Auch Menschen, die in festen Beziehungen sind, leiden häufig an Berührungsmangel. In vielen Partnerschaften wird die Körperlichkeit auf den Bereich der Sexualität reduziert, und deren Intensität nimmt mit den Jahren oft auch noch deutlich ab. So vermissen beide Partner, ob sie es nun bewusst wahrnehmen oder nicht, das notwendige Maß an Zuneigung.

Früher galt Berührungslosigkeit hauptsächlich als ein Problem älterer Menschen, die oft sehr darunter leiden, nur noch von Ärzten und Pflegern versorgt, aber niemals in den Arm genommen zu werden, niemals die körperliche Nähe eines anderen Menschen zu spüren. Heute aber betrifft der Mangel an Berührung Menschen aller Generationen und aller sozialen Schichten. Unsere vergeistigte, kopflastige Gesellschaft hat das Gefühl für ihre Körperlichkeit verloren. Und sie bemerkt nicht, wie sie das langsam krank macht.

Wir alle brauchen dringend Halt. In der frühen Phase unseres Lebens finden wir ihn an der Brust unserer Mutter, später sind wir auf andere Menschen angewiesen. Dieser Halt gibt uns Geborgenheit im Unbekannten, er verankert uns in der Realität. Laufen wir im Zuge unseres Lebens Gefahr, die Bodenhaftung zu verlieren, geben Berührungen uns wieder Halt in der Unendlichkeit des Seins und damit das Gefühl der Geborgenheit, die wir brauchen wie die Luft zum Atmen, denn sie ist die Basis für unser seelisches Wohlbefinden.

Es werden verschiedene psychosoziale Grundbedürfnisse für die seelische Gesundheit für wichtig gehalten.* Diese könnten auch als Pyramide, anlehnend an die bekannte Bedürfnishierarchie des US-amerikanischen Psychologen Abraham Maslow, dargestellt werden.

Dabei stehen an der Basis der Pyramide die körperliche Nähe und Geborgenheit, die wir ab der Geburt erfahren. Aus dieser Geborgenheit und sicheren Bindung heraus kann sich unser Selbstwertgefühl ausbilden und können wir zu unserer Identität finden. Das wiederum ist eine wichtige Voraussetzung für Zufriedenheit, Lebenslust und Glück.

Es gibt keinen Menschen, der das Bedürfnis nach angenehmem Körperkontakt und Geborgenheit nicht hat. Das gilt für alle Lebensphasen, von der Geburt bis zum Tod.

Übrigens, wenn wir uns der Sprache bedienen, gibt es wahrscheinlich kein mächtigeres Wort dafür, eine Sache voll und ganz zu verstehen, als den Ausdruck »begreifen«. Überhaupt manifestiert sich die Bedeutung von Berührungen, der enge Zusammenhang zwischen anfassen oder angefasst werden und den dabei frei werdenden Emotionen, in unserer Sprache. Wenn uns etwas sehr nahe geht, sind wir »berührt«, »gerührt« oder die Sache »geht uns unter die Haut«. Wir sprechen davon, berührt zu sein, wenn wir Eindrücke empfangen, die Spuren in unserem Leben hinterlassen. Berührtsein gehört zu den gefühlvollsten Begriffen in der deutschen Sprache und ist ohne jegliche Zweideutigkeit positiv. Wenn wir berührt sind, empfangen wir Wärme nicht nur, sondern strahlen sie auch tief aus dem Herzen wieder aus.

Halt finden

Unsere allererste Erfahrung in der Welt ist das Ankommen. Die Art und Weise, wie das geschieht, prägt sich tief in unser Gedächtnis ein. Ist es ein angenehmes Hineingleiten, können wir aus dieser Geborgenheit ein Leben lang schöpfen, weil wir uns insgeheim immer sicher sind, dass jemand da ist, der uns auffängt. Angelika Lessiak hat als Hebamme schon viele hundert Kinder sanft entbunden. Sie schildert uns die Geburt ihres zweiten Kindes, ihrer Tochter Helene: »Ich saß am Geburtshocker und hatte starke Wehen. Doch dann ging alles ganz rasch, und schon lag sie vor uns. Sie hing noch an der Nabelschnur und wirkte irgendwie überrascht. Ihre Augen wanderten hin und her, als ob sie dächte, 〉Aha, da bin ich jetzt〈. Sie schien verwundert, als sie von mir zu ihrem Vater und wieder zu mir blickte. Als ich sie in meine Arme nahm, spürte ich deutlich, wie sie sich entspannte, und da wusste ich: Sie ist gelandet.«

Die winzige Helene hatte Halt gefunden, allerdings noch längst keine Ahnung, wer sie ist. Denn das Ich entwickelt sich erst im Laufe der frühen Kindheit und braucht dazu Berührungen. Erst durch Berührungen entwickeln wir eine Vorstellung von uns selbst, beginnen wir zu differenzieren zwischen dem Ich und allem anderen.

Das ist weit weniger abstrakt, als es sich auf den ersten Blick hier liest. Stellen wir uns vor, wir kennen unseren Körper noch nicht und sind damit auch nicht in der Lage, uns gezielt zu bewegen. Wir können unsere Beine, unseren Rumpf und unsere Arme sehen, und wir können unseren eigenen Geruch riechen. Doch was wir sehen oder riechen, sind Wahrnehmungen aus der Distanz, die nicht zwangsläufig mit uns zu tun haben. Wir betrachten unseren Arm, können allein vom Sehen her aber nicht beurteilen, ob er zu uns gehört. Erst im Berührtwerden können wir sicher sein, dass wir es sind, denn das ist etwas, was wir spüren. So entwickelt sich beim kleinen Kind nach und nach die Vorstellung vom eigenen Körper, da Berührungen immer und ausschließlich direkt an der Körperaußengrenze stattfinden. Das heißt, alles, was innerhalb dieser Grenze liegt, ist das Ich, alles andere quasi das Nicht-Ich. Stück für Stück legen Babys so das Körperschema fest, eine Art Landkarte von sich selbst, die sie brauchen, um koordiniert durchs Leben zu gehen, und die sie in ihrem Gehirn abspeichern.

Die Berührung hat aber auch eine umfassende seelische Komponente. »Die psychische Hülle entwickelt sich auf der Grundlage der körperlichen Hülle«, folgert der französische Psychoanalytiker Didier Anzieu. Er prägte den Begriff des Haut-Ich: »Unter Haut-Ich verstehe ich ein Bild, mit dessen Hilfe das Ich des Kindes während früher Entwicklungsphasen – ausgehend von seiner Erfahrung als Körperoberfläche – eine Vorstellung von sich selbst entwickelt als Ich, das die psychischen Inhalte enthält.« Frei übersetzt meint Anzieu, dass wir unseren Körper als einen Container sehen, der unsere Seele, unser Ich enthält.

Doch bis es so weit ist, dauert es einige Monate, in denen das Kind durch Berührungen die eigenen Grenzen kennenlernt und langsam eine Identität festlegt, den Container sozusagen füllt. Wir müssen bedenken, dass das Neugeborene keine Ahnung hat, wer oder was es eigentlich ist. Hält man ihm einen Spiegel vor Augen, hat es nicht den blassesten Schimmer, wer ihm da so verdutzt entgegenblickt. Erst mit der Zeit versteht es etwa, dass das Händchen, das da immer wieder vor seinen Augen auftaucht, sein eigenes ist und nicht das der Mama, als deren Teil sich das Kleine noch fühlt. Langsam beginnt die Trennung von Ich und Nicht-Ich, beginnt das Kind sich auch selbst zu entdecken.

Berührung ist die Grundlage unserer Existenz

Berühren ist eine menschliche Urerfahrung, die im Mutterleib beginnt. Bereits in der achten Schwangerschaftswoche kann der Fötus im Bauch der Mutter durch das Fruchtwasser, das seine Haut umspült, auf Berührungen reagieren. Dann fängt es irgendwann einmal an, gegen die Bauchdecke zu treten. Manchmal stärker, manchmal ganz sanft klopft es an, will kommunizieren, und wir als Eltern nehmen gerne die Einladung an. Auch ich habe über den Tastsinn erstmalig Kontakt mit meinen drei Sprösslingen aufgenommen. Ich legte meine Hand auf den Bauch meiner Frau, und die Kleinen stießen sanft bis manchmal stärker dagegen. Das waren unbeschreiblich schöne Gefühle, an die ich mich noch heute, nach doch einigen Jahren, die vergangen sind, immer wieder gern erinnere. Diese Art von »Erstkontakt« vergisst man nicht so leicht. Solche besonderen Augenblicke und die ersten Tage, Wochen und Monate nach der Geburt sollte man genießen, weil sie einfach nie mehr wiederkommen.

Im Gegensatz zu den anderen vier Sinnen, deren Funktion mit den Jahren abnimmt, bleibt der Tastsinn bis ins hohe Lebensalter ohne größere Einbußen erhalten. Er erlischt erst, wenn wir sterben.

Bis dahin erfüllt der Tastsinn lebenswichtige Funktionen. Ohne ihn könnten wir beispielsweise unsere Bewegungen nicht kontrollieren und den Boden unter unseren Füßen nicht spüren. Er hilft aber auch, uns seelisch gesund zu halten, und schützt uns – bis zu einem gewissen Grad – vor seelischen Krankheiten wie Depression oder Burn-out. Trotzdem messen wir ihm kaum Bedeutung bei und tragen damit selbst einen Teil der Schuld daran, dass dem Tastsinn ein viel zu geringer Stellenwert zukommt. Obwohl wir auf angenehme Berührungen angewiesen sind und sie uns extrem gut tun, strengen wir uns wenig an, sie zu bekommen. Abgesehen von sexueller Erregung, lassen wir unseren Hautsinn verkümmern.

Die anderen vier Sinne werden regelmäßig bedient. Wenn wir in der Früh die Augen aufschlagen, schalten wir den Sehsinn ein. Wir laben uns an der Morgensonne, die die Stadt in verheißungsvolles Licht taucht, und lassen uns von beschwingter Musik in den Tag geleiten. Der Kaffee duftet verführerisch aus der Küche, dazu verzehren wir eine Semmel mit hausgemachter Marmelade, die wir Biss für Biss genießen. Wir sehen, hören, riechen und schmecken den ganzen Tag. Stimmt etwas nicht mit einem dieser Sinne, unternehmen wir schleunigst etwas dagegen. Verschwimmen die Konturen in der Ferne, lassen wir uns eine Brille verschreiben. Nehmen wir den betörenden Rosenduft aus Nachbars Garten nicht mehr wahr, rennen wir in die Apotheke, um den Schnupfen zu bekämpfen, der auch noch unsere Geschmacksnerven lahmgelegt hat. Ist uns beim Duschen Wasser ins Ohr geraten, sind wir höchst irritiert und schütteln so lange den Kopf, bis es endlich »plopp« macht und der Gehörgang wieder frei ist.

Wir fühlen uns nur wohl, wenn wir diese vier Sinne stetig nähren. Zudem sind wir ständig von Reizen für diese vier Sinnesorgane umgeben, wir brauchen uns nur zu bedienen. Bei Berührungen ist das anders. Der Zusammenhang zwischen Berührung und Lebensglück wird in unserer Gesellschaft in den Hintergrund gedrängt. Wir wissen nicht genau, was geschieht, wenn unsere Haut keine oder zu wenig Berührungen erhält. Wenn wir lange Zeit nicht umarmt werden oder unsere Hand keine andere hält, wird uns das vielleicht nicht einmal richtig bewusst.

Berührungslosigkeit ist schwer zu erkennen, und auch die Verbindung zwischen Gesundheit und Berührung ist verhältnismäßig wenig erforscht. Eine der raren wissenschaftlichen Bücher zu dem Thema stammt aus dem Jahr 1971. Damals veröffentlichte der Anthropologe Ashley Montagu sein vor allem auf Tierexperimenten basierendes Standardwerk Körperkontakt, in dem er den Einfluss von Berührungsreizen auf unseren Körper und unsere Psyche wissenschaftlich belegt. Er kommt zu dem Schluss, dass Berührungen, die Geborgenheit und soziale Unterstützung vermitteln, lebenswichtig für die psychomotorische Entwicklung des Kindes sind – fast ebenso wichtig wie Nahrung oder Atemluft.

Kinder haben einen sehr natürlichen Zugang zu Berührungen. Sie fordern sie vehement ein, wenn sie ein Bedürfnis danach haben. Sie kommen kuscheln, legen sich zu den Eltern ins Ehebett oder springen ihnen mit einem Buch zum Vorlesen auf den Schoß. Gesunde Kinder sind frei von emotionalen Hemmschwellen, das lässt sich täglich auf jedem beliebigen Spielplatz beobachten. Kinder nützen jeglichen Körperkontakt für ihre persönliche Entwicklung. Mit zunehmendem Alter wird ihr Verhalten allerdings defensiver, allmählich entsteht eine Scheu vor anderen. Diese Scheu und das gleichzeitige Bedürfnis nach Berührung dokumentiert eine amerikanische Untersuchung aus den 1970er Jahren. Studenten verbrachten eine gewisse Zeit zuerst in einem dunklen und dann in einem hell erleuchteten Raum mit fremden Menschen. Die Dunkelheit bewirkte, dass mehr als 90 Prozent von ihnen Körperkontakt mit anderen hatten, und zwar nicht nur dann, wenn sie versehentlich aneinanderstießen. Im hellen Raum fand keinerlei Körperkontakt statt. Nur im Schutz der Dunkelheit konnten die Probanden sich einigermaßen der sozialen Zwangsjacken entledigen, die sie seit ihrer Kindheit allmählich übergestreift hatten.

Bei uns Erwachsenen sind die natürlichen Impulse, mit denen sich Kinder Berührungen holen, endgültig verkümmert. Zu den gesellschaftlichen Zwängen kommen Stolz und Schamgefühle, angestaute Frustrationen bilden scheinbar unüberwindbare Blockaden. All das verhindert, dass wir Lebensenergie in Form von Hautkontakt tanken. Dass wir über Berührungen die Einsamkeit, die uns manchmal überfällt, überwinden. Dass wir über Berührungen zu innerer Ruhe finden. Dass Berührungen unsere Ängste lindern, die in unserer zivilisierten Gesellschaft immer mehr zunehmen.

Die Hierarchie der Sinne

Zur Benachteiligung des Tastsinns trägt auch bei, dass Eindrücke des Sehens, Hörens, Riechens oder Schmeckens unsere Wahrnehmung der Welt viel stärker prägen als Berührungserlebnisse. Sogar unser Gehirn spielt uns einen Streich. Konfrontiert mit zwei Sinneseindrücken, die einander ausschließen, vertraut unser Kopf zuerst den anderen Sinnen, allen voran dem Sehen. Es ist ein Phänomen, das wir alle kennen: Wir sitzen im Zug und warten auf die Abfahrt. Sehen wir dem Zug am Nebengleis zu, der sich in Bewegung setzt und langsam den Bahnhof verlässt, haben wir das Gefühl, selbst zu fahren, obwohl wir weder ein Ruckeln, noch ein Rattern, noch die Kraft der Beschleunigung spüren können. Der Sehsinn hat das Gehirn davon überzeugt, dass wir unterwegs sind. Ähnliches passiert uns auch in modernen Kinos, wenn uns die ungewohnte 3D-Ansicht ins Geschehen zieht. Uns wird sogar schlecht, wenn der Hubschrauber auf der Leinwand allzu heftige Kurven fliegt. Obwohl wir fest im Sessel sitzen.

Matthew Botvinick von der Universität in Pittsburgh hat das untersucht. Er ließ Probanden an einem Tisch Platz nehmen. Sie legten ihren linken Arm darauf ab, konnten ihn aber nicht sehen, da er durch eine Abschirmung verdeckt wurde. Zu Gesicht bekamen sie lediglich eine Armattrappe aus Gummi, auf die sie sich konzentrieren sollten. Dann strich der Versuchsleiter mit zwei Malerpinseln gleichzeitig über die verdeckte Hand sowie die Attrappe. Nach zehn Minuten gaben die meisten Probanden an, sie hätten den Pinsel nicht auf ihrer eigenen, sondern auf der Gummihand gespürt, die ihnen dabei vorgekommen war, wie ein Teil des eigenen Körpers. Das tatsächlich gefühlte Pinseln wurde also uminterpretiert, als ob es von der sichtbaren Hand käme. Dieses auf den ersten Blick schräge Zusammenspiel der Sinne, ergibt aber durchaus einen Sinn. Wir können damit unser Körperschema jederzeit erweitern. Wir können den Gedanken vollständig verinnerlichen, dass ein Gegenstand zu uns gehört, und diesen dann beinahe genauso fühlen wie unsere eigene Hand. Der Tischler fühlt den Hammer ebenso als verlängerte Finger wie der Geigenvirtuose den Bogen und die Saiten. Halten wir ein vertrautes Werkzeug in der Hand, hebt das Gehirn die strikte Trennung zwischen Ich und Nicht-Ich für diesen Moment auf, etwa um die Treffsicherheit beim Hämmern zu erhöhen oder die Töne sauber erklingen zu lassen.

Einige wenige Menschen können sogar noch mehr. Sie können das Gefühl der Berührung einzig und allein durchs Zusehen entwickeln. Man nennt sie Synästhetiker. Das Wort Synästhesie setzt sich aus dem Begriff »syn« für »zusammen« und »aisthesis« für »Wahrnehmung, Empfindung« zusammen. Es ist eine Form der Doppelempfindung, in der ein Sinnesreiz neben der primären Empfindung auch einen anderen Sinnesreiz aktiviert und damit eine sekundäre Wahrnehmung hervorruft. Theoretisch sind alle Kombinationen zwischen den fünf klassischen Sinnen möglich. Bekannte Synästhetiker der Vergangenheit waren etwa die Komponisten Franz Liszt und Jean Sibelius oder der Maler Wassily Kandinsky. Der legendäre Jazztrompeter Duke Ellington war wahrscheinlich ebenfalls Synästhetiker. Er soll einmal gesagt haben: »Ich hörte eine Note von einem Bandmitglied, und es war eine Farbe. Ich hörte die gleiche Note von jemand anders, und es war eine andere Farbe.«

Geschätzte 4 Prozent der Menschheit sind Synästhetiker, besonders häufig betrifft es Künstler. Eine Gruppe davon, die taktilen Synästhetiker, spüren es selbst auf der Haut, wenn sie anderen zusehen, wie sie berührt werden. Wenn ein solcher Synästhetiker zum Beispiel einen James-Bond-Film betrachtet, in dem eine Spinne über die Brust von 007 krabbelt, nimmt er diesen taktilen Reiz auch an seinem Körper wahr. Das geht so weit, dass seine eigene Wahrnehmungsfähigkeit leidet. Wird ein taktiler Synästhetiker am Unterarm angefasst und beobachtet dabei gleichzeitig, wie jemand anderem auf den Oberarm gegriffen wird, kann er nicht mehr sagen, wo er tatsächlich berührt wird. Die synästhetische Empfindung wird wahrscheinlich vererbt und bleibt ein Leben lang bestehen.

Hier spielen Spiegelneurone eine wichtige Rolle. Sie sind für das Imitieren und Erleben fremder Aktionen und Gefühle verantwortlich, indem sie das Verhalten anderer im eigenen Kopf sozusagen »spiegeln«. Alle Menschen besitzen solche Neurone, sonst wären sie nicht zur Empathie fähig. Empathie bedeutet, sich in die Lage eines anderen Menschen versetzen zu können, nachempfinden zu können, was er fühlt. Das läuft bei den meisten Menschen über die Emotionszentren im Gehirn. Bei taktilen Synästhetikern jedoch wird zusätzlich die somatosensorische Hirnrinde angeregt, wo Berührungen reell wahrgenommen werden. Bei Synästhetikern setzt das Gehirn offensichtlich die Spiegelsignale mit Reizen tatsächlicher Berührungen gleich, so dass es zu »echter« Wahrnehmung kommt.

Wer nicht zu den taktilen Synästhetikern zählt, kann sich damit trösten, dass es wahrscheinlich rein durch die Kraft der Gedanken, durch intensive Konzentration oder Meditation möglich ist, angenehme Berührungen so stark zu imaginieren, dass man sie tatsächlich spüren kann.

Drei feine Unterschiede

Von unseren fünf Sinnen ist der Berührungssinn der unmittelbarste, es ist der Sinn der Nähe. Wir können vom Tal aus einen schneebedeckten Gipfel sehen, wir können die frisch gemähten Wiesen am Berghang riechen, aber wir können den Baum nicht anfassen, der weiter als eine Armlänge von uns entfernt steht. Dafür können wir uns immer sicher sein, dass das, was wir angreifen, real ist, wohingegen uns unser Sehsinn auch täuschen kann, etwa bei einer Fata Morgana.

Von unseren fünf Sinnen ist der Tastsinn außerdem der einzige, der ausnahmslos in beide Richtungen funktioniert. Wir können gesehen werden, ohne zu sehen und gerochen werden, ohne zu riechen, doch wir können niemals berührt werden, ohne selbst zu spüren. Wir nehmen unsere Umwelt durch den Tastsinn wahr und sie uns. Über den Körperkontakt mit einem anderen Menschen spüren wir uns und den, der uns berührt. Die Berührung löst eine äußere und eine innere Wahrnehmung aus, wir sprechen daher auch von taktilen und haptischen Erfahrungen. Spüren wir die Berührung eines anderen Menschen oder auch eines Luftzugs, empfangen wir taktile Reize auf unserem Körper. Ertasten wir hingegen etwas mit den Händen, stellen fest, wie sich etwas anfühlt, machen wir haptische Erfahrungen. Beide Sinneseindrücke sind aneinander gekoppelt. In dem Augenblick, in dem eine Berührung stattfindet, nehmen wir das Selbst und das Andere mit all den dazugehörenden Emotionen wahr. Als Kinder haben wir das gebraucht, um eine Vorstellung von uns selbst zu entwickeln. Als Erwachsene brauchen wir es, um diese Vorstellung zu bewahren.

Zudem ist der Tastsinn immer präsent. Er lässt sich nicht wie die anderen vier Sinne ausschalten. Wir fühlen immer.

Der Tastsinn unterscheidet sich also grundlegend von den anderen Sinnen. Überraschenderweise hat die Wissenschaft ihm bis vor ein paar Jahren kaum Aufmerksamkeit geschenkt.

Ich habe viele Jahre lang an der Akademie für Physiotherapie im Wiener Wilhelminenspital unterrichtet. Einmal pro Woche dozierte ich dort vor etwa dreißig Studentinnen und Studenten über die Physiologie des Menschen. Die Physiologie behandelt die Funktionen der Organsysteme, ist ein recht umfangreiches Fach und stellt die Grundlage für die Pharmakologie und alle klinischen Fächer der Medizin dar. Da mir nur eine begrenzte Anzahl an Vorlesungsstunden zur Verfügung stand, musste ich Prioritäten setzen. Zudem sollte sich ein Universitätslehrer immer die Relevanz des Stoffs für das spätere Berufsleben der Studierenden überlegen. Für einen Medizinstudenten ist es zum Beispiel viel wichtiger, etwas über den Wirkungsmechanismus von Aspirin in der Vorbeugung von Thrombosen zu erfahren, als stundenlang mit einem sehr seltenen Syndrom gequält zu werden, das ihm im Berufsleben mit der gleichen Wahrscheinlichkeit begegnen wird wie einem Lottospieler ein Sechser.

Angehende Physiotherapeuten hingegen müssen weniger über die Funktionen des Blutes oder über den Säure-Basen-Haushalt wissen als über die Muskulatur und die Sensibilität. Der Job von Physiotherapeuten besteht darin, zu bewegen und zu berühren. Darin brauchen sie umfangreiche Kenntnisse. Vor meiner ersten Vorlesung beschloss ich deshalb, viel Zeit für diese Themenbereiche zu reservieren. Ich bereitete meine Folien dementsprechend vor und exzerpierte die gängigsten Lehrbücher der Physiologie. Beim Thema Muskulatur konnte ich dabei aus dem Vollen schöpfen. Über den Tastsinn hingegen fand ich nicht einmal ein Zehntel jenes Stoffes, der zum Beispiel dem Sehsinn gewidmet war. Ein Beleg dafür, wie stiefmütterlich wir den Tastsinn auch in der Wissenschaft behandeln.

Obwohl der Forscher J. Lionel bereits 1921 darauf hingewiesen hat, dass die wesentlichste Sinnesempfindung unseres Körpers die Berührung ist, vernachlässigen wir die Hautsensibilität sträflich – und das nicht erst seit Beginn des technischen Zeitalters. Die Wurzeln für unseren Mangel an Interesse reichen bis in die Antike zurück. In der klassischen Philosophie hatte die Erforschung des Sehens von Beginn an absoluten Vorrang gegenüber der der anderen Sinne. Platon stellte in seinem Höhlengleichnis die visuelle Wahrnehmung und ihre Verbindung zur Seele ins Zentrum seiner Überlegungen. Obwohl der Sehsinn ein Abstandssinn ist, hat er die Menschen seit jeher am stärksten fasziniert.

Zum Nachteil wird dem Tastsinn auch, dass seine Erforschung relativ komplex ist. Dies deshalb, weil es viele verschiedene Arten der mechanischen Reizung und zahlreiche Einflussfaktoren gibt. Qualität, Intensität, Dynamik, Dauer und auch die Geschwindigkeit des Reizes spielen eine Rolle. Das alles erschwert eine Standardisierung. Dank einiger neuer Forschungsansätze beginnen wir zwar allmählich, den völlig vernachlässigten Tastsinn bewusst wahrzunehmen und darüber zu reden, doch Forschung braucht Geld, und das kommt in der Medizin unter anderem auch von der Pharmaindustrie. Die hat aber kein sonderliches Interesse am Tastsinn. Denn Berührungen bringen ihr keinen Profit. Die Pharmaindustrie macht ihre Umsätze dort, wo Medikamente in großem Stil verschrieben werden können. Mit der mechanischen Sensibilität der Haut kann sie dabei eher wenig anfangen. Es gibt keine Salben, die angenehme Gefühle hervorrufen, und es gibt nur sehr selten krankhafte Störungen des Tastsinns, für die neue Medikamente entwickelt werden können. Die Berührungslosigkeit, an der viele von uns leiden, ist keine Krankheit gegen die man eine Pille verschreiben könnte.

* Zusammengefasst in K. Stauss, Bonding Psychotherapie: Grundlagen und Methoden, Kösel Verlag, 2006.

2 Die Macht der Berührung