Du dachtest, du hättest vergessen - Leena Lehtolainen - E-Book

Du dachtest, du hättest vergessen E-Book

Leena Lehtolainen

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Denn keine Familie ist ohne Schuld. Finnland im Spätsommer. Katja fährt zur Beerdigung ihrer Großmutter ins abgelegene Pielavesi. Sie ahnt, dass nicht nur der Abschied von einem geliebten Menschen ansteht. Schon zu lange lastet ein schreckliches Geheimnis auf ihrer Familie. Als Katja versucht, die Wahrheit ans Licht zu bringen, stellt sie bald fest, dass die Schuld nicht nur einen trifft … «Nach dem Erfolg ihrer Krimiserie mit Kommissarin Maria Kallio ist Leena Lehtolainen nun ein Roman gelungen, der immer tiefer in den Morast eines gutgehüteten Familiengeheimnisses eindringt.» (Brigitte) «Beklemmend und kunstvoll verwoben.» (Hamburger Morgenpost) «Die finnische Starautorin erzählt mitreißend aus fünf Perspektiven, die sie kunstvoll verbindet.» (Emotion)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 542

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Leena Lehtolainen

Du dachtest, du hättest vergessen

Roman

Deutsch von Gabriele Schrey-Vasara

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Denn keine Familie ist ohne Schuld.

 

Finnland im Spätsommer. Katja fährt zur Beerdigung ihrer Großmutter ins abgelegene Pielavesi. Sie ahnt, dass nicht nur der Abschied von einem geliebten Menschen ansteht. Schon zu lange lastet ein schreckliches Geheimnis auf ihrer Familie. Als Katja versucht, die Wahrheit ans Licht zu bringen, stellt sie bald fest, dass die Schuld nicht nur einen trifft …

 

«Nach dem Erfolg ihrer Krimiserie mit Kommissarin Maria Kallio ist Leena Lehtolainen nun ein Roman gelungen, der immer tiefer in den Morast eines gutgehüteten Familiengeheimnisses eindringt.» (Brigitte)

 

«Beklemmend und kunstvoll verwoben.» (Hamburger Morgenpost)

 

«Die finnische Starautorin erzählt mitreißend aus fünf Perspektiven, die sie kunstvoll verbindet.» (Emotion)

Über Leena Lehtolainen

Leena Lehtolainen, 1964 geboren, lebt und arbeitet als Kritikerin und Autorin in Degerby, westlich von Helsinki. Sie ist eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen Finnlands.

Eins

Katja

Alles ist möglich. Auf Großmutters Beerdigung begriff ich, dass die schrecklichsten Dinge passieren konnten. Es war Ende August, im Wald hinter Großmutters Haus reiften überall Preiselbeeren. Der rote Brei, den sie mit dem Grieß daraus kochte, war immer mein Leibgericht gewesen. Mutter bekam ihn nie so gut hin, und bei mir wurde er entweder klumpig oder zu süß. Ich saß in der Kirche, und mir war zum Weinen zumute. Tante Sara machte merkwürdige Geräusche, ich wusste nicht, ob sie lachte oder weinte, der Pfarrer gab süßliche Plattitüden von sich, Kaitsu und Veikko verlasen die Gedenkworte von der Schleife an unserem gemeinsamen Kranz. Danach sah ich den anderen Trauergästen beim Niederlegen ihrer Kränze zu, Großmutters Nachbarn und ihren Kollegen aus dem Laden. Es waren viele gekommen, Großmutter war beliebt gewesen.

Der Leichenschmaus fand in ihrem Haus statt. Mutter hatte tagelang gebacken. Mein Bruder Kaitsu kochte Kaffee, ich goss ein und bot den Kuchen an. Veikko las die Beileidstelegramme vor. Es waren eine ganze Menge. Viele Kunden erinnerten sich noch an Großmutter, obwohl sie schon vor zehn Jahren in Frührente gegangen war. Sie wurde nur einundsiebzig, dabei war sie mir immer uralt vorgekommen. In den letzten Jahren hatte sie alles versucht, um mich unter die Haube zu bringen, denn immerhin wurde ich bald dreißig.

Am Abend ging ich auf den Dachboden. Mutter räumte die Küche auf, Sara lag auf Großmutters Bett und weinte. Die Wirkung der Beruhigungspillen, die sie genommen hatte, ließ allmählich nach.

Ich selbst hätte ohne Saras Betablocker die Aufnahmeprüfung zur Musikschule nie geschafft. Mutter war tagelang wütend gewesen, als sie davon erfuhr, aber als dann die Ergebnisse kamen, hatte sie Sara verziehen. Vor Prüfungen und Konzerten hatte Sara mir keine Beruhigungsmittel mehr zugesteckt, sie waren in den neun Jahren, die ich nun schon an der Musikschule studierte, regelmäßig danebengegangen.

Mutter und Veikko wollten bleiben und das Haus leer räumen. Mutter hatte sich dafür im Buchladen ein paar Tage freigeben lassen, mein Onkel Veikko war Schriftsteller und konnte sich die Zeit selbst einteilen. Wir anderen würden gleich am nächsten Morgen zurückfahren, weil Kaitsu am frühen Abend wieder arbeiten musste.

Als ich aus dem Fenster schaute, sah ich Veikko und Kaitsu auf der Treppe sitzen und trinken. Sogleich kamen meine guten Vorsätze ins Wanken, ich spürte schon den ersten Schluck am Gaumen, das Brennen im Hals, die Wärme im Magen. Aber ich blieb dabei: Heute würde ich nicht trinken, nicht an diesem Tag.

Mutter hatte das Radio eingeschaltet, und das Wunschkonzert schallte durch das ganze Haus. Sie hatte mir aufgetragen, unter Großmutters Sachen auszusuchen, was ich haben wollte, bevor Sara alles an sich riss. Ich wollte nur die Schachtel mit den Briefen und die Katze, mit der ich als Kind gespielt hatte. Die Katze saß auf dem Fensterbrett der Bodenkammer, in der wir und Mutter früher geschlafen hatten. Der weiße Kachelofen war noch da, auch das Bett mit der Zierschnitzerei, das ich das Prinzessinnenbett genannt hatte, stand noch an seinem Platz, an der Wand hing immer noch der alte Kunstdruck, ein Gemälde von Edelfelt, auf dem die Sünderin vor Jesus kniet. Dieses Bild hatte ich von klein auf gehasst.

Jetzt hatten sich Kaitsu und Veikko in der Bodenkammer eingerichtet. Da Sara Großmutters Schlafzimmer für sich in Anspruch nahm, mussten Mutter und ich in der Wohnstube schlafen. Wenn man zwei Bänke zusammenschob und Matratzen darüberlegte, bekam man eine Art Doppelbett. Als Kind hatte ich es spannend gefunden, auf der Bank zu schlafen, aber jetzt sehnte ich mich nach meinem eigenen, weichen Bett.

Auf dem Dachboden schlug mir der vertraute Sägemehlgeruch entgegen. Ich trat leise auf, damit unten niemand hörte, wo ich gerade war. Die Briefschachtel hatte ich im Nu gefunden, denn Großmutter hatte ihre Sachen seit Jahren immer an derselben Stelle verstaut.

Ich war neun gewesen, als sie mit mir die Sommergardinen vom Dachboden geholt hatte. Oben hatte ich sie gefragt, ob die Gardinen in dem fest zugeklebten Karton seien, da war sie plötzlich wütend geworden.

«Finger weg!», hatte sie gefaucht, und ich war zurückgesprungen wie eine Katze, die einem Igel in die Quere gekommen ist, denn Großmutter hatte sonst nie geschimpft. Ein einziges Mal nur hatte sie mich an den Haaren gezogen, weil ich ein frischgebügeltes Tischtuch zerknittert hatte.

Als Tante Sara und ich ein paar Jahre später auf dem Dachboden nach Saras alten Schlittschuhen suchten, die ich erben sollte, fiel mein Blick wieder auf die Schachtel. Ich wollte wissen, was darin war. Sara war nicht wie die anderen Erwachsenen. Sie hatte zwar selbst Geheimnisse, plauderte aber gern aus, was andere im Verborgenen taten.

«Da sind Ranes Sachen drin», flüsterte sie mit rätselhafter Miene. Die Schachtel zog mich magisch an, doch gleich darauf fand Sara die Schlittschuhe, und wir mussten gehen.

Ich hätte gern mehr über diesen Rane erfahren. Ich wusste nur, dass er Großvater mit einem Hammer den Schädel eingeschlagen hatte. Damals war ich fünf gewesen und Kaitsu zwei. Ein halbes Jahr vorher hatte sich unser Vater aus dem Staub gemacht.

Die Schachtel war leichter, als ich sie in Erinnerung hatte, doch als ich sie schüttelte, hörte es sich genauso an wie früher. Ich verstaute sie in der Tasche, die ich mit nach oben genommen hatte, und beim zweiten Versuch gelang es mir, den Reißverschluss zuzuziehen. Dann holte ich die Katze aus der Bodenkammer. Sie war aus grauer Wolle gehäkelt, mit Watte gefüllt und hatte eine dicke rote Zunge. Ich steckte sie zu der Schachtel in die Tasche. Da hörte ich meine Mutter rufen:

«Katja, hilf mir mal beim Abtrocknen!»

Veikko hatte Wegwerfgeschirr vorgeschlagen, doch davon hatte Mutter nichts hören wollen. Also hatten wir Tassen von den Nachbarn und vom Hausfrauenverein geliehen, und jetzt klapperte wütend das Geschirr. Als Kind hatte ich mich immer verzogen, wenn ich dieses Geräusch hörte, aber jetzt war ich erwachsen.

Im Küchenschrank lag ein Stapel ordentlich gemangelter Geschirrtücher. Ich nahm das oberste, das mit Großmutters Initialen bestickt war: A.L., Aino Liimatainen. Ich trocknete das Geschirr ab und sortierte es. Großmutters beste Tassen, die mit dem Goldrand, waren nie benutzt worden, wenn ausschließlich Familienmitglieder zu Besuch kamen. Die Alltagstassen aus dünnem Porzellan mit buntem Blumenmuster waren mittlerweile begehrte Sammlerstücke.

Die Haustür schlug zu, den Schritten nach war Veikko hereingekommen.

«Wir heizen die Sauna. Wollt ihr auch?»

«Ich auf jeden Fall», schnaubte Mutter mit schweißnassem Gesicht. «Was Sara will, weiß man nie. Hast du mit Korpelainen gesprochen?»

«Er meint, wir sollten uns den Makler sparen. Dreihundertfünfzigtausend bietet er. Das sind mehr als hundert Riesen für jeden», brummte Veikko. Seine Stimme wurde tiefer, wenn er getrunken hatte, aber auch wenn er schüchtern war. Ich hatte einmal ein Interview mit ihm im Radio gehört und mich gewundert, wieso sein Tenor zum Bass abgesunken war. Die Satzmelodie und die Wortwahl waren mir vertraut gewesen, die Stimmlage nicht.

«Erzähl Sara noch nichts davon», bat Mutter. «Sonst bringt sie wieder alles durcheinander.»

Veikko schwankte leicht, als er wieder nach draußen ging. Kaitsus Lachen zog meinen Blick zum Fenster, und ich sah, wie er Veikko die Flasche hinhielt. Ich musste schlucken.

«So waren sie immer schon, die Liimatainen-Männer», kommentierte Mutter trocken. Sie rechnete auch Kaitsu zu den Liimatainen-Männern, obwohl wir mit Nachnamen Tiainen hießen. Sara wiederum hatte ihren Familiennamen von klein auf gehasst und vor zehn Jahren den Mädchennamen ihrer Urgroßmutter angenommen: Selin. Gleichzeitig hatte sie das zweite a aus ihrem Vornamen gestrichen, aber Veikko und Mutter schrieben immer noch «Saara».

Kaitsu hatte viel mehr Ähnlichkeit mit Mutter als ich. Er hatte ihren zierlichen Körperbau, dazu helle Haut, blonde Haare und blaue Augen. Ich kam nach meinem Vater, hieß es, ich war dunkelhaarig, grobknochig und breitschultrig.

Mutter war nicht zum Reden aufgelegt. Wir sahen uns die Nachrichten an, während die Männer in der Sauna waren, und sie sagte kein Wort, nicht einmal, als berichtet wurde, dass Prinzessin Margaret wieder im Krankenhaus lag. Im Allgemeinen sprach sie von den Angehörigen der Königshäuser und Prominenten, als wären sie persönliche Bekannte. Wenig später kamen Veikko und Kaitsu aus der Sauna zurück und schwiegen ebenfalls. Ich holte eine Flasche Johannisbeersaft aus dem Schrank und kämpfte mit dem Drang, einen Schuss Schnaps darunter zu mischen. Sara schlief immer noch. Auch in der Sauna sagte Mutter kein Wort. Ich erinnerte mich an die vielen Male, die ich mit Großmutter hier gesessen hatte. Sie hatte mir mit einer runden, harten Plastikbürste die Kopfhaut geschrubbt, und ich hatte mich gerächt, indem ich statt des Saunaschwamms dieselbe Bürste genommen hatte, um ihr den Rücken zu waschen. Viele kleine Erlebnisse kamen mir in den Sinn, zum Beispiel der Geschmack der Limonade, die es an Kaitsus Geburtstag gegeben hatte und die in der Sauna warm geworden war. Nur an das dramatischste Ereignis meines Lebens hatte ich keinerlei Erinnerung.

Ich hatte es erst in dem Sommer erfahren, in dem ich konfirmiert wurde, natürlich von Sara. Angeblich hatten wir Kinder fest geschlafen, als es passiert war, und am nächsten Morgen hatte Mutter uns früh geweckt, war mit uns in den ersten Überlandbus gestiegen und hatte uns vorgeschwindelt, Großvater und Rane seien beim Angeln. Zu Hause hatte sie uns ein paar Tage später erzählt, dass Großvater gestorben war. Rane kam nicht zur Beerdigung, es hieß, er sei nach Schweden gegangen wie unser Vater. Ich malte mir aus, wie er Vater von dort zurückbringen würde. Rane wurde mein Held.

Als wir aus der Sauna kamen, saß Sara am Küchentisch und aß vom übriggebliebenen Hefegebäck. Ihre Augen waren geschwollen, und die Haare standen wirr in die Höhe. Sie waren neuerdings wieder blond. Vor ein paar Jahren hatte Sara sie schwarz gefärbt und behauptet, so sähen wir aus wie Schwestern. Sie war nur zwölf Jahre älter als ich.

«Der Hefezopf schmeckt herrlich, Sirkka. Hast du den selbst gebacken? Darf ich noch ein Stück nehmen?»

«Ich wollte den Rest eigentlich für die Kollegen mitnehmen», antwortete Mutter säuerlich. Ich verzog mich, putzte mir die Zähne und machte in der Wohnstube das Bett zurecht. Dann nahm ich zwei Schlaftabletten und knipste das Licht aus. Wieder packte mich die Angst, die Schlaftabletten würden nicht wirken, ich würde mich die ganze Nacht herumwälzen und die Schreie in meinem Kopf hören. Doch die Furcht löste sich bald in Dunkelheit und Stille auf.

Als ich die Augen aufschlug, war es acht. Im Badezimmer brummte Veikkos Rasierapparat. Es war ein faszinierendes und zugleich furchterregendes Geräusch, das ich zu Hause nie gehört hatte. Kaitsu hatte sich spät entwickelt, erst mit sechzehn waren ihm die ersten Barthaare gewachsen, und damals wohnte ich schon mit Karri zusammen.

Die Geräusche in Großmutters Haus waren mir deutlich in Erinnerung geblieben, sie waren anders als bei uns zu Hause. Das Haus stand inmitten der Felder, man hörte nur die Kühe des Nachbarn. Nach Großvaters Tod hatte sie die Felder zunächst verpachtet und später dann verkauft, weil Sara Geld für ihr Studium brauchte. Jetzt war vom ehemaligen Grundbesitz nur noch ein halber Hektar übrig.

Das Gespräch vom Vorabend fiel mir wieder ein: Ein gewisser Korpelainen interessierte sich für das Haus. Er glaubte offenbar nicht, dass es Unglück brachte, ein Haus zu kaufen, in dem ein Mord geschehen war.

Ich zuckte zusammen, als mir klar wurde, dass sich Großvater und Rane in dieser Stube hier gestritten hatten. Warum hatte Rane einen Hammer bei sich gehabt? Ich setzte mich auf. Als ich die Füße unter der Bettdecke hervorschob, kam Kaitsu herein.

«Morgen», stöhnte er. «Hast du Aspirin? Mir dröhnt der Schädel.»

Ich holte die Pillendose aus dem Koffer, Kaitsu nahm gleich zwei Tabletten.

«Kannst du überhaupt fahren?»

«Ich hab gerade gemessen, null Komma zwei. Bis wir abfahren, bin ich auf null», beteuerte er.

Ich packte das Bettzeug zusammen und zog mich an. In der Küche war der Frühstückstisch schon gedeckt. Mutter steckte voller Energie, wie immer, wenn es etwas zu organisieren gab, Veikko redete von der Sickergrube, die geleert werden musste. Nach dem Frühstück wurde Kaitsu unruhig.

«Schläft Sara noch immer? Wir müssen los.»

«Soll sie doch mit dem Bus nachkommen», schlug Veikko vor, aber Mutter schüttelte den Kopf.

«Im Bus wird ihr schlecht. Wahrscheinlich hat sie die halbe Nacht wach gelegen, nachdem sie gestern am Tag so lange geschlafen hat. Ich weck sie.»

Sie klopfte an die Schlafzimmertür und ging hinein. Man hörte wütendes Fauchen, wie von zwei Katzen, die sich zum ersten Mal begegnen. Als Kind hatte ich mir immer die Ohren zugehalten, wenn Sara meine Mutter anbrüllte. Meist hatte Mutter gleichmütig zugehört, nur ein paarmal war sie selbst wütend geworden, dann aber gründlich. Großmutter hatte ihre Töchter jedes Mal zur Aussöhnung gezwungen, worauf Sara uns wieder regelmäßig besuchte und Mutter die Ohren vollschwatzte.

Die Männer trugen bereits die Koffer zum Wagen, als Sara endlich aufstand. Ihr violettes Nachthemd sah aus wie ein Unterrock mit Fransen und ließ ihre Haut gelblich erscheinen. Sara hasste die Sonne. Sie sagte immer, sie sei ein Krebs, ein Mondkind.

«Gibt’s Kaffee?», fragte sie. Wenn Sara mitfährt, brauche ich mich auf der Rückfahrt nicht mit Kaitsu zu unterhalten, dachte ich zufrieden, denn Sara hatte die Angewohnheit, alle Gespräche allein zu bestreiten. Spätestens auf halber Strecke würde Kaitsu es nicht mehr aushalten und seinen Heavy Rock voll aufdrehen.

«Ich hab noch gar nicht gepackt», fauchte Sara, als Kaitsu hereinkam und sie zur Eile antrieb. «Katja, hilf mir mal, die Kaffeetassen einzupacken, die krieg ich. Und die große Glasplatte auch. Was hast du dir eigentlich genommen?»

«Nur die Katze aus der Bodenkammer.»

«Aber die gehört mir, die hat Mutter für mich gehäkelt! Gib sie her!»

«Bisher hast du dir nie etwas aus ihr gemacht», giftete ich zurück. «Du hast sie nicht mal mitgenommen, als du ausgezogen bist.»

«Sie gehört aber mir.»

Ein Außenstehender hätte die Szene wahrscheinlich komisch gefunden: Eine vierzigjährige Frau und ihre fast dreißigjährige Nichte streiten sich um ein Kinderspielzeug.

«Ich bin jetzt ein Waisenkind! Du hast deine Mutter noch», verlegte Sara sich aufs Betteln.

«Bitte, da hast du dein Spielzeug!» Ich zog die Katze aus der Tasche und warf sie ihr vor die Füße. Immerhin hatte ich noch die Briefe. Ich stopfte meine restlichen Sachen in die Tasche, brachte sie zum Wagen und verstaute sie zuunterst im Kofferraum. Zu Hause erwarteten mich eine Flasche Schnaps und eine Tafel Schokolade als Belohnung für das entsetzliche Wochenende. Sechs Stunden Fahrt von Pielavesi nach Helsinki, sogar weniger, falls Kaitsu über die Geschwindigkeitsbeschränkungen hinwegsah.

Es wurde Mittag, bevor alles verstaut war. Kaitsu hatte sich Teppiche und Werkzeug ausgesucht. Der Hammer war sicher nicht der, mit dem Großvater erschlagen worden war. Tatwaffen wurden beschlagnahmt. Wer hatte den neuen Hammer gekauft? Hatte Großmutter ihn je in die Hand nehmen können, ohne daran zu denken, wozu der vorige benutzt worden war?

Es wurde Herbst, die ersten Espenblätter färbten sich bereits rötlich. In der Nacht hatte es geregnet, neben dem Auto spiegelten sich in einer riesigen Pfütze die vorbeiziehenden Wolken. Die Sonne malte einer von ihnen einen Goldrand, und ich rief unwillkürlich:

«Guckt mal, wie schön die Wolke aussieht!»

«Wo denn, ich seh nur Schwarz», maulte Sara, die auf der anderen Seite der Pfütze stand. Mutter starrte auf das Wasser, Veikko schaute nach oben, dann wieder in die Pfütze.

«Das Spiegelbild ist schöner», lächelte er und warf mir einen merkwürdigen Blick zu. Einmal waren wir zu zweit beim Angeln gewesen, und ich hatte gewagt, ihm zu erzählen, als was ich die Wolken sah. Veikko hatte mir zugehört, ohne zu lachen. Ich merkte, dass nur er und ich die Wolke sehen konnten. Sara ging zwar um die Pfütze herum, aber in der falschen Richtung. Ich schlug den Kofferraumdeckel zu und setzte mich auf die Rückbank.

Der Abschied von Großmutters Haus stimmte mich traurig, denn ich wusste, dass ich es nie mehr wiedersehen würde. Die gelben Wände schienen näher aneinandergerückt zu sein als in meiner Kindheit. In diesem Haus hatte ich gelernt, Erdbeermilch zu machen und Eierpfannkuchen zu backen. Hier hatte ich im Sommer 84 zum ersten Mal meine Tage bekommen, hierher hatte ich mich nach der Trennung von Karri geflüchtet. Im Wald hinter dem Haus hatte ich Pilze und Beeren gesammelt, in den langen, stillen Sommernächten hatte ich im See geplanscht und die Nebelschwaden, den Mond und die Sterne betrachtet. Hier hatte ich einige meiner besten Songs geschrieben. In diesem Haus war ich manchmal glücklich gewesen. In diesem Haus, in dem Onkel Rane meinen Großvater erschlagen hatte.

Sara umarmte Veikko und Mutter zum Abschied, Kaitsu und ich winkten nur. Den Wegrand säumten Weidenbüsche und Kiefern, ein dunkles Grün, durch das nur selten ein Sonnenstrahl drang. Viele Häuser in der Gegend standen leer. Wenn dieser Korpelainen tatsächlich Großmutters Haus kaufte, hatten wir Glück. Sara erzählte, welche Ängste sie ausgestanden hatte, wenn sie durch den Wald zur Schule gehen musste, und wie ihr in den kältesten Wintern fast das Gesicht erfroren war. Niemand hatte eine so elende Kindheit gehabt wie Sara, die bei dreißig Grad Frost in Gummistiefeln laufen musste, weil Großvater das Geld für die Winterschuhe versoffen hatte.

Ich hatte kaum Erinnerungen an Großvater. Nur an seinen Mundgeruch erinnerte ich mich, und daran, dass man nie wusste, wie er gelaunt war. Bei guter Laune nahm er mich auf den Schoß, sang und erzählte Geschichten, aber wenn er schlecht aufgelegt war, jagte er uns Kinder auf den Dachboden. Er war oft unrasiert, hatte graue Bartstoppeln und verlegte dauernd seine Brille, sodass er nicht Zeitung lesen konnte. Kaum zu glauben, dass er bei seinem Tod erst siebenundvierzig gewesen war, nur einige Jahre älter als Veikko jetzt.

«Und als Rane Vati umgebracht hat», spann Sara ihre Geschichte weiter, die ich nicht hören wollte, «was glaubt ihr, wie ich da gequält worden bin. Dein Bruder ist ein Mörder und sitzt im Kittchen, haben sie gerufen und mich an den Haaren gezogen. Noch in der Oberstufe, stellt euch das mal vor! Ich war ein sensibles Mädchen, nach einer Weile habe ich mich gar nicht mehr in die Schule getraut. Übers Schikanieren in der Schule hat man damals noch nicht geredet, die Lehrer dachten wohl, es ist meine eigene Schuld, weil ich aus so einer Familie komme. Am liebsten wäre ich von der Schule abgegangen, aber Mutter hat es nicht erlaubt.»

Zu Ranes Beerdigung hatten Kaitsu und ich nicht mitkommen dürfen. Er war nicht neben Großvater ins Familiengrab gelegt worden, sondern in ein Einzelgrab in der hintersten Ecke des Friedhofs. Mit der Zeit hatte ich Rane und Großvater dann vergessen, denn sie wurden nie erwähnt. Erst in dem Sommer, als ich konfirmiert wurde, zeigte Sara mir das Grab und erzählte, dass Rane sich nach einem halben Jahr im Gefängnis umgebracht hatte. Da rannte ich zu Mutter und bestürmte sie mit meinen Fragen, aber sie gab mir keine Antwort, sondern schimpfte mit Sara, die seitdem, von einzelnen Andeutungen abgesehen, auch nicht mehr von Rane gesprochen hat.

Als Veikkos erster Roman erschien, waren Mutter und Großmutter schockiert. Es war die Geschichte eines Vatermordes, der allerdings im Bürgerkrieg in Helsinki passierte, wo Vater und Sohn auf entgegengesetzten Seiten kämpften. Irgendein Journalist hatte jedoch herausgefunden, dass der Bruder des Autors seinen Vater umgebracht hatte, und daraufhin versucht, Übereinstimmungen zwischen Fiktion und wirklichem Leben zu finden. Veikko hatte jeden Kommentar verweigert.

Karri war der Erste, dem ich von Rane zu erzählen wagte. Als er mich verließ und zum Zivildienst ging, brach eine Welt für mich zusammen. Damals kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass mit Großvaters Tod und Ranes Selbstmord alles Übel seinen Anfang genommen hatte und dass ich mich besser fühlen würde, wenn ich herausfände, was damals wirklich passiert war.

Als Großmutter ins Krankenhaus musste, fragte ich mich, ob Schuldgefühle krank machen können. Vielleicht hatte sie nur deshalb nie über Großvaters Tod sprechen wollen, damit niemand merkte, dass man den Falschen ins Gefängnis gesteckt hatte. Nach Ranes Selbstmord waren die anderen in Sicherheit, niemand würde den wahren Täter finden.

Nasser Asphalt und wuchernde Weidenbüsche flogen vorbei, während ich an meinen toten Onkel dachte. Ich war sicher, ich würde Sara dazu bringen können, über Großvater und Rane zu sprechen, wollte das Thema aber nicht anschneiden, solange Kaitsu dabei war. Sollte ich Sara zum Kaffee einladen? Sie wohnte auch in Helsinki, nicht weit von mir, im Stadtteil Alppila. Nein, es war besser, zuerst die Briefe zu lesen. Vielleicht würde ich durch sie die Wahrheit erfahren, ohne jemanden fragen zu müssen.

«Wollt ihr beiden euch eigentlich keine Kinder zulegen?», erkundigte sich Sara plötzlich, drehte sich auf dem Beifahrersitz um und sah mir ins Gesicht. «Soll unsere Familie etwa aussterben?»

Kaitsu bekam rote Ohren. Er würde Sara sicher keine Antwort geben. In seinem Fall war die Frage absolut lächerlich: Er war erst fünfundzwanzig und hatte es nicht eilig, eine Familie zu gründen. Ob er neuerdings eine feste Freundin hatte, wusste ich nicht, denn er sprach nie über solche Dinge.

«Ich hab mir Gedanken gemacht, wisst ihr», fuhr Sara fort, ohne auf eine Antwort zu warten. «Ich glaube, ich suche mir in irgendeinem Lokal einen intelligent aussehenden Burschen und lass mir von ihm ein Kind machen. Ein One-Night-Stand und bäng! Ein Kind kann ich auch allein großziehen. Mein Problem ist, dass ich immer auf die falschen Männer reinfalle. Ich werde Mutter, hört ihr? Der Mann braucht gar nichts davon zu erfahren.»

«Tu das nicht!», fuhr Kaitsu sie unerwartet heftig an.

«Was ist denn dabei? Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß.»

«Ich würde mir jedenfalls nicht wünschen, dass eine Frau so mit mir umspringt», sagte Kaitsu, hörte dann aber schweigend zu, als Sara uns ihren Plan erklärte. Sie würde irgendeinen attraktiven, intelligenten Mann aufreißen, nur für eine Nacht, denn alles andere bringe emotionales Chaos. Neun Monate später hätte sie dann ein Kind.

Ich äußerte mich nicht dazu. Sara fasste ständig neue Pläne, mal wollte sie nach Italien ziehen, mal in die Politik gehen, dann wieder ein Restaurant eröffnen, aber sie hielt an keiner Idee lange fest. Wenn sie sich nicht gleich heute Abend einen Vater für ihr Kind angelte, hätte sie das Ganze morgen schon wieder vergessen.

Kaitsu hatte aufs Gas getreten, wir hatten fast hundertzwanzig auf dem Tacho. Plötzlich unterbrach er Saras Gerede.

«Denk doch mal nach! Dein Vater war ein Säufer, dein Bruder war ein Mörder, und du selbst bist total labil. Gegen solche Gene kommt auch der beste Zuchthengst nicht an!»

Es dauerte einige Sekunden, bis Sara begriff. Dann brüllte sie los.

«Halt sofort an! Mit dir fahre ich keinen Meter weiter!»

Kaitsu trat auf die Bremse und brachte den Wagen an der Einmündung eines kleinen Waldwegs zum Stehen. Sara stieg aus, knallte die Tür ins Schloss und holte wütend ihren Koffer und die Geschirrkisten aus dem Kofferraum. Sobald sie den Deckel zuschlug, ließ Kaitsu den Motor wieder an. Er beschleunigte den Mercedes in wenigen Sekunden auf hundert und schaltete die Stereoanlage ein. Die Heavy-Metal-Band Niskalaukaus legte voll los. Nach dem ersten Song hielt Kaitsu wieder an und rief:

«Setz dich nach vorn!»

Ich folgte seiner Aufforderung, stellte die Lehne zurück und schloss die Augen. Sara würde schon irgendwie nach Hause kommen. Sie hatte ihr Handy dabei, und Mutter hatte sich den Kleintransporter vom Buchladen ausgeliehen. Ich ließ Kaitsu in Ruhe, bis sein Zorn verraucht war. Mit den Wutanfällen meines Bruders war nämlich nicht zu spaßen.

Bei dröhnender Musik fuhren wir eine halbe Stunde lang schweigend weiter, an Leppävirta vorbei, dann an Varkaus. Kurz vor Joroinen klingelte mein Handy. Auf der Anzeige erschien Mutters Nummer.

«Warum habt ihr Sara bloß so in Rage gebracht?»

«Wo ist sie jetzt?»

«Im Taxi, auf dem Weg hierher. Was glaubt ihr, wer das wieder bezahlt? Ich natürlich! Ihr hättet nun wirklich nach einer Weile zurückfahren und sie aufsammeln können, nachdem sie sich beruhigt hat. Warum musste Kaitsu …»

Ich hielt meinem Bruder das Handy hin und schloss die Augen. Noch vier Stunden bis nach Hause. Schokolade, Alkohol und die Briefe in der Schachtel. Sara hätte ihrerseits Kaitsu an den Kopf knallen können, dass er außer einem versoffenen Großvater und einem mörderischen Onkel obendrein noch einen Vater hatte, der ein mieser Säufer und Hurenbock war, vollkommen unfähig, auch nur für seine Gitarre die Verantwortung zu tragen, von Frau und Kindern ganz zu schweigen. Dann hätte an Saras Stelle Kaitsu einen der berüchtigten Liimatainen-Wutanfälle gekriegt, die so oft mit Scherben und zerdellten Kochtöpfen endeten.

So war es vermutlich auch bei Rane gewesen. Er hatte im Suff einen Wutanfall gehabt, der seine Hand zum Hammer greifen ließ und den Hammer an Großvaters Schläfe führte, noch bevor sein Gehirn ganz begriff, was geschah. In den Zeitungen hatte gestanden, er habe nur einmal zugeschlagen. Großvater hatte sturzbetrunken auf dem Fußboden gelegen, als es passierte. Wie hatte er es in dem Zustand überhaupt fertiggebracht, seinen Sohn derart in Rage zu versetzen?

Großmutter war es bestimmt leid gewesen, dass ihr Mann jeden Pfennig vertrank, den sie nach Hause brachte. Mutter hatte sich schon mit sechzehn vor ihrem trunksüchtigen Vater nach Kuopio geflüchtet, wo sie auf die Handelsschule ging. Mit achtzehn hatte sie dort beim Tanzen einen Musiker aus Helsinki kennengelernt und war schwanger geworden. Sie war mit ihm ins Hauptstadtgebiet gezogen, zuerst nach Malmi, dann nach Matinkylä, nur um festzustellen, dass dieser Eero Tiainen genau so ein Säufer war wie Großvater. Als sie dreiundzwanzig war, hatte unser Vater sie verlassen.

Wir hielten am Hotel Juva, um Kaffee zu trinken. Kaitsu kaufte Zeitungen, damit er dabei nicht zu reden brauchte. Im Auto blieb ihm das ohnehin erspart, dafür sorgte die Musik. Auf dem Rest der Strecke ging er nur vom Gas, wenn er eine Radarkamera sah, ansonsten brauste er mit hundertfünfzig Sachen über die Autobahn, wechselte ständig die Spur, hupte und blinkte, wenn vor ihm ein Idiot mit hundertdreißig auf der Überholspur zockelte. Wir kamen eine Dreiviertelstunde früher an, als ich gedacht hatte. Ich gab Kaitsu Benzingeld und ging die Treppe zu meiner Wohnung hinauf.

Da ich erst vor einigen Wochen in die Orionkatu gezogen war, erschien mir die Umgebung noch neu und spannend. Das Meer, das ich vom Fenster aus sah, wechselte ständig sein Aussehen, jenseits der Bucht ragten die Hochhäuser von Osthelsinki auf. Noch verbarg das Laub der Bäume die Gefängnismauern, doch im Winter würden auch sie zu sehen sein. Ich hatte die Wohnung nur wegen der Aussicht gemietet, die enge Kochnische und die abblätternde gelbe Wandfarbe störten mich nicht.

Die Schnapsflasche stand auf dem Esstisch. Ich nahm einen langen Zug, dann war die Schokolade an der Reihe, ein ganzer Riegel auf einmal. Ich ließ mich auf das Sofa fallen und schaute hinaus. Es war windstill, das Meer sah aus wie ein lose gespanntes graues Tuch. Der Alkohol und der Zucker gingen mir ins Blut und wärmten Magen, Mund und Herz. Nach einer Weile fühlte ich mich stark genug, die Schachtel zu öffnen.

Mehrere Schichten Klebeband verschlossen den Deckel mit der verblichenen blauen Aufschrift. Zuerst versuchte ich, es mit den Fingern abzureißen, aber schließlich musste ich doch eine Schere zu Hilfe nehmen. Ich schlitzte es vorsichtig auf, um den Inhalt der Schachtel nicht zu beschädigen. Mein Herz klopfte wie verrückt, ich brauchte unbedingt einen Beruhigungsschluck. Ich goss Schnaps in ein hohes Glas und füllte es mit Diätcola auf. Dann nahm ich die Briefe heraus.

Frau Aino Liimatainen, 72530 Säviäntaipale, stand auf dem obersten Umschlag. Es waren acht Briefe, darunter lagen zwei blaue Hefte, dann kamen wieder Briefe. Auf den obersten stand kein Absender, aber auf den etwa zehn Briefen, die unter den Heften lagen, war er angegeben: Rane Liimatainen, zuerst Rekrut, dann Soldat. Mein Onkel Rane hatte es nicht mal zum Gefreiten gebracht, denn er hatte sich nicht anpassen können und war vorzeitig aus dem Wehrdienst entlassen worden. Auch deshalb war er mir immer sympathisch gewesen.

Die Briefe aus der Kaserne interessierten mich weniger. Ich nahm den anderen Stapel zur Hand. Er war mit brauner Papierschnur zusammengebunden, die so fest verknotet war, als sollte sie nie mehr gelöst werden. Wieder musste ich zur Schere greifen.

Es waren dünne Briefe. Die braunen, unpersönlichen Umschläge waren säuberlich aufgeschnitten, alle an der gleichen Stelle, an der Schmalseite neben der Briefmarke. Das Papier war vergilbt, die Kugelschreiberschrift krakelig. Auf dem ersten Brief stand oben rechts das Datum: 13.9.1977.

«Liebe Mutter,

jetzt versuche ich also zu schreiben, obwohl es nichts zu schreiben gibt. Hier ist es so, wie ich es dir schon erzählt habe. Ich werde keine Verlegung nach Kuopio beantragen, ich bin ja in Helsinki gemeldet. Also sitze ich meine Zeit auch hier in Sörkkä ab.»

Ich ließ den Brief sinken. Bisher hatte ich geglaubt, Rane hätte in Kuopio im Gefängnis gesessen. Jedes Mal, wenn ich daran vorbeigefahren war, hatte ich eine seltsame Beklemmung verspürt, als ginge sein Geist hinter den Mauern um. Aber in Wahrheit war er hier inhaftiert gewesen, nur einige hundert Meter von meiner neuen Wohnung entfernt.

Ich trat ans Fenster. Das Licht aus den vergitterten Fenstern schimmerte durch die Bäume. Hatte Ranes Zelle auf dieser Seite gelegen, hatte er von dort drüben dieselben Bäume betrachtet, die ich jetzt von meiner Seite aus sah?

«Ich erinnere mich nicht, wie es passiert ist. Ich weiß nicht, ob ich Vater wirklich getötet habe oder ob es ein anderer war. Von dem Hammer waren alle Fingerabdrücke abgewischt, aber ich war der Einzige mit Blutspritzern. Man müsste sich an eine solche Tat doch erinnern. Oder bin ich verrückt geworden? Ich hab den Alten gehasst, und du weißt auch, warum, aber ich werde nichts gestehen, woran ich keine Erinnerung habe.»

Den Zeitungsberichten zufolge hatte Rane mehr als zwei Promille gehabt. Schlimme Filmrisse waren bei mir auch keine Seltenheit, aber an meine dümmsten Taten konnte ich mich trotzdem erinnern, so gern ich sie vergessen hätte. Zur Tatzeit waren wir alle im Haus gewesen, Kaitsu und ich, Großmutter, Veikko und Sara. Trotzdem hatte es keinen Tatzeugen gegeben.

Unter den Briefen lag ein Foto. Ein schlanker junger Mann in Jeans mit breitem Schlag, einer braunen Cordjacke und einem braunen Hemd, dessen breiter Kragen über der Jacke lag. Die blonden Locken fielen auf den Kragen. Seine Miene war abweisend und misstrauisch. Mein Onkel Rane war ein gutaussehender Bursche gewesen …

Zwei

Veikko

… so attraktiv, dass die Mädchen bis in unser abgelegenes Dorf geradelt sind, um sich mit ihm zu treffen. Ich versuchte, vom Aussehen meines großen Bruders zu profitieren. Ich spähte durch den Türspalt, sooft Rane ein Mädchen küsste und ihr an die Wäsche ging. Ohne es zu wissen, geilte somit jedes Mädchen gleich zwei Jungs auf. Vielleicht hätte ihnen das geschmeichelt, wenn sie es gewusst hätten.

Ich war dunkler und untersetzter als Rane und galt nicht als gefährlicher Bursche wie er. Vater behauptete sogar, ich wäre nicht sein Kind. Ich wünschte mir, er hätte recht gehabt. Andererseits widerte mich die Vorstellung an, Mutter hätte ihn betrogen.

Nach Vaters Tod sprach Mutter kaum noch von ihm, und Rane wurde mit keinem Wort mehr erwähnt. Sie hat seine Briefe aus der Haft vernichtet, Sirkka und ich haben den ganzen Dachboden nach ihnen abgesucht. Wir haben zwar nicht darüber gesprochen, aber wir wussten beide genau, was der andere suchte.

Manche Frauen verlieben sich grundsätzlich in Nichtsnutze und Arschlöcher, wie zum Beispiel die Frauen in unserer Familie, Mutter, Sirkka und Sara. Mutter hieß schon vor der Hochzeit Liimatainen, sie hat einen Vetter geheiratet, wie es auf dem Land selbst nach dem Krieg noch üblich war. Vater war im Krieg nicht eingezogen worden, er hatte ganz knapp unter der Altersgrenze gelegen. Das war ein Stachel in seinem Fleisch gewesen; neben den Veteranen, die kaum älter waren als er, fühlte er sich wohl wie ein kleiner Junge. Wahrscheinlich trank und prügelte er nur, um zu beweisen, dass er keiner war.

Manchmal überlege ich, welche Wahl man treffen sollte, wenn man sich seine Familie aussuchen könnte. Brauchen die Menschen eine glückliche Kindheit, oder bringen sie dann noch weniger zustande? Und was sollte dann aus den Schnapsfabrikanten, Therapeuten und Ärzten werden? Menschen wie Sara und ich halten die Volkswirtschaft in Gang. Als ich mein dreijähriges Künstlerstipendium bekam, bin ich noch am selben Tag mit dem Taxi nach Kirkkonummi gefahren und habe eine Kiste Schnaps gekauft. Sollen sich die Weiber im Dorf ruhig das Maul darüber zerreißen, wie der Schriftsteller seiner Berufung folgt. Solange ich schreibe, rühre ich keinen Alkohol an, aber um mich vom Schreiben zu erholen, brauche ich einen soliden Rausch.

Ich war nicht in der Küche, als Rane den Hammer auf Vaters Kopf niedersausen ließ, weil ich gerade zu Hartikainen wollte, um Schwarzgebrannten zu holen. Der Polizei habe ich das verschwiegen, um Hartikainen nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Stattdessen habe ich behauptet, ich wäre draußen auf dem Abtritt gewesen, obwohl wir auch im Haus eine Toilette hatten. Die Polizisten waren ziemlich misstrauisch, weil keine Fingerabdrücke am Hammer waren. Da Rane kein Geständnis ablegte, blühte der Klatsch, und als Rane sich dann umbrachte, bedauerten seine Exfreundinnen den armen Jungen, der unschuldig ins Gefängnis geraten war.

Vor fast zwanzig Jahren, als mein erstes Buch erschien, erhob das Lokalblatt ein großes Geschrei, weil in dem Roman ein Mann vorkommt, der seinen Vater umbringt. Der Reporter glaubte offenbar, er hätte eine kriminalgeschichtlich wichtige Entdeckung gemacht. Mir war der Skandal nur recht, denn das Buch verkaufte sich dadurch umso besser. Zu meinem letzten Roman meinte irgendein Kritiker, bei Liimatainen ginge es wieder mal um symbolischen Vatermord, und grub die alte Geschichte aus. Ich habe die Sache mit keinem Wort kommentiert. Was gibt es da auch zu erklären.

Mutter war eine Frau vom alten Schlag, sie hat nicht jede Gefühlsregung, ob bei sich oder bei anderen, zugrunde analysiert. Ihr genügte Jesus, sie hatte es nicht nötig, von den Märchenprinzessinnen im Fernsehen zu träumen wie die Frauen von heute. Sirkka weiß über das schwedische Königshaus mehr als über das Leben ihrer Kinder. Sara zerredet jede Tat und jeden Satz, aber sie kennt nicht einmal sich selbst. Ich bilde mir ein, scharfsichtiger zu sein als meine Schwestern.

Als die beiden abfuhren, blieb ich noch eine Weile allein im Haus, dann schloss ich ab und brachte Korpelainen die Schlüssel. Ich hatte eingepackt, was ich aus meinem Elternhaus mitnehmen wollte. Die Flickenteppiche, das Beil und die altmodische Bügelsäge hatte ich Sirkka ins Auto gelegt. So brauchte ich im Koffer nur ein Buch zu tragen, «Amalia» von Sylvi Kekkonen, von der Autorin signiert. Nicht gerade ein bedeutendes Werk, aber Mutter hing daran. Außer diesem einen Buch, und natürlich meinen Werken, besaß sie nicht viele Romane. Den «Unbekannten Soldaten» und ein paar andere. Sirkka meinte, sie würde sie der Bibliothek in Pielavesi schenken.

Meine Rückfahrt an die Küste dauerte lange: zuerst mit dem Bus vom Kirchdorf nach Kuopio, von da mit dem Zug nach Helsinki, dann wieder mit dem Bus bis zu der Straße, die zu meinem Haus führt. Dort stand mein Fahrrad wohlbehalten im Gebüsch. Danach brauchte ich ein paar Tage, um mich von der Beerdigung zu erholen. Ich mag es nicht, wenn mir zu viele Gedanken durch den Kopf gehen. Clasu wollte mich überreden, mit ihm auf die Entenjagd zu gehen, aber ich war nicht in der Stimmung. Da mir nichts Besseres einfiel, reparierte ich die Saunatür. Anschließend sammelte ich Pfifferlinge und entdeckte dabei die ersten Giftreizker.

Heute Morgen hat es endlich aufgeklart. Nun sehe ich, dass sich die Landschaft verändert hat: Clasu hat mitten ins gelbe Stoppelfeld einen braunen Streifen gepflügt. Ich würde ihn gern fragen, ob er unter die Environmentkünstler gegangen ist. Ich habe den braunen Strich den ganzen Tag angestarrt. Ist es ein Weg oder eine Wunde? Mir fällt absolut kein Grund ein, weshalb man nur einen Teil des Ackers pflügen sollte. Clasu würde mir die Wahrheit sagen, wenn ich ihn frage, also lasse ich es sein. Ich hatte immer schon ein Faible für geschickte Lügner, für solche wie Eero Tiainen. Der konnte zwar nicht so gut lügen, dass ich ihm Geld geliehen hätte, aber immerhin hat er es geschafft, sich in Sirkkas Bett und in die Familie Liimatainen zu schwindeln. Er hat es länger bei Sirkka ausgehalten, als ich erwartet hatte, volle fünf Jahre. Als ich zur Buchmesse in Göteborg war, habe ich im Telefonbuch nachgeschlagen. Dort stand Tiainen, Eero und Angela. Ich habe ihn aber nicht angerufen und auch Sirkka nichts davon erzählt.

Einmal habe ich Rane im Gefängnis besucht. Den Besuch hätte ich mir lieber ersparen sollen, denn Rane war damals schon durcheinander. Im Schlaf verfolgt mich sein Blick noch immer. Bei seiner Beerdigung waren nur der Pfarrer und die engsten Verwandten anwesend, aber im Laden hatte eine Kundin zu Mutter gesagt, sie könne sich freuen, dass sie ihren Sohn, diesen Strolch und Mörder, los sei. Mutter erzählte mir, sie habe der Frau zu viel herausgegeben, nur um zu sehen, ob sie dreist genug war, das Geld einzustecken. Das war sie dann doch nicht gewesen.

Vater sträubte sich dagegen, mich aufs Gymnasium zu schicken, weil er fürchtete, ich würde ein feiner Herr werden und ihn verachten. Damit hatte er schon recht, nur schade, dass ich kaum Zeit hatte, ihm meine Verachtung zu zeigen, bevor er starb. Sirkka besuchte die Mittelschule und die Handelsschule, während Rane nicht einmal den Volksschulabschluss geschafft hat. Er ist dann nach Helsinki gegangen, auf die Werft, wollte eigentlich zur See fahren, aber dazu reichte sein Mut nicht, und sein Magen war dem Seegang auch nicht gewachsen. Er war eben eine Landratte. Ich mag das Meer. Deswegen bin ich ins schwedischsprachige Küstengebiet gezogen, wo ich zu Fuß das unverbaute, freie Ufer erreichen und in einer halben Stunde aufs offene Meer hinausrudern kann. Außerhalb der Urlaubssaison sind hier nur Fischer unterwegs, und mit denen braucht man nicht zu reden.

Es ist Nachmittag, ich versuche zu schreiben, aber es stellen sich nur falsche Wörter ein, solche, die Sara von sich geben könnte. Gänse fliegen über das Haus und schnattern, als wollten sie sich über mich lustig machen. Auch das ist purer Sara-Stil. Als wäre ich so wichtig, dass die Gänse sich die Mühe machen, mich zu verspotten. Ich schalte den Computer aus, setze mich in den Lehnstuhl und lese «Die sieben Brüder».

Meine Kindheit war zeitweise wie die Szene in dem Buch, in der Simeoni sich betrinkt: glasig stierende Augen und hoch aufragende Lederstiefel. Ich prägte mir die Geschichten ein, die Vater im Suff erzählte, und schrieb sie später unter meinem Namen nieder. Rane war schweigsam wie Mutter, es waren seine Augen, die den Mädchen den Kopf verdrehten. Die Einzige, die redet wie Vater, ist Sara.

Ich bin bei meiner Lektüre gerade bei dem großen Brand am Impivaara, als Katja anruft. Die kleine Katja, pflegt Sara zu sagen, dabei ist Katja alles andere als klein, sie hat fast meine Größe, breite Schultern und einen Busen, der für zwei reichen würde. Sie ruft nicht oft an, wir stehen uns nicht nahe, obwohl Sirkka anfangs versucht hat, mich als Vaterersatz einzuspannen. Katja ist Musikwissenschaftlerin. Auf der Beerdigung habe ich sie singen gehört und mich gefragt, warum sie sich der Wissenschaft verschreibt, statt selbst Lieder zu machen und zu singen.

«Stehen die Pilze gut?», fragt Katja mit ihrer schönen, fröhlichen Stimme.

«Pfifferlinge und Täublinge gibt es ziemlich viel, nur die Steinpilze sind ein bisschen madig.»

«Ich dachte nur … Sonst bin ich zum Pilzesammeln immer nach Pielavesi gefahren, aber das geht ja jetzt nicht mehr, und ich mag Pilze … Könnte ich nicht irgendwann zu dir kommen?»

«Ich schreibe gerade.»

«Ich würde dich ganz bestimmt nicht stören. Ich geh allein in den Wald, ich kenne mich doch aus. Morgen vielleicht?»

Ich lasse mich überreden. Mir graut vor dem Schreiben, das Mädchen ist ein guter Vorwand, die Arbeit aufzuschieben. Ich muss nachsehen, ob am Hügel schon Trompetenpfifferlinge wachsen. Vor einigen Wochen haben die Zeitungen über einen Bären berichtet, der die Gegend unsicher macht. Wenn ich die Geschichte ein wenig aufbausche, wagt Katja sich nicht allein in den Wald.

 

Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Rad zum Dorfladen, der gleichzeitig als Postamt fungiert, und kaufte für Katja ein. Dann wartete ich an der Bushaltestelle auf sie. Als sie ausstieg, fiel mir wieder einmal auf, wie ungleichmäßig sie gebaut ist. Oben breit und unten schmal, mit langen, schlanken Beinen. Sie hatte ihre schwarzen Haare zu zwei Zöpfen geflochten wie eine Indianerin. Ich nahm ihre Tasche auf den Gepäckträger, Katja ging mit langen Schritten neben mir her. Sie hatte keine Einwände, als ich vorschlug, sie zum Pilzesammeln zu begleiten.

Die Herbstluft war klar und frisch. Die Schwalben zwitscherten, als riefen sie zum Aufbruch. Am Waldrand wurden wir von Hirschlausfliegen empfangen, die sich an unsere Haare hefteten. Katja schrie nicht, sondern nahm die Biester gelassen zwischen ihre langen, schmalen Finger und zerquetschte sie. Ein echtes Landkind. Ich fragte mich, ob sie nach ihrer ersten Beziehung je wieder einen festen Freund gehabt hatte.

Im Fichtenwäldchen hinter dem breiten Pfad war der Boden gelb gesprenkelt von Täublingen, von denen nur ganz wenige wurmstichig waren. Im Birkenwald waren Pfifferlinge nachgewachsen. An den Giftmilchlingen hatte Katja kein Interesse, erzählte aber lachend, sie hätte sie lange im Pilzbuch gesucht, bis sie endlich merkte, dass sie dasselbe waren wie Giftreizker. Mutter hatte sie immer nur Milchlinge genannt.

«Ist es nicht seltsam, was für ein Getue Großmutter um uns gemacht hat und wie besorgt sie war? Ich hätte eher gedacht, wenn man das Allerschlimmste erlebt hat, wird man gelassener», sagte Katja beiläufig. «Der Ehemann, vom eigenen Sohn ermordet, was könnte es Schlimmeres geben?»

«Dass man selbst zum Mörder wird», antwortete ich, obwohl ich wusste, dass ich mich auf dieses Thema besser nicht einließ. Fing Katja etwa auch an, auf der Sache herumzureiten, wie Sara?

«An die Zeit vor Großvaters Tod kann ich mich kaum erinnern. Hat Großmutter sich danach sehr verändert?»

Katja lehnte an einem Kiefernstamm, in ihren Zöpfen hatten sich Nadeln verfangen. Ich schnitt einen großen Giftmilchling durch, bevor ich ihn in den Korb legte.

«Die Frage kann ich dir nicht beantworten. Damals habe ich nicht mehr in Pielavesi gewohnt. Ich war bei der Armee und habe anschließend weiterstudiert.»

Ich sollte Elektroingenieur werden. Vor dem Wehrdienst hatte ich bereits ein Jahr in Tampere studiert. Da ich aber noch bei meinen Eltern gemeldet war, wurde ich ganz in ihrer Nähe stationiert, beim Fliegerkorps in Kuopio, wo ich hauptsächlich in der Flugkontrolle eingesetzt wurde. Als Vater umkam, hatte ich gerade Wochenendurlaub. Rane war von Helsinki gekommen und hatte Sirkka und die Kinder in seinem Wagen mitgenommen, denn es war Muttertag. Allerdings verlief dieser Tag anders als geplant.

«Ich glaube, es war eine Erleichterung für meine Mutter, den Alten loszuwerden. Er war ein schlimmer Säufer. So kaputt, wie seine Leber war, hätte er es bestimmt nicht mehr lange gemacht. Vielleicht war es sogar besser für ihn, dass er es mit einem Schlag hinter sich hatte.»

«Glaubst du, Rane war der Mörder? Er hat es doch nie zugegeben.»

Ich gab ihr die Antwort, die ich immer gebe.

«Wer soll es denn sonst gewesen sein? Wahrscheinlich hat er den Hammer abgewischt und gemeint, ohne Fingerabdrücke könne man ihm nichts nachweisen. Das hatten wir alle beide bei Jerry Cotton gelesen.»

Ich ging an den Wegrand, wo Steinpilze standen. Sie wimmelten allerdings von Maden und Schnecken, also ließ ich sie stehen. Sollten die Viecher sich ruhig satt fressen. Allmählich bereute ich es, mitgegangen zu sein. Und wenn man noch so viel redet, an der alten Geschichte ist nichts mehr zu ändern, genauso wenig wie an der Schulfete in der zehnten Klasse, kurz vor Weihnachten. Ich hatte im Sommer gejobbt und mir von dem Geld ein altes Moped gekauft, mit dem ich an diesem Abend Eeva Laurila, die in derselben Richtung wohnte, nach Hause bringen wollte. Ich hatte nämlich das Gefühl, sie wäre ein bisschen in mich verliebt. Nachdem der Klassenlehrer uns zum dritten Mal aufgefordert hatte, den Schulhof zu verlassen, waren wir endlich losgefahren. Ich hatte mir vorgenommen zu warten, bis wir im Wald waren, und dann zu probieren, ob sie sich küssen ließ. Als ich gerade vorsichtig bremste, hielt ein Wagen neben uns. Rane hatte sich heimlich Vaters Auto ausgeliehen, offenbar war der Alte wieder betrunken.

«Na, ihr beiden Hübschen? Ganz schön kalt auf dem Moped, oder? Komm, Eeva, setz dich zu mir ins Auto, hier ist es warm!» Rane zeigte einladend auf das Lammfell, das auf dem Beifahrersitz lag. Eeva kicherte und stieg ab. Am Montag hatte sich der Knutschfleck an ihrem Hals bereits gelb gefärbt, sie versuchte gar nicht erst, ihn zu verbergen. Ich gewöhnte mich daran, dass Rane bei Tanzabenden meistens dasselbe Mädchen aufforderte wie ich. Nur ein paar Ängstliche gaben mir den Vorzug. Inzwischen tanze ich nicht mehr.

Als Katja erklärte, sie habe genug Pilze, gingen wir zurück zum Haus. Ich hatte es vor zehn Jahren gekauft, als die Preise so niedrig waren, dass ich es wagte, mich der besitzenden Klasse anzuschließen. Es war damals eine Bruchbude, ich legte mit eigenen Händen eine Wasserleitung vom Brunnen ins Haus und baute eine Trockentoilette. Mit den elektrischen Anschlüssen hatte ich jahrelang zu tun, denn die alte Frau, die vor mir in dem Haus gewohnt hatte, hatte die Elektroarbeiten von einem Stümper ausführen lassen, der die Freileitungen so idiotisch verlegt hatte, dass es bei jedem Gewitter Kurzschluss gab. Wohnstube, Veranda und Schlafkammer reichen mir vollkommen, und auf dem Hof gibt es eine Sauna und einen Erdkeller. Wenn die Mäuse zu frech werden, leiht Clasu mir seine Katze. Manchmal spiele ich auch mit dem Gedanken, mir einen Hund anzuschaffen.

«Soll ich Kaffee kochen?», fragte ich, als sich Katja auf die Treppe setzte und die Pilze putzte. Sie wollte lieber Tee. Glücklicherweise entdeckte ich im Schrank eine Packung, die Sara in ihrer Jogaphase mitgebracht hatte. Sara hat einmal bei mir übernachtet, aber davon abgesehen hat noch keine Frau in diesem Haus geschlafen, seit ich hier wohne. Katja hätte von mir aus bleiben können, vorausgesetzt, sie redete nicht zu viel, aber sie wollte nach Hause. Ich brachte ihr Tee und Brote. Aus dem Schreiben würde wieder nichts werden.

«Was ist das?», fragte Katja, als plötzlich melancholische Schreie erschallten.

«Das sind Kraniche. Jetzt schon?», wunderte ich mich. Ich bin kein Ornithologe, aber wer zwischen einem Wald und einem Nistgebiet wohnt, kann gar nicht anders, als die Vögel zu beobachten. Katja lauschte aufmerksam. Wenn sie ein Tier gewesen wäre, hätte sie die Ohren aufgestellt. Als Kind hatte sie schnell gelernt, jeden Vogel an seiner Stimme zu erkennen, aber über den Winter hatte sie alle Arten vergessen, die es in der Stadt nicht gab.

«Und was hast du im Herbst vor?», fragte ich, als nur noch Clasus Mähdrescher zu hören war.

«Nichts Besonderes, ich geh jobben. Und außerdem müsste ich endlich meine Magisterarbeit fertigschreiben.»

«Hast du Auftritte?»

«Nein», antwortete sie kurz angebunden, stand auf und brachte den Abfall von den Pilzen zum Kompost. Das Thema war also immer noch ein wunder Punkt.

Katja versicherte, ich bräuchte sie nicht an den Bus zu bringen. Also trank ich meinen Kaffee und las in den «Sieben Brüdern» weiter. Als ich merkte, dass ich pinkeln musste, war ich schon bei Venlas Verlobung angelangt. Die Dämmerung war grau, nicht blau wie im Frühjahr.

Die Nacht, in der Vater starb, war blau und kalt gewesen, fast frostig. Ich hatte zitternd auf der Treppe gestanden und überlegt, was zu tun sei. In der Küche lag Vater in seinem Blut, Rane lallte sinnloses Zeug, die Frauen und Kinder standen entsetzt am Fenster. Ich war zwar betrunken, begriff aber durchaus, was los war. Schließlich rief ich die Polizei. Wenn ich in meinem Leben etwas vergessen möchte, dann ist es diese Nacht.

Ich zwinge mich, an etwas anderes zu denken, und mache einen Spaziergang. Ohne die Geschichten, die andere erfunden haben, lande ich immer wieder bei dieser falschen Geschichte, bei meiner eigenen, statt bei der Geschichte, die ich schreiben will. Ich bin erst einige hundert Meter gegangen, als sich am Ackerrand eine Elchkuh träge in Bewegung setzt. An derselben Stelle werden jeden Herbst ein paar Elche erlegt. Seltsam, dass sie daraus nichts lernen.

Frauen sind nicht wesentlich anders als Elche. Man sollte meinen, die Erfahrung mit Eero hätte Sirkka gelehrt, dass auf uns Männer kein Verlass ist, aber nein. Vor einigen Jahren hat sie wieder einen in Pielavesi vorgeführt. Vater, der früher jeden in die Flucht geschlagen hatte, war zwar nicht mehr da, aber Sara hat es genauso gut geschafft. Auch darüber hat Sirkka kaum gesprochen, wahrscheinlich hat sie danach keinen Mann mehr gehabt.

Es ist schwierig, über Liebe zu schreiben, wenn man nicht an sie glaubt. Die Behauptung, Liebe könne einen Menschen befreien und retten, hat mir nie eingeleuchtet. Hat sie etwa meine Eltern gerettet? Oder Sirkka? Ist Sara ein «heiler Mensch» geworden – eins ihrer Lieblingsworte, gegen die ich allergisch bin – durch all die Männer, die in ihr Bett gestiegen und wieder gegangen sind? Ich bin Frauen begegnet, die darauf aus waren, mich zu verstehen, aber das will ich nicht. Mir wird ganz kalt bei dem Gedanken, jemand könnte mich durchschauen.

Man braucht keinen anderen Menschen, um glücklich zu sein. Sich beim Holzhacken verausgaben, die Sauna heizen und spüren, wie der erste Drink die Magenwand streichelt – das ist Glück. Oder die richtige Farbe auf einem Blatt am Baum und der endlose Zug der Wolken. Anderen brauche ich mein Glück nicht zu erklären, es ist nicht nötig, dass sie es verstehen.

Als ich von meinem Spaziergang zurückkomme, nehme ich mir fest vor, am nächsten Morgen mit der Arbeit anzufangen. Ich bin ein fleißiger und gewissenhafter Mann, keiner von denen, die sagen …

Drei

Sara

… dass ich doch um Himmels willen nicht imstande bin zu arbeiten, wenn ich mich so elend fühle. Ich bin jetzt Vollwaise, habe niemanden mehr auf der ganzen weiten Welt. Ich fühle mich wie ein verirrtes Kind im kalten Winter. Bitte, Frau Doktor, schreiben Sie mich noch eine Woche krank. Ich brauche keine Überweisung zur Therapie, da gehe ich sowieso schon hin!

Endlich gab die dumme Kuh nach und verlängerte mein Attest um eine Woche. Eine typische Vertreterin der Schulmedizin, eine verbiesterte Medizinalbeamtin, die von der menschlichen Seele nichts versteht. Im Wartezimmer saßen zwei Mädchen, die laut lachten, als ich an ihnen vorbeiging. Am liebsten hätte ich sie angeschrien: Meine Mutter ist gestorben!

Johanna habe ich erst angerufen, als ich wieder zu Hause war. Sie sagte, im Laden herrsche Hochbetrieb, weil die Herbstdiätsaison angefangen hat, aber ich ließ ihre Klagen an mir abperlen. Wie kann sie mir vorwerfen, dass ich trauere? Zum Glück sollte sich am Abend meine Healing-Gruppe treffen. Ich suche schon seit langem nach einem Heilkundigen, der diesen zerbrochenen Krug zusammenfügt, und jetzt habe ich das Gefühl, ihn endlich gefunden zu haben. Healing wirkt tatsächlich!

Ich zündete ein Räucherstäbchen an und betete vor dem Bild der Jungfrau Maria, das ich von meinem letzten Geld in einem griechischen Nonnenkloster gekauft habe, auf meiner Interrailtour. Damals hatte ich mich tief in den orthodoxen Glauben versenkt und wusste, Gott wird mich nach Finnland zurückführen, obwohl ich keinen Pfennig mehr in der Tasche hatte, nur noch meinen Interrailpass. Und so geschah es auch. Ich lernte ein freundliches finnisches Ehepaar kennen, das sein Essen mit mir teilte. Auch die beiden waren Christen, allerdings Lutheraner.

Bald nach dieser Reise erkannte ich, wie patriarchalisch die orthodoxe Kirche ist. Für meine weibliche Kraft war sie nicht das Richtige. Das Bild der Jungfrau Maria habe ich trotzdem nicht von der Wand genommen, weil ich so gern erzähle, woher ich es habe. Ich bin ein religiöser Mensch.

Der Schmerz hat meine Kreativität nicht versiegen lassen. Ich habe zwei Gedichte für Mutter geschrieben. An manchen Tagen entstehen viele Gedichte, sie tauchen wie von selbst auf, von einer göttlichen Kraft eingegeben. Dafür bin ich dankbar. Das eine meiner neuen Gedichte hätte ich auf der Beerdigung deklamieren können, schade, dass es zu spät erschienen ist. Vielleicht werde ich hier auf den Friedhof gehen, zum Denkmal der andernorts zur Ruhe gebetteten Toten, und dort mein Gedicht aufsagen. Mutter wird es hören. Sie kommt in den Himmel, das weiß ich genau. Mutter war eine Heilige: Sie hat vier Kinder und einen Säufer ernährt. Mir hat sie heimlich Schokolade gekauft, denn ich war als Kind zu mager, weil die anderen mir alles wegaßen. Wenn die Anthroposophen recht haben, kehrt sie als glückliches, erleuchtetes Wesen auf die Erde zurück. Ich werde sie bestimmt erkennen, denn das Band zwischen Mutter und Tochter kann niemand zerschneiden.

Sirkka bemüht sich, so zu sein wie Mutter, aber mich täuscht ihr sanftmütiger Blick nicht. Sie ist kalt und hart, sie stößt alle netten, warmherzigen Menschen ab, zum Beispiel Eero und Mauri. Kaitsu ist von der gleichen Art wie Sirkka, Vati und Rane. Alle vier haben Widder und Skorpion im Horoskop, finstere, zerstörerische Planeten. Ich bin dreifacher Krebs.

Vielleicht will ich deshalb nicht zur Arbeit gehen, weil die Atmosphäre dort nicht heilsam ist. Die Trauer hat mich aufgerieben. Ich hatte erwartet, dass in einem Reformhaus eine spirituelle Stimmung herrscht, aber die anderen Verkäuferinnen sind unfreundlich wie in der Apotheke und herausgeputzt wie Kosmetikerinnen. Wenn ich mit den Kunden tiefschürfende Gespräche führe, bekomme ich einen Rüffel. Dabei will ich doch nur helfen! Ist es nicht gut für die Kunden, wenn ich ihnen erzähle, welche Wirkung ein Produkt auf mich gehabt hat? Wir müssen Verantwortung übernehmen dürfen und nicht nur abkassieren. Die anderen sind einfach neidisch, weil ich Stammkunden habe, die nur von mir bedient werden wollen. Ich muss mir überlegen, ob ich dort noch arbeiten will. Immerhin bin ich schon seit fünf Monaten da.

Kundenberatung ist meine Stärke. Und das Heilen. Leider ist mein Abitur wegen Ranes Selbstmord so schlecht ausgefallen, sonst hätte ich Medizin oder Psychologie studiert. Ich habe viele Enttäuschungen erlebt und jahrelang nach meinem Platz im Leben gesucht. Sirkka hat mir vorgeschlagen, auf die Schwesternschule zu gehen! Ich bin eine starke Frau, habe ich zu ihr gesagt, keine Fee im Schwesternhäubchen. Allmählich habe ich erkannt, dass alles ganz richtig gekommen ist. Die Schulmedizin ist reine Biologie und Physiologie, und die akademische Psychologie will alles mit Gehirnimpulsen erklären. Wo bleibt da der Mensch, wo bleiben die Gefühle?

Ich bin ein Gefühlsmensch, sensibel, empfindsam und schöpferisch. Meine Kreativität kennt viele Formen. Ich bedrucke Stoffe und nähe einen Teil meiner Kleider selbst, beschäftige mich an der Volkshochschule mit Aquarell- und Ölmalerei und singe in einem Ensemble. Ich kann Gedichte deklamieren und Gitarre spielen, ich habe mich vielseitig weiterentwickelt. Man muss hart an sich arbeiten, um all das Schreckliche zu überwinden, das ich erlebt habe. Diese furchtbaren Erfahrungen sind so groß und belastend; wenn ich nur daran denke, erdrücken sie mich wie ein tonnenschwerer Felsblock, der unerwartet auf mich herabfällt.

Ich habe seit einiger Zeit den Verdacht, dass mein Vati mich sexuell missbraucht hat. Ich erinnere mich zwar nicht daran, aber es gibt viele Vorfälle aus meiner Kindheit, die meinem Gedächtnis entschwunden sind. Ist es nicht oft so, dass ein sensibler Mensch vergisst, um sich zu schützen? Die Erinnerung würde mich zerbrechen. Vati hat mich auf jeden Fall angefasst, und meine Brüder haben mir auf den Busen gestarrt, vor allem Rane. Unser wundervoller Rane, der alles gevögelt hat, was sich bewegte, und manchmal auch solche, die sich nicht mehr rühren konnten, wie die sturzbesoffene Merja Hiltunen. Ich habe sie am Waldrand gesehen, im Auto, als ich von der Klassenfete nach Hause geradelt bin. Merja war eins der Mädchen aus den oberen Klassen, die meine Freundinnen sein wollten, weil ich zwei ältere Brüder hatte. Einige Mädchen fanden sogar Veikko attraktiv, was ich überhaupt nicht verstehen konnte.

Als ich zur Welt kam, war Sirkka sieben, Rane fünf und Veikko drei. Wegen der neuen Maschinen gab es nicht mehr viel Arbeit für Forstarbeiter, außerdem hatte Vati oft Rückenschmerzen. Ein halbes Jahr nach meiner Geburt ging Mutter wieder im Laden arbeiten, und Vati oder eine alte Frau aus dem Nachbarhaus passten tagsüber auf uns auf. Die Nachbarsfrau hatte einen säuerlichen Geruch und schmutzige Hände. Als Rane in die Schule kam, waren Veikko und ich oft allein zu Hause, weil Vati etwas vorhatte. Einmal hat er uns gesagt, wir sollten uns unter dem Sofa verstecken, während er fort war, damit die Zigeuner uns nicht stehlen. Dort hat Mutter mich dann gefunden, schlafend und mit nasser Hose. Ich habe immer wieder gebetet, dass sie zu Hause blieb und nicht mehr in den Laden ging, aber es hat nichts geholfen. Warum hat Mutter nicht gesehen, wie sehr ihre Kinder sie brauchten? Wieso hat sie Vati nicht zur Arbeit gezwungen oder sich von ihm scheiden lassen?

Manchmal, wenn der Kaufmann verreist war, durften Veikko und ich hinten im Laden sitzen und auf gebrauchtem, gelbweißem Einwickelpapier malen. Ich habe immer Prinzessinnen gezeichnet, die goldene Locken hatten wie ich, und wunderschöne Kleider. Wenn ich mir im Fernsehen Schönheitskonkurrenzen ansah, war meine Favoritin immer die mit den schönsten Kleidern. Sirkka brachte manchmal alte Illustrierte mit, in denen elegante Frauen abgebildet waren, und wenn sie sie ausgelesen hatte, durfte ich mir die Schönsten als Anziehpuppen ausschneiden. Wenn Rane sie fand, nahm er sie mir weg.

Als ich neun war, ging Sirkka nach Kuopio zur Handelsschule. Von da an hatte ich ein hartes Leben. Ich musste Mutter beim Spülen und Waschen und Putzen helfen und mir auch noch ständig anhören, wie faul ich sei. Von den Jungen wurde nichts verlangt. Noch bevor ich aufs Gymnasium kam, musste ich eine kleine Erwachsene werden. Ich durfte nie wirklich Kind sein, und deshalb habe ich lange gebraucht, um mein inneres Kind zu finden. Mein inneres Kind weint noch immer, aber eines Tages wird es das Lachen lernen.

Warum hat Mutter nicht eingesehen, wie schwer ich es hatte? Weshalb musste sie mich anbrüllen, sobald sie zur Tür hereinkam, nur weil ich noch nicht gespült hatte, sondern mit meinen Anziehpuppen spielte? Der Bus vom Kirchdorf fuhr so ungünstig, dass Mutter erst nach sieben zu Hause war, wenn sie nicht bei jemandem mitfahren konnte. Den Führerschein hatte sie nicht. Vati und die Jungen wollten ihr Abendessen schon um sechs, und meistens war ich diejenige, die es aufwärmen musste. Von der Mikrowelle hatte damals noch niemand etwas gehört. Wenn es in meiner Kindheit Mikrowellen gegeben hätte, wäre mein Leben viel leichter gewesen.

Auf jeden Fall weiß ich, dass Vati andere Frauen hatte. Als ich einmal aus der Schule kam, war er mit Eila aus dem Frisiersalon im Schlafzimmer. Sie waren alle beide wütend, und Vati gab mir zehn Mark, damit ich Mutter nichts davon erzählte. Das war damals unglaublich viel Geld. Ich überlegte tagelang, welche Süßigkeiten ich davon kaufen würde, wenn ich Gelegenheit hätte, ungestört zum Kiosk im Kirchdorf zu gehen. Im Laden konnte ich nichts kaufen, sonst hätte Mutter gefragt, woher ich das Geld hatte. Dann bat Vati mich, ihm das Geld zurückzugeben, nur leihweise, weil er gerade blank sei. Natürlich gab ich es ihm. Den Zehnmarkschein habe ich nie wieder gesehen, obwohl ich Vati ein paarmal darum bat. Beim letzten Mal gab er mir einen festen Klaps auf den Po und sagte, ich solle das Ganze vergessen.

Erst als ich erwachsen war, erzählte ich Mutter davon. Sie sagte, sie hätte von Eila, Kaija und all den anderen Frauen gewusst.

«Wieso hast du dir das bieten lassen?», fragte ich wie vor den Kopf geschlagen. Ich glaube, ich war damals zwanzig, bald darauf habe ich vorübergehend die Restaurantfachschule besucht.

«Ach, weißt du, Sara», antwortete Mutter und lächelte, als würde sie mit Nadelstichen dazu gezwungen, «du verstehst das zum Glück noch nicht, aber diese Mädchen haben mir einen Gefallen getan. Die ehelichen Pflichten haben mir nie viel Vergnügen gemacht, und nach der Arbeit war ich immer so müde. Dein Vater hat mich in Ruhe gelassen, weil er die anderen hatte. Aber von diesen Dingen dürfte ich dir gar nichts erzählen, du bist ja noch so jung.» Dabei errötete sie.