Dunkle Mächte - Petra Ivanov - E-Book

Dunkle Mächte E-Book

Petra Ivanov

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Beschreibung

Seit Bruno Cavalli als verdeckter Ermittler in die völkisch-esoterische Anastasia-Bewegung eingeschleust wurde, hört Regina Flint kaum noch von ihm. Jeder Kontakt könnte nicht nur die Ermittlungen gefährden, sondern auch Cavallis Leben – denn ein Journalist, der zu viel wusste, wurde brutal ermordet. Um an die Wahrheit zu kommen, muss Cavalli das Vertrauen einer Frau aus der Bewegung gewinnen. Während er sich ihren Regeln unterwirft, taucht er immer tiefer in eine Gemeinschaft ein, die von Reinheit, Rückbesinnung und gefährlichem Fanatismus geprägt ist. Wie weit kann er gehen? Und was, wenn Flint ihn nicht mehr rechtzeitig zurückholen kann? Flint und Cavalli ermitteln in ihrem zehnten gemeinsamen Fall – doch stehen sie noch auf derselben Seite?

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Seitenzahl: 421

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch

Bruno Cavalli ermittelt verdeckt in der völkisch-esoterischen Anastasia-Bewegung. Jeder Kontakt zu Regina Flint könnte ihn enttarnen – und das wäre tödlich. Während er das Vertrauen einer Anhängerin gewinnt, droht er, sich selbst zu verlieren. Wie weit kann er gehen, ohne seine Identität aufzugeben?

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Petra Ivanov verbrachte ihre Kindheit in New York. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz absolvierte sie die Dolmetscherschule und arbeitete als Übersetzerin, Sprachlehrerin sowie Journalistin. Ihr Werk umfasst Kriminalromane, Thriller, Liebesromane, Jugendbücher, Kurzgeschichten und Kolumnen.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Hardcover, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Petra Ivanov

Dunkle Mächte

Kriminalroman

Ein Fall für Flint und Cavalli (10)

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 3 Dokumente

Die Autorin dankt der Dienstabteilung Kultur der Stadt Zürich für den Arbeitsbeitrag für dieses Werk.

Lektorat: Susanne Gretter

© by Petra Ivanov 2025

© by Unionsverlag, Zürich 2025

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Choja (iStock)

Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz

ISBN 978-3-293-31202-9

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Version vom 12.05.2025, 12:09h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

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Inhaltsverzeichnis

DUNKLE MÄCHTE

1 – Das Feuer knackte. Glühende Asche stob auf …2 – Der Regen prasselte gegen die Scheiben des Polizei- …3 – ZURÜCK INS PARADIES4 – Das Bauernhaus lag an einem Schattenhang. Es bestand …5 – Ein Spaziergänger hatte Levin Brauers Leiche in dem …6 – ZURÜCK INS PARADIES7 – Albesa Leka stand unsicher in der Tür zu …8 – Miriam Salis packte ihre Sachen zusammen und schloss …9 – Mato war froh, dass Miriam ihm einen Vorwand …10 – ZURÜCK INS PARADIES11 – Der Laden, den Kasimir Werit eröffnet hatte …12 – Fahrni hatte Basti Küchler noch einmal vorgeladen …13 – ZURÜCK INS PARADIES14 – Mato kehrte mit einer Rolle Teichfolie, die er …15 – Tobias Fahrni öffnete seine Schreibtischschublade und nahm eine …16 – Der Hof lag still in der Abenddämmerung …17 – ZURÜCK INS PARADIES18 – Regina stand vor einem massiven Betonbau, in dem …19 – Tobias Fahrni fuhr knapp über der Höchstgeschwindigkeit auf …20 – Im Haus war es stockdunkel. Es roch nach …21 – Regina hatte ein Déjà-vu. Sie saß mit dem …22 – ZURÜCK INS PARADIES23 – An der Ladentür klebte ein Zettel: »Wegen Familiennotfall …24 – Zackigen Schrittes marschierte Joe Walker im Raum hin …25 – Andrea Brennwald studierte Emilias Zeichnung. Das Mädchen hatte …26 – ZURÜCK INS PARADIES27 – Die Kerze und die Schale Sand standen noch …28 – Regina hatte die Überwachung von Carmen Di Cerbos …29 – Mato hatte Kasimir Werit noch nie zornig erlebt …30 – Andrea Brennwald hatte sieben Szenarien ausgewertet. Bevor sich …31 – ZURÜCK INS PARADIES32 – Regina kam gerade aus einer Einvernahme, als Fahrni …33 – Mato hätte die Stimmen leicht für das Gemurmel …34 – Brandstiftung«, sagte Fahrni. »Daran besteht nicht der geringste …35 – ZURÜCK INS PARADIES36 – Miriam Salis tauchte die Hände in den Brunnen …37 – Das Bellen der Hunde klang bedrohlicher als ein …38 – Regina starrte auf Daniels weitgehend erhaltenen Körper …39 – ZURÜCK INS PARADIES40 – Der tägliche Morgenkreis war zwar fakultativ, doch Siena …41 – An der Sachbearbeiterkonferenz nahmen nicht nur die am …42 – Ohne Druck würde sich Siena wohl einfach treiben …43 – Da sie Jahrtausende in Hast verbringen, haben die …44 – Normalerweise erschien Cavalli der Wald in der Dunkelheit …45 – Das Sonnenwendfest fand auf einem Biohof statt …46 – ZURÜCK INS PARADIES47 – Miriam Salis bezog die Betten und schüttelte die …48 – Regina setzte sich mit einer Tasse Kaffee auf …

Mehr über dieses Buch

Über Petra Ivanov

Petra Ivanov: »Meine Figuren sind lebendig. Wenn ich nicht schreibe, verliere ich den Kontakt zu ihnen.«

Petra Ivanov: »Mein Weltbild hat sich zum Besseren verändert, seit ich Krimis schreibe.«

Mitra Devi: Ein ganz und gar subjektives Porträt von Petra Ivanov

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Für Lucien

»Verunsicherung und Angst sind der Nährboden für Verschwörungsmythen unterschiedlicher Ausprägung.«

infoSekta

1

Das Feuer knackte. Glühende Asche stob auf. Der Funkenregen rieselte auf den Waldboden und erlosch. Am Himmel verdeckten schwere Wolken den Vollmond, doch die Menschen, die um das Feuer tanzten, bemerkten es nicht. Für sie gab es nur die Energie des Universums.

Mato machte drei Schritte vorwärts, dann eine halbe Drehung. Niemals eine ganze, denn eine ganze symbolisierte Verlorenheit. Verstohlen betrachtete er die Tanzenden, die seine Bewegungen unbeholfen, aber voller Inbrunst nachahmten. Die meisten kannte er, sie stammten aus dem Zürcher Oberland. Einige aber waren von weiter her angereist. Sie glaubten, dass er besondere Kräfte besaß, weil seine Vorfahren einst im Einklang mit der Natur gelebt hatten. Sicher, Mato fühlte sich wohl im Freien. Geschlossene Räume engten ihn ein, sie gaben ihm das Gefühl, die Welt stünde still. Er brauchte die Lebendigkeit des Waldes, den unebenen Boden, die Feuchtigkeit in der Luft. Das Rascheln, Fiepen, Knarzen, Knistern. Den Geruch von erdigem Moos und moderigem, pilzigem Holz. Doch seine Liebe zur Natur hatte nichts mit seinen Vorfahren zu tun. Er war in unmittelbarer Nähe des Waldes aufgewachsen, hatte mehr Zeit draußen verbracht als in dem spärlich eingerichteten Haus, das er mit seiner Großmutter geteilt hatte. Von klein auf hatte er sie begleitet, wenn sie aufbrach, um Pilze oder Kräuter zu sammeln. Später zog er alleine los, am liebsten folgte er Tierspuren. Manchmal legte er dabei so viele Kilometer zurück, dass er es nicht mehr vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause schaffte. Seine Großmutter machte sich selten Sorgen, sie vertraute seinen Fähigkeiten und wusste, dass er im Wald zurechtkam.

Vornübergebeugt stampfte Mato mehrmals mit den Füßen. Er kannte die Tänze seiner Vorfahren nicht, er hatte sich die Schritte im Internet angeschaut und diese sorgfältig einstudiert. Es wäre nicht nötig gewesen. Niemand stellte sein vermeintliches Wissen infrage. Mit seinem schwarzen Haar und den hohen Wangenknochen sah er aus, wie sich die Teilnehmenden einen Ureinwohner Nordamerikas vorstellten. Das reichte, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Fast taten sie Mato leid. Aber nur fast. Wer meinte, ein Tanz könne Regen heraufbeschwören, hatte nichts Besseres verdient.

Er legte den Kopf in den Nacken und trug in nasalem Singsang ein Regengebet vor. Anders als seine Großmutter glaubte er nicht, dass die reale Welt mit der Geisterwelt verflochten war, doch die Tanzenden erwarteten ein Gebet, also gab er ihnen eines. Während er sang, dachte er an die Schöpfungsmythen seines Volkes. Daran, dass die erste Erde entstanden war, als der kleine Wasserkäfer von der Himmelswelt herunterkam, um zu sehen, was sich unter der Wasseroberfläche befand. Er konnte sich nirgends ausruhen, also tauchte er auf den Grund ab und sammelte weichen Schlamm ein, der sich daraufhin in alle Richtungen ausdehnte. Als Kind hatte Mato diese Geschichte geliebt, deshalb trug er sie hier nicht vor. Genauso wenig, wie er über die Sonnengöttin sprach, die über alles herrschte, oder über die Donnerwesen, die unter Wasserfällen lebten. Geschichten keimten im Herzen und wuchsen langsam heran. Man stülpte sie sich nicht über wie ein neues Kleidungsstück.

Er drehte eine weitere Runde um das Feuer. Es hätte längst regnen sollen, noch war aber kein Tropfen gefallen. Er erwog, für heute Schluss zu machen. In Gedanken formulierte er bereits eine Erklärung für den Misserfolg, als er eine Frau entdeckte, die außerhalb des Kreises stand. Kastanienbraunes Haar, zu einem langen Zopf geflochten. Dichte Brauen über großen Augen, die ihn ernst anschauten. Sie war hochgewachsen, schlank, aber kräftig. Ihr Kleid reichte ihr bis zu den Knöcheln, darüber trug sie ein offenes Männerhemd.

Siena Salis.

Mato stimmte ein neues Gebet an. Er unterstrich seine Worte durch schaukelnde Bewegungen, dabei bemühte er sich, nicht in Sienas Richtung zu schauen. Monatelang hatte er auf diesen Moment gewartet. Er hatte an Veranstaltungen teilgenommen, die sie besuchte, und sich mit Themen beschäftigt, die sie interessierten. Er kam sich vor wie ein Tier, das seine Beute einkreiste. Nur ihren Kindern ging er aus dem Weg. Instinktiv spürte er, dass er sie in die Flucht schlagen würde, wenn er Emilia oder Noah zu viel Aufmerksamkeit schenkte.

Natürlich hätte er ihr auch einfach seine Hilfe anbieten können. Seit sie alleine mit den Kindern auf dem alten Bauernhof in Sternenberg lebte, kam sie kaum nach mit der Arbeit. Doch Mato wusste, dass sie ihm nur vertrauen würde, wenn sie selbst die Initiative ergriff. Also schuf er Gelegenheiten und half dem Zufall so oft wie möglich nach.

Als belohnte der Himmel seine Geduld, begann es in diesem Augenblick zu regnen. Voller Ehrfurcht schauten die Tanzenden Mato an. Der ungewöhnlich trockene Frühling war seit Wochen Thema. Förster beklagten sich über die Auswirkungen auf die Bäume, Landwirte, Winzer, Gemüse- und Obstbauern befürchteten Ernteausfälle.

Ein junger Mann fiel auf die Knie und wandte das Gesicht dem Regen zu. Ein anderer bedankte sich bei Mato, als hätte er höchstpersönlich das Wetter geändert.

Mato schloss die Augen, damit keiner die Verachtung in ihnen sah. Laut Wetterapp betrug die Regenwahrscheinlichkeit heute Abend achtundneunzig Prozent. Dennoch führten die Anwesenden den Wetterumschwung auf seinen Tanz zurück. Die Menschen glaubten eben das, was sie glauben wollten. Als Mato die Augen wieder öffnete, bemerkte er, dass Siena lächelte. Ihre Blicke trafen sich. Langsam kam sie auf ihn zu.

2

Der Regen prasselte gegen die Scheiben des Polizei- und Justizzentrums. Das düstere Wetter ließ den Sichtbeton grauer, die gläsernen Trennwände kälter wirken. Nicht zum ersten Mal sehnte sich Staatsanwältin Regina Flint nach ihrem alten Büro am Helvetiaplatz. Wehmütig dachte sie an die knarrenden Holzböden und verwinkelten Gänge zurück. Drei Jahre waren seit dem Umzug vergangen, doch sie fühlte sich an ihrem neuen Arbeitsplatz immer noch nicht wohl. Die Lüftung ließ ihre Augen tränen, ihr kleines Büro war eng und unpersönlich. Sie war froh, dass sie an einem Tag pro Woche von zu Hause aus arbeiten konnte.

Einen Vorteil aber hatte das riesige Verwaltungsgebäude. Nicht nur die Staatsanwaltschaft war darin untergebracht, sondern auch die Kantonspolizei, was den informellen Austausch vereinfachte. Regina stand auf, griff nach ihrer Handtasche und machte sich auf den Weg in die Kantine. Normalerweise verließ sie über Mittag das Gebäude, ging in eines der umliegenden Restaurants oder setzte sich mit einem Sandwich auf eine Bank in der nahe gelegenen Parkanlage. Sie brauchte die frische Luft und die Abwechslung. Heute aber war sie verabredet.

Tobias Fahrni wartete bereits auf sie. Er saß an einem der Fensterplätze und starrte hinaus auf einen begrünten Lichthof.

»Glaubst du, es würde dem Häuptling hier gefallen?«, fragte er, als Regina an den Tisch trat.

Er war der Einzige, der seinen ehemaligen Vorgesetzten noch Häuptling nannte. Als Bruno Cavalli das Leib/Leben verließ, gab er auch seine Stellung als Dienstchef auf.

Regina betrachtete die geschwungene Form des Lichthofs. Vermutlich hatte die Natur dem Architekten als Inspirationsquelle gedient, dennoch wirkte die grüne Insel künstlich. Nein, dachte sie, Cavalli würde es hier nicht gefallen. Ihr Lebenspartner weigerte sich sogar, mit ihrer gemeinsamen Tochter Lily den Zoo zu besuchen, weil ihn die Gehege bedrückten.

»Wollen wir uns etwas zu essen holen, bevor die Schlange länger wird?«, schlug sie vor und deutete auf die Selbstbedienungstheke.

Zehn Minuten später kehrten sie mit dem Tagesmenü an ihren Tisch zurück. Es bestand aus Älplermagronen und Brasato, dazu gab es einen kleinen Salat.

»Wie war die Abschiedsfeier gestern?«, fragte Regina.

Heinz Gurtner, Sachbearbeiter beim Leib/Leben, war nach zweiundvierzig Jahren bei der Kantonspolizei Zürich in den Ruhestand getreten.

»Fast wie früher«, antwortete Fahrni. »Wir haben uns in der Sherif’s Bar getroffen, hinter dem Kripogebäude.« Er seufzte. »In meinem ehemaligen Büro ist jetzt ein Start-up untergebracht. Am Fenster klebt das Logo von Hip Hop Zoo.«

Regina wusste genau, wie ihm zumute war. Sie fragte sich, wann sie damit begonnen hatte, zurückzublicken statt nach vorne. Als junge Staatsanwältin hatte sie davon geträumt, die Welt zu einem gerechteren Ort zu machen. Voller Zukunftsglaube und Optimismus hatte sie sich in die Arbeit gestürzt. Nach und nach holte sie die Wirklichkeit ein. Eine Staatsanwältin sorgte selten für Gerechtigkeit, ja nicht einmal immer für Recht. Außerdem hatte sie lernen müssen, dass Machtverhältnisse, Strukturen und Befindlichkeiten genauso wichtig waren wie die Fälle, die sie bearbeitete. Mit jedem Jahr, das verging, schraubte sie ihre Erwartungen weiter herunter. Manchmal wünschte sie sich, noch einmal die Zuversicht zu spüren, mit der sie ihre Stelle angetreten hatte.

»Worüber wolltest du mit mir sprechen?«, fragte sie Fahrni, dessen Teller bereits leer war.

Er nahm eine Flasche hervor, die mit »Taiga-Lotion« beschriftet war. »Kasimir Werit hat einen Laden eröffnet.«

Als Regina den Namen hörte, verging ihr der Appetit. Der selbst ernannte Heiler und Anhänger der pseudoreligiösen Anastasia-Bewegung stand unter dem Verdacht, mindestens einen Menschen getötet zu haben, doch sie konnten ihm nichts nachweisen.

Regina griff nach der Flasche. »Wo?«

»Im Zürcher Oberland.«

Frustriert presste Regina die Lippen zusammen. Kasimir Werit hatte es lange vermieden, sich irgendwo niederzulassen. Offenbar glaubte er nun nicht mehr, dass ihm Gefahr seitens der Polizei drohte. Regina googelte den Laden auf ihrem Handy und stieß auf ein Foto des Heilers. Mit seinem langen Bart und dem glückseligen Ausdruck erinnerte er sie an eine Mischung aus dem russischen Wanderprediger Rasputin und der Sektenführerin Uriella. Bloß, dass sich Kasimir Werit nicht auf Gott berief, sondern auf die Romangestalt Anastasia des Autors Wladimir Megre. In seinem zehnbändigen Werk propagierte Megre ein naturnahes Leben auf sogenannten Familienlandsitzen. Eine schöne Vorstellung, dachte Regina, wären da nicht die antisemitischen Textstellen und das vorsintflutliche Frauenbild. Die Schweizer Fachstelle InfoSekta stufte den Anastasianismus als völkische, rechtsextreme Blut-und-Boden-Ideologie ein. Reginas Meinung nach war die Bewegung besonders gefährlich, weil sie Menschen anzog, die nichts mit Sekten am Hut hatten, sondern einfach im Einklang mit der Natur leben wollten. Ein Trend, der in den letzten Jahren immer stärker geworden war. Viele Anhänger hatten die Schriften Wladimir Megres nicht einmal gelesen.

Vor achtzehn Monaten hatte der Filmemacher Levin Brauer die Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm über den Anastasianismus aufgenommen. Kurz darauf war er mit einem Berner Gertel erschlagen worden. Die letzte Person, die er interviewt hatte, war Kasimir Werit. Dieser behauptete hartnäckig, er sei Brauer nicht feindlich gesinnt gewesen, obwohl der Filmemacher ihn verbal angegriffen und seine Heilkünste als Hokuspokus bezeichnet hatte. Ein Jahr zuvor war ein anderer Kritiker spurlos verschwunden, auch damit wollte Werit nichts zu tun gehabt haben.

»Warst du in dem neuen Laden?«, fragte Regina. »Hast du mit Werit gesprochen?«

»Ja.« Fahrni steckte die Flasche wieder ein. »Er war freundlich wie immer.«

Regina dachte an die sanfte Stimme und die großen Hände des Mannes, die ihn nicht bedrohlich, sondern wie einen liebenswerten Welpen erscheinen ließen. Während der Einvernahme hatte sie sich gefühlt, als laufe sie gegen eine Gummiwand. Nichts konnte Werit aus der Ruhe bringen. Provokationen entlockten ihm ein Lächeln, Anschuldigungen entkräftete er mit höflichen Plattitüden.

»Er bietet seit Neustem auch Beratungen an«, fuhr Fahrni fort.

»Für Menschen, die ihre Feinde loswerden wollen?«, fragte Regina trocken.

Fahrni, der keinen Sinn für Ironie hatte, schüttelte den Kopf. »Für solche, die ihr Potenzial entfalten möchten.«

Regina ballte die Fäuste. Kasimir Werit löste eine Wut in ihr aus, die sie selbst überraschte. Sie hatte sich nie gut von ihrer Arbeit abgrenzen können, normalerweise war es jedoch ein Mitgefühl, das sie beschäftigte. Mit Opfern von Gewalttaten, deren Leben von einem Moment auf den anderen auf den Kopf gestellt wurde. Angehörigen, die einen Elternteil, ein Geschwister oder gar ein Kind verloren hatten. Manchmal auch mit einem Täter, dessen Weg von Anfang an vorgezeichnet war, weil er am falschen Ort, zur falschen Zeit oder in die falsche Familie hineingeboren worden war. Die Wut, die sie jetzt spürte, war neu. Eine tiefe Ohnmacht lag ihr zugrunde.

»Wie geht es dem Häuptling?«, fragte Fahrni.

»Er ist gestern nicht wie vereinbart nach Hause gekommen«, antwortete Regina.

»Warum hast du uns nichts gesagt?« Fahrni sah sie besorgt an. »Für Paz ist es kein Problem, kurzfristig einzuspringen.«

»Chris hat heute frei, er ist mit Lily in den Zoo gefahren.«

Fahrnis Lebenspartnerin Paz betreute Lily an drei Tagen pro Woche. Lily liebte die Paraguayerin, doch an ihren Halbbruder Chris kam niemand heran.

»Das freut Lily bestimmt«, sagte Fahrni.

Regina nickte abwesend.

»Machst du dir Sorgen um den Häuptling?«, fragte Fahrni.

»Vermutlich ergab sich endlich eine Gelegenheit, Siena Salis näher zu kommen, die er nicht verpassen wollte. Du weißt, wie er ist. Die Arbeit kommt immer an erster Stelle.«

Was nicht ganz stimmte, dachte sie, sprach es aber nicht aus, weil sie ihren Ängsten keinen Vorschub leisten wollte. Seit Lily vor sechs Jahren zur Welt gekommen war, bemühte sich Cavalli, so viel Zeit wie möglich mit seiner Tochter zu verbringen.

»Lass es mich wissen, wenn ich etwas tun kann«, sagte Fahrni und stand auf. »Ich muss los. Bis später.«

Regina hätte auch an ihren Arbeitsplatz zurückkehren sollen, stattdessen kramte sie ihr Handy hervor und starrte auf das Display. Kein Anruf von Cavalli. Kurz erwog sie, ihm eine Nachricht zu schreiben, doch sie durfte nur im Notfall Kontakt mit ihm aufnehmen. Resolut steckte sie das Telefon zurück in ihre Tasche.

Das Polizei- und Justizzentrum, kurz PJZ genannt, war nicht nur das komplexeste Gebäude des Kantons Zürich, sondern auch das größte. Während Regina den langen Weg durch das Hauptatrium zu einem der zweiunddreißig Aufzüge ging, kreisten ihre Gedanken wieder um Kasimir Werit. Der Heiler war als Siebenjähriger mit seiner Mutter Ewa aus dem westsibirischen Serow in die Schweiz gekommen, wo Hans Inauen auf einem abgelegenen Bauernhof im Appenzell mit einem Heiratsangebot wartete. Kasimir besuchte die Dorfschule, schloss aber keine Freundschaften. Seine Freizeit verbrachte er meistens im Stall oder auf dem Feld. Seine Hilfe war willkommen, und die Arbeit gefiel ihm. Vermutlich hätte er den Betrieb übernommen, wäre nicht sein Halbbruder Markus zur Welt gekommen. Kasimir war siebzehn, als der Nachzügler in sein Leben drang. Er brach seine Bauernlehre ab und reiste zurück nach Sibirien. Dort kam er mit der Anastasia-Bewegung in Kontakt, die einen enormen Auftrieb erlebte, seit man im fernen Osten des Landes gratis bis zu einem Hektar Land erwerben durfte.

Warum Kasimir Werit Sibirien wieder verlassen hatte, war Regina nicht ganz klar. Er selbst behauptete, er habe dort seine besonderen Kräfte entdeckt, worauf er sich berufen sah, Anastasias Botschaft in die Welt hinauszutragen. Sein Weg führte ihn zuerst nach Brandenburg, wo er zwei Jahre in einer Anastasia-Siedlung mit engen Kontakten zur rechtsextremen Jungen Landsmannschaft Ostpreußen lebte, danach kam er in die Schweiz zurück. Im Zürcher Oberland gründete er die rechtsesoterische Gruppe Neue Zukunft, die sich für ein autarkes Leben auf dem Land einsetzte. Er fand rasch Anhänger.

Fünfzehn Monate später verschwand Daniel Salis. Der Sozialpädagoge und seine Familie hatten im Zürcher Oberland ihren Traum von einem Haus mit großem, nach Permakultur-Grundsätzen angelegtem Garten verwirklicht. Sie lebten nicht autark, produzierten aber so viel wie möglich selbst. Siena Salis verkaufte Honig, Eier und überschüssiges Gemüse, die beiden Kinder kümmerten sich nach der Schule um die Tiere. Daniel arbeitete nebenbei im Tösstal in einem Wohnheim für Männer mit Beeinträchtigungen. Eine Idylle – bis Kasimir Werit auftauchte. Daniel konnte wenig mit den Ansichten des Heilers anfangen, Siena aber war fasziniert vom Anastasianismus. Sie begann, Röcke statt Jeans zu tragen, lehnte sich gegen moderne Technik auf und stellte ihre Ernährung um. Als sie die Kinder aus der öffentlichen Schule nahm, sah sich Daniel gezwungen zu handeln. Er verließ Siena und beantragte das alleinige Sorgerecht. Kurz darauf kehrte er nach einer Nachtschicht im Heim nicht mehr in die Wohnung seiner Schwester zurück, wo er seit der Trennung lebte.

Regina war beim Aufzug angekommen. Sie fuhr in den zweiten Stock, auf dem alle spezialisierten Staatsanwaltschaften untergebracht waren, auch die Staatsanwaltschaft I für schwere Gewaltkriminalität.

»Regina!«, rief Silvio Tozzi, als sie an seinem Büro vorbeiging.

Sie blieb in der Tür stehen.

Der Abteilungsleiter winkte sie herein. »Setz dich.«

Regina zögerte.

»Es dauert nur eine Minute«, sagte Tozzi.

Regina unterdrückte einen Seufzer und nahm auf dem Besucherstuhl Platz. Tozzi hielt eine ausgedruckte E-Mail in der Hand. Das Deckenlicht spiegelte sich in dem Siegelring, den er am rechten kleinen Finger trug. Regina hatte einmal gelesen, dass ein Ring am kleinen Finger Klugheit, gute Kommunikationsfähigkeiten und Erfindungsreichtum symbolisierte. Eigenschaften, die sie nicht mit Tozzi verband.

»Geht nicht«, sagte er und winkte mit der E-Mail.

Regina musste die Mail nicht lesen, um zu wissen, wovon er sprach. Sie hatte sich bei der Oberstaatsanwaltschaft darüber beschwert, dass neu eingestellte Verwaltungssekretärinnen mehr verdienten als die, die seit Jahren bei der Staatsanwaltschaft arbeiteten. Reginas Sekretärin hatte deswegen vor einem halben Jahr gekündigt. Natürlich hatte Regina nicht damit gerechnet, dass sich nach ihrem Vorstoß etwas verändern würde, aber manchmal musste man eben ein Zeichen setzen.

Tozzi lehnte sich in seinem Sessel zurück, faltete die Hände über seinem Wohlstandsbauch und hob zu einem Monolog über Strukturen an. Regina blendete seine Stimme aus und ließ sich stattdessen die Aussage von Daniel Salis’ Mitarbeiterin Carmen Di Cerbo noch einmal durch den Kopf gehen. Sie war die Letzte, die vor seinem Verschwinden mit ihm gesprochen hatte. Bei einem gemeinsamen Kaffee nach seiner Nachtschicht hatte er sich darüber beklagt, dass Siena die Kinder gegen ihn aufzubringen versuche. Er hatte ihr erzählt, dass seine Tochter ihn als »schmutzig« bezeichnete und nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Laut Di Cerbo wollte Daniel auf dem Nachhauseweg mit ihr reden. Auf dem Hof kam er aber nie an. Die damals elfjährige Emilia und der fünf Jahre jüngere Noah hatten ihren Vater an diesem Morgen nicht gesehen. Dafür war Kasimir Werit bei Siena gewesen. Gut möglich, dass sich die beiden Männer unterwegs begegnet waren.

»… könnte mir durchaus vorstellen, dich zu empfehlen«, sagte Tozzi jetzt. »Allerdings muss Schluss sein mit solchen Aktionen.«

»Empfehlen?«, wiederholte Regina. »Wofür?«

»Abteilungsleiterin, natürlich!«

Regina starrte ihn an. Ein wohlwollendes Lächeln lag auf seinem aufgedunsenen Gesicht.

»Hast du gekündigt?«, fragte sie ein bisschen zu enthusiastisch.

»Wie kommst du auf diese absurde Idee?«

Auf einmal fiel es ihr wieder ein. Erst kürzlich hatte eine Kollegin erzählt, dass Tozzi damit rechne, Nachfolger des Leitenden Staatsanwalts zu werden, der sich krankheitsbedingt hatte beurlauben lassen. Regina konnte sich nicht vorstellen, dass man Tozzi für geeignet hielt. Andererseits hatte das den Oberstaatsanwalt noch nie davon abgehalten, jemanden zu befördern.

»Und?« Tozzi wirkte irritiert, offenbar hatte er von Regina Begeisterung erwartet. »Du müsstest natürlich einen Führungskurs absolvieren, die Verantwortung eines Abteilungsleiters ist nicht zu unterschätzen.«

»Danke, aber ich fühle mich in meiner Position wohl.«

Tozzi blinzelte ein paar Mal. »Du möchtest nicht …«

»Nein«, stellte Regina klar. »Führungsaufgaben reizen mich nicht. Mir gefällt die Fallarbeit. Apropos, hast du gehört, dass Kasimir Werit einen Laden eröffnet hat?«

Tozzi starrte sie ungläubig an.

»Offenbar glaubt er nicht daran, dass wir ihm etwas nachweisen können.«

Tozzi sah auf die Uhr, wie ein beleidigtes Kind, das seine Aufmerksamkeit demonstrativ auf etwas anderes richtete. Regina unterdrückte einen Seufzer, stand auf und kehrte an ihren Arbeitsplatz zurück. Ihr blieb noch eine halbe Stunde bis zum nächsten Termin. Sie schaute auf die zahlreichen E-Mails, die sie beantworten musste, klickte dann aber auf einen Ordner, den sie mit »Brauer« beschriftet hatte. Sie öffnete die Vorlage zu dem Dokumentarfilm, den Levin Brauer hatte drehen wollen.

3

ZURÜCK INS PARADIES

Ein Dokumentarfilm von Levin BrauerDrehvorlage

Synopsis

»Zurück ins Paradies« befasst sich mit der Ausbreitung der völkisch-esoterischen Anastasia-Bewegung. Über ein Jahr lang habe ich Menschen interviewt, die nach dem Sinn des Lebens suchen und glauben, dass eine von Wladimir Megre erfundene, märchenhafte Figur namens Anastasia ihnen dabei helfen kann. Laut Megre lebt Anastasia im Einklang mit der Natur in der russischen Taiga. Ihre engsten Freunde sind Tiere, die ihr gehorchen und ihr Nahrungsmittel bringen. Mit Menschen kommuniziert sie telepathisch. Sie kann sowohl in die Zukunft als auch in die Vergangenheit blicken. Vor allem aber kann sie mit ihren Gedanken die Welt verändern.

Megres Ansicht nach würden alle Menschen diese Fähigkeiten besitzen, wenn sie in einen Naturzustand zurückkehrten. In seinen Büchern, die sich nach seinen Aussagen schon über zwanzig Millionen Mal verkauft haben, beschreibt er, wie ein Austritt aus dem »Zeitalter der Dunkelmächte«, in dem wir zurzeit leben, gelingen kann. Dazu müsse man sich nur von der schädlichen Moderne frei machen und sich auf dem Land niederlassen.

Mich fasziniert, dass es Menschen gibt, die an Anastasia und ihre Magie glauben. In den letzten Jahren haben sich nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Österreich und Deutschland immer mehr Anastasia-Lesekreise und -Treffen etabliert. Einzelne Anhänger haben sogenannte »Familienlandsitze« gegründet, wie Megre sie propagiert. Dort bauen sie alles Lebensnotwendige an. Die Bewegung findet besonders in der alternativ-ökologischen und biolandwirtschaftlichen Szene Anklang. Hinter den Romanen verbirgt sich jedoch eine antidemokratische und verschwörungstheoretische Weltanschauung, die sie auch für Rechtsextreme attraktiv macht.

In meinem Dokumentarfilm besuche ich Familienlandsitze und porträtiere Menschen, die in das fantastische Leben der Anastasia eingetaucht sind. Ich zeige, wie Esoterik von Rechtsextremen vereinnahmt wird, und gehe der Frage nach, warum esoterische Lehren häufig irrational und antimodern sind. Schließlich zeige ich auf, warum sich eine esoterische Weltanschauung nicht mit einer aufgeklärten Gesellschaft vereinbaren lässt.

4

Das Bauernhaus lag an einem Schattenhang. Es bestand aus einem Wohnhaus, einem Stall und einer großzügigen Scheune. Ein Makler hätte vermutlich von einem historischen Objekt mit viel Potenzial gesprochen, Mato aber sah nur drei heruntergekommene Gebäude, die dringend renoviert werden mussten. Zugegeben, die Riegelfront des Wohnhauses wertete die Liegenschaft auf. Außerdem waren die Fenster kürzlich ersetzt und das Schleppdach repariert worden. Doch der Putz blätterte von der Fassade, und mehrere Balken hätten wohl längst ausgetauscht werden sollen. Vermutlich wäre dies auch geschehen, würde Daniel Salis noch hier leben.

Siena Salis stand mit einer Stechgabel vor einer Kompostanlage und setzte Kompost um. Wie während des Regentanzes am Vorabend trug sie einen langen Rock. Ihre Haare waren mit einem bunten Tuch bedeckt, ihre Füße nackt. Der Stoff an ihrem Rücken war dunkel vom Schweiß, einige Haarsträhnen hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und klebten ihr am Hals. Sie drehte sich um, als hätte sie Matos Anwesenheit gespürt.

»Du bist gekommen«, lächelte sie.

»Hast du etwas anderes erwartet?«, fragte er mit amerikanischem Akzent.

»Ich habe gar nichts erwartet.«

Sie hatte ihn gestern gefragt, ob er auch zum Boden Kontakt aufnehmen könne.

»Wo macht dir der Boden denn Sorgen?«, fragte er.

Siena schaufelte eine Schicht Humus auf den Komposthaufen, stellte die Stechgabel weg und klopfte sich die Hände am Rock ab. Sie deutete auf eine Stelle am Fuß des Hangs.

»Ich habe versucht, genau hinzuhören, aber der Boden spricht nicht mit mir.« Beschämt senkte sie den Blick.

Mato betrachtete das Gelände. Der Hang war steil, wie fast überall in Sternenberg. Siena hatte verschiedene Terrassenbeete angelegt, zwei davon waren überdacht. Vermutlich zog sie dort Tomaten. Mit Holzschnitzeln ausgelegte Wege führten kreuz und quer durch das kniehohe, mit Wildblumen gespickte Gras, vorbei an Beerenbüschen, einer Kräuterspirale und einzelnen Hochbeeten.

»Wie lange scheint dort unten die Sonne?«, fragte er.

»Um diese Jahreszeit von zehn bis fünfzehn Uhr.«

Der Standort war nicht ideal, um Gemüse zu pflanzen, aber das allein reichte nicht als Erklärung dafür, dass alles einging. Mato wusste wenig über Kulturpflanzen, doch von Topografie verstand er etwas. Wahrscheinlich konnte das Wasser, das sich am Fuß des Hangs sammelte, nicht abfließen, weil der Boden zu dicht oder zu lehmig war. Der Blutweiderich und das Schaumkraut, das er dort entdeckte, bestätigte seine Vermutung. Beide Pflanzen kamen gut mit Staunässe zurecht. Er ging in die Hocke und legte die Hände flach auf die Erde. Siena beobachtete ihn aufmerksam. Mit geschlossenen Augen verharrte er, bis er glaubte, dass genügend Zeit verstrichen war.

»Ich werde sehen, was ich tun kann«, versprach er. »Heute ist der Boden noch nicht bereit für eine Veränderung.«

Sienas Mund stand leicht offen. Erstmals fiel ihm der ausgeprägte Amorbogen an ihrer Oberlippe auf.

»Ich komme wieder, wenn die Erde mich ruft«, sagte er.

Sie nickte dankbar.

»Das könnte auch mitten in der Nacht der Fall sein.«

Sie nickte erneut. »Ich kann dich aber nicht bezahlen.«

»Ich habe gehört, dein Honig sei der beste weit und breit. Und Eier kann ich auch immer brauchen.«

Sie atmete erleichtert auf. »Magst du ein Stück frischen Honigkuchen? Ich habe ihn heute Morgen gebacken.« Plötzlich errötete sie. »Isst du gekochte Speisen?«

Mato ging durch den Kopf, dass sich viele Anastasia-Anhänger von Rohkost ernährten. »Ich nehme gern ein Stück.«

Kurz darauf betraten sie eine gemütliche Küche. Die Wände waren pastellgelb gestrichen, ein Strauß Trockenblumen schmückte den Tisch. Emilia stand an einem Holzkochherd und rührte in einem Suppentopf, aus dem der Geruch von Kohl und Zwiebeln stieg. Die behagliche Atmosphäre täuschte jedoch nicht darüber hinweg, dass auch hier einiges renoviert werden musste. Mehrere Fliesen waren kaputt, ein Riss verlief quer über die Wand oberhalb des Ofens. Jemand hatte versucht, ihn zu schließen, doch der Kitt blätterte bereits wieder ab.

»Emilia, das ist Mato«, sagte Siena. »Er ist der Sehende aus den USA, von dem ich dir erzählt habe. Mato, meine Tochter Emilia.«

Die Dreizehnjährige gab ihm mit einem leichten Knicks die Hand. Sie hatte dasselbe kastanienbraune Haar wie ihre Mutter, dort hörten die Ähnlichkeiten aber auf. Emilias Mund war ein blasser Strich, die Nase etwas zu prominent für das schmale Gesicht. Sie krümmte ihre Schultern, als wollte sie sich kleiner machen. Unwillkürlich musste Mato an Edvard Munchs Gemälde »Pubertät« denken.

Polternde Schritte ertönten auf der Treppe, und Noah platzte herein.

»Und das ist Noah«, sagte Siena mit hörbarem Stolz.

»Hallo!«, sagte Noah.

Siena sah ihren Sohn liebevoll an und reichte Mato die Hand. Verwirrt nahm er sie. Noah zögerte kurz, dann gab auch er Mato die Hand.

»Bist du Indianer?«, fragte Noah.

»Du bist ein Native American, nicht wahr, Mato?«, fragte Siena.

Noah korrigierte sich. »Bist du ein naiver American?«

Mato lachte auf. »Indianer ist völlig in Ordnung. Und ja, das bin ich.«

»Cool! Wo sind deine Federn?«

»Die habe ich zu Hause gelassen.«

»Warum?«

Siena trat einen Schritt vor und strich Noah übers Haar. »Möchtest du den Tisch decken? Wir schneiden den Honigkuchen an.«

Als Noah das Wort »Kuchen« hörte, ging er sofort zum Schrank und holte vier Teller heraus. Er stellte sie mit so viel Schwung auf den Tisch, dass Mato zusammenzuckte. Siena verzog keine Miene. Mato hatte alle zehn Bände der Anastasia-Reihe gelesen und wusste, dass der Kindererziehung eine besondere Bedeutung zukam. Befehle oder Schelten waren tabu, Strafen erst recht. Man korrigierte Kinder nicht, wenn sie etwas Falsches oder Unangebrachtes sagten, sondern lebte ihnen vor, wie sie sich zu verhalten hatten. Laut Wladimir Megre besaßen Kinder spirituelle und intellektuelle Gaben. Sie erkannten nicht nur das Wesen des Weltalls, sondern beschenkten ihre Eltern auch mit Gottesgnade. Diese Fähigkeiten gingen allerdings mit neun Jahren verloren. Noah war jetzt acht. Die Aufgabe seiner Mutter bestand darin, seinen ursprünglichen, wissenden Zustand möglichst lange aufrechtzuerhalten und zu fördern.

Siena gab eine Handvoll getrocknete Ringelblumen in eine Kanne, die sie mit heißem Wasser füllte. »Ich hoffe, du magst Tee, Mato.«

»Ringelblumentee ist jetzt genau das Richtige. Ich habe mich gestern Nacht ein wenig erkältet«, log er.

»Schläfst du in einem Tipi?«, fragte Noah.

»Leider nicht«, antwortete Mato. »Ich darf mein Tipi nicht auf öffentlichem Grund aufstellen.«

Aus dem Augenwinkel sah er, wie Siena innehielt. Dann warf sie noch ein paar Blätter Salbei in die Kanne und stellte sie auf den Tisch.

Der Kuchen schmeckte ausgezeichnet. Mato grinste, als er sah, wie sich Noah ein großes Stück in den Mund stopfte. Als Kind hatte er auf der Veranda seiner Großmutter mit ebenso großem Appetit deren Bananenbrot verschlungen.

»Wohnt ihr schon lange hier?«, fragte er.

»Seit vier Jahren«, antwortete Siena.

»Mein Vater ist verschwunden«, erzählte Noah bereitwillig.

Siena schaute zu Boden, die Wende, die das Gespräch genommen hatte, war ihr sichtlich unangenehm.

»Ich habe davon gehört«, sagte Mato ernst.

»Noah ist an den Besuch von Fremden nicht gewöhnt«, erklärte Siena die Direktheit ihres Sohnes.

»Es muss schwer für dich sein, nicht zu wissen, was mit deinem Mann geschehen ist.«

»Gott hat einen Plan«, erwiderte Siena. »Irgendwann werde ich ihn verstehen. Noch sind meine Fähigkeiten nicht stark genug entwickelt.«

Emilia, die bisher kein Wort gesagt hatte, gab einen erstickten Laut von sich. Siena nahm sie in die Arme und wiegte sie sanft hin und her. Noah sah verunsichert von seiner Schwester zu seiner Mutter, dann wandte er sich an Mato.

»Willst du unsere Ziegen sehen?«

»Klar.«

Mato trank seinen Tee, stellte die Tasse in die Spüle und folgte Noah hinaus ins Freie. Die Wolken lagen wie ein grauer Schleier über dem Hof, bald würde es wieder regnen. Mato atmete tief ein. Er liebte den Duft von feuchter Erde und frischem Grün. Rund um ihn herum erwachte die Natur. Primeln und Veilchen leuchteten rosa, gelb und blau, hinter der Scheune blühte ein Haselstrauch.

Noah stapfte den Hang hinauf zu einer Weide am Waldrand, auf der in einer leichten Vertiefung Löwenzahn, Wolfsmilch und Thymian wuchsen. Mehrere Ziegen standen dicht beisammen im Schutz eines windschiefen Unterstands. Sie trotteten Noah, der einen Salzstreuer aus der Tasche zog, entgegen.

»Gib mir deine Hand«, sagte er zu Mato.

Mato hielt ihm die Handfläche hin, und Noah streute etwas Salz darauf. Gierig leckten die Ziegen die kleinen Körner auf.

»Es kitzelt, nicht wahr?«, kicherte Noah.

Mato lächelte zurück. »Was fressen Ziegen, außer Gras?«

Noah erzählte ihm, was er über die Tiere wusste. Siena hatte ihm viel beigebracht, dachte Mato, als er den Ausführungen des Jungen zuhörte. Auf einmal vermisste er seine Tochter so heftig, dass es beinahe körperlich schmerzte. Er hatte in den vergangenen Monaten nur wenig Zeit mit ihr verbracht. Doch jetzt nach Hause zu fahren, wäre leichtsinnig. Er hatte endlich einen Fuß in der Tür, er wollte nicht riskieren, dass sie wieder zuschlug.

Noah führte ihn zu einer Schar von Gänsen. »Mama will sie weggeben.«

»Warum?«

»Weil wir sie an Menschen verkaufen, die sie braten«, erklärte er. »Kasimir sagt, das sei dasselbe, als wenn wir sie selbst essen.«

»Magst du Kasimir?«

Noah zuckte mit den Schultern. »Er ist nett. Er hilft Mama.«

»Im Garten?«

»Überall.«

Auch im Schlafzimmer?, fragte sich Mato.

»Letzte Woche hat er uns eine neue Schubkarre gebracht. Die alte war kaputt.«

»Kommt er häufig zu Besuch?«

»Er holt uns immer von der Schule ab.«

Mato nahm an, dass Noah und Emilia die Privatschule Freies Lernen im Tösstal besuchten. Die Neueröffnung hatte für Aufsehen gesorgt, da die Institution als rechtsesoterisch galt. Sektenexperten warfen den Behörden vor, sie schauten zu wenig genau hin. Nicht einmal die Tatsache, dass einer der Lehrer in einem Reichsbürgerchat auf Telegram für die Schule warb, hatte das Volksschulamt von einer Bewilligung abgehalten.

Noah fing eine Gans ein und hob sie hoch. Mit einer Hand hielt er ihr den Schnabel zu, mit der anderen strich er ihr über die Federn.

»Das ist Cosma«, sagte er. »Eigentlich braucht sie einen Teich, aber wir haben keinen. Die Polizei will sie uns wegnehmen.«

Vermutlich verstieß das Halten von Gänsen ohne Teich gegen das Tierschutzgesetz, dachte Mato.

Die Hintertür ging auf, und Siena kam heraus. Sie rief Noah, der die Gans freiließ und den Hang hinunterrannte. Mato sah, wie er nickte, bevor er im Hühnerstall hinter dem Haus verschwand.

Leichter Regen setzte ein. Siena stieg zu ihm hinauf, die Hände tief in die Taschen ihres Rocks geschoben. Sie blieb vor ihm stehen und betrachtete ihn eingehend.

»Möchtest du dein Tipi hier aufschlagen, bis die Erde bereit ist für eine Veränderung?«, fragte sie schließlich.

Auf dieses Angebot hatte er gewartet. Dass Siena es so schnell gemacht hatte, überraschte ihn. Endlich kam Bewegung in die Ermittlung.

5

Ein Spaziergänger hatte Levin Brauers Leiche in dem Wald gefunden, der an Siena Salis’ Grundstück grenzte. An der Todesursache bestand kein Zweifel. Der Hieb mit dem Berner Gertel war so heftig gewesen, dass die Spurensicherung Blutspritzer auf der Rinde einer fünf Meter entfernt stehenden Tanne gefunden hatte. Auch den Tathergang hatten die Kriminaltechniker mühelos rekonstruieren können. Der Täter oder die Täterin musste direkt hinter dem knienden Opfer gestanden haben. Levin Brauer hatte sich nicht einmal umgedreht, als der Mörder zum tödlichen Hieb ansetzte.

Mato hatte sein Tipi in unmittelbarer Nähe des Tatorts aufgebaut, damit es nicht auffiel, wenn er sich umsah. Während er Holz für ein Feuer sammelte, ging er in Gedanken den wahrscheinlichen Tatablauf durch. Brauer war nach dem Interview mit Kasimir Werit mit einer Handkamera losgezogen, um einige Sequenzen im Hagheerenloch zu drehen, einer kleinen Höhle, in der Wiedertäufer nach der Reformation Zuflucht gesucht hatten. Die Filmaufnahmen belegten, dass er die Höhle um 14.05 Uhr durch einen tropfenden Wasservorhang betreten hatte. Beim Anblick der glitschigen Steinwände hatte Mato unwillkürlich an eine Grabstätte denken müssen.

Doch Brauer war nicht in der Höhle getötet worden. Nachdem er den seichten Teich und den lehmigen Boden gefilmt hatte, war er weiter bergaufwärts marschiert. Es folgten Aufnahmen von dunkelgrünem Farn, modrigen Blättern, mit Moos bewachsenen Baumstrünken und einer imposanten Nagelfluhwand. Mato stellte sich vor, wie Brauer vorsichtig über Zweige und Äste stieg, damit die Kamera nicht zu stark wackelte. Um 15.33 Uhr verließ er das Tobel und wanderte über einen Feldweg. Die umliegenden Wiesen hatten ihn nicht interessiert, als er aber eine Krete erreichte, nahm er sich viel Zeit, um die Aussicht festzuhalten. Mato hatte bei der Sichtung des Materials das Hörnli, das Schnebelhorn und die Glarner Alpen erkannt. Das nächste Bild entstand vierzig Minuten später. Es zeigte einen handgroßen Eisenring im Gestrüpp. Ein verlorenes Werkzeug? Ein Griff? Danach tauchte Brauer erneut in den Wald ein und filmte einen Pilz vor einem morschen Baumstamm. Er schob mit einer Hand ein paar Blätter beiseite, damit der Pilz besser zur Geltung kam. Es war seine letzte Aufnahme.

Um 16.48 Uhr fiel ihm die Kamera aus der Hand. Die auf dem Film festgehaltene Welt drehte sich, Baumkronen und ein Stück eindunkelnder Himmel zogen vorbei. Kurz blitzte ein Berner Gertel vor der Linse auf, dann wurde es dunkel.

Die Tonspur gab keinen Hinweis darauf, ob der Täter Brauer aufgelauert hatte oder ob er ihm gefolgt war. Brauer hatte seine Kamera unterwegs mehrmals ausgeschaltet, er hätte ohne Weiteres jemanden treffen können, ohne dass die Begegnung aufgezeichnet wurde. Auch die Tatwaffe blieb verschwunden. Anfangs hatten die Ermittler gehofft, dass das ungewöhnliche Werkzeug jemandem aufgefallen sein könnte. Dann stellte sich heraus, dass viele Gärtner und Landwirte Berner Gertel benutzten. Auf keinem der untersuchten Werkzeuge hatte man Blutspuren gefunden. Vermutlich hatte der Täter den Gertel längst entsorgt.

Der Täter … oder die Täterin? Lange gehörte Siena Salis zu den Hauptverdächtigen. Sie hatte sowohl die Mittel als auch die Gelegenheit, um Levin Brauer zu töten. Nur das Motiv fehlte. Ganz anders sah es bei Kasimir Werit aus. Dieser besaß ein starkes Motiv, und er hätte sich nach dem Interview problemlos an Brauers Fersen heften können, ohne dass dieser es merkte. Dass er keinen Berner Gertel besaß, musste nichts bedeuten. Er wusste, wo er einen finden konnte.

Was die Polizei am meisten beschäftigte, war die Kamera. Warum hatte der Täter sie nicht mitgenommen? Oder wenigstens die Speicherkarte? War er sich so sicher, dass er nicht auf dem Filmausschnitt zu sehen war? Oder war er nach der Tat in Panik geraten und hatte sie schlicht und einfach vergessen? Die Antwort auf diese Frage hätte einen entscheidenden Hinweis zum Charakter des Täters geliefert. Hatte er den Mord geplant? Oder war die Tat im Affekt erfolgt? Was hatte sie ausgelöst?

Mato verließ sich nur ungern auf Akten. Viel lieber hätte er den Tatort unmittelbar nach dem Leichenfund untersucht. Tobias Fahrni, der die Ermittlungen leitete, war zwar gewissenhaft und gründlich, doch jeder konnte einmal etwas übersehen. Außerdem musste Mato einen Tatort riechen, um ihn wirklich zu erfassen. Sein Unterbewusstsein speicherte dabei Details, die manchmal erst dann relevant wurden, wenn weitere Informationen dazukamen.

Schritte pflügten durch das Unterholz. Mato sah, wie Noah auf ihn zurannte. Seit er vor drei Tagen sein Tipi aufgebaut hatte, schaute der Junge ständig bei ihm vorbei. Mato konnte es ihm nicht verdenken. Außer Kasimir Werit besuchte niemand die Familie.

»Was machst du?«, rief Noah atemlos.

Seine Wangen waren gerötet, er war den ganzen Weg gerannt. Er trug wie immer Latzhosen und war barfuß. Siena hatte ihm die Haare geschnitten, dadurch wirkten seine braunen Augen noch größer, sein Kinn spitzer. Er erinnerte Mato an einen Elf.

»Ich sammle Holz für ein Feuer«, antwortete er. »Hilfst du mir?«

Eifrig begann Noah, Zweige und Äste aufzulesen.

»Wie war die Schule?«, fragte Mato.

»Okay.«

Noah klang nicht begeistert. Freies Lernen machte wohl genauso wenig Spaß wie der konventionelle Unterricht.

»Mama fragt, ob du mit uns essen möchtest«, sagte er, als sei ihm eben wieder eingefallen, warum er gekommen war. »Kasimir will dich kennenlernen.«

Mato ließ sich seine Aufregung nicht anmerken, innerlich jubelte er aber. Endlich ging es richtig los.

»In Ordnung«, sagte er gelassen und begann, das eingesammelte Holz neben dem Tipi aufzuschichten.

»Können wir trotzdem ein Feuer machen?«, bat Noah.

»Sicher.«

Gemeinsam legten sie ein paar dünne Zweige in einen Steinkreis vor dem Eingang des Tipis. Siena hatte sich darüber gewundert, dass Mato die Feuerstelle außerhalb des Tipis gebaut hatte. Er hatte sich damit herausgeredet, dass er sich lieber unter freiem Himmel aufhielt. Tatsächlich aber gab es in dem alten Tipi, das er im Internet ersteigert hatte, keine Öffnung für den Rauch.

Mato holte einen Feuerpflug aus dem Zelt, den er am Vortag mit Noah angefertigt hatte. »Willst du es versuchen?«

Noah nahm das flache Holzstück mit der langen Vertiefung und legte es in die Wiese.

Mato reichte ihm einen schmalen Stock. »Weißt du noch, wie du ihn halten musst?«

Noah nickte eifrig und begann, den Pflug schnell entlang der Vertiefung im Holz zu reiben. Schon bald stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Nichts geschah. Mato übernahm und rieb so lange, bis er die entstehende Wärme riechen konnte.

»Mach du weiter«, sagte er und gab Noah den Stock zurück.

Kurz darauf stieg ein dünner Rauchfaden auf.

Mato klopfte Noah auf die Schulter. »Gut gemacht!«

Noah strahlte. Mato spürte einen Stich. Was tat er eigentlich hier? Er sollte mit seiner Tochter Feuer machen, nicht mit einem fremden Kind. Rasch verdrängte er den Gedanken. Wenn er nicht ganz bei der Sache war, unterliefen ihm Fehler. Er musste seine Rolle leben, nicht spielen.

»Ich will auch einen Feuerpflug. Können wir noch einen für mich machen?«, bat Noah.

»Klar.«

Sie brachen auf, um nach einem geeigneten Holzstück zu suchen, in das sie eine lange Vertiefung schnitzten. Als Emilia eine Stunde später zögerlich auf sie zukam, war der Feuerpflug schon fast fertig.

Sie blieb ein paar Meter vom Tipi entfernt stehen. »Wir können essen.«

»Schau mal, was wir gemacht haben!« Noah deutete auf das Holzstück, das er zwischen zwei Steine geklemmt hatte.

Emilia sah flüchtig hin, trat aber nicht näher. »Die Suppe wird kalt.«

»Komm, Noah«, sagte Mato und stand auf. »Wir machen später weiter.«

Emilia drehte sich um und eilte zurück zum Haus. Mato blickte ihr nach. Fühlte sie sich nur in seiner Gegenwart unwohl, oder mochte sie generell keine fremden Menschen?

»Wollen wir Emilia fragen, ob sie uns helfen möchte?«, fragte er Noah, während sie gemeinsam durch das Gras gingen.

Noah schüttele den Kopf.

»Warum nicht?«

»Sie macht nie mit. Wenn wir in der Schule etwas spielen, sagt sie immer, dass sie keine Lust hat. Und wenn wir nach draußen gehen, bleibt sie im Schulzimmer und liest Bücher.«

»Hat sie denn keine Freunde?«

»Nur Kasimir. Zählt er auch?«

»Ihn mag sie?«

»Glaub schon.«

Nachdenklich sah Mato zu der Tür, durch die Emilia verschwunden war. Ihr Verhalten kam ihm seltsam vor. Als quälte sie etwas. War Kasimir Werit vielleicht gar nicht an Siena, sondern vielmehr an ihrer Tochter interessiert? Dass Mädchen von einem Guru zu Sex gezwungen wurden, war nicht neu. Mato dachte an die Fundamentalist Church of Jesus Christ of Latter Day Saints, in deren Tempel Männer sexuelle Handlungen mit Minderjährigen vorgenommen hatten. Oder an den Order of St. Charbel, der Sexsklavinnen hielt. In vielen religiösen oder esoterischen Gruppen kam es zu Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt. Kasimir Werit war zwar kein Sektenführer im herkömmlichen Sinn, doch viele Anastasia-Anhängerinnen schauten zu ihm auf.

»Hilfst du uns, den Teich fertig zu bauen?«, fragte Noah und zeigte auf die Gänse. »Damit Cosma hierbleiben darf? Mama sagt, es sei ihr zu streng.«

Mato betrachtete die Vertiefung in der Ziegenweide. Er hatte nicht gemerkt, dass sie von Menschenhand gegraben worden war. Vermutlich hatte Daniel begonnen, dort einen Teich anzulegen.

»Sicher«, sagte er. »Wenn deine Mutter das möchte.«

Vor der Tür wischte Noah seine feuchten Fußsohlen kurz ab und ging ins Haus. Mato zog seine Turnschuhe aus und folgte ihm. Der Duft von Zwiebeln und frisch gebackenem Brot schlug ihm entgegen. In der Küche war für fünf Personen gedeckt. Am Kopfende des Tisches saß Kasimir Werit.

Der Prediger war schmächtiger, als Mato erwartet hatte. Immerhin propagierte er ein naturnahes Leben. Mato hatte nicht den Eindruck, dass Werit seine Philosophie in die Tat umsetzte.

»Kasimir, das ist Mato. Mato …« Siena hielt inne, wie um ihren Worten mehr Gewicht zu verleihen. »Kasimir Werit.«

Ihre Wangen waren leicht gerötet, ihre Augen glänzten.

Werit erhob sich und reichte Mato die Hand. Mato drückte sie ein bisschen kräftiger als nötig. Werit ließ sich nichts anmerken.

»Das ist also der berühmte Regenmacher.« Der Prediger setzte sich wieder.

Mato sagte nichts. Den meisten Menschen war Schweigen unangenehm, Werit aber blickte ihn nur unverwandt an.

Siena räusperte sich. »Emilia, stellst du bitte die Suppe auf den Tisch?«

»Ich mach das«, sagte Mato, ohne Werit aus den Augen zu lassen.

Der verärgerte Ausdruck, der nun über Werits Gesicht huschte, sprach Bände. Es gefiel ihm nicht, dass sich Mato benahm, als sei er hier zu Hause. Gut so. Wenn sich Werit provoziert fühlte, würde er sich vielleicht zu einer unbedachten Äußerung hinreißen lassen.

Siena gab erst Kasimir Werit von der Kartoffelsuppe, dann Noah. Anschließend waren Mato und Emilia an der Reihe. Erst danach füllte sie ihre eigene Schale. Die Abfolge erschien Mato wichtig, sie sagte viel aus über die Stellung der Anwesenden.

Werit musterte Mato. »Du kommst aus den USA, habe ich gehört?«

»Ja.« Mato nahm sich eine dicke Scheibe Brot.

»Was hat dich nach Europa geführt?«

»Sepp Holzer.«

Der österreichische Landwirt und Buchautor war ein international tätiger Berater für naturnahe Landwirtschaft und Permakultur. Mato hatte als Vorbereitung für seinen Einsatz Holzers Hof im Lungau besucht, da Siena früher in der Permakultur-Bewegung aktiv war.

»Der Agrar-Rebell«, stellte Werit fest.

Mato nickte.

»Kennst du Holzer persönlich?«, fragte Siena, sichtlich beeindruckt.

»Ich habe ihn in Tamera getroffen.«

Siena richtete sich auf. »Du warst in Tamera?«

Mato wusste, dass Siena ihren verschwundenen Mann Daniel in der portugiesischen Ökosiedlung kennengelernt hatte. »Ja, du auch?«

»Ich habe eine Zeit lang in dem Dorf gelebt.«

Sie sprachen über den Alltag in der Gemeinschaft und die Vision einer postkapitalistischen Gesellschaft, die dort gelebt wurde. Kasimir Werit war deutlich anzusehen, dass er nicht viel von dem Siedlungsmodell hielt. Mato konnte sich denken, weshalb. In Tamera stand das Kollektiv über dem Individuum. Es gab weder Platz für traditionelle Kleinfamilien noch für klassische Rollenmodelle. In der Anastasia-Bewegung hingegen nahmen Familienlandsitze eine zentrale Stellung ein. Mato fragte sich, warum sich Siena so weit von ihren Idealen entfernt hatte.

»Ich habe euch etwas mitgebracht«, wechselte Kasimir Werit das Thema und zog eine Tube hervor.

Neugierig beugte sich Noah über den Tisch. »Was ist das?«

»Zedern-Zahnpasta!«, sagte Siena freudig. »Danke!«

Mato gab sich beeindruckt.

»Hat Gott sie gemacht?«, fragte Noah.

»Die Zahnpasta nicht, aber Gott hat die Zeder als Speicher kosmischer Energien erschaffen«, erklärte Werit. »Und diese Energien sind in der Zahnpasta enthalten.«

Emilia, die bisher geschwiegen hatte, fügte mit wichtiger Miene hinzu: »Von einem Menschen, der Liebe empfindet, geht eine Strahlung aus. Die Planeten im All reflektieren die Strahlung und senden sie auf die Erde zurück. So kommt sie in die Zeder. Eine Zeder lebt fünfhundert Jahre. Ganz viel gute Energie ist in ihr enthalten.«

Werit lächelte wohlwollend. »Das ist richtig.«

Emilia blühte förmlich auf. »Aber nur Lichterstrahlung steigt auf. Von bösen Menschen geht die Strahlung in die Erde und kommt wieder als Vulkan oder Erdbeben zurück.«

»Was die bösen Gefühle wiederum verstärkt«, nickte Werit.

Noah hörte mit offenem Mund zu. Mato unterdrückte ein Schaudern. Was wurde diesen Kindern hier eingetrichtert? Würden sie irgendwann begreifen, dass man sie einer Gehirnwäsche unterzogen hatte?

Kasimir Werit wandte sich wieder an Mato. »Warum bist du in Europa geblieben? In den