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SHIATSU UND QIGONG SIND MEHR ALS «TECHNIKEN» Dieses Buch beschreibt eine Arbeit mit sich selbst und mit anderen, die die Weisheit des Ostens wie auch das Wissen des Westens mit einbezieht. Ihr eigentlicher Ursprung liegt jedoch im Inneren eines jeden Menschen. Geweckt wird ihre Kraft durch Berührung: indem wir uns von unserem eigenen Inneren berühren lassen und den Mut aufbringen, auch andere in ihrem Inneren zu berühren. Wenn Shiatsu («Fingerdruck») das Tor zum Raum der energetischen Körperarbeit ist, so ist Qigong («beharrliches Üben der Lebenskraft») der Schlüssel dazu und gleichzeitig das Licht, das den Raum ausleuchtet. Die energetische Körperarbeit entwickelt nicht nur eine Vision, die zu grundlegenden Veränderungen in der Medizin und im Gesundheitswesen führen kann, sondern eröffnet auch eine neue Perspektive für den Bereich der Psychologie, der Pädagogik und anderer Humanwissenschaften.
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Seitenzahl: 546
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Zu Beginn
Einführung
Energetische Berührungen
2.1 Die Bedeutung der Aufmerksamkeit: Konzentration und Sammlung
2.2 «Aus der Ruhe kommt die Kraft» – die Seele in den Körper einladen
2.3 Übungen und Anwendungsmöglichkeiten
2.4 Erfahrungen zwischen Behandler und Patient
2.5 Die Kraft der Berührung – mögliche Wirkungen und Fallbeschreibungen
Shiatsu-Behandlungstechnik
3.1 Zehn wichtige Grundregeln
3.2 Behandlung in der Bauchlage
3.3 Behandlung in der Seitenlage
3.4 Behandlung in der Rückenlage
3.5 Behandlung in der Sitzposition
Ursprung und Hintergrund der energetischen Körperarbeit
4.1 Die Weisheit des Ostens
4.2 Das Meridiansystem
4.3 Qigong Yangsheng
4.4 Meditation
4.5 Das Wissen des Westens
4.6 C.G. Jung als «Brückenbauer» zwischen Ost und West
Shiatsu als Tor zu energetischer Körperarbeit
5.1 Energetische Berührungen
5.2 Stufen der energetischen Körperarbeit
5.3 Die verschiedenen Schwingungs- und Behandlungsebenen
5.4 Die Tore zu inneren Kräften öffnen
5.5 Die energetische Diagnose
5.6 Energetische Körperarbeit und Träume
5.7 Durch Berührung wachsen: Möglichkeiten und Grenzen
Literatur
möchte ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, einen kurzen Überblick zum Aufbau des Buches und damit eine Lesehilfe an die Hand geben.
In der Einführung beschreibe ich zusammengefasst das gesamte Thema des Buches.
Im zweiten und dritten Kapitel sind Sie dann eingeladen, eigene praktische Erfahrungen zu sammeln: zu berühren und sich berühren zu lassen – zunächst in freier Form und dann im Rahmen der detailliert beschriebenen Shiatsu-Behandlungstechnik.
Dieses Buch ist aus der Erfahrung geschrieben, die ich in den Jahren meiner Praxis gesammelt habe. Es hat sein Ziel erst wirklich erreicht, wenn Sie seinen Inhalt aus Ihrer eigenen Erfahrung heraus bestätigen oder erweitern können. Wenn Sie jedoch die praktischen Übungen nicht durchführen wollen oder mangels Gelegenheit nicht durchführen können, so können Sie sich von ihnen inspirieren lassen, indem Sie sich beim Lesen fragen, was Sie wohl spüren würden, wenn Sie sich darauf einließen.
Weil Erfahrungen ihrer Natur nach subjektiv sind und sich nicht beweisen lassen, sind sie der Wissenschaft suspekt. Sie können sich aber dadurch bestätigen, dass sie von verschiedenen Menschen – vielleicht zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturen – gemacht werden, oder durch die Wirkung, die sie hervorbringen. Mir ist wichtig, mein eigenes Erleben in den Kontext der östlichen und westlichen Traditionen zu stellen. Im Osten wie im Westen hat sich eine Weisheitslehre beziehungsweise ein Wissen entwickelt, das uns hilft, unsere eigenen Erfahrungen zu verstehen, und uns ermutigt, uns auf neue Schritte einzulassen. Wir müssen dabei unterscheiden zwischen dem Erleben selbst und dem Verständnis, das sich aus ihm entwickelt, beziehungsweise dem Rahmen, in den wir es einordnen. So weit Sie mit diesen Lehren bereits vertraut sind, können Sie die entsprechenden Abschnitte im vierten Kapitel «Ursprung und Hintergrund » getrost nur überfliegen oder ganz auslassen. Manchen aus der Praxis kommenden Lesern mag dieses Kapitel aber auch helfen, einen Verständnisrahmen für die eigenen Erfahrungen zu finden.
Besonders ausführlich bin ich in diesem Zusammenhang auf die Qigong- Praxis eingegangen. Sie ist der Schlüssel zu den meisten in diesem Buch beschriebenen Erfahrungen und Erkenntnissen und damit ein – wie ich meine – besonders wichtiger Abschnitt.
Sowohl die östlichen wie auch die westlichen Kulturen haben ihren eigenen Blick auf das Leben und den Menschen entwickelt. Im letzten Kapitel möchte ich aufzeigen, dass uns im Shiatsu beide Blickwinkel hilfreich sein können, dass sie verschiedene Aspekte des Menschseins beleuchten und dass sie einander ergänzen.
Welche Prozesse in einer Shiatsu-Behandlung eingeleitet werden, hängt unter anderem davon ab, wie, mit welcher Grundausrichtung, wir in die Behandlung gehen. Bei der gleichen Behandlungstechnik können sich dadurch ganz unterschiedliche Wirkungen ergeben. Einige lassen sich besser verstehen, wenn wir sie mit östlichen Augen anschauen, andere schlüsseln sich auf, wenn wir das Wissen des Westens zugrunde legen. Das Ziel dieses Buches ist jedoch, das eigene Erleben mit neuen, möglichst vorurteilsfreien Augen anzuschauen.
Ich habe mich bemüht, die wichtigsten Grundaussagen in verschiedenen Zusammenhängen darzustellen und aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Dabei kommt es notgedrungen zu Wiederholungen. Diese sind hilfreich, um die Aussagen wirklich zu verstehen. Ich bitte um Entschuldigung, wenn hier und da etwas wiederholt wird, das Sie bereits verstanden haben. Vielleicht kann ich Sie hier überreden, solche Stellen aktiv auf sich wirken zu lassen, da sie dann zum einen tiefer einsinken und sich zum anderen mit anderen Gedanken und Erfahrungen verknüpfen können.
Mehr als 200 Jahre hatte sich Japan von der übrigen Welt isoliert, bis die Amerikaner gegen Mitte des 19. Jahrhunderts das Land mit Waffengewalt zur Öffnung, zum Handel und damit zur Aufnahme der westlichen Kultur zwangen. Im Rahmen der darauf folgenden Meiji-Restauration ab 1868 erlebte Japan einen einschneidenden Wertewandel, dem auch fast die überlieferte, tausend Jahre zuvor aus China übernommene Medizin zum Opfer gefallen wäre. Sie durfte laut Gesetz nur noch von Ärzten ausgeübt werden, die an den neu eingerichteten Universitäten ein Studium westlicher Schulmedizin absolviert hatten. De facto wurde die eigene Heilkunde gezwungen, in den Untergrund zu gehen, um zu überleben. Betroffen von dieser Regelung waren auch die verschiedenen Massageformen, die in der fernöstlichen Medizin von jeher einen höheren Stellenwert hatten als bei uns.
Aus dieser Not heraus entwickelten erfinderische Behandler eine etwas abgewandelte Behandlungstechnik, die sie Shiatsu («Fingerdruck») nannten und deren Wirkungsweise sie mit dem Wissen westlicher Schulmedizin zu erklären suchten, in erster Linie wohl, um eine Möglichkeit zu finden, wieder praktizieren zu dürfen. Es ist das große Verdienst vor allem von Shizuto Masunaga, dass er die Wirkung von Shiatsu im Rahmen der traditionellen fernöstlichen Medizin beschrieb, nachdem die eigene Heilkunde nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zugelassen war.
Dies ist ein wichtiger Punkt. Shiatsu ist so einfach auszuüben und so wenig festgelegt, dass es jeder auf seine Art praktizieren kann. Wer es als eine Muskelmassage begreift, kann damit die Muskeln massieren. Wer es im Rahmen der traditionellen chinesischen Medizin anwenden möchte, kann dies tun und sicher sein, dass es auch die entsprechenden Wirkungen tut. Für einen anderen Behandler kann Shiatsu ein Weg sein, dem Patienten zu helfen, mit im Körper gespeicherten, nicht gelebten Gefühlen in Kontakt zu kommen. Kurz: Shiatsu ist das, was der Behandler daraus macht. In diesem Buch soll Shiatsu beschrieben werden als Tor zu energetischer Körperarbeit beziehungsweise als ein Aspekt energetischer Körperarbeit.
Shiatsu ist eine einfache Behandlungsform, in der durch Berührung, Fingerdruck und Dehnungen der Körper und die in ihm wirkenden Kräfte ins Feld der Aufmerksamkeit geholt werden. Im von Masunaga entwickelten Shiatsu folgt der Behandler mit Hilfe einer Fingerdrucktechnik den Meridianen, das heißt den Bahnen, auf denen nach Erfahrung der chinesischen Medizin das Qi, die Lebenskraft fließt. Die Behandlung findet üblicherweise auf einer Matte am Boden statt. Der Patient sollte entspannt und doch wach und aufmerksam sein für das, was sich in ihm ereignet. Es ist die Kunst des Behandlers, natürlich und schlicht in gesammelter Aufmerksamkeit dem Fluss der inneren und äußeren Bewegungen zu folgen. Die Grundlage der Bewegung ist die innere Stille, aus der sich von alleine der nächste Schritt ergibt.
Weil Shiatsu so wenig festgelegt ist, weil seine ungekünstelte, klare Drucktechnik als Kommunikationsträger hervorragend geeignet ist, bietet Shiatsu sich im Rahmen der energetischen Körperarbeit als Behandlungstechnik an. Der Begriff Shiatsu soll hier in diesem Sinne verstanden werden.
Shiatsu ist immer spannend und neu, vor allem wenn man es nicht im Rahmen eines vorgegebenen Systems anwendet, sondern sich von den Bewegungen des Lebens selbst leiten lässt. Es fordert dazu auf, ein eigenes Verständnis, eine eigene Sprache für die Gesetzmäßigkeiten zu entwickeln, die sich in den auftretenden Veränderungen offenbaren. Zu Beginn meiner Behandlertätigkeit passierte es mir des Öfteren, dass Patienten nach einer Reihe von Behandlungen sagten, dass ihre Schmerzen unverändert seien, sie ihnen aber nichts mehr ausmachten. Offensichtlich war in diesen Fällen die Wirkung auf die Psyche größer als auf den Körper.
Therapie und Weg
Einmal kam eine junge Patientin, die seit zwei Jahren immer wieder Blasen- und Niereninfektionen und einen chronischen Kopfschmerz in der Stirn hatte. Behandlungen mit Antibiotika halfen immer nur für wenige Wochen. Begonnen hatten die Beschwerden nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes, den sie nicht verkraftet hatte. Sie gab an, oft ein Gefühl zu haben, als stehe sie neben sich – eine sehr deutliche Beschreibung für eine Art Schockzustand, in dem Körper und Geist sich teilweise getrennt hatten. Ihre Freunde hatten sich gewundert, dass sie die Beerdigung und die Zeit nach dem Tod ihres Mannes so gut gemeistert hatte; die junge Frau selbst erzählte, dass sie alles nur wie im Traum und in gewisser Weise teilnahmslos erlebt habe. Ihr Arzt konnte mit dieser Beschreibung nichts anfangen. Durch Shiatsu-Behandlungen verschwanden ihre Beschwerden, und sie begann, zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes, noch einmal intensiv zu trauern. Offensichtlich hatte sie den übergroßen Schmerz nicht ertragen können, und er hatte sich als physische Krankheit manifestiert.
Mich persönlich haben im Laufe der Zeit immer mehr die seelisch-geistigen Hintergründe und ihre Bedeutung in Bezug auf körperliche Beschwerden und Krankheiten interessiert. Shiatsu kann nicht intellektuell verstanden, es kann nur im eigenen Inneren erlebt und spontan begriffen werden. Ganz wesentlich für die innere Wirkung von Shiatsu ist der gute Kontakt, das heißt die Tiefe der Begegnung zwischen Behandler und Patienten. Das Eindringen in die Meridiane mit ihren Tsubos (Akupunkturpunkte) sind eine gute, aber nicht die einzige Möglichkeit, diesen Kontakt herzustellen. Eine Begegnung, in die sich der Behandler mit Körper, Geist und Seele öffnet, kann im Inneren des Patienten ordnend und heilend wirken. Weder die westliche noch die östliche Medizin ist in der Lage, die ablaufenden Prozesse erschöpfend zu benennen. Je tiefer die Veränderungen, desto subtiler und weniger fassbar sind sie, aber desto durchdringender wirken sie in alle Bereiche des Lebens. Je mehr sich der Patient in der Behandlung als Einheit von Körper, Geist und Seele erlebt, desto deutlicher zeigt sich auch die Wirkung in Körper, Geist und Seele gleichermaßen.
Es geht also nicht um die Frage, welche Krankheit oder welche Störung sich mit Shiatsu behandeln lässt, sondern welchen Menschen es helfen könnte. Und da sind wir schon bei der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen von Shiatsu angekommen. Grenzen sind auf jeden Fall da gegeben, wo der Patient nicht zu einer Veränderung im Denken, im Fühlen oder im Körper bereit ist. Denken wir zurück an die junge Frau mit den Niereninfektionen. Wäre sie nicht bereit gewesen, nun ihre Trauer zuzulassen, so wäre die gleiche Behandlung mit Sicherheit nicht erfolgreich gewesen. Kein Shiatsu-Behandler kann außer ein paar vorübergehenden Effekten etwas für einen Menschen tun, wenn dieser es nicht selbst zulässt. Ein zweiter begrenzender Faktor liegt im behandelnden Therapeuten. In der Tiefe der Begegnung mit dem Patienten wirkt nicht primär, was der Behandler gelernt hat und was er tut, sondern was er ist. So aufgefasst ist Shiatsu keine Methode, sondern ein Weg. Ob und in welcher Weise Shiatsu wirkt, hängt davon ab, wo auf diesem Weg sich der Behandler befindet. Wichtig ist natürlich auch, ob der Patient grundsätzlich den gleichen Weg gehen möchte und wie gut sie zusammenpassen. Shiatsu selbst hat da seine Grenzen, wo die Natur ihre Grenzen hat, und wirkt dort grenzenlos, wo wir uns der Grenzenlosigkeit der Natur zu öffnen vermögen.
Shiatsu und energetische Körperarbeit sind eng verwandt und kaum voneinander zu trennen. Beide sind nicht auf den Kampf gegen Krankheiten ausgelegt und damit keine Therapie im engeren Sinne; vielmehr sind sie Wege zu mehr Ausgewogenheit und Ganzheit. Dass eine bessere Ausgewogenheit auch Beschwerden lindern oder mitunter heilen kann, ist so etwas wie eine angenehme Nebenwirkung. Die in unserer Kultur oftmals so sehr betonte Unterscheidung von gesund und krank entspricht nicht dem Blickwinkel der energetischen Körperarbeit. Diese ist grundsätzlich eine prophylaktische Arbeit mit dem Ziel, in einen tieferen Einklang mit den Gesetzen der Natur zu kommen. Wenn wir energetische Körperarbeit als einen Weg ansehen, mit unserem inneren Heilsein in Kontakt zu kommen, so wird deutlich, dass die potentielle Gesundheit und nicht die Krankheit im Mittelpunkt steht.
Energetische Körperarbeit ist, wenn überhaupt, eine Therapie im Sinne der ursprünglichen Bedeutung des Wortes: therapeia (griech. «das Dienen, der Dienst; die Pflege»). Energetische Körperarbeit dient dem Leben beziehungsweise pflegt das Leben in uns. Sie wirkt insofern heilend, als sie uns hilft, die Ganzheit des Lebens beziehungsweise unsere Ganzheit wieder zu erfahren. Ihr Ziel geht weit über das hinaus, was wir in unserer Gesellschaft gemeinhin mit dem Begriff «gesund» verbinden. Es geht um die Erfahrung der Einheit von Körper, Geist und Seele, die unserem Menschsein als Potential innewohnt. Damit reicht das Spektrum ihrer Auswirkungen vom Körper bis hin zu spirituellen, transpersonalen Erlebnisbereichen.
Lebendige Energie
Grundlage der energetischen Körperarbeit ist die Erfahrung der traditionellen östlichen Medizin von Indien bis Japan, dass unser Körper von Energien durchströmt wird, deren harmonischer Fluss einerseits für das reibungslose Funktionieren unseres Körpers wichtig ist, die aber auch andererseits in einer engen Wechselwirkung mit unserem Geist stehen. Die Chinesen nennen diese Lebensenergie Qi (gesprochen: tschi), die Japaner Ki und die Inder Prana. Als Mittler zwischen Körper und Geist hat das Qi eine wichtige Funktion für unser physisches und psychisches Wohlbefinden.
Qi ist keine Vorstellung, kein Modell, um bestimmte Vorgänge im Menschen zu verstehen. Qi ist eine erfahrbare Realität. Die traditionelle chinesische Medizin (TCM) ist eine Erfahrungsmedizin. Auf der Grundlage der Erfahrung, dass sich Veränderungen im Energiesystem auf den Menschen als ganzen sowie auf seine verschiedenen Anteile auswirken, geht es in der traditionellen chinesischen Medizin mehr darum herauszufinden, wie die Veränderungen eintreten, als die Frage zu klären, warum das so ist. An erster Stelle stehen die Erfahrungen, erst danach kommt die Frage nach den Gesetzmäßigkeiten, die sich hinter ihnen verbergen.
Ähnlich verhält es sich mit der energetischen Körperarbeit. Sie ist eine «Arbeit», in der es darum geht, die Lebensenergie, die eigene innere Lebendigkeit zu erfahren. Da sich diese Lebendigkeit nicht erdenken, sondern nur erleben und erspüren lässt, spielt hier nicht der Kopf die wichtigste Rolle, sondern der Körper. Das Medium, mit dem hier gearbeitet wird, ist somit nicht das kognitive Verständnis, sondern das Körperbewusstsein.
Dem Funktionieren unseres Körpers mit seinen unglaublich präzise aufeinander abgestimmten hormonellen, nervlichen, vaskulären, muskulären und molekularen Prozessen liegt eine Ordnung zu Grunde, deren wundersames Wirken wir mehr und mehr beobachten und untersuchen können. Diese Ordnung selbst zu beschreiben ist jedoch sehr schwierig. Trotzdem vollzieht sie sich Augenblick für Augenblick in einem jeden von uns. Um die Erfahrung dieser dem Leben, den Lebensvorgängen innewohnenden Ordnung geht es in der energetischen Körperarbeit. Diese Ordnung ist die Grundlage jeglicher Autoregulation im Menschen, und Autoregulation finden wir sowohl im Körper als auch in der Psyche. Die phantastischen Forschungen der Wissenschaft über die biologischen Stoffwechselvorgänge, teilweise bis in den Molekularbereich hinein, geben uns zwar ausschnittweise ein Bild vom Wirken der Natur, es wird jedoch dem analysierenden Verstand nie möglich sein, dieses Wirken in seiner Ganzheit zu erfassen. Die energetische Körperarbeit fördert die natürlichen, autoregulativen Lebensvorgänge. Sie kann Menschen helfen, in die Ordnung des Lebens zurückzufinden beziehungsweise erstmalig hineinzufinden.
Die inneren Lebenskräfte (Qi) sind zwar die Grundlage für das Funktionieren unseres Körpers, jedoch normalerweise für uns nicht unmittelbar wahrnehmbar oder messbar. Dies dürfte auch ein Grund dafür sein, dass sich die westliche Medizin so schwer tut, die Existenz einer solchen Kraft anzuerkennen. Hier stehen sich wissenschaftliche Erkenntnis des Westens und Erfahrung der östlichen Traditionen als Polaritäten gegenüber und könnten sich als solche ergänzen.
Erfahren lassen sich die inneren energetischen Bewegungen (Qi-Bewegungen) zum Beispiel im jahrtausendealten Übungssystem des Qigong. «Qigong», was man als «beharrliches Üben der Lebenskraft» übersetzen könnte, ist zwar ein moderner Begriff, der in den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts als Oberbegriff für die verschiedensten Übungen der chinesischen Tradition geprägt wurde, seine daoistischen und später auch buddhistischen Wurzeln reichen aber einige Jahrtausende zurück. Qigong ist im Wesentlichen ein Selbstübungssystem, in dem der Übende unter Anleitung eines Lehrers lernt, sich über Bewegungen und inneres Gewahrsein in seinem Körper zu spüren, Körper und Geist einander näher zu bringen. Ganz wesentliche Übungsziele sind dabei Zentrierung und Erdung, Entspannung, Ruhe und Natürlichkeit, Durchlässigkeit und Ganzheitlichkeit (z.B. der Bewegung), inneres Gewahrsein und Kontakt zur eigenen Tiefe. Die meisten Übenden beginnen – nach entsprechender Übungszeit11 – die inneren Bewegungen unmittelbar wahrzunehmen. Dadurch bekommt der Übende die Chance, mit den Kräften in Kontakt zu kommen, die auf der einen Seite seine Muskulatur und seinen Stoffwechsel, auf der anderen Seite aber auch seine Gemütsbewegungen beeinflussen. Welche Bedeutung dies hat, mag ein Bild verdeutlichen:
Stellen wir uns jemanden vor, der aus einem geschlossenen Raum durch ein Fenster die Bewegungen eines Baumes betrachtet, sich dazu Gedanken macht und vielfältige Berechnungen anstellt. Wenn er dann ins Freie tritt und den Wind auf seiner Haut spürt, so kann er auf eine ganz andere Weise die Bewegungen des Baumes verstehen. Wenn wir den Wind, seine Kraft, seinen Rhythmus usw. immer wieder erfahren, so wissen wir viel über seine Wirkungen, selbst wenn wir nicht wissen, woher der Wind kommt.
Treten unsere inneren Qi-Bewegungen in unser Wahrnehmungsfeld, so wächst auch unsere Einflussmöglichkeit auf das, was in unserem Inneren geschieht. Es eröffnet sich die Chance, auf innere Lebensprozesse, die wir ohnmächtig als Zeuge oder Opfer erleben mussten, Einfluss zu erlangen. Dadurch kann ein Gefühl von Selbstbestimmtheit wachsen. Lernt zum Beispiel jemand in einfachen Bewegungsübungen, innere Weite und Gelöstheit herzustellen, so mag er dies als eine Möglichkeit erkennen, einen anderen Umgang zu finden mit seinen Grenzen, die stets im eigenen Körper an bestimmten Stellen Enge erzeugt haben. Das Gefühl, Opfer der Lebensumstände zu sein, kann abgelöst werden durch die Ahnung, dass eigenes Bemühen Hilfe bringen könnte. Oder jemand beginnt in stiller, nach innen gerichteter Aufmerksamkeit das Fließen des Qi in seinem Körper und die damit verbundene Lebensfreude zu erleben: Er macht die Erfahrung, dass Lebensfreude keine Begründung braucht, dass sie nicht erst eintreten muss, wenn Probleme gelöst sind, sondern sich auch inmitten ungelöster Probleme einstellen kann.
In östlichen Traditionen werden Körper und Geist ihrer Natur nach als Einheit gesehen. Veränderungen im Menschen kommen sowohl im Körper als auch in der Psyche zum Ausdruck, ähnlich wie die Entladung elektrischer Spannungsfelder bei einem Gewitter Blitz und Donner zur Folge hat. Wer die physikalischen Zusammenhänge nicht kennt, könnte durchaus auf die Idee kommen, dass der Blitz, da er ja zuerst erscheint, die Ursache für den Donner sei. So wie aber Blitz und Donner der sicht- und hörbare Ausdruck eines elektrischen beziehungsweise elektromagnetischen Vorgangs sind, sind psychische und körperliche Prozesse nach östlicher Anschauung der Ausdruck eines energetischen Geschehens, das mit unseren fünf Sinnen normalerweise nicht erfasst werden kann.
Körper und Psyche als Einheit
Auch in der westlichen Medizin kennen wir die Wechselwirkung zwischen Körper und Psyche2. In der Psychosomatik ist bekannt, dass sich psychische Belastungen im Körper manifestieren und dass sich körperliche Leiden wiederum belastend auf die Psyche auswirken können. Die neueren Erkenntnisse der Hirnforscher zeigen ebenfalls, dass Erlebnisse und Erfahrungen in der Lage sind, im Gehirnstoffwechsel prägnante Veränderungen hervorzurufen – eine Erkenntnis, die eine Brücke baut zu den Erfahrungen der Psychotherapeuten. Leider geht man in der allgemein praktizierten Medizin immer noch davon aus, dass Veränderungen in unserem Stoffwechsel zu Veränderungen in unserer Psyche führen und nicht umgekehrt. Psychosomatische Zusammenhänge werden daher vor allem dann in Diagnose und Therapie herangezogen, wenn die Störungen vorwiegend funktionell sind, das heißt wenn keine den Beschwerden entsprechenden Veränderungen im Körper festgestellt werden können.
Der Unterschied zwischen östlicher und westlicher Sichtweise ist deutlich: Die östlichen Traditionen sind geprägt von der Erfahrung der Einheit von Körper und Geist, während die westliche Medizin und Psychologie zwar eine Wechselwirkung zwischen Körper und Psyche sieht, aber grundsätzlich von zwei getrennten Bereichen ausgeht.
Unser Körper ist eine wichtige Brücke zwischen unserem Innenleben und der Außenwelt. In Mimik und Gestik, in Haltung und Bewegung kommen unsere Gefühle, Gedanken und Intentionen zum Ausdruck. Wir brauchen den Körper, um Ideen in die Tat umzusetzen, wir brauchen ihn, um zu kommunizieren, um zu lieben und zu spüren, dass wir geliebt werden. Unser Körper ist Ausdruck unserer selbst. Aber der Körper ist nicht nur Ausdruck eines intakten Gefühlslebens, sondern er spiegelt auch in Form von Verspannungen, Verhärtungen und Funktionsstörungen verschiedener Art wider, wenn Gefühle unterdrückt oder verdrängt werden. Erschlaffungen und Gefühllosigkeiten im Körper zeigen oft Abspaltungen von Gefühlen in der Psyche des Menschen an. In östlichenergetischer Sprache könnte man sagen, dass sich im ersten Fall der Lebensfluss (Qi-Fluss) staut und er im zweiten Fall einzelne Körperbereiche oder den ganzen Körper nicht mehr richtig durchströmt. Psychische Komplexe könnte man aus dieser Perspektive gesehen als Bündelungen von Energie bezeichnen, die um ein bestimmtes Thema kreisen.
In der energetischen Körperarbeit fließen die Erfahrung der östlichen Energielehre und die der westlichen Psychologie zusammen. In den Traditionen des Ostens interessiert man sich kaum für die Persönlichkeit; niemand fragt nach frühkindlichen, traumatischen Erlebnissen, niemand fragt detailliert nach der persönlichen Gefühlslage. Man interessiert sich jedoch sehr für verschiedenste individuelle Eigenarten wie zum Beispiel Wind- und Kälteempfindlichkeit, Schlafqualität, Schmerzempfinden an verschiedenen Körperpunkten und vieles mehr. Man könnte den östlichen Ansatz als individuell, aber nicht-persönlich bezeichnen. Er interessiert sich für alles, was hilft, die energetischen Vorgänge im Menschen besser zu verstehen. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass die Herausforderungen im alten China mehr im Überlebenskampf in der Natur mit Kälte, Wind und einseitiger Ernährung bestanden als in einem hochkomplizierten psychologischen Geschehen. Da bis in die Gegenwart hinein in den östlichen Kulturen der Unterordnung unter die Gemeinschaftsinteressen mehr Wert beigemessen wird als der Entwicklung einer individuellen Persönlichkeit, spielt die «Persönlichkeitspsychologie » bis zum heutigen Tage keine so bedeutende Rolle wie bei uns. In der spirituellen Tradition des Buddhismus wird sogar das vom Selbst abgespaltene Ich (Ego) mit seinen Wünschen und Abneigungen als die Grundursache menschlichen Leids gesehen, während in den modernen westlichen Kulturen die Erfüllung persönlicher Wünsche oft als Quelle des Glücks betrachtet wird.
In der energetischen Körperarbeit geht es um die Erfahrung und die Wiederherstellung eines reibungslosen, natürlichen Energieflusses. Dabei zeigt sich, dass uns unsere Komplexe, Abspaltungen und persönlichen Verblendungen oft an eben diesem natürlichen Zustand hindern. Wenn wir bei emotionaler Belastung einen «dicken Hals» bekommen oder eine Enge in der Brust spüren, so werden diese körperlichen Störungen von Energien hervorgerufen, die eindeutig auch mit unserer Persönlichkeit, mit unseren persönlichen Gefühlen zu tun haben. Wie wir mit unseren Gefühlen umgehen und wie das Qi in unserem Körper fließt, hat viel miteinander zu tun. Gelingt es, den Energiefluss zu verbessern, indem wir zum Beispiel lernen, mehr Weite in uns entstehen zu lassen, tun sich oft auch Lösungen für emotionale Probleme auf. Wenn es umgekehrt gelingt, einen emotionalen «Knoten» zu lösen, so zeigt sich dies wiederum in einem verbesserten Energiefluss. Energiearbeit und psychotherapeutische Arbeit können hier gut Hand in Hand gehen.
Eine gute Verbindung von Körper und Geist hat nicht nur für die Gesundheit unseres Körpers, sondern auch für die unseres Geistes eine überaus wichtige Bedeutung. Über unseren Körper drückt sich unser Geist aus; was in unserem Geist vor sich geht, wird über unseren Körper fühl- und sichtbar – und zwar für uns und andere. Der Geist nimmt in unserem Körper und durch unseren Körper Gestalt an und gibt uns selbst und anderen damit die Möglichkeit, uns selbst und uns gegenseitig wahrzunehmen. Dies ist ein wichtiger Aspekt unseres Autoregulationssystems. Was zum Ausdruck kommt, kann leichter wahrgenommen werden, und mit dem, was wir wahrnehmen, können wir und unsere Mitmenschen leichter umgehen lernen. Wenn wir in der Kommunikation mit anderen Menschen ganz natürlich, eben über den Körper, zeigen, was in unserer Psyche vor sich geht, so werden unsere Mitmenschen darauf reagieren. Technisch ausgedrückt können wir sagen: Wir geben eine Meldung und bekommen eine Rückmeldung. Diese Rückmeldung – sei sie bewusst oder unbewusst (d.h. körperbewusst) – hilft uns, im sozialen Kontakt zu bleiben, uns im Spiegel anderer zu sehen beziehungsweise zu fühlen und uns kongruent zu verhalten.
Wird diese Verbindung zwischen Körper und Geist zum Beispiel durch traumatische Erlebnisse unterdrückt oder abgeschnitten, so beginnt der Geist ohne sichtbaren Ausdruck im Körper, für den Menschen selbst nicht mehr fassbar, im Unbewussten zu wirken. Die Abspaltung des Geistes vom Körper und damit von den Gefühlen kann zunächst zu einem leicht eingeschränkten Lebensgefühl führen. Es kann aber auch bei starker und lang anhaltender Abspaltung zu neurotischen und psychotischen Veränderungen kommen, in denen der Betroffene sich nicht mehr spüren kann. Auch die sich immer weiter verbreitenden Aufmerksamkeitsstörungen (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, ADS, und Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom, ADHS) sind in diesem Zusammenhang zu sehen. Solche Prozesse geschehen jedoch oft nicht in einer einheitlichen und homogenen Entwicklung – es gibt Abspaltungen vom gesamten Gefühlsleben, wie wir es bei Menschen in schweren Depressionen vorfinden, oder Abspaltungen von einzelnen Gefühlskomplexen beziehungsweise Teilpersönlichkeiten. Manche Abspaltungen entwickeln sich allmählich, andere treten scheinbar ganz plötzlich auf beziehungsweise werden plötzlich offensichtlich; mal führen sie für eine gewisse Zeit zu einem vollständigen und mal nur zu einem partiellen Ich-Verlust.
Vertrauen und transpersonale Erfahrung
Abspaltungen sind jedoch nicht nur negativ zu sehen, sondern auch ein dem Menschen innewohnender Schutz, schwer verkraftbare Situationen zu überstehen. In der energetischen Körperarbeit können abgespaltene Anteile ins Feld der Aufmerksamkeit gehoben und nach und nach integriert werden, wie es im Falle der jungen nierenkranken Frau geschah. Da die Abspaltungen jedoch zum Überleben notwendig waren und mitunter noch sind, ist wichtig, dass die Kraft und das Vertrauen des Betroffenen auch in dem Maße mitwächst, wie er durch den lebendiger werdenden Körper wieder in Kontakt mit den Gefühlen kommt, die er schon einmal nicht ertragen zu können glaubte. Indem der Patient zum Beispiel lernt, sich zu zentrieren, in Kontakt mit seiner Mitte zu kommen, wächst auch sein Vertrauen. Es geht dabei immer um das Vertrauen zu sich selbst und nicht um das Vertrauen zu jemand anderem. Der Lehrer beziehungsweise Behandler hat dabei verschiedene Aufgaben. Er vermittelt zwischen dem bewussten Ich des Patienten und seiner oft verschütteten Tiefe, einer Tiefe, die tiefer liegt als die Störung reicht und damit heilend wirken kann. In manchen Prozessen ist diese Verbindung zur eigenen heilenden Tiefe der ausschlaggebende Faktor für die Gesundung, die sich dann unter Begleitung wie von alleine vollzieht.
Es gibt aber auch Menschen, deren bewusstes Ich den Kontakt mit der eigenen Tiefe nicht verkraften kann, was viele Fachleute dazu veranlasst, Menschen mit starken Abspaltungen und wenig Ich-Stärke vor meditativen Übungen zu warnen. Ihrer Natur nach sind meditative Übungen nach innen gerichtet und können damit wecken und lebendig machen, was im eigenen Inneren verborgen liegt. Aus psychologischer Sicht besteht die Gefahr, dass die Energien der im Unbewussten schlummernden Komplexfelder in Bewegung kommen und vor allem ich-schwache Menschen nicht in der Lage sind, mit diesen Energien umzugehen. Später soll noch ausführlicher beschrieben werden, welche Möglichkeiten die energetische Körperarbeit psychisch instabilen Menschen bietet, um den Gefahren der Meditation zu begegnen.
Neben der Aktivierung persönlicher unverarbeiteter Erlebnisse kann es aber auch in der meditativen Entspannung eines Übungs- beziehungsweise Behandlungszustandes zu transpersonalen Erfahrungen kommen. In transpersonalen Erfahrungen kann ein Erleben der Unbegrenztheit, des Verschmelzens mit der Umgebung oder des Getragenseins entstehen. Auch in einem solchen Erleben liegen Möglichkeiten und Gefahren gleichermaßen. Tiefe Berührungen können in einen Zustand der Selbstvergessenheit führen, in dem die persönliche Problematik ihre Macht verliert und ein Kontakt entsteht zu Ebenen im eigenen Inneren, die unversehrt und heil sind. Aber solche Erlebnisse können dem mit seinem abgegrenzten Ich identifizierten Menschen auch Angst machen. In unserem gesamten Erziehungs- und Schulsystem erfahren wir kaum eine Hilfe, mit transpersonalen Erfahrungen umzugehen beziehungsweise sie in unser Leben zu integrieren. Man könnte hier sogar von einem kulturell verdrängten Erfahrungsbereich sprechen. Die eigene Erfahrung und Sicherheit des Lehrers beziehungsweise Behandlers ist hier von besonderer Bedeutung.
Eine Patientin, die im Rahmen einer Shiatsu-Behandlung starke Energieströme in sich spürte, beschrieb ihr Erleben mit folgendem Bild: «Ich fühle mich wie eine Burg, wie sie Kinder am Strand bauen, um sie gegen die Flut zu verteidigen. Das Wasser dringt ein und beginnt mich zu überspülen. Das ist wunderschön und furchterregend zugleich.» Auf die Frage, worin der Unterschied zu Erlebnissen ihrer vorangegangenen Psychoanalyse liege, antwortete sie: «In der Psychoanalyse ging es immer um die Sandburg. Es wurden neue Wände eingezogen, Türen eingebaut und Fenster geöffnet.» Jahre später beschreibt sie das gleiche Gefühl des Durchströmt-Seins mit einem weniger katastrophenhaften Bild: «Es ist, als ob ich wie ausgetrocknete Erde bin und von einem sanften Regen durchfeuchtet werde und es in mir zu atmen und keimen beginnt.» Ihr Ich war mit der Kraft, gegen die am Anfang noch große Widerstände bestanden, vertrauter geworden und hat nicht nur den zerstörenden, sondern auch den befruchtenden Aspekt erfahren.
Mit transpersonalen Erfahrungen kommt eine spirituelle Komponente in die energetische Körperarbeit. Sie können uns helfen, eine Dimension des Daseins zu erfahren, die uns und unsere Leiden in einem neuen Licht erscheinen lässt. Sie werden in vielen Kulturen beschrieben und sind Teil des menschlichen Da-Seins. Die Kräfte, die von transpersonalen Erfahrungen ausgehen, können auf unsere inneren Verhärtungen wie die Frühjahrssonne auf den Schneemann wirken. Begreift sich der Schneemann als kristallisierte Form, deren Wesen in ihrer Festigkeit liegt, so spürt er eine tödliche Bedrohung. Fühlt er sich aber als vorübergehend gefrorenes Wasser, so erlebt er den Vorgang des Schmelzens als Befreiung. Es bleibt die Frage offen, ob nicht manche Beschwerden ihren Hintergrund in der Unfähigkeit haben, spontan auftretende transpersonale Erfahrungen ins Leben zu integrieren. Solche Erfahrungen zu ignorieren oder gar zu verleugnen hilft jedenfalls den Betroffenen kaum beim Umgang damit. Nicht was erfahren wird, sondern die mangelnde Fähigkeit, damit umzugehen, ist das Problem. In östlichen Kulturen wird immer wieder betont, wie wichtig an diesem Punkt die Begleitung durch einen erfahrenen Lehrer ist.
Eine der wesentlichsten Hilfen, ja Voraussetzung für die Begegnung mit der eigenen Tiefe ist eine gute Zentrierung und Erdung. Dies gilt sowohl für die Begegnung mit den ins Unbewusste verdrängten Komplexen als auch für die Begegnung mit einer grenzüberschreitenden Dimension, die das kleine Ich kaum ertragen kann. Zentrierung und Erdung tragen zu innerer Stabilisierung bei, und zwar nicht durch Starrheit und Fixierung; sie helfen vielmehr, in den sich wandelnden äußeren und inneren Umständen den Halt nicht zu verlieren. Die Unterschiede und Parallelen zwischen Ich-Stärke auf der einen und Zentrierung und Erdung auf der anderen Seite sollen später noch genauer herausgearbeitet werden.
Veränderung in der Berührung
Hier war verschiedentlich von östlichen Traditionen und westlichen Erkenntnissen die Rede, und manch einem mag sich die Frage stellen, ob energetische Körperarbeit und Shiatsu denn nun östlich oder westlich seien. Shiatsu und energetische Körperarbeit, wie sie hier beschrieben werden, sind weder östlich noch westlich: Da wir in der energetischen Körperarbeit nicht einer Lehre, sondern den Lebensvorgängen selbst folgen, machen wir dabei Erfahrungen, die wir in östlichen Traditionen beschrieben finden, wie auch Erfahrungen, die zum Beispiel in den westlichen Humanwissenschaften thematisiert werden. Ost und West sind keine Gegensätze, sondern Pole eines Ganzen, nämlich des Menschen! Zur Beschreibung der Lebensbewegungen können sowohl östliche als auch westliche Ansätze hilfreich sein.
Wer sich für die eigenen, körperinneren Energieströme sensibilisiert hat, wird auch zunehmend in der Lage sein, die Qi-Bewegungen im Inneren eines anderen Menschen zu erfassen. Über eine «einfache Berührung»3 ist es durchaus möglich, Grundlegendes, hier verstanden als «am Grunde liegendes», über den energetischen Zustand des berührten Menschen zu erfahren. Die Berührung ist ein Tor, zu einer Diagnose in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes zu kommen: Diagnose leitet sich von dem griechischen Verb dia-gignoskein ab, was so viel bedeutet wie «durch und durch erkennen». Ein alltägliches Beispiel ist der Händedruck. Nicht mit dem Kopf, aber mit dem Körperbewusstsein nehmen wir bei entsprechendem Gewahrsein unglaublich viele Informationen auf, von denen uns nur ein Bruchteil bewusst wird. Aber auch die Informationen, die uns nicht unmittelbar bewusst werden, beeinflussen unser Denken, Fühlen und Verhalten.
Im Vergleich zum Händedruck können wir uns eine therapeutische4 Berührung um ein Vielfaches intensiver vorstellen, wobei der Austausch stets in beide Richtungen stattfindet. Der Berührte kann, wenn er sich wirklich berühren lässt, zum Beispiel Kräftigung und Unterstützung erfahren, und der sensible Behandler kann über die Berührung Anspannung und Entspannung, Ruhe und Unruhe, nach außen strebende Bewegungen und nach innen gehende Bewegungen und vieles mehr im Behandelten spüren. Leichter ist es, aktualisierte Energien zu spüren als latent vorhandene; sie erscheinen dem Behandler wie Vordergrund und Hintergrund.
Wir können also grundsätzlich zwei wesentliche Bereiche der energetischen Körperarbeit unterscheiden: den der Selbstübung und den der Behandlung. Zur Selbstübung werden hier Qigong Yangsheng und Taiji Yangsheng sowie die Meditation gerechnet, Behandlungsformen sind zum Beispiel Shiatsu und Energiearbeit. Bedeutung und charakteristische Merkmale werden später noch dargestellt werden.
Ein Verständnis der hier in aller Kürze skizzierten Grundlagen der Arbeit ist notwendige Voraussetzung, um zu verstehen, was in einer Behandlung vor sich geht. Um es wirklich zu «be-greifen», bedarf es der lebendigen Erfahrung der Berührung selbst. In einer «Be-hand-lung» im Rahmen der energetischen Körperarbeit geht es darum, über Berührung mit dem Patienten zu kommunizieren. Es gilt für den Behandler, grobe und feine, ja feinste Regungen im Patienten wahrzunehmen und ihm so zu vermitteln, dass er jenseits von Worten verstanden wird. Sanft beginnt hier eine Art der Kommunikation, in der der Behandler nuanciert auf die von ihm wahrgenommenen Impulse mit Ruhe, Entspannung, Provokation, Verdichtung, lösender Weite, Zentrierung und Erdung oder anderem reagiert. Er kann durch die Art der Berührung den Patienten einladen, ihm zu folgen oder er kann ihn herausfordern, eine gewisse Gegenkraft zu entwickeln. Er kann tonisieren und sedieren, er kann Vertrauen schaffen, sich ganz fallen zu lassen, indem er sich selbst innerlich ganz fallen lässt; er kann durch die Klarheit seiner Berührung die Präsenz des Patienten fordern und ihn so in die Wahrnehmung der Gegenwart führen. Dies ist vor allem dann hilfreich, wenn der Behandelte dem Sog seiner inneren Bilder zu weit gefolgt ist und den Kontakt zur äußeren Wirklichkeit verloren hat. Es ist möglich über die Art der Berührung zu helfen, sich auf innere Erlebnisse, die im Körper gespeichert sind, einzulassen, ihnen Raum zu geben, sodass sie leichter integriert werden können. Die Betonung in der Behandlung kann auf einer sehr groben, das heißt eher körperlichen Ebene liegen, oder auf einer feinen, subtilen, eher tiefenpsychologisch wirksamen Ebene.
Es geht nicht darum, etwas zu erreichen, das einer vorgegebenen Werteordnung entsprechend gut ist. Vielmehr ist ein Ziel, im Patienten das, was ihm fehlt, als Erfahrung lebendig zu machen, um ihn so zu mehr Ganzheit einzuladen. Nicht Entspannung an sich ist positiv, sondern nur, wenn sie zu größerer Ausgewogenheit zwischen Anspannung und Gelöstheit führt. Ein Mensch, in dessen Leben die Entspannung so sehr Übergewicht bekommen hat, dass er schon zu Erschlaffung und Antriebslosigkeit neigt, braucht oft keine weitere Entspannungstechnik, sondern einen verkraftbaren Reiz, der ihm hilft, seine verloren gegangene Spannkraft wieder zu gewinnen.
Das Gleichgewicht von Yin und Yang, von Ruhe und Bewegung, von Körper und Geist, unten und oben, innen und außen usw. ist das wichtigste Ziel in der traditionellen chinesischen Medizin. Sind Yin und Yang im Gleichgewicht, ist der Mensch nicht nur gesund, sondern auch die Voraussetzung dafür geschaffen, dass sich sein Lebenssinn erfüllen kann. Um die Wiederherstellung dieses Gleichgewichts geht es auch in der energetischen Körperarbeit. Hat jemand die Ruhe (Yin) in sich kultiviert – so positiv dies auch erscheinen mag –, so werden die Hände des Behandlers den Patienten fragen, wie es um die Bewegung (Yang), den Gegenpol zur Ruhe, in ihm steht. Nur eine Ruhe, die auch die Bewegung mit einschließt, ist eine tragende Ruhe, und sie hat eine andere Qualität als die Ruhe, in die wir uns vor äußeren und inneren Bewegungen flüchten.
Einem Menschen, der von seinen inneren Spannungsfeldern zerrissen wird, kann ein Behandler über Berührung die Ruhe erfahrbar machen, die er braucht, um mit den Konflikten weiterleben zu können, die kurzfristig nicht lösbar sind. Eine Berührung im Rahmen energetischer Körperarbeit ist eine menschliche Berührung; sie ist eine Berührung, in die Anteilnahme und Mitgefühl mit dem Berührten ganz natürlich einfließt.
Bei allem bisher gesagten möge der Leser bedenken, dass die verbale Beschreibung einer reichen, vielschichtigen und immer wieder neuen Erfahrungswelt ungefähr so ist wie der Versuch, eine dreidimensionale Bewegung in zwei Dimensionen darzustellen. In jedem Augenblick eröffnet sich dem sensiblen Behandler eine große Fülle, vieles gleichzeitig und als Ganzes. Für das Körperbewusstsein ist diese Art ganzheitlichen Erlebens kein Problem, während es für unser kognitives Bewusstsein eine klare Überforderung darstellt. Es ist jedoch wichtig, dass der Patient die Impulse der Behandlung erfährt und nicht nur versteht. Ein begleitendes Gespräch kann helfen, zum Erlebten auch das passende Verständnis zu entwickeln.
Im Grunde bedürfte es bei dieser Art der «Berührungskommunikation» gar keiner speziellen Behandlungstechnik; der Behandler könnte alle Griffe kräftig oder sanft, fordernd oder fördernd, tief oder oberflächlich selbst entwickeln. Unter den mir bekannten Massagetechniken ist die des Shiatsu wegen ihrer Einfachheit am geeignetsten, um Patienten das ganze Spektrum der energetischen Körperarbeit zu vermitteln.
1 Es gibt keine Regel, wie lange es dauert, bis sich bestimmte Resultate des Übens einstellen. Die individuellen Voraussetzungen sind ausschlaggebend und bekanntlich sehr unterschiedlich.
2 Zur näheren Begriffsbestimmung der Begriffe Körper, Seele, Psyche und Geist siehe Kapitel 4. Obwohl Psyche und Seele ursprünglich das gleiche meinen, hat sich im Sprachgebrauch jedoch ergeben, dass der Begriff Psyche verwendet wird, wenn es um eine nüchterne, wissenschaftliche Betrachtungsweise der Seele geht. Wenn die religiöse, spirituelle Dimension angesprochen ist, wird eher der altmodischere Begriff Seele verwendet. Im vorliegenden Text werden in diesem Sinne je nach Schattierung beide Begriffe verwendet.
3 Mit «einfacher Berührung» ist hier eine Berührung gemeint, die nicht im Dienst irgendeiner Technik oder Methode steht. Eine einfache Berührung möchte nicht im Sinne eines vorgegebenen Zieles etwas erreichen. Sie ist sozusagen offen für alles.
4 Wenn hier und im folgenden der Begriff «Therapie», «therapeutisch» und so weiter verwendet wird, so geschieht dies immer in der ursprünglichen Bedeutung von (dem Leben) «dienend», (das Leben) «pflegend» und nicht im Sinne einer eng umschriebenen Körper- oder Psychotherapie.
In diesem Teil des Buches möchte ich Sie, liebe Leserinnen und Leser, einladen, sich auf das Abenteuer einer Berührung einzulassen, die Kraft der Berührung selbst zu erfahren. Wenn Sie zu den mehr praktisch orientierten Menschen gehören und gerne von eigenen Erfahrungen ausgehen, dann nehmen Sie sich bitte für die einzelnen Übungen genügend Zeit und beachten Sie die inneren Voraussetzungen, die zum Gelingen notwendig sind. Warum eine Berührung zu welchen Ergebnissen oder warum eine Berührung zu keinen erkennbaren Veränderungen führt, soll dann im letzten Teil des Buches beschrieben werden. Wenn Ihr Interesse an Berührungen mehr theoretischer Natur ist, dann lesen Sie sich die Übungsbeschreibungen durch und versuchen sich vorzustellen, was sich in den beschriebenen Berührungen ereignen könnte. Vielleicht bekommen Sie am Ende des Buches ja doch noch Lust, eigene Berührungserfahrungen zu machen; denn gerade, wenn es um Berührung geht, ist der Unterschied zwischen Theorie und Praxis groß.
Bevor Sie sich auf die beschriebenen Berührungsübungen einlassen, möchte ich Sie auf mögliche und manchmal unerwartete Wirkungen hinweisen. Berührungen können sehr intensiv sein. Wenn Sie sich nicht dazu aufgelegt oder in einem labilen Zustand fühlen, können Sie ohne weiteres die praktischen Übungen auslassen. Niemand außer Ihnen selbst kann die Verantwortung für das übernehmen, was sich in den Berührungen ereignet! Am besten ist, den Übungen mit Respekt, aber ohne Angst zu begegnen.
Neue Erfahrungen zulassen
Dieses Buch ist aus der praktischen Erfahrung heraus geschrieben. Es möchte Ihnen Mut machen, eigene Erfahrungen zu machen, Ihnen helfen, sie zu ordnen und ein tieferes Verständnis für Zusammenhänge und Hintergründen schaffen. Ich möchte aufzeigen, wie wichtig eine gute Wechselwirkung zwischen praktischer Erfahrung und theoretischem Verständnis ist. Ich möchte Sie einladen, über Ihre eigene Erfahrung hinaus zu überlegen, wie es wohl anderen in der gleichen Übung gehen könnte. Je mehr Sie sich bemühen, eigene Erfahrungen zu machen und ein eigenes Verständnis zu entwickeln, desto mehr wird dieses Buch zu Ihrem Buch, und desto deutlicher wird, worauf es mir ankommt: eine von vielen Möglichkeiten aufzuzeigen, das Phänomen der Berührung zu umkreisen, um aus seinem Schatz schöpfen zu lernen. Bei allen Bemühungen ist jedoch klar, dass Berührung nie vollständig erklärt werden kann. Sie ist und bleibt ein Mysterium.
Wenn zwei Menschen sich berühren, findet ein energetischer Austausch statt, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Dazu gehört der Austausch unzähliger Informationen in beide Richtungen – Informationen, die verknüpft werden mit unendlich vielen Erfahrungen, Gedanken, Hoffnungen, Sehnsüchten. Die in der Berührung empfangenen Informationen und ihre Verknüpfungen können in uns Stärkung, Wachheit, Vertrauen, Abwehr, Angst, Verwirrung und vieles mehr hervorrufen – aber was auch immer Berührungen bewirken, sie können nur zum Vorschein bringen, was latent in der Tiefe schon vorhanden war. Berührungen können Erinnerungen an Vergessenes oder Verdrängtes wachrufen, sie können uns aber auch helfen, unsere noch «eingefalteten» Potentiale zu erfahren und damit zum Ausgangspunkt von «Entfaltung» und Entwicklung, ja von Heilung werden.
Berührungen sind nonverbal und unmittelbar. Sie ermöglichen ein ganzheitliches Begreifen, das nicht unter der Vorherrschaft des Intellekts steht. Wenn wir nicht versuchen, das Mysterium einer Berührung in die Schubladen zu pressen, die unser Intellekt vorher geschaffen hat, sondern es zulassen, dass sich unser Intellekt von der unmittelbaren Erfahrung befruchten und möglicherweise neu ordnen lässt, dann kann Berührung für uns zu einem Tor werden in eine spannende und immer neue Welt. Routine (im Sinne von Gewohntes tun und eine bestimmte Wirkung erwarten) gibt es bei lebendigen Berührungen ebenso wenig wie Langeweile in der Wiederholung gleicher Griffe. Es ist bei energetischen Berührungen nicht notwendig, laufend neue Griffe zu erfinden, vielmehr geht es um das immer wieder neue Erleben der gleichen Griffe. Das heißt natürlich nicht, dass sich nicht neue Formen der Berührung entwickeln können; aber stets ist es das innere Erleben, das die äußere Form hervorbringt und lebendig macht.
Sind bei den Menschen schon die äußeren Voraussetzungen vielfältig, so sind es die inneren umso mehr. Einige von Ihnen mögen in therapeutischen Berufen tätig sein, in denen Berührungen zum Alltag gehören, andere mögen therapeutisch tätig sein, ohne je mit dem Medium Berührung gearbeitet zu haben, und wieder andere sind gar nicht therapeutisch tätig und interessieren sich ganz privat für das Thema Berührung. Aber selbst wenn zwei Menschen ähnliche äußere Voraussetzungen mitbringen, so sind doch die inneren Voraussetzungen so unterschiedlich und individuell, dass man nicht voraussagen kann, was sich in einer Berührung ereignen wird. Ich möchte Ihnen einen Rahmen geben, der es Ihnen erleichtert, eigene Erfahrungen zu machen. Zunächst soll beschrieben werden, wie wir unsere Aufmerksamkeit in einer hilfreichen Weise ausrichten können; denn es geht bei einer energetischen Berührung nicht um eine zufällige oder gedankenlose Berührung, sondern um einen Kontakt, in den Sie sich mit Ihrer ganzen Aufmerksamkeit hineinbegeben.
Eine der Schwierigkeiten und paradoxerweise auch eine der größten Hilfen, denen wir begegnen, wenn wir uns auf etwas Neues wie zum Beispiel Berührung einlassen, ist unsere Unsicherheit und Unwissenheit. Unsere Unsicherheit hindert uns oft daran, uns wirklich einzulassen, und unsere Unwissenheit verführt uns dazu, zu früh falsche Schlussfolgerungen aus den gemachten Erfahrungen zu ziehen. Bleibt zum Beispiel eine Berührung, auf die wir uns ganz einlassen, ohne eine erkennbare Wirkung, so schlussfolgern wir allzu leicht, dass die «Methode» nicht funktioniert. Ich schlage Ihnen vor, dass Sie diesem Problem zunächst aus dem Wege gehen und sich erfolgversprechende Rahmenbedingungen schaffen. Es gibt Gründe dafür, dass energetische Berührungen im einen Falle einen geradezu wundersamen Effekt haben und in anderen Fällen anscheinend ohne jede Wirkung bleiben. Diese Gründe sollten im hinteren Teil des Buches nachvollziehbar werden. Zunächst einmal gilt es, diese Tatsache einfach anzuerkennen.
Zur Hilfe werden uns unsere Unsicherheit und Unwissenheit dann, wenn wir sie annehmen. Sie haben die Kraft, uns in eine Offenheit zu führen, die uns über den Rahmen uns bekannter Konzepte hinaustragen kann. In diesem Sinne würde ich mir wünschen, dass die in diesem Buch angestellten Überlegungen nie dazu führen, dass lebendige Erfahrungen durch einengende Erwartungen verhindert werden. Vielmehr sollen alle Beschreibungen helfen, unsere Sinne zu schärfen und die Offenheit, mit der wir den Sinneseindrücken begegnen, zu fördern.
Einfach spüren
Bevor wir zu den Voraussetzungen kommen, die eine Berührung lebendig machen, soll noch geklärt werden, was wir hier unter einer energetischen Berührung verstehen. Sie ist eine Berührung ohne die Anwendung irgendeiner Technik. Es ist eine Berührung, an deren Basis wir nichts tun, sondern nur in einem stillen Kontakt sind. In diesem stillen Kontakt gilt es nicht, im Sinne irgendeiner Behandlungsmethode bestimmte Ergebnisse herbeizuführen, sondern zu «lauschen», was von alleine geschieht. Hierin steckt bereits die erste Herausforderung: Viele Menschen ertragen diese Zeit des Nicht-Tuns nicht und werden unruhig. Es ist mitunter ein langer und heilsamer Weg, solche Menschen in Momente der Stille einzuladen; je unsicherer wir selbst jedoch sind, desto schwieriger gestaltet sich das Unternehmen. Dazu kommt, dass wir selbst als Behandler und Behandlerinnen nur begrenzt in der Lage sind, uns der inneren Stille anzuvertrauen, und es fällt uns leichter, dies mit einem Menschen zu tun, der sich der Berührung in entspannter Stille öffnen kann.
Bei Berührungen steht, wie schon gesagt, das Spüren und Fühlen und nicht das Denken im Vordergrund. Es ist deshalb hilfreich, diese ersten Übungen mit Menschen zu machen, die ohne große Schwierigkeiten in der Lage sind, vom Denken zum Spüren, vom kognitiven zum Körperbewusstsein umzuschalten. Viele Menschen behaupten von sich, dass sie mit einfachen Berührungen durchaus etwas anfangen können. Bei genauerem Hinschauen zeigt sich jedoch, dass es ihnen dabei mehr um die Beobachtung und die gedankliche Reflexion geht als um das unmittelbare Erleben selbst. Oft stellt sich bei Berührungen aber auch eine Mischung ein aus unmittelbarem Erleben und gedanklicher Beschäftigung damit. Wichtig für unsere Übungen hier ist primär das unmittelbare Erleben und sekundär die Reflexion. Es ist einfacher, mit Menschen zu «arbeiten», die dem folgen können.
Wir benutzen das Wort «berühren» im doppelten Wortsinn: wenn uns jemand physisch berührt oder wenn uns etwas im Inneren berührt. Voraussetzung für eine innere Berührung ist eine Offenheit, die Bereitschaft, sich berühren zu lassen. Wenn uns etwas im Inneren berührt, dann lässt es uns nicht unverändert. Für diese Art des Berührt-Seins bedarf es keiner physischen Berührung. Umgekehrt gibt es physische Berührungen, die uns nicht wirklich berühren, das heißt die keine Wirkung auf uns haben. Es gibt Berührungen, die eine Wirkung auf Teile von uns beziehungsweise Teile unseres Körpers haben. So kann zum Beispiel die Berührung eines Physiotherapeuten eine Wirkung auf unser Kniegelenk oder unseren Schultermuskel haben, ohne dass es uns in unserem Gemüt berührt. Es kann aber auch sein, dass die Berührung eines verspannten Muskels ganze Ströme von Gefühlsbewegungen in Gang setzt und all das Aufgestaute in Bewegung bringt, das wir bewusst oder unbewusst in der Anspannung unserer Muskulatur zurückgehalten haben.
In der energetischen Berührung trennen wir Körper, Geist und Seele nicht voneinander. Wir gehen davon aus, dass zwischen allen Bereichen des Menschseins eine Verbindung besteht, ja dass sie in ihrem Ursprung eins sind und dass es im Menschen eine Kraft gibt, die auf natürliche Weise hilft, die oft verloren gegangene Harmonie beziehungsweise die ursprüngliche Einheit wiederherzustellen. Unser Problem liegt nicht darin, dass wir von dieser Kraft nicht genug hätten; es ist vielmehr so, dass wir ihrem freien Fließen zu viele Widerstände entgegengesetzt und uns so um die fruchtbaren Wirkungen gebracht haben. Energetische Berührungen können wir als eine Einladung an diese dem Leben innewohnende Kraft verstehen, in uns ordnend und harmonisierend zu wirken.
Wenn wir ein Radio in einen Raum stellen, so ist damit alleine noch keine Musik zu hören. Wir müssen zumindest den Stecker in die Steckdose stecken und das Gerät einschalten. Wenn der richtige Sender bereits eingestellt ist, hören wir mit dem Einschalten des Gerätes bereits das gewünschte Programm. Es kann aber auch sein, dass noch gar kein Sender eingestellt ist und wir nur ein Rauschen hören, oder dass der falsche Sender eingestellt ist und wir eine andere als die gewünschte Musik zu hören bekommen. Auch wenn das Bild vom Radio die Vorgänge stark vereinfacht, so hilft es uns doch, ein wenig zu verstehen, welche Rolle die Aufmerksamkeit in einer Berührung spielt.
Im Falle einer Berührung sind beide Partner Sender und Empfänger gleichzeitig. Was sich zwischen ihnen austauscht, kann sehr unterschiedlich sein und hängt von vielen Faktoren ab. Eine Berührung kann so leblos sein wie ein abgestelltes Radio. Sie kann aber auch so interessant sein wie ein guter Vortrag oder so prickelnd wie ein ausgezeichnetes Konzert.
Wenn wir mit Berührung arbeiten, so ist es zunächst einmal wichtig, die richtige Art der Aufmerksamkeit zu finden. Durch unsere Erziehung, vor allem aber auch durch unser Schulsystem, sind wir normalerweise im Denken, in unserem kognitiven Bewusstsein sehr geschult, während das Spüren, das Wahrnehmen mit dem Körper oft vernachlässigt wird. Der Schlüssel zu der in einer Berührung verborgenen Welt ist aber der Tastsinn beziehungsweise das, was wir verfeinerten Tastsinn nennen können. Wir müssen also zunächst einmal umschalten vom Denken zum Spüren, zum Fühlen. Wir betreten die Welt der Sinneswahrnehmung.
Ein zweiter wichtiger Punkt ist die Sammlung. Zerstreuung und geistige Unruhe machen es unmöglich zu erfassen, was sich in der Tiefe einer Berührung abspielt. Wenn wir auf den Grund des Wassers schauen wollen, so wirkt der zerstreute Geist wie jemand, der auf die Oberfläche mit einem Stock schlägt. Erst wenn der Geist zur Ruhe kommt, ist es uns möglich, bis auf den Grund zu schauen. Durch die in einer Berührung gesammelte Aufmerksamkeit bildet sich ein Feld der Aufmerksamkeit. Dieses Feld der Aufmerksamkeit hilft uns nicht nur wahrzunehmen, sondern es entwickelt auch eine eigene Wirk-Kraft.
Sammlung, nicht Konzentration
Sammlung ist eine andere Qualität als Konzentration. Konzentration führt leicht zu Anspannung. Sie neigt dazu, bestimmte Aspekte zu betonen und andere zu vernachlässigen. Wenn wir uns zum Beispiel auf unsere Hände konzentrieren, so zieht dies Aufmerksamkeit von unseren Füßen ab. Wenn wir es schaffen, uns auf unsere Hände und auf unsere Füße zu konzentrieren, so wird es zum einen sehr anstrengend, zum anderen wird es uns unmöglich sein, uns zusätzlich noch auf unseren Rücken, unsere Schultern und unser Becken zu konzentrieren. Denken Sie an die Geschichte vom Tausendfüßler, der zum ersten Mal in seinem Leben stolpert, nachdem er gefragt wird, wie er das beim Gehen mit seinen tausend Füßen bewerkstellige. In der Sammlung kommen selbst die komplexesten Lebensvorgänge zu einem harmonischen Miteinander; die Konzentration kann dies nicht leisten.
Konzentration ist ihrer Natur nach dualistisch, das heißt sie braucht ein Subjekt, jemanden, der sich konzentriert, und ein Objekt, etwas, auf das er sich konzentriert. Wenn wir uns auf uns selbst, zum Beispiel auf unseren Bauch konzentrieren, so spalten wir uns gleichsam auf. Als den Ort, an dem Konzentration stattfindet, sehen wir den Kopf an, der Befehlsgeber ist im Allgemeinen unser bewusstes Ich, das bestimmte Vorstellungen, Intentionen und Wünsche hat. Der Rahmen, in dem wir uns konzentrieren, ist gegeben durch das, was wir gelernt, erfahren, erkannt haben, kurz: durch das, was wir uns in der Vergangenheit erarbeitet haben. Konzentration ist ein aktiver Vorgang, in dem der konzentrierte Geist in einem bestimmten Sinn auf das Objekt der Konzentration zugeht und dann die in der Konzentration gewonnenen Informationen auswertet. Wir können Konzentration mit dem Hinunterdrücken eines Stückes Holz unter die Wasseroberfläche vergleichen. Wenn wir es loslassen, wird es seiner Natur nach wieder oben schwimmen.
Anders ist es mit der Sammlung. Sie wird verglichen mit dem Sinken eines Gegenstandes, der schwerer ist als Wasser und ganz natürlich am Grund liegen bleibt. Sammlung ist ein Zustand, der in sich ruht. Sie geschieht von alleine in Entspannung, Ruhe und Natürlichkeit. Wie in der Konzentration ist auch in der Sammlung der Geist hellwach, jedoch ist er nicht scharf auf etwas gerichtet. In der Sammlung sind wir eher empfänglich. Wir sind, so weit es geht, ohne Gedanken und unser Ich-Bewusstsein möglichst ohne Intention. In der Sammlung ist die Wahrnehmung natürlich und mühelos, ähnlich wie die Wahrnehmung der Nebengeräusche beim Autofahren. Einem guten Autofahrer zum Beispiel werden Veränderungen des Motorengeräuschs auffallen, auch wenn er sich vorher nicht eigens darauf konzentriert hat. Umgekehrt wird ein Autofahrer diese Veränderungen vielleicht überhören, wenn er sich zu sehr auf den Straßenverkehr konzentriert. Im Zustand der Sammlung ist es dagegen ohne Mühe möglich, sich gleichzeitig in seinem ganzen Körper, in den Händen, Füßen, im Becken und dem Rücken zu erleben. Zwar können wir in der Sammlung auch Schwerpunkte setzen, aber wir müssen es nicht, während die Konzentration sie ihrer Natur nach setzt.
In der Konzentration machen wir aktiv etwas mit dem, auf das wir uns konzentrieren; in der Sammlung lassen wir es zu, dass etwas mit uns geschieht. Sammlung ist ein Zustand inneren Gewahrseins, der keines abgetrennten Beobachters bedarf und keine bewusste Interpretation beinhaltet. Das in der Sammlung Erfahrene spricht für sich selbst, und oft bleibt es zunächst unverstanden, bis es sich uns auf seine eigene Weise offenbart. Dies geschieht mitunter erst dann, wenn der Verstand die Schubladen und Kategorien, in die er neue Erfahrungen einzuordnen pflegt, aufgegeben hat. Während die in der Konzentration gewonnenen Erkenntnisse im Allgemeinen im Rahmen der unserem bewussten Ich gewohnten Strukturen bleiben, hat der Zustand der Sammlung die Kraft, uns über diese Grenzen hinauszutragen. Dies kann atemberaubend sein und erfordert oft eine gehörige Portion Mut, Altes loszulassen.
Auch hier liegt ein großer Unterschied zur Konzentration. Konzentration braucht stets einen Inhalt. Wenn das Objekt der Konzentration wegfällt, so verliert sie ihren Sinn und es stellt sich ein Gefühl der Leere ein, in dessen Gefolge uns leicht langweilig werden kann. Sammlung kann ihrer Natur nach nie langweilig sein. Wenn wir uns auf einen Vorgang konzentriert haben, der zu Ende geht, so beginnt der an die Konzentration gewöhnte Geist, sich möglichst schnell einen neuen Reiz zu suchen. Es ist ein Zeichen unserer immer schneller werdenden Zeit, dass die Momente der Stille zwischen zwei Reizen mehr und mehr verloren gehen, ja sie scheinen uns zunehmend unerträglich zu werden. Die Sammlung ist in der Lage, diese inhaltslosen Lücken aufzufüllen. Sie beschreibt einen Zustand, in dem der Geist offen, empfänglich und wach ist und in sich selbst ruht. In gesammelter Aufmerksamkeit können Inhalte auftauchen, aber das Feld gesammelter Aufmerksamkeit bleibt auch bestehen, wenn die Inhalte verschwinden. Es entsteht ein Gefühl erfüllten Daseins, das keines Tuns, keiner Leistung bedarf.
Es scheint so zu sein, dass die Sammlung im Osten sowohl im täglichen Leben als auch in den geistigen Disziplinen eine größere Rolle gespielt hat und immer noch spielt als bei uns im Westen. Mit dem daoistischen Wu Wei (= Tun im Nicht-Tun) ist ein Zustand tiefer Aufmerksamkeit gemeint, in dem sich – ohne etwas zu tun – die Dinge von alleine, der natürlichen Ordnung folgend, entwickeln. So beschreiben japanische Namen im Allgemeinen die Orte, an denen die Menschen sind (oder waren), wie zum Beispiel «Yamada», was so viel bedeutet wie «Bergfeld», während bei uns viele Namen beschreiben, was Menschen tun, wie zum Beispiel Müller oder Schmidt. Viele andere Beispiele für diesen grundlegenden Unterschied zwischen Ost und West ließen sich nennen.
Sammlung lässt einen Raum entstehen, in dem von alleine geschieht. Sind wir in unserem Körper gesammelt, so können wir auf natürliche Weise die Einheit zwischen unserem Geist und unserem Körper erleben. Es ist ein Zustand, da der Geist den Körper durchdringt, in ihm ruht; es ist ein Zustand jenseits alles Besonderen, das heißt ohne jedes Abgesondert-Sein. Er ist so natürlich und unauffällig, dass unser nach Inhalten suchender Intellekt ihn leicht übersieht. Wenn wir Heilung nicht nur als das Verschwinden von Symptomen auffassen, sondern im Sinne von heil, ganz werden, so kann uns die Sammlung des Geistes im Körper tatsächlich helfen, uns in unserer Ganzheit zu erfahren. Körper und Geist erscheinen uns nicht mehr als getrennt voneinander. Berühren wir in diesem Sinne einen anderen Menschen, so öffnet sich ein gemeinsames Erfahrungsfeld, in dem nicht die Getrenntheit, sondern die Verbundenheit miteinander, das Erleben der Einheit im Vordergrund steht.
Wenn wir die Liebe als eine Kraft verstehen, die in der äußeren Welt der Unterschiedenheit diese uns innewohnende Einheit zu verwirklichen versucht, so hat eine Berührung in diesem Sinne auch immer etwas Liebevolles. Sie ist in erster Linie ein natürlicher Akt der Menschlichkeit, ein Ausdruck von Mitgefühl und Anteilnahme.
Fassen wir noch einmal zusammen: Das wichtigste in einer energetischen Berührung ist nicht die physische Berührung, sondern die Berührung mit der Aufmerksamkeit. Es geht dabei nicht darum, an das zu denken, was wir berühren, sondern hineinzuspüren, uns einzufühlen. Nicht das kognitive Bewusstsein, sondern unser Körperbewusstsein ist das Werkzeug, dessen wir uns bedienen. Nicht die Konzentration, sondern die Sammlung des Geistes, nicht das aktive Tun, sondern das empfängliche Lauschen steht im Vordergrund. Unsere Aufmerksamkeit wirkt wie ein Verstärker. Sie ist in der Lage, von uns unbemerkte stille Prozesse über die Schwelle zu heben, die bis dahin Veränderungen verhindert hat. Es geht um die Kraft, die in wirklicher Zuwendung geweckt werden kann.
«Aus der Ruhe kommt die Kraft»; dieser von chinesischen Lehrern oft zitierte Satz zielt weniger auf eine körperliche Unbewegtheit als auf die Ruhe des Geistes, die Tore zu tieferen Schichten unseres Bewusstseins zu öffnen vermag. Ein klassisches Bild zur Verdeutlichung dieses Vorgangs ist das des Wassers, dessen Oberfläche bewegt ist. Erst wenn die Wellen sich beruhigen, wird es möglich, in die Tiefe oder gar bis auf den Grund zu schauen. Die Ruhe des Geistes bei gleichzeitiger Wachheit bringt eine Klarheit hervor, die nicht nur das Körperbewusstsein und die Sinne schärft, sondern auch unser Denken. Die Kraft, die aus der Ruhe kommt, hat nicht im Denken, sondern in einem Raum jenseits des Denkens ihren Ursprung, wirkt sich aber auf unser Denken aus. Wollte man sie durch Denken erreichen, so wäre das nach daoistischer Auffassung so, als wenn man die Wellen glätten wollte, indem man mit einem Brett auf sie einschlägt. Hat die Oberfläche sich beruhigt, lösen die vorbeiziehenden Gedanken keine Gemütsbewegungen mehr aus, so können sich die durch die Wasserbewegungen aufgewühlten Schmutzpartikel langsam am Grunde absetzen und damit die Klarheit noch einmal vertiefen.
Ich erinnere mich noch gut an den Schluss einer Fernsehsendung zum Thema «Glück», an der Theologen, Philosophen, Hirnforscher und Laien beteiligt waren. Die Hirnforscher hatten über Messungen bestimmte Gehirnströme identifizieren können, die dann fließen, wenn Menschen angeben, glücklich zu sein. Das Schlussbild dieser Sendung war nun folgendes: Drei Menschen saßen auf einer Anhöhe und schauten einem wunderbaren Sonnenuntergang zu. Bei allen drei Menschen konnten die «Glücksströme» im Gehirn gemessen werden. Auf Befragen sagten zwei aus, dass sie glücklich gewesen seien; einer sagte, dass er ständig an seine Firma habe denken müssen und deshalb den Sonnenuntergang nicht richtig habe genießen können. Das schöne Gefühl das herrlichen Ausblicks war auch bei ihm vorhanden, aber überlagert von vordergründigen Gedanken. Der Schlusskommentar des Berichterstatters lautete: Drei Menschen waren glücklich, aber nur zwei haben es gemerkt.
Ruhe hilft uns, zu erleben, zu spüren, was zum Vorschein kommt, wenn wir nicht abgelenkt sind, nicht mit dem beschäftigt sind, was unsere Aufmerksamkeit bewusst oder unbewusst ständig bindet. Aber der Sinn der Ruhe ist nicht nur, sich von oberflächlichen Ablenkungen zu befreien, um sich dann dem zu widmen, was darunter zum Vorschein kommt. Eine solche Ruhe wäre schnell erschöpft. Es gilt vielmehr, auch das, was zum Vorschein gekommen ist, sich beruhigen zu lassen. Es mag noch relativ leicht sein, in Ruhe ein Mauseloch zu beobachten, aber wessen Aufmerksamkeit würde nicht unwillkürlich der Maus folgen, wenn sie aus dem Loch herauskommt?
Soll die Ruhe zu einer wirklichen Kraftquelle werden, dann dürfen wir uns nicht von Gedanken, Gemüts- und Qi-Bewegungen