Ein Brief an Hanny Porter - Thor Kunkel - E-Book

Ein Brief an Hanny Porter E-Book

Thor Kunkel

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Beschreibung

Hanny Porter hat es geschafft: Aus der ehemaligen Provinzschönheit ist die gut situierte Gattin eines reichen Mannes geworden. Zu den zahlreichen Annehmlichkeiten ihres Lebens gehört auch ein Ferienhaus auf Hawaii. Als Hanny dort eintrifft, findet sie das hübsche Domizil, ihr privates Paradies, völlig verwüstet vor. Und es gibt sogar ein Bekennerschreiben, Zeilen voller Hass. Doch das ist nur der Auftakt grauenvoller Ereignisse, die von der heilen Welt der Hanny Porter nichts übrig lassen werden... Heile Welt – kaputte Welt: zwei Seiten einer Medaille. Auf der Gewinnerseite stehen die Porters, in deren wohlgeordnetes Leben das alte Ehepaar Marv und Ellie einbricht, um just zu dem Zeitpunkt, an dem sie nichts mehr zu verlieren haben, ihr Recht auf Glück einzufordern. Welten prallen aufeinander und der Plot hat alles, was ihn als großen Hollywood-Film auszeichnen würde: Horror, Spannung, Sex und Sozialkritik.

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Seitenzahl: 198

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EUROPAVERLAG

Thor Kunkel

Ein Brief an Hanny Porter

Roman

Die digitale WerkausgabeDritter Band

Die Originalausgabe erschien 2001 als Paperback bei Rowohlt, Reinbek.

1. eBook-Ausgabe 2023

Dies ist der 3. Band der digitalen Werkausgabe von Thor Kunkel

© 2023 by Thor Kunkel, Websites: thor.kunkel.com und Kunkelversum.ch

© der eBook-Ausgabe: 2023 Europa Verlag, ein Imprint der Europa Verlage GmbH, München

Cover Design & Concept: Gerda Bakker and Machine

© Autorenfoto Gerda Bakker: Thor Kunkel, Maui (USA), 2001

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95890-569-6

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

Inhalt

Bücher von Thor Kunkel

Pressestimmen zu diesem Roman

Biografisches

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

LESEPROBE

Inhalt

Pressestimmen

DIE ORDNUNG DER SCHATTEN

Bücher von Thor Kunkel

Romane

Das Schwarzlicht-Terrarium

Kuhls Kosmos

Endstufe. Die ungekürzte und unzensierte Originalausgabe

Ein Brief an Hanny Porter

Schaumschwester

Subs (verfilmt als «HERRliche Zeiten»)

Im Garten der Eloi – Geschichte einer hypersensiblen Familie

Welt unter

NEU 2023: Kreuzschmerzen

Sachbücher

Wanderful: Mein neues Leben in den Bergen

Mir blüht ein stiller Garten

Das Wörterbuch der Lügenpresse

Zum Abschuss freigegeben

Der Weg der Maschine

Pressestimmen zu diesem Roman

«Nicht nur wegen seiner Kürze demonstriert das Büchlein eine neue Facette des Autors: Er kann auch eine leichte Krimi-Novelle schreiben, die nebenbei den OJ-Simpson-Prozess reflektiert.» – Kulturspiegel, 5/2001

«Auch in seinem zweiten Buch stimmt die Chemie – dieser Krimi-Brief ist ein fesselnder Psycho-Krimi, eine Geschichte, die um Verfilmung schreit.» – Frankfurter Rundschau, 2.6.2001

«Nach seinem großartigen 70er-Jahre-Panoptikum Das Schwarzlicht-Terrarium ist Kunkels zweiter Roman eine dialoglastige Reflexion zwischen vier Personen über den amerikanischen Traum›. Kunkel stellt durch den komplett unterschiedlichen Ansatz des Buches im Vergleich zum Erstling seine Vielseitigkeit unter Beweis.» – Volker Schaurich

«Ich empfehle Ein Brief an Hanny Porter von Thor Kunkel. Klingt nach einem dreisten Harry-Potter-Plagiat, ist aber ein perfekt erzählter Psycho-Thriller. Auch wenn es hier nicht so offensichtlich ist wie bei seinem bahnbrechenden Roman Das Schwarzlicht-Terrarium – Kunkel ist die Zukunft der deutschen Literatur.» – Focus, 30.6.2000 «Literaturtipp des Monats»

«Vor dem Hintergrund des medialen Geschehens um den Simpson-Prozess verarbeitet er die Gesellschaftsproblematik der USA zu einem privaten Drama.» – Edit, Nr. 25, Frühjahr 2001

«In seinem neuen Buch Ein Brief an Hanny Porter beschreibt Thor Kunkel ein künstliches Paradies auf Hawaii (…) Zwei arme, alte Besucher, die eine Woche Urlaub in dieser Siedlung in einem Preisausschreiben gewonnen haben, rächen sich an der Welt, aus der sie ein Leben lang ausgeschlossen waren. Harmlos zunächst, freundlich fast und von Seite zu Seite brutaler und hinterhältiger. Ein guter Psycho-Krimi. Ganz anders, schneller, glatter als Das Schwarzlicht-Terrarium.» – Die taz, 22.4.2000

«Den Kampf zwischen Arm und Reich tragen die vier Protagonisten in irrwitzigen Dialogen vor der Kulisse eines flimmernden TV-Bildschirms aus.» – Der Stern, 26.5.2001

«Rache am System – so könnte man das übergeordnete Thema Thor Kunkels nennen.» – Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 11.5.2001

«Hawaii sehen & sterben: die Uraufführung von Porter‘s Paradise am Schauspiel Leipzig. Ellen Hellwig und Friedhelm Eberle spielen die von den Wohlstandswellen vergessenen Habenichtse mit der genau dosierten Sturheit verbohrter Greise: Schluss mit Kompromissen! Palmen für alle!» – FAZ-Feuilleton, 18.1.2002

Biografisches

Thor Kunkel, *1963 in Frankfurt/Main, zählt zu den modernen deutschsprachigen Schriftstellern. Sein Debüt Das Schwarzlicht-Terrarium gewann 1999 den Ernst-Willner-Preis (23. Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb). Die FAS zählte den Roman am 17.3.2002 zum Kanon der «25 wirkungsvollsten Bücher der letzten 20 Jahre». Kunkel studierte bildende Kunst bei dem Popkünstler Thomas Bayrle und arbeitet seit 1985 als kreativer Kopf im Bereich Werbung und Film. Wohnorte, an denen seine Schreibtische standen: London, San Francisco, Amsterdam, El Paso, Frankfurt/Main, Berlin und Hamburg. Der Bestsellerautor lebt heute in der Schweiz.

Unsere Grundausstattung:

Jeder tut dem anderen alles an, was er ihm,

ohne dafür bezahlen zu müssen, antun kann.

– Martin Walser

Kapitel 1

«Madame?»

Etwas Klammes, Feuchtes wie ein Waschlappen berührte Hannys Puls und schreckte sie aus einem flirrend hellen Nachmittagsschlaf.

«Verzeihen Sie …» Die Stewardess zog ihre Hand eiligst zurück. Hannys Ohren waren noch immer dicht, erst als sie gähnte, holte sie das Rauschen der Turbinen wieder ein.

«Wir landen in wenigen Minuten in Kahului. Würden Sie sich bitte anschnallen, Ma‘am.»

Es klang nach Extraeinladung, und Hanny nickte pikiert. Das Wachsgesicht unter dem blauen Barett passte zu diesen schlaffen, transpirierenden Händen, und Hanny war noch immer nicht abgebruht genug, um das professionelle Lächeln einer Stewardess schlicht zu erwidern.

Tu ihr doch den Gefallen, dachte sie. Lächle zurück. Akzeptiere den kleinen Service, den sie dir leistet. Vielleicht hat sie Zellulitis oder Krebs. Oder beides …

Auf jeden Fall hatte sie in der nächsten Reihe Ärger mit einer starrköpfigen alten Dame: «Was unterstehen Sie sich? Ich schnalle mich an, wenn ich es für richtig halte …» Ein runzeliger Ellenbogen flatterte über der Armlehne, als die Flugbegleiterin den Sicherheitsgurt ruckartig anzog. «Dann halten Sie es mal für richtig», zischte sie, und Hanny zog es vor, wieder die Augen zu schließen.

Ausblenden, dachte sie. Vor Stunden auf dem Flughafen von Louisville hatte sie einen Artikel über Brustamputationen und berufsspezifische Risikogruppen gelesen. Die Stewardess war eine sichere Anwärterin: Nichts schien das Wachstum der Metastasen so zu fördern wie Höhenstrahlung und Stress. Die Statistik ließ daran keinen Zweifel aufkommen. Überhaupt war die Brustkrebs-Rate in den Staaten während der letzten Jahre sprunghaft gestiegen, ein allgemeines Phänomen – als hätte der Sensenmann heimlich gesät, und die Chirurgen hielten jetzt blutige Ernte. Hannys Mann hatte auf die Folgen eines vertuschten Reaktorunfalls getippt: «Ich sage nur Harrisburg …»

Auch in ihrem Bekanntenkreis hatte es einen Fall gegeben, eine resolute, lebenslustige Frau, Anfang vierzig, die bei Kentucky Fried Chicken in der Hackordnung ganz oben gestanden hatte.

Jetzt war ihr Schreibtisch leer, die Personalabteilung suchte noch immer Ersatz. Hanny hatte nie Karriere gemacht, sie war Hausfrau – gottlob. Wenn man dem Artikel Glauben schenken durfte, gehörte sie damit zu der Berufsgruppe mit dem geringsten Risiko. Trotzdem las sie öfter, fast regelmäßig diese unangenehmen Meldungen. Medizinisches Kauderwelsch von Mammosektionen und Gebärmutterzysten verfolgten sie inzwischen bis in den Schlaf.

Unangenehm. Was beunruhigt dich so?

Hanny wusste, dass es das Alter war. Sie hatte sich gut gehalten, das stand fest. Ihr blondes Haar, das sie manchmal in Zöpfen trug, unterstrich noch ihr jugendliches Aussehen. Wie viele Frauen aus den Südstaaten, hatte sie Sommersprossen und kornblumenblaue Augen, und wenn sie dann noch in einem Holzfällerhemd und Jeans über die Straße lief, pfiffen ihr selbst junge Kerle hinterher. Sie sah aus wie ein College-Girl. Cheerleader-Material. Dabei war sie einundvierzig. Und sie wollte es bleiben.

Zweimal die Woche rannte sie auf dieser vollautomatischen Tretmühle gegen den Berg des Alters an, bis sie vor Erschöpfung fast umfiel. Wer nicht rastet, der rostet auch nicht, ihre deutsche Großmutter hatte das immer gesagt. Es ging einzig und allein darum, die biologische Uhr zu überlisten, die Spannung der Feder wieder anzuziehen. Hanny hielt nicht viel von den Segnungen der plastischen Chirurgie, boob jobs und gelifteten Gesichtern, nur die Ansätze zu Tränensäcken hatte sie sich wegmachen lassen. Vorsichtshalber.

«Madame, haben Sie nicht gehört?»

Die Stewardess war noch einmal zurückgekommen, und Hanny dachte einen Moment daran, ihr zu sagen, dass Flugbegleiterinnen besonders krebsgefährdet waren und dass sie ihren lausigen Job besser an den Nagel hängen sollte.

Sie haben wohl einen Höhenrausch, Täubchen …

Natürlich biss sie sich auf die Zunge und schnallte sich an.

«Vielen Dank, Ma‘am.»

Die Stewardess tippelte weiter, und Hanny beschloss, sich dem Anflug auf Maui zu überlassen.

No Kaoi, dachte sie. Maui ist das Beste.

Von ihrem Fensterplatz aus konnte sie die Inseln sehen, eine Muschelkette, die sich über tausend Meilen dahinschlängelte.

Der seidenblaue Himmel war dunstig, und der Pazifik wölbte sich darunter wie eine Silberplatte bis zum Horizont. Nur um die Inseln herum leuchtete die See türkisblau und grün, als hätte ein Riesenkind mit Wasserfarben gespielt.

Maui kam endlich in Sicht und überall klickten die Kameras. Vielleicht war es der Anblick des wolkenverhangenen Haleakala-Kraters oder die Tatsache, dass man hier zweimal King Kong gedreht hatte, jedenfalls drückten sich eine Menge Nasen an den Bullaugen platt. Ein Dreikäschoch glaubte vor der Küste die Finne eines Schwertwals ausmachen zu können, ein anderer den Weißen Hai. Ein australischer Pensionär konnte Einbäume und halb nackte Hula-Mädchen sehen und geriet darüber ins Schwärmen. Seine Frau riet ihm schließlich, leise zu sein.

Hanny lächelte indigniert. Sie war keine Touristin oder malihin, wie die Einheimischen sagen. Sie flog nach Hause. Jedenfalls stand ihr Name an der Tür.

Hanny Porter und ihr Mann hatten das Haus vor zehn Jahren als Kapitalanlage gekauft – ein schmucker, moderner Bungalow, den sie das Jahr über an Schießbudenfiguren aus aller Welt vermieteten, an gestresste Manager oder honeymooners, die hier im Rausch der Hormone ein paar Wochen laichten. Hanny fand den fremden Zeugungsakt zwischen ihren Laken noch immer eine unappetitliche Vorstellung. Manche der Gäste hatten doppeldeutige Dankesbezeigungen hinterlassen, man wurde das Kind, im Falle eines Mädchens, nach ihr benennen und Ähnliches. Das Gästebuch strotzte von allgemeiner Zufriedenheit. Auch die Porters hatten allen Grund, zufrieden zu sein: Der Strom der Urlauber finanzierte ihnen die Hypothek, und eines schönen Tages wäre der Bungalow abbezahlt. So einfach konnte das Leben sein.

Zweimal im Jahr gönnten sich die Porters selbst etwas Urlaub. Gewöhnlich verlief das Unternehmen wie eine Norman-Schwarzkopf-Attacke: in drei Wellen. Hanny, die «Aufklärungseinheit», flog voraus und füllte den Kühlschrank. Sie bezog die Betten frisch und schrubbte die Wanne sorgfältig aus. Vierundzwanzig Stunden später erschien ihr Mann auf dem bereiteten Terrain und schließlich folgten ihre Jungs als Nachhut. Immer häufiger ließ diese Nachhut auf sich warten, denn die Kids gingen in letzter Zeit ihrer eigenen Wege. Jonas und Robert hatten feste Freundinnen, und Mark, der Jüngste, begann auch, sich für pickelige Teenager zu interessieren. Richard war das ganz recht. Er wollte seine Ruhe, und die ewigen Fachsimpeleien seiner Söhne über Surfbretter und Riffe waren diesem Bedürfnis nicht gerade zuträglich: «Auf einer Welle gibt‘s kein Wenn und Aber, Dad. Entweder hast du es drauf oder nicht …» Die Tatsache, dass sein Ältester unverhohlen Pakalolo – einheimisches dope – rauchte, hatte allerdings ein Jahr davor zu einem Riesentheater geführt. Dabei war er in Jonas‘ Alter nicht anders gewesen, er hatte Pot geraucht und in Washington gegen Nixon und Vietnam protestiert.

Aber das war lange her, und Hanny ahnte, was in jüngster Zeit in ihm vorging. Richard hatte sein Leben lang hart gearbeitet. Jetzt war er alt genug, um an seine Pensionierung zu denken – und an die Rentenfonds, von denen sie leben würden. Das Ende vom Lied. Letztes Jahr war er bereits «Wimbledon West» beigetreten, dem mit 200 $ Greenfees teuersten Golf-Club der Insel, und für diesen Sommer hatte er sich vorgenommen, Stunden zu nehmen. Irgendwann wurden sie ganz nach Makena ziehen und ihren Lebensabend am Rande des Pazifik verdämmern. Sorgen- und schuldenfrei. Die Kinder wären aus dem Haus. Auch das erledigt. Richard wäre die Ruhe selbst, ein großer, alter Mann, der viel Golf spielt. Hanny wurde ihm zusehen, von ihrem Caddy aus, und immer nur lächeln. Sie sähe attraktiver aus als früher, und Richard wurde sie anhimmeln.

Alles wäre perfekt.

Aber noch war es nicht so weit.

Vom Flughafen aus nahm Hanny ein Taxi, das sie auf der staubigen Küstenstraße über Wailea nach Makena brachte.

Der Taxifahrer war ein elender Schwätzer.

«So, howzit, Lady, wie geht‘s? Goody sunshine …»

Der Wagen stank wie eine Kifferbude, und am Handschuhfach klebte der Wahlspruch einer Eskort-Agentur aus Kihei: «Big, small … we do it all.» Hanny hatte den debilen Reim schon öfters in Taxis gesehen und machte den fortschreitenden Massentourismus für den Verfall der Sitten verantwortlich. Hawaii galt inzwischen als drittgrößter Einfuhrhafen für Heroin aus dem Fernen Osten. Ob sich das der Große Kamchameha, Napoleon des Pazifiks, jemals hätte träumen lassen? Auch das Geschäft mit der Prostitution blühte wie nie zuvor, und die Kuhio Avenue in Waikiki konnte seit Langem mit dem Sunset-Strip mithalten. An jeder Ecke lauerten Mahjong-Zocker auf ahnungslose Touristen.

«Howzit, Lady? – Nice fly? – Oh, Sie sind cool … Just sea, sex’n‘sun … No hubby, eh? – Schon was vor heute Abend?»

Offenbar hielt er sie für eine reiche, amerikanische Bums-Touristin, denn sie wäre nicht die Einzige auf der Insel gewesen.

«Halt den Rand, Schwätzer», versetzte sie ihm grob.

Der Fahrer machte ein entsetztes Gesicht, als ob er irgendwie aufgeflogen wäre.

«Kein Hotel, eh?»

«Aole, ich lebe hier. Wikiwiki, man.»

«Sorry, Lady.» Er gab Vollgas und schien sich jetzt auf die Fahrt zu konzentrieren. Die Landstraße führte in südwestliche Richtung, dorthin, wo es noch echte hawaiianische Wildnis gab: Golfplätze und kostspielig bewässerte Palmenhaine, die mit jedem botanischen Garten konkurrieren konnten.

Kuaaina, dachte Hanny. Landschaft. So nannten die Einheimischen ihre Insel. Das war davon übrig geblieben.

Maui war ein künstliches Paradies wie Las Vegas. Tag für Tag wurden hier Unmengen frisches Wasser in den Boden gepumpt, damit der Rasen schön grün blieb. Den Porters war das egal, sie konnten ihre Wasserrechnung bezahlen. Ihr Bungalow «Porter‘s Paradise» – der Name war Richard eingefallen – lag am äußersten Zipfel von Makena, einen Katzensprung entfernt von der See, die sich an dieser Stelle mit ungeheurer Wucht auf die zerklüfteten Basaltfelsen stürzt.

Auf der Rückseite wucherte ein dichter Mangroven-Hain, und schützte vor neugierigen Blicken. Hanny sonnte sich gern nackt. Es gehörte gewissermaßen zu ihren ehelichen Pflichten; Richard mochte keine Bikinistreifen.

Es waren letzten Endes die Kleinigkeiten, auf die es ankam.

Der Taxifahrer trug ihr noch die Koffer zur Tür.

Hanny gab ihm zwei Dollar Trinkgeld.

Weil er den Mund gehalten hat, sagte sie sich.

Kaum war der Wagen abgefahren, zog sie Schuhe und Strümpfe aus und schlüpfte in ihre ausgelatschten zoris, die Badeschuhe, die wie immer neben dem Abtreter standen.

Hanny liebte ihr Haus. Ein vergleichbares Eigenheim in Kihei kostete inzwischen anderthalb Millionen Dollar. Früher hatte Richard mit dem Gedanken gespielt, ein größeres Anwesen in Wailea zu kaufen. Aber das hätte bedeutet, neben Einheimischen zu wohnen und Monstertrucks und ewigen Hula-Tam-Tam ertragen zu müssen. Die jungen Polynesier krakeelten rund um die Uhr. Hanny hätte sich dort nicht sicher gefühlt. Sie wusste genau, was sie an Makena Surf hatte: Die Anlage war eingezäunt und vierundzwanzig Stunden am Tag bewacht. Selbst nachts schlichen Wachleute um die Villen.

Willkommen zu Haus, Hanny …

Aber diesmal war es anders. Schon als sie die Tür öffnete, glaubte sie etwas Fremdes zu riechen. Es war eine unscheinbare Geruchsnote, etwas aus dem alkalischen Bereich. Hanny vermutete, Miranda, die Putzfrau, hätte sich wieder am Salmiakgeist vergriffen.

Diese Einheimischen, dachte sie, die werden nie lernen, wie man mit Chemikalien umgeht … Nachdem sie ihre Koffer abgestellt hatte, ging sie ins Badezimmer, und dort, vor einem Duschvorhang mit aufgedruckten Lotosblüten, schluckte sie zwei Prozac und zog ihren wasserfesten Eyeliner nach. Anschließend öffnete sie alle Fenster in der Glaswand und die Schiebetür zur Terrasse.

Die frische Luft und der herrliche Ausblick brachten sie sofort auf andere Gedanken. Gleich nachdem sie geduscht hatte, legte sie etwas aromatherapeutischen Lippenstift auf und setzte sich dann in die Sonne.

Das Licht spielte auf ihren Brüsten, und sie musste an Richard denken, der wahrscheinlich an seinem Schreibtisch saß und die Jahresbilanz der Hühnerfarm polierte. Der Umsatz war in den letzten Jahren enorm gestiegen. Nach der Modernisierung – vollautomatische Futterstraßen –, die Richard eingeführt hatte, war der Bestand auf zwei Millionen Hennen gewachsen. Der Betrieb galt inzwischen als Hauptlieferant von Kentucky Fried Chicken. Der Umsatz hatte sich verzehnfacht, und der nüchterne Richard war jetzt Vize-Präsident. Nicht schlecht für einen ehemals politisch engagierten Ex-Hippie. Auf den gerupften Rücken unzähliger Hennen hatte er Karriere gemacht.

Hanny hatte ihn immer bewundert, wie er an all seinen Kollegen vorbeigezogen war. Jetzt hatte er es geschafft und Hanny ihren strammen, gut trainierten Hintern im Trocknen.

Sie lächelte fast selig bei dem Gedanken. Es tat so gut, zu wissen, dass man ausgesorgt hatte. Natürlich war sie nicht unbeteiligt an Richards Erfolg. Hinter jedem starken Mann steht gewöhnlich eine noch stärkere Frau. Hanny hatte drei Jungs aufgezogen, im Alleingang und ohne jede nennenswerte Hilfe von ihrem Hühnerbaron. Jonas, der Älteste, war jetzt zwanzig und studierte in Stanford. Die beiden anderen hatten gerade die Highschool geschafft. Sie war stolz auf ihre Jungs, alles prächtige, wohlgeratene Kinder. Ein bisschen wild, zugegeben, aber Hanny konnte sich noch gut erinnern, wie sie in diesem Alter war. Ihr fiel ihre Promnight ein, die Gesichter von drei jungen Football-Spielern, mit denen sie die schönste Nacht ihres Lebens verbracht hatte …

Verträumt wanderte ihr Blick zu der kleinen Kommode neben dem Fernseher, wo die in Silber und Gold gerahmten Familienfotos standen. Das große Gruppenporträt sah anders aus als sonst, und Hanny hatte zum ersten Mal deutlich vor Augen, dass etwas nicht stimmte. Sie stand auf und betrachtete das Foto aus der Nähe.

Tatsächlich …

Irgendjemand hatte ihr mit Filzstift eine Zahnlücke verpasst. Ihr Kinn war mit Bartstoppeln übersät. Den Kindern hatte der Spaßvogel schwarze Schlitzaugen und Vampirzähne gemalt. Unter Richards linkem Auge blühte ein Veilchen. Die Warze am Kinn sah fast echt aus.

Kinder sind grausam, dachte Hanny. Das müssen Kinder gewesen sein …

Sie wusste, dass sie noch einen Abzug von dem Foto hatte, und beschloss, sich nicht aufzuregen.

Den frühen Nachmittag verbrachte sie in einem Zustand akuter Zerstreuung. Sie machte sich mehrmals Tee, ließ die Beutel aber zu lange ziehen. Gleichzeitig versuchte sie ihren Koffer auszupacken und sich nackt auf der Terrasse zu sonnen. Nach dem dritten Anlauf (zuletzt war ihr eine Wespe in den Nabel gekrochen) gab sie endgültig auf.

Unschlüssig setzte sie sich vor den Fernseher, KHNL 8, «Where Hawaii looks first». Wegen der Wettervorhersage, sagte sie sich.

Natürlich liefen wieder Sondersendungen über den OJ-Fall. Hanny hing das Geschwafel langsam zum Hals heraus. Trotzdem hörte sie mit halbem Ohr hin. Noch immer hielt der Prozess um den Ex-Football-Star Orenthal Jameson Simpson die Nation in Atem. Die ganze Welt, nicht nur Amerika, war Zeuge eines absurden Spektakels geworden, in dem der Rechtsstaat von einem stinkreichen Schläger vorgeführt wurde. Simpson – das war aktenkundig – hatte seine Frau regelmäßig krankenhausreif geprügelt. Er hatte sich der Festnahme widersetzt und war geflohen. Aber die belastenden Zeugenaussagen, Simpsons Unfähigkeit, ein hieb- und stichfestes Alibi zu liefern, waren längst im Informationsüberfluss der CNN-Reportagen erstickt.

Auch die tagelange Präsentation der DNS-Beweise hatte nichts gebracht: Der dumme Zufall von 17 Millionen zu 1, dass Simpsons Blut tatsächlich am Tatort gefunden wurde, hatte die Jury nicht sonderlich beeindrucken können. Die Handschuhe – einer am Tatort, der andere vor Simpsons Hintertür – waren ebenso in Vergessenheit geraten wie OJs unauffindbare Bruno-Maglis-Latschen, Größe 12, deren Spuren sichergestellt worden waren. 857 Beweisstücke hatte die Staatsanwaltschaft in einem Zeitraum von neun Monaten angeführt und trotz allem wurde jetzt allgemein mit einem epochalen Justizirrtum gerechnet: Der Freispruch des Angeklagten stand ziemlich fest, seitdem bekannt war, dass einer der Ermittler die Neigung hatte, rassistische Witze zu reißen. Die Verteidiger trumpften daher seit Wochen mit Simpsons Hautfarbe auf, und viele Beobachter rechneten mit einem Vergeltungsschlag der vorwiegend schwarzen Juroren.

Unmöglich, dachte Hanny, das wäre doch wie Rache … am System.

Die Selbstverständlichkeit, mit der die Presse der Jury diese Reaktion unterstellte, war wirklich erschreckend.

Am schlimmsten waren die Close-ups von Simpson, der, flankiert von den besten Anwälten der Nation, einfach nur dasaß und Däumchen drehte. Die Staatsanwaltschaft erläuterte gerade eine Laboruntersuchung. Die Juroren machten aufmerksame Gesichter – eine gute Show, aber natürlich änderte es nichts an der Tatsache, dass hier ein schwarzer Mann von Weißen reingelegt werden sollte …

Von all dem Gerede von blutigen Socken und DNS-Tests bekam Hanny plötzlich Hunger und ging in die Küche. Auf der Anrichte lagen ein Hawaii-Reiseführer, das Gästebuch – und ein handgeschriebener Brief.

Kapitel 2

Liebe Hanny Porter,

der Aufenthalt in Ihrem Haus hat uns außerordentlich gefallen. Das geräumige Schlafzimmer, das herrliche Bad, die Sonnenterrasse – ein Gedicht!

Es ist mit Abstand die schönste Wohnung, in der wir je waren, und ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar wir Ihnen sind! Was für eine Aussicht! Und der Komfort!

«Reich müsste man sein», sagt mein Mann immer, aber das haben wir uns inzwischen aus dem Kopf geschlagen. Von der Verwaltung haben wir erfahren, dass alle Apartments in Makena Surf privaten Eigentümern gehören, die hier ihren Lebensabend verbringen wollen. Die meisten Apartments seien noch nicht abbezahlt, hieß es, aber es muss doch ein beruhigendes Gefühl sein, zu wissen, dass ärmere Menschen, wie wir zum Beispiel, Ihren Ruhesitz finanzieren, nicht wahr. Das hat sich sicher Ihr Mann ausgedacht, auf dem Familienfoto sieht er ganz pfiffig aus. Wie ein Gebrauchtwagenhändler, würde ich sagen. Ich meine damit, dass Ihr Mann sein Geld sicher nicht im Schlaf verdient.

Natürlich haben Sie viel investiert. Mir ist das gleich aufgefallen, als ich die neue Anrichte sah. Verchromt, piccobello … Und dann der Kühlschrank! Bei uns würde man allein Ihr Eisfach Tiefkühltruhe nennen. Wenn man so einen Kühlschrank hat, macht das Einkaufen richtig Spaß. Gleich am ersten Abend habe ich versucht, eine Maui-Poke zu zaubern. Mir fehlten allerdings gewisse Zutaten und ich musste «Thousand Island»-Dressing über den Fisch gießen. Mein Mann sagte, es schmecke wie Hummersuppe, na ja, er kocht viel besser als ich.

Der Fernseher in Ihrem Wohnzimmer ist wohl so ein Breitwandmodell. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass jeden Abend die Sonne hinter Ihrem Fernseher untergeht? Marv, mein Mann, fand das eine geistreiche Beobachtung, darum schreibe ich Ihnen das.

Der Flügel in Ihrem Esszimmer hatte es ihm angetan. Selbstverständlich haben wir das Schild bemerkt, das Sie aufgestellt haben – Bitte nicht anfassen! –, aber wer kann schon einer derartigen Versuchung widerstehen? Mein Mann ist Jerry-Lee-Lewis-Fan. «The killer rocks on» – kennen Sie die Platte? Die «rollende Bass-Hand» nannten sie ihn früher. Marv beherrscht die Boogie-Woogie-Tonleiter im Schlaf, und wie sein großes Vorbild Jerry Lee spielt auch er das Klavier gern mit den Füßen.

Leider kam bei seinem beherzten Einsatz eine C-Taste zu Schaden. Sie scheint rausgesprungen zu sein. Wir konnten sie beim besten Willen nicht mehr finden, wir haben überall gesucht. Vielleicht ist sie ja aus dem Fenster geflogen und liegt draußen unter den Büschen. Sorry.

Natürlich ist uns auch Ihre fantastische Muschelsammlung nicht entgangen. Obwohl es sich um banale Touristenartikel handelt, können Sie sich nicht vorstellen, was man für eine derartige Muschel bei uns bezahlt. Das klingt jetzt ein bisschen unverschämt, aber wir haben uns erlaubt, die größten und schönsten Exemplare einfach mitzunehmen. Als Andenken. Dabei sind mein Mann und ich sonst gar nicht auf Souvenirs versessen. Wir vermuten, dass sie den Krempel bereits abgeschrieben haben. Richtig? Sie schlaue kleine fette glückliche Hamsterratte, Sie.

Auf dem Familienfoto sieht man Ihnen an, dass Sie es faustdick hinter den Ohren haben. Sie waren sicherlich mal Klassenbeste, als Sie jung waren. Oh je, Ihre Familienfotos: Machen Sie sich bitte nichts aus den kindischen Verzierungen, die mein Mann auf dem Konterfei Ihrer Lieben angebracht hat. Mein Mann hatte seine künstlerische Begabung nie richtig entfalten können, deshalb neigt er zu solchen Albernheiten. Natürlich wünscht er Ihnen weder Karies noch Ihren Kindern Vampirzähne. Ihrem Mann hat er ein Veilchen gemalt, das wäre ihm schon eher zuzutrauen. Er hat mal geboxt, aber nicht in der Gewichtsklasse von Joe Louis.