Ein dänischer Winter - Sanne Jellings - E-Book

Ein dänischer Winter E-Book

Sanne Jellings

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Beschreibung

Dezember 1929: Die Schriftstellerin Karen Blixen ist wegen der schweren Erkrankung ihrer Mutter aus Kenia auf den Hof ihrer vermögenden Familie nördlich von Kopenhagen zurückgekehrt. Die Beziehung zu ihrem Geliebten Denys Finch-Hatton ist am Ende, die Weltwirtschaft zusammengebrochen, ihre Farm in Afrika steht kurz vor dem Bankrott. Die Baronin ist am Tiefpunkt, als sie die junge Minna kennenlernt, die eine Stelle als Hausmädchen antritt. Heimlich träumt Minna davon, Lehrerin zu werden; und sie träumt von Carl, einem jungen Assessor - beides gleichermaßen unerreichbar für ein Mädchen aus einfachsten Verhältnissen. Zwar hat Minna mit Carl einen magischen Nachmittag im Tivoli verbracht, voller Lichter, tanzender Schneeflocken und heißer Schokolade, doch sie befürchtet, nicht gut genug für den jungen Lehrer zu sein. Karen Blixen berührt die Geschichte der jungen Frau. Sie ermutigt sie, für ihre Träume zu kämpfen - und schöpft dabei selbst neuen Lebenswillen…

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Seitenzahl: 152

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Sanne Jellings

Ein dänischer Winter

Über dieses Buch

Dezember 1929: Die Schriftstellerin Karen Blixen ist wegen der schweren Erkrankung ihrer Mutter aus Kenia auf den Hof ihrer vermögenden Familie nördlich von Kopenhagen zurückgekehrt. Die Beziehung zu ihrem Geliebten Denys Finch-Hatton ist am Ende, die Weltwirtschaft zusammengebrochen, ihre Farm in Afrika steht kurz vor dem Bankrott. Die Baronin ist am Tiefpunkt, als sie die junge Minna kennenlernt, die eine Stelle als Hausmädchen antritt. Heimlich träumt Minna davon, Lehrerin zu werden; und sie träumt von Carl, einem jungen Assessor – beides gleichermaßen unerreichbar für ein Mädchen aus einfachsten Verhältnissen.

Zwar hat Minna mit Carl einen magischen Nachmittag im Tivoli verbracht, voller Lichter, tanzender Schneeflocken und heißer Schokolade, doch sie befürchtet, nicht gut genug für den jungen Lehrer zu sein. Karen Blixen berührt die Geschichte der jungen Frau. Sie ermutigt sie, für ihre Träume zu kämpfen – und schöpft dabei selbst neuen Lebenswillen …

Vita

Sanne Jellings wurde in Süddeutschland geboren und hat während des Studiums ihre Liebe zu Isak Dinesen alias Karen Blixen-Finecke entdeckt. Mit Anfang zwanzig besuchte sie erstmals deren Geburtshaus Rungstedlund am Øresund. Seitdem ist der alte Hof mit dem großen Park für sie ein ganz besonderer Ort. Sanne Jellings arbeitet als Lektorin und Übersetzerin und lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

«Wir müssen das Leben prägen, während wir Macht darüber haben, dass es sich nicht, wenn wir aus ihm herausgehen, ohne Spur schließt.»

Karen Blixen, Die Einsiedler, 1911

Prolog

Ngong, Kenia, März 1929

«Msabu, möchtest du wirklich, dass ich diese Hose in diesen Koffer packe? Sie ist nicht gut genug.»

Farah hielt Karen anklagend die dunkelblaue Wollhose entgegen, die sie im Winter in Dänemark brauchen würde. Das zugegebenermaßen etwas abgetragene Kleidungsstück bildete einen traurigen Kontrast zum leuchtend grünen Turban und dem perlgrauen Seidengewand, das ihr Diener unter seinem Jackett trug. Farah gestattete nicht, dass sie ihr Äußeres vernachlässigte. Sein Ansehen hing auch von ihrem ab, und er war ein äußerst stolzer Mann.

Karen besaß wenig Kleidung, die ihr in Dänemark von Nutzen sein würde. Ihre elegante Abendgarderobe brauchte sie nicht mitzunehmen, und auch nicht die Khakihosen, die sie auf der Farm trug. Sie würde sich in Kopenhagen etwas anfertigen lassen müssen, auch wenn sie ansonsten aus Paris bestellte. Die Zeit war zu knapp gewesen, um einen Schneider in Nairobi zu beauftragen, obwohl die feinen Wollstoffe dort natürlich erschwinglicher und von bester Qualität waren.

Sie seufzte. «Also gut, Farah, leg sie zurück. Du kannst den Koffer schließen und zum Wagen bringen. Ich bin in zehn Minuten so weit.»

Nachdem ihr Diener mit dem letzten Gepäckstück den Raum verlassen hatte, trat Karen ans Fenster und blickte hinaus auf die taufeuchte Rasenfläche. Vor einer halben Stunde hatte die Sonne wie flüssiges Gold den Horizont geflutet, und Afrika war unter lautem Geraschel, vielstimmigem Gezwitscher und den hohen Schreien der Colobusaffen aus dem Busch zum Leben erwacht. Von den Hütten der Kikuyu meckerten die Ziegen herüber. Die schwarzen Schatten der drei hohen Zypressen vor dem Haus ragten scharf vor dem hellen Himmel auf und grüßten ernst wie zum Abschied. Obwohl es so früh am Morgen war, sammelte sich in Karens Nacken bereits der Schweiß. In dem Spiegel auf der Frisierkommode stellte sie zu ihrem Unmut fest, dass sich das dunkle Haar an ihren Schläfen in der feuchten Hitze kringelte. Sie ging hinüber, tauchte einen Lappen in die Wasserschüssel und fuhr sich damit über Gesicht und Hals. Karen verspürte Rastlosigkeit und eine tiefe Unruhe, seit vor wenigen Tagen Thomas’ Telegramm eingetroffen war. Er rief sie nach Hause, weil ihre Mutter auf Leben und Tod erkrankt war. Zum Glück hatte sie sofort eine Schiffspassage buchen können, der Dampfer legte in zwei Tagen in Mombasa ab.

Sie hatte Denys in den Muthaiga-Club geschrieben, denn es gab keine Möglichkeit mehr, ihn vor ihrer Abreise noch zu erreichen. Er war mit reichen Franzosen auf Safari, und es würde noch einige Wochen dauern, bis er wieder in die Zivilisation zurückkehrte.

Seit ihrer heftigen Auseinandersetzung an Weihnachten hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Vielleicht war es nicht klug gewesen, ihm solche Vorwürfe zu machen, weil er ihren Exmann auf die Safari mit dem Prinzen von Wales mitgenommen hatte. Bror hatte vor kurzem wieder geheiratet, und Karen war sich sehr bewusst, dass seine neue Frau Cockie ihre eigene gesellschaftliche Stellung gefährdete. Möglicherweise hatte Denys ihr die Szene, die sie ihm wegen seiner Loyalität zu Bror gemacht hatte, noch nicht verziehen.

Es fiel ihr schwer, Afrika zu verlassen. Aber vielleicht war es gut, dass sie nun nach Jahren einmal wieder gezwungen war, nach Dänemark zu reisen. Das gab ihr die Gelegenheit, Abstand zu ihrem hiesigen Leben zu gewinnen. Außerdem würde sie persönlich mit ihrem Onkel und den anderen Vorstandsmitgliedern der Karen Coffee Company sprechen können, deren Schuldnerin sie war. Sie würde sie davon überzeugen, dass es sich lohnte, weiteres Geld in die Farm zu investieren. Man hatte ihr mehrfach damit gedroht, sie fallenzulassen, die Farm zu verkaufen, aber das würde Karen nicht zulassen. Sie brauchte nur eine gute Ernte, die unter Beweis stellte, dass die Farm profitabel war. Dann würden sich ihre Gläubiger überzeugen lassen, wie immer. Und eine gute Ernte würde es werden, da war sie sich mit ihrem Verwalter Dickens einig.

Karen setzte den Hut auf und streifte ihre sandfarbene Kostümjacke über. Es war Zeit. Farah und sie hatten eine lange Fahrt vor sich.

1

Freitag, der 20. Dezember 1929

Minna

Es war ein Traum.

Die Welt flog an ihr vorüber, so schnell, dass es sich anfühlte, als pustete sich dabei in ihrer Brust ein Ballon auf, der gleich platzen musste. Auf dem weißen Pferdchen vor ihr drehte sich Elsa um, Minna hörte ihre Schwester laut jauchzen. Sie selbst saß in einer Kutsche mit weißen und rosa Schnörkeln, gerade sauste sie an dem Leierkastenmann vorüber, der neben dem Karussell einen Cancan spielte. Eine Matrone im braunen Mantel war mit ihren Freundinnen stehen geblieben und schwenkte neckisch den Rock hin und her. Minna musste bei dem Anblick laut lachen. Die Frau war so alt, sie hätte ihre Mutter sein können. Dass Mutter zu Tanzmusik die Röcke schürzte, das konnte sich Minna allerdings beim besten Willen nicht vorstellen.

Sie fühlte sich albern und trotz ihrer achtzehn Jahre unsagbar jung. Minna war kein Kind mehr, das von einer weißen Kutsche träumte. Schon lieber wäre sie nach Paris gereist und hätte in dem berühmten Moulin Rouge einen echten Cancan gesehen. Doch sie war an diesem Winterabend hier, im Tivoli in Kopenhagen, und sie hätte nirgendwo anders sein mögen.

Sie warf einen Blick zur Seite und gewahrte Carl Olsens Blick. Der Lehrer ihrer Schwester sah sie vom Nebensitz aus amüsiert und mit hochgezogenen Augenbrauen an, doch das Funkeln in seinen Augen war warm. Er wusste, dass Elsa und Minna seit dem Tod ihres Vaters nicht mehr im Tivoli gewesen waren, und freute sich an ihrer Begeisterung. Seine Kappe hatte er abgenommen, weil sie ihm auf dem Karussell sonst vom Kopf geflogen wäre, und in der Kälte leuchteten seine Ohren und Wangen rot. Der Fahrtwind hatte das blonde Haar zerzaust. Mit seinem triumphierenden Blick wirkte er ein wenig wie ein Lausejunge, der etwas Drolliges angestellt hatte. «Hü!», rief er und schwang eine imaginäre Peitsche in Richtung von Elsas Pferdchen, das ihre Kutsche zog.

Wieder blubberte ein Lachen in Minna hoch. «Nicht übel! Falls sie dich wegen deiner politischen Umtriebe entlassen, kannst du immer noch Kutscher werden!», rief sie.

Carl Olsen war an der Mädchenschule in Nørrebro eine schillernde Figur. Seit Jahren ging das Gerücht, man werde ihn wegen seiner radikalen Ansichten entlassen, doch bislang war er bei Schuljahresbeginn stets wieder zum Dienst erschienen. Vor drei Jahren war er Elsas Klassenlehrer geworden. Auch Minna hatte er unterrichtet, in ihrem letzten Schuljahr vor vier Jahren, nur knapp über zwanzig konnte er da gewesen sein und frisch von der Universität. Er brannte vor Begeisterung für die Bücher, die er mit ihnen las, und sein scheinbar grenzenloses Wissen über die Welt, seine Neugierde und Offenheit hatten Minna zutiefst begeistert. Er seinerseits hatte ihre Wissbegierde schnell bemerkt und unauffällig damit begonnen, sie zu fördern. Auch jetzt noch, vier Jahre nachdem sie von der Schule abgegangen war, lieh er ihr Bücher. Regelmäßig führte er sie freitagabends in ein Café aus und unterhielt sich mit ihr über Theater, Literatur und Politik. Es hatte sich beinahe so etwas wie eine Freundschaft zwischen ihnen entwickelt, auch wenn sie selten über Persönliches sprachen. Trotzdem wusste Minna, dass sich Carl mit seiner Familie überworfen hatte und deswegen nicht promovieren konnte. Sein Vater, der ebenfalls Lehrer war, missbilligte den radikalen Sozialismus seines Sohnes und hatte jegliche Zahlung an ihn eingestellt. Doch kürzlich war es wieder zu einer Annäherung der beiden gekommen. Carl wollte seine Eltern über Weihnachten wohl besuchen. Wahrscheinlich lag es an seiner weihnachtlichen Stimmung, dass er Elsa und Minna ins Tivoli eingeladen hatte.

«Und du solltest vielleicht hier im Varieté Cancan tanzen, ich habe den Eindruck, sie haben im Tivoli talentierteres Personal nötig», rief er zurück.

«Nur weil ich Walzer mag, tanze ich noch lange keinen Cancan», entgegnete sie mit gerunzelter Stirn. Er sollte bloß nichts Falsches von ihr denken. Ihre Unterhose würde ihre Privatsache bleiben, danke schön. Die bunten Lichter, unter denen sie sich im Kreis drehten, machten sie plötzlich ein klein wenig schwindelig.

Carl Olsen lehnte sich ein Stück zu ihr herüber und stieß sie mit der Schulter an. «Talent ist Talent», sagte er augenzwinkernd. «Du könntest sicher alles tanzen.»

Als er sie vorhin im Pavillon über die Tanzfläche geschwungen hatte, ausgelassener als bei den geselligen Abenden in Nørrebro, musste er gespürt haben, wie sehr sie das Tanzen liebte.

«Die Frage ist nicht, was ich könnte», sagte sie ein wenig schnippisch, «die Frage ist, was ich will. Und Tänzerin werden gehört nicht dazu.»

Erneut hoben sich seine blonden Augenbrauen, und der blaue Blick darunter wurde bohrend. «Und was gehört dazu?», fragte er. «Tippen?»

Darauf sollte sie eigentlich nicht antworten. Niemand, das war ihr schon bewusst, interessierte sich dafür, was ein mittelloses Bürofräulein von achtzehn Jahren «wollte». Dagegen war allen klar, was sie «musste». Sie musste Geld verdienen, um ihrer Mutter zu helfen, die kleine Schwester durchzubringen, sie musste pünktlich sein und fügsam und freundlich selbst zu dem widerlichsten Schreibzimmervorsteher, und vermutlich musste sie irgendwann einen braven Arbeiter heiraten, wie ihr Vater einer gewesen war, und dann war ohnehin Schluss mit Wünsch-dir-was.

«Ich will Lehrerin werden», sagte sie trotzig.

Carl Olsen verzog keine Miene, er lachte sie nicht aus, sondern sah sie weiter aufmerksam an. Eine Schneeflocke landete in seinem Bart.

«Dann solltest du es versuchen», sagte er.

Minna spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde. Der Schwindel ergriff nun vollends von ihr Besitz. Sie hatte das Gefühl, sich in die falsche Richtung zu lehnen, bei nächster Gelegenheit würde die Fliehkraft sie seitlich aus der Kutsche tragen und dem Leierkastenmann vor die Füße werfen. Sie schloss die Augen, packte den Türgriff mit ihrer Rechten und mit der linken Hand Carls Ärmel.

Er lachte und nahm ihren Arm. Minna blickte nach vorn zu ihrer Schwester, die mit fliegenden Locken auf dem weißen Pferdchen ritt. In der Dunkelheit um das Karussell funkelten dicke Flocken, die aus dem Dezemberhimmel herabschwebten. Wie kalte Stiche spürte Minna sie auf der Haut, am liebsten hätte sie eine mit den Fingern berührt.

«Du hast Schnee im Gesicht», sagte Carl Olsen. Sie blickte ihn an mit seinem verschneiten Bart. Ein Grinsen breitete sich über sein gesamtes Gesicht aus, das so unwiderstehlich war, dass sie einfach zurücklächeln musste.

«Und eine rot gefrorene Nase.» Er legte einen Finger unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht an. «Minna», sagte er leise, und dann küsste er sie sanft auf die Nasenspitze.

***

Minna erwachte von einem lauten Scheppern. Mutter hatte die Petroleumlampe auf den Tisch gestellt, der mitten im Zimmer stand, und machte sich am Ofen zu schaffen. Ihr Bett war noch zerwühlt, sie musste gerade aufgestanden sein. Elsa zog sich in ihrem Bett gegenüber die Decke über die Augen.

Unwillkürlich fasste sich Minna an die Nase, die in der Kälte im Zimmer nach wie vor rot gefroren war. War sie gestern wirklich mit Carl Olsen im Tivoli gewesen? Nach all den lehrreichen Treffen im Café, den Gesprächen vor Elsas Schule, wenn sie ihre Schwester abgeholt hatte, all den Begegnungen bei Abendveranstaltungen des Arbeitervereins hatte er sie erstmals als Privatmann eingeladen. Der gestrige Nachmittag mit seinen glitzernden Schneeflocken und dem heißen Kakao, den Pantomimen, dem Tanz und der Karussellfahrt kam ihr vor wie ein ferner, verheißungsvoller Traum.

Direkt von der Schule, wo Minna auf Elsa gewartet hatte, waren sie zum Omnibus gegangen. Seine beste Schülerin verdiene zu Weihnachten eine Belohnung, hatte Carl verkündet, und Elsa hatte gestrahlt vor Stolz. Eigentlich hatte sich Minna zur Missbilligung ihres Vorgesetzten den halben Tag frei genommen, um mit ihrer dreizehnjährigen Schwester Weihnachtsherzen aus Papier zu basteln und damit als Überraschung für Mutter die Stube in der Elmegade zu schmücken. Für große Geschenke hatten sie kein Geld, aber feierlich wollten sie es zu Weihnachten doch haben. Bei der Aussicht allerdings, mit Carl das Tivoli zu besuchen, hatte Minna diesen Plan natürlich über den Haufen geworfen.

Carl Olsen war so ganz anders als die Männer, mit denen sie sonst zu tun hatte, witziger, unverschämter und auch furchtloser. Immerhin hatte er sich für seine Überzeugungen mit seiner Familie überworfen. Minna konnte jedoch schwer einschätzen, ob ihm wirklich etwas an ihr – Minna – lag oder ob es einfach zu seiner Vorstellung vom gesellschaftlichen Fortschritt gehörte, einem neugierigen Arbeiterkind zu etwas Bildung zu verhelfen.

Für die Arbeiterjungen war Minna mit ihren blonden Locken ein gefundenes Fressen, das war ihr schon lange klar. Seit sie denken konnte, musste sie sich den Zudringlichkeiten von Ole dem Schuhputzer erwehren – von den Zudringlichkeiten im Kontor ganz zu schweigen. Auf der Straße pfiff man ihr hinterher oder lud sie zum Trinken ein, was sie stets ablehnte. Für den langen Friedrich, der immer bis in die Haarwurzeln errötete, wenn sie seinen Weg kreuzte, hatte sie nur Mitleid übrig. Solche Männer konnten Carl Olsen nicht das Wasser reichen.

Mit einem Knall schloss Mutter die Herdklappe. Sie hatte gestern bis spät in der Wäscherei gearbeitet und von der Abwesenheit der Mädchen nichts mitbekommen. Mit einem Ächzen richtete sie sich auf. Heute Morgen würde es kalt bleiben, ihnen war die Kohle ausgegangen. Minna wollte sich nach der Arbeit darum kümmern. Es war der letzte Freitag vor Weihnachten, die Auszahlung des Wochenlohns stand an. Sie hörte das Ratschen des Messers, das durch den Brotkanten hobelte.

Seufzend drehte Minna sich auf den Rücken. «Guten Morgen.»

Mutter blickte kurz auf. «Das weiß ich nicht, wie gut der Morgen wird, ohne Tee und in der Kälte. Ihr macht euch am besten gleich auf den Weg.»

Minna setzte sich auf. Sofort kroch die bitterkalte Luft unter die Strickjacke und ihr Nachthemd. Schnell griff sie nach dem Wollschal neben ihrem Bett und schlang ihn sich um die Schultern.

«Was essen kannst du schon noch.» Mutter kam zu ihr herüber, brachte ihr die Scheibe Butterbrot und setzte sich zu ihr auf die Bettkante. Ihre Hände waren krebsrot – für eine Wäscherin war die Kälte noch schmerzhafter als für alle anderen. Minna nahm das Brot, griff nach der Hand ihrer Mutter und legte sie sich an die Wange. «Deine Finger.»

Yrsa zog die Hand zurück. «Es ist ja bald Weihnachten, da können sie sich erholen.»

Drüben stand Elsa aus dem Bett auf, gab bibbernde Laute von sich, warf sich Schals um und huschte aus dem Zimmer zum Abort.

Minna biss in ihr Brot. «Mutter, Carl Olsen hat gestern noch einmal mit mir gesprochen. Elsa soll aufs Gymnasium.»

Ihre Schwester war nun bald vierzehn. In dem Alter hatte Minna von der Schule abgehen und eine Arbeit finden müssen, denn ihr Vater war vier Jahr zuvor an der Schwindsucht gestorben. Kurz darauf hatte ihr Bruder Michel eine eigene Familie gegründet, die er nur mit Mühe durchbrachte, und von Yrsas Lohn alleine wären sie verhungert.

Unwirsch stand ihre Mutter auf. «Unsinn. Das hatten wir doch schon geklärt. Elsa wird sich eine Anstellung suchen. Vielleicht kann sie in ein Kontor eintreten wie du.»

Minna stellte sich ihre blitzgescheite, lebhafte Schwester vor, zermalmt von geistlosen Zwölfstundentagen an der Schreibmaschine.

«Mutter, Elsa kann etwas Besseres werden. Sie kann …»

«Die Unterhaltung ist beendet.» Die Stimme ihrer Mutter klang schneidend.

«Aber Carl Olsen …»

«Hör doch auf mit diesem Carl Olsen. Der hat in seinem Leben noch keinen Tag gehungert. Einen Scherz macht er sich daraus, euch Mädchen Flausen in den Kopf zu setzen!» Yrsa griff nach ihrem Rock.

Minna verstummte. Vielleicht hatte ihre Mutter ja recht. Carl fand tatsächlich Gefallen daran, andere Menschen zu provozieren. Andererseits, wenn sie an seine Augen dachte, die sie gestern so forschend und ernst angesehen hatten, war sie sich nicht mehr ganz so sicher. Und hatte er sie mit dem Kuss auf ihre Nase necken wollen oder …

Entschlossen warf sie die Decke von sich. Der Tag musste beginnen.

***

Als Minna mit wehendem Mantel um die Ecke auf die Nørrebrogade einbog, sah sie an einem Hauseingang die schwarze Gestalt eines Mannes lehnen, die ihr entgegenzusehen schien. Minna kniff die Augen zusammen. Konnte es Michel sein, der da im Dunkeln auf sie wartete? Aber nein, ihr Bruder war um diese Zeit schon im Freihafen. Um sechs Uhr morgens, um ein und um vier Uhr nachmittags stand er dort an, um eine Arbeit zu ergattern, die seine kleine Familie ernährte. Ausgeschlossen, dass er um diese Zeit in Nørrebro herumlungerte.

Minna versuchte sich ihr Unbehagen nicht anmerken zu lassen und ging mit gemessenen Schritten weiter. Sie strich sich das Haar zurück, schon wieder hatten sich widerspenstige Locken aus dem Knoten gelöst und wehten ihr ins Gesicht. Die Gestalt trennte sich von der Hauswand, und nun, als er vor ihr stand, erkannte sie ihn: Es war Lasse Nielsen, der Gewerkschaftsmann. Er trat ihr in den Weg und zog den Hut.

«Einen guten Morgen wünsche ich dir, Minna. Schon früh munter.»

«Wie immer, Lasse», entgegnete Minna ungeduldig. Sie war ohnehin schon zu spät dran. «Und selbst, musst du nicht in die Fabrik?» Sie bemühte sich um ein