Helenes Stimme - Sanne Jellings - E-Book

Helenes Stimme E-Book

Sanne Jellings

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Beschreibung

Ein bewegender Roman über die junge Helene Lange, eine der Mütter der deutschen Emanzipation, die das Bildungswesen für Mädchen reformierte Eningen bei Reutlingen, Sommer 1864: Die 16-jährige Waise Helene Lange wird für ihr Pensionatsjahr zu einer Pfarrersfamilie am Fuß der Schwäbischen Alb geschickt. Pfarrer Eifert gibt sich weltoffen, im Pfarrhaus diskutieren gebildete Gäste regelmäßig über Politik, Literatur und Philosophie. Ein Gesetz im Hause der Eiferts jedoch empört Helene: Frauen haben in diesen Runden zu schweigen.  Helene freundet sich mit der empfindsamen Pfarrerstochter Marie an. Dass einer Frau ein Dasein jenseits von Familie und Haushalt offenstehen könnte, ist für diese unvorstellbar, doch durch die Gespräche mit Helene wächst auch in ihr die Sehnsucht nach einem selbstbestimmteren Leben. An den Wochenenden unternehmen Marie und Helene viel mit Maries älterem Bruder Max und dessen Tübinger Studienfreund Ludwig, der Marie ermutigt, sich zu bilden. Ludwig und Marie kommen sich rasch näher – bis es zu einem doppelten Verrat kommt, der die Leben der vier für immer verändert …

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Seitenzahl: 248

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Sanne Jellings

Helenes Stimme

Roman

 

 

 

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Cordula Schmidt Design, Hamburg

Coverabbildung Alamy Stock Photo

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01500-5

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für meine Töchter

Marie

Schussenried Spätherbst 1926

Marie tritt mit dem Eierkorb am Arm vor die Klostermauern. Sie bleibt stehen, zögert und blickt sich vorsichtig nach allen Seiten um. Dann atmet sie tief ein und zieht die Holztür hinter sich zu. Sie weiß, sie darf es nicht, trotzdem geht sie mit Trippelschritten los, die Dorfstraße entlang, hinaus auf die Felder. Es ist ein stiller Morgen. Nebelschwaden hängen über dem Ried, sie steigen vom Federsee auf. Marie mag die Brauntöne des Herbstes, das helle Grau des Himmels. Diese Farben beruhigen sie. Die Natur hat alle Lasten abgeworfen. Das Werk ist getan, nun wartet die Welt auf den Winter. Bald ist Advent. Der kalte Wind in Maries Gesicht riecht nach Schnee. Er ist wie ein Versprechen, eine Verheißung.

Was aber soll dieses Land einer Achtzigjährigen noch verheißen? Marie lässt den Gedanken los, sie soll nicht so viele Fragen stellen. Heute fühlt sie sich getröstet, sie lächelt.

Gestern hat sie einen Brief von Richard erhalten. Der Arme, er hatte immer so viel Ärger mit ihr. Er hat seine Schwester schon lange nicht mehr besucht, aber wer sollte sich das auch zumuten. Sie sind beide alt. Die Reise von Hohenheim hier herunter nach Oberschwaben ist beschwerlich. Marie macht ihm keinen Vorwurf. Sie hat die Familie zu oft enttäuscht. Seit Max, ihr älterer Bruder, gestorben ist, sind Richard und seine Frau Auguste die Einzigen, die sie zu sich nehmen könnten. Doch inzwischen ist Marie zufrieden in Schussenried. Seit dem Krieg weiß sie es hier zu schätzen. Da hatte sie solche Angst, immerzu, und das Kloster schützte sie. Es schützt sie vor der Welt, und es schützt die Welt vor Marie. Sicher ist es so am besten.

Sie legt den Korb in die linke Armbeuge. Später muss sie bei den Hühnern noch ein paar Eier finden, sonst wird man ihr Fragen stellen. Müßiggang wird hier nicht gern gesehen. Doch manchmal muss sie einfach hinaus, das ist ihr geblieben, trotz allem.

Marie bleibt stehen und zieht den Brief aus ihrer Rocktasche. Gestern hat sie Richards Worte so hastig, so gierig überflogen, dass sie den Brief zunächst nicht einmal vollständig aufgefaltet hat. Sie beginnt erneut zu lesen, dieses Mal mit voller Aufmerksamkeit. «Liebes Schwesterle», schreibt Richard. Er, der Kleine, zehn Jahre jünger. Dabei musste sie doch immer ihn versorgen, das Brüderle. Aber wenn man erwachsen ist, verändern sich Machtgefüge und Fürsorgepflichten unter Geschwistern. Manchmal kehren sie sich sogar um. Richard, der Professor, erzählt im Brief von seinen Enkeln, erkundigt sich nach ihrer Gesundheit, sie sei ja immer kränklich gewesen. Als Marie am Falz angelangt ist und den Bogen öffnet, flattert ihr ein Zeitungsausschnitt entgegen. Sie steckt ihn in die Rocktasche und liest weiter. «Erinnerst du dich an deine alte Freundin Helene? Es war viel Spaß zu haben mit ihr damals in Eningen. Sie hat mir einmal den Rohrstock erspart und den stibitzten Kuchen auf ihre Kappe genommen. Seitdem ist sie ja im Leben zu einigem, wenngleich zweifelhaftem Ruhm gekommen. Nun wird ihr eine Ehre zuteil, die mich trotz allem freut – ich gönn’s ihr für den Kuchen. In Hamburg wird eine höhere Mädchenschule nach ihr benannt.»

Als wäre das Helenes größter Sieg. Über sechzig Jahre ist es her, dass Marie sie kennengelernt hat. Wer hätte gedacht, dass einmal eine so erfolgreiche Streiterin für die Sache der Frauen aus ihr werden würde? Marie liest seit dem Krieg keine Zeitung mehr, aber zuvor hat sie Helenes Weg mitverfolgt, auch wenn sie keinen direkten Kontakt mehr hatten. Helenes Triumph ist nicht, dass eine Schule nach ihr benannt wird. Ihr Triumph ist, dass es eine höhere Mädchenschule überhaupt gibt.

Sie waren beide junge Mädchen, die nicht viel wussten von der Welt. Marie geborgen im Schoß der Familie, Helene allein. Und doch besaß ausgerechnet Helene die Kraft, sich nichts sagen zu lassen. Sie hat eine Stimme. Marie hat keine Stimme, früher hatte sie vielleicht eine, aber man hat sie ihr genommen, ihre Stimme, ihre Geschichte. Immer haben andere ihr gesagt, wie die Dinge zu verstehen sind. Und sicher hatten sie recht. Sonst wäre Marie ja nicht hier.

Marie zieht den Zeitungsausschnitt aus der «Schwäbischen Chronik» hervor. Er berichtet, die neue Schulleiterin der Mädchen-Oberrealschule an der Hansastraße in Hamburg heiße Emmy Beckmann. Den Namen hat Marie noch nie gehört. Aber dann: Der Hamburger Senat habe bestätigt, dass die Schule alsbald den Namen Helene-Lange-Oberrealschule tragen solle. Die hochbetagte Namenspatin höchstselbst wolle anlässlich der Zeremonie zur Umbenennung aus Berlin anreisen.

Lenchen. Du hast dafür gesorgt, dass es einen Ort gibt, der mit Mädchen wie uns etwas anfängt. Marie weiß, sie ist achtzig und wird bald sterben, und es berührt sie, dass ihr Scheitern vielleicht zu etwas gut war. Vielleicht war es tatsächlich für die andere ein Ansporn. Zu ihrer Zeit gab es keinen Platz für ihresgleichen, es gab nur falsche Plätze, oder Warteplätze. Mädchen, die eigene Wünsche hatten, die etwas lernen wollten, wurden vertröstet. Doch Helene hat nicht gewartet. Helene hat gekämpft, und sie hat ihrer Stimme Gehör verschafft.

Marie muss ihr schreiben, wie glücklich sie das macht. Dass vielleicht nicht alles umsonst war. Oder ist das unbescheiden? Sie bleibt auf dem Feldweg stehen. Der lange Rock klebt an ihren derben Stiefeln, die von den vielen Pfützen schon durchnässt sind. Der Wind zerrt an ihrem Kopftuch. Auch Helene wird nicht mehr lange leben. Wenn Marie sich bedanken will, muss sie es bald tun.

Sie wirft einen letzten Blick über das weite Ried, dann dreht sie auf dem Absatz um. In der Schreibstube wird sie um Papier bitten, gleich heute. Sie hat sich gut geführt, bestimmt werden die Schwestern ihr das Briefeschreiben gestatten. Marie bindet sich das Kopftuch enger ums Gesicht und macht sich auf den Weg zurück zur Irrenanstalt.

Marie

Eningen unter Achalm Sommer 1864

«Mariele!» Die dröhnende Stimme des Vaters drang vom Flur in die Küche. Hastig stellte Marie den Korb mit den frisch eingesammelten Eiern auf den Holztisch in der Mitte des Raumes und lief zu ihm hinaus.

«Der Rall wartet, bist du fertig?»

«Einen Moment!», rief sie, eilte an ihm vorbei die Treppe hinauf in ihr Zimmer und schnappte sich ihren Sonntagshut, der auf dem Stuhl bereitlag. Dann strich sie hastig noch einmal die Decke auf dem zweiten Bett im Zimmer glatt. Sie hatte es mit einer hübschen, rot-weiß karierten Bettwäsche bezogen und dem neuen Mädchen noch ein besticktes Kräutersäckchen aufs Kissen gelegt. Ab heute würde sie ihr Reich teilen müssen. Es waren bereits zwei norddeutsche Pensionatstöchter im Pfarrhaus, das hätte wohl auch gereicht, doch heute würde eine dritte ankommen, die nun wegen Platzmangels bei Marie untergebracht wurde. Sie sollte sich willkommen fühlen. Marie schätzte zwar das Alleinsein, doch Vater hielt es für besser, wenn Mädchen nicht brüteten, sie sollten unter Leuten und fröhlich sein und sich nützlich machen. Marie bemühte sich stets um die geforderte Heiterkeit, doch oft erregte sie mit ihrem Ernst Anstoß. Es fehlte ihr vielleicht an Dankbarkeit.

Vater hatte diese Helene eigentlich erst im nächsten Herbst erwartet, aber das Mädchen hatte im Januar plötzlich ihren Vater verloren. Nun war sie Waise, mit erst sechzehn Jahren. Natürlich hatten die Eltern da nicht das Herz gehabt, sie zu vertrösten. Zu Gästen sagte man nicht Nein.

Bauer Rall würde Vater und sie eigens mit dem Gespann zum Bahnhof kutschieren. Mutter hatte Maries Widerwillen, ihr Zimmer zu teilen, genau gespürt und ihre Fügsamkeit belohnt, indem sie Vater auf die Idee gebracht hatte, die Tochter mit nach Reutlingen zu nehmen. So kam Marie um das endlose Kartoffelpellen herum, das heute Nachmittag anstand.

Marie nahm die Schürze ab und band sich den Hut im Laufen zu. Vater stand unten im Treppenflur und schaute ihr durch seine blitzenden Brillengläser entgegen. Sein grau durchsetzter dunkler Bart war schon wieder nicht gestutzt und sah ein wenig ungezähmt aus – gestern Abend hatte er sich Mutters Schere durch einen Gang ins Wirtshaus entzogen. Von Menschen konnte er gar nicht genug bekommen.

Marie nahm seinen Arm, zusammen traten sie vor die Tür und bestiegen Ralls Wagen. Auf der holprigen Fahrt von Eningen hinunter nach Reutlingen spürte Marie, wie ihre Aufregung wuchs. Sie blickte nach rechts die Achalm hinauf, an deren Hängen die Weingärten und Obstwiesen in der Sonne lagen. Wenn Max am Wochenende aus Tübingen nach Haus käme, würden alle jungen Leute im Haus mit ihren Körben in die Obstgärten ziehen, das würde eine lustige Partie werden. Oder war das nicht angemessen, wenn die Neue erst angekommen war? Eine Pensionatstochter mit einer solch tragischen Geschichte hatten sie noch nie gehabt.

«Woher kanntest du eigentlich Fräulein Langes Vater?», rief sie nach vorn zum Kutschbock, wo Vater neben Bauer Rall Platz genommen hatte, um zu plaudern.

Er drehte sich kurz zu ihr um. «Überhaupt nicht. Mein Freund Rieken aus Rodenkirchen hat uns der Familie empfohlen, du kennst ihn ja, er hat uns erst im Herbst besucht. Der Vater des Fräuleins hatte sich wohl bezüglich der Ausbildung seiner Tochter nach geeigneten Häusern umgehört.»

«Und Pastor Rieken hat der Familie geraten, sie so weit wegzuschicken?» Oh, hatte das geklungen, als zöge sie die Entscheidung des Pastors in Zweifel? Das würde sie sich niemals anmaßen. Eigentlich hatte sie doch nur sagen wollen, dass ein vertrautes Zuhause möglicherweise der tröstlichere Ort war, wenn man keine Eltern mehr hatte. Sie selbst jedenfalls hätte sich gefürchtet, als Waise allein in die Welt hinausgeschickt zu werden.

«Der Herr Pfarrer ist halt im ganzen Land eine Berühmtheit, sogar im Ausland!», mischte sich Bauer Rall ein.

«Die Ehre gebührt meiner Frau», widersprach der Vater lächelnd. «Sie bildet ja die Mädchen hauptsächlich aus. Sie ist die gute Seele in unserem gesegneten Haus.»

Marie lächelte. Ein gesegnetes Haus, das waren sie, so hörte sie es immer wieder. Deswegen konnten sie von ihrem Glück an andere abgeben, die davon weniger hatten. «Meinst du, sie leidet sehr unter dem Tod ihres Vaters? Es ist ja alles noch so frisch.»

«Traurig wird sie schon sein», antwortete der Vater ernst. «Immerhin hat sie auch die Mutter schon früh verloren. Wir werden ihr den nötigen Halt geben.»

Der Weg führte nun recht steil bergab, Marie ließ sich den Fahrtwind um die Nase wehen. Es war ihr durchaus lästig, für so ein armes Ding zuständig zu sein. Sofort rief sie sich zur Ordnung. So durfte sie nicht denken. Das war keine Nächstenliebe. Besser, sie überlegte sich, wie sich das Mädchen aufheitern ließ.

Plötzlich verlangsamte sich die Fahrt, und der Wagen hielt an. Auf der Allee stand breitbeinig der Landhändler Kittel und grinste über beide Ohren.

«Da sieh einer an, der Kittel», sagte Vater, und auch Rall rief: «Seht, seht!»

«Du kommst wohl zum Eninger Congress und kaufst neue Waren! Du bist seit drei Monaten nicht mehr daheim gewesen. Wo warst du denn diesmal?»

«Im Elsass, Herr Pfarrer.» Stolz deutete der Mann auf seine aus Korb geflochtene Krätze. Er lallte ein wenig, offenbar hatte er so früh am Tag schon dem Wein zugesprochen. «Die Spitzen und Borten aus Reutlingen haben sie mir aus den Händen gerissen, das sag ich Ihnen. Bald kann ich mir einen Wagen leisten wie du, Rall.»

Vater wiegte skeptisch den Kopf. «So? Na, deine Frau wird sich freuen, dass du wieder da bist. Du weißt schon, dass du einen neuen Sohn hast, oder?»

Kittels Gesicht leuchtete auf. «Einen Sohn! Dann hat es mit dem Weiberhaushalt ein Ende, und es hat außer dem Rudolf noch jemand das Sagen, solange ich weg bin.»

«Recht so.» Vater nickte. «Was weißt du Neues, erzähl!»

Und das tat der Kittel, weitschweifiger, als es Marie lieb war. Er berichtete von den Zuständen in Lothringen, und der Vater erkundigte sich insbesondere nach Neuigkeiten aus dem Schwarzwald, wo er in jungen Jahren als Pfarrer eingesetzt gewesen war.

Als sie endlich weiterfuhren, hatten sie Verspätung. Im Reutlinger Bahnhof stand der Zug aus Stuttgart, mit dem Helene Lange angekommen sein musste, schon auf dem Gleis.

«Sapperlot, jetzt aber zackig!», rief der Vater, sprang vom Wagen und lief los. Marie eilte mit fliegenden Röcken hinter ihm her. Ein Strom von Menschen kam ihnen entgegen, und sie kämpften sich mühsam voran. Der Bahnsteig, auf den sie schließlich traten, war bereits leer. Der Vater machte noch ein paar Schritte und drehte sich dann suchend um die eigene Achse. Schwer atmend hielt sich Marie an seinem Arm fest. «Oh nein, Vater», sagte sie verzweifelt.

«Guten Tag», erklang da eine klare, ruhige Stimme in ihrem Rücken. Marie wusste sofort, dass sie es sein musste. Niemand sagte hierzulande «Guten Tag», das klang viel zu hochdeutsch, viel zu förmlich. Man sagte «Grüß Gott». Sie drehten sich um, und da stand ein blondes, hochgewachsenes Mädchen mit blau-weiß gestreiftem Kleid und Strohhut. Den Staubmantel hatte sie sich über den Arm gelegt. Sie sah überhaupt nicht traurig, verstört oder ängstlich aus, sondern hatte einen entschlossenen Zug um den Mund. Ruhig trat sie auf Vater zu und streckte ihm die Hand hin. «Herr Eifert? Ich bin Helene Lange.»

Hinter ihr, das bemerkte Marie erst jetzt, stand ein bärtiger junger Mann mit zwei Koffern in der Hand. Er machte keine Anstalten, sich vorzustellen, und auch Helene schien ihn völlig vergessen zu haben.

«Herzlich willkommen hier bei uns in Schwaben, Fräulein Lange!», rief der Vater, ergriff ihre Hand und schüttelte sie herzhaft. «Haben Sie es geschafft!»

Helene Lange sah ihn verblüfft an. «Ich musste gar nicht viel dazu beitragen. Die Eisenbahn ist ganz von alleine gefahren.»

Marie kicherte in sich hinein. Derlei kam mit den norddeutschen Pensionatstöchtern öfter vor. Die Mädchen nahmen den schwäbischen Humor einfach zu wörtlich. Helenes Blick wanderte zu Marie. Ihre eisblauen Augen schauten sie fragend, aber freundlich an. Marie fasste sich ein Herz und streckte ebenfalls die Hand aus. «Ich bin Marie Eifert. Wir beide teilen uns ein Zimmer.»

Das schien die Neue ebenso wenig zu begeistern wie Marie selbst. Ein wenig betreten schüttelte sie ihr die Hand.

«Wir sind im gleichen Alter, nicht?», fragte sie offenbar in dem Versuch, einen erfreulichen Aspekt daran zu finden.

«Ich bin fast zwei Jahre älter, genau genommen», entgegnete Marie. «Aber das ist ja nicht viel.»

Natürlich war es viel. Mit sechzehn – herrje, da war Marie noch so schüchtern gewesen, sie hatte mit Fremden kaum gesprochen. Niemals hätte sie sich getraut, alleine zu verreisen und bei Leuten zu wohnen, mit denen sie nicht verwandt war. Doch Helene wirkte viel älter, als sie war. Das lag vielleicht an ihrer hochgewachsenen Gestalt – sie überragte Marie um einen halben Kopf –, aber auch an den klaren, blassen, ein wenig herben Zügen und ihrem gefassten Auftreten.

«Bestimmt werden wir uns gut verstehen», fügte Marie noch an, es war freundlich gemeint, klang aber auch in ihren eigenen Ohren gönnerhaft.

Helene lächelte gezwungen und nickte ihr zu, und Marie wurde ganz heiß. Sie hatte nicht den richtigen Ton getroffen.

«Dann wollen wir mal …», sagte der Vater und ging voraus zu Ralls Gespann. Die Mädchen folgten ihm, und hinter ihnen her trottete der junge Mann mit den Koffern. An der Kutsche angekommen, drehte Helene sich zum ihm um, nahm ihm den großen Lederkoffer aus der Hand und schwang ihn, ohne dass einer der Herren rechtzeitig hätte eingreifen können, auf den Wagen. Nervös sah Marie zu Vater, der denn auch etwas verdattert dreinblickte. «Und Sie sind …», wandte er sich an den jungen Mann, dessen Anwesenheit ihm zuvor offenbar gar nicht aufgefallen war.

«Louis Glauert», antwortete dieser und schüttelte ihm die Hand. «Ein Freund von Otto Lange, Helenes Bruder. Ich habe Helene von Oldenburg aus begleitet, da ich auf der Durchreise nach Zürich bin.»

«Ah.» Der Vater wirkte erleichtert. «Sie sind natürlich herzlich eingeladen, bei uns Station zu machen.»

Der junge Mann verbeugte sich. «Innigsten Dank, aber ich reise sofort weiter. Ich werde in Zürich erwartet.»

«Dann wünsche ich Ihnen eine gute Reise.» Die beiden Männer schüttelten sich erneut die Hände. Der junge Glauert vollführte noch eine hastige Verbeugung in Richtung der jungen Frauen und murmelte: «Viel Glück, Helene!», dann war er verschwunden.

Beim Einsteigen in die Kutsche schüttelte die Neue den Kopf. «Er wollte die gesamte Fahrt über mit mir Schach spielen. Da habe ich ihn, nachdem ich oft genug verloren hatte, einmal besiegt.» Sie setzte sich und blickte zu Marie auf. «Und stell dir vor, seitdem spricht er kaum noch mit mir.» Sie lachte. Dabei wirkte sie plötzlich viel jünger.

Marie setzte sich neben sie und bemerkte noch Vaters gerunzelte Stirn, bevor er sich wieder auf den Kutschbock schwang. Diese Helene spielte Schach! Zu Hause war das ein den Männern vorbehaltenes Vergnügen. Vater hielt es für keinen Zeitvertreib, der einem Mädchen angemessen war. Aber warum hatte Helene den Freund ihres Bruders auch nicht gewinnen lassen? Das war wirklich nicht besonders gescheit gewesen.

«Wo hast du denn das Schachspielen gelernt?», fragte Marie neugierig.

«Ich bin unter Brüdern aufgewachsen», entgegnete Helene und legte den Mantel neben sich ab. «Meine Mutter lebt nicht mehr, seit ich sieben bin, und wenn Vater abends in den Klub gegangen ist, haben wir gelesen oder Schach gespielt.»

«Ist es schwer?»

«Ach, kannst du es nicht? Ich bringe es dir gerne bei.»

Die Kutsche ruckte an, und Marie warf einen besorgten Blick auf Vaters sehr gerade durchgedrückten Rücken.

«Wir haben nicht viel Zeit zum Spielen», sagte sie laut, lächelte Helene dabei aber an. «Hattest du nicht auch furchtbar viel zu tun als einzige Frau im Haus?»

Helene schüttelte unbekümmert den Kopf. «Wir hatten eine Mamsell, und natürlich Theda, das Mädchen. Außerdem Helferinnen in der Küche, im Stall und im Garten.»

«Dein Vater war Kaufmann, nicht wahr?»

«Tuchhändler. Und sehr beschäftigt. Für uns Kinder hatte er wenig Zeit.»

«Wer hat euch denn erzogen?»

«Ach, er ist immer davon ausgegangen, dass wir uns schon selbst erziehen. Und das muss ich ja nun auch, deswegen war es vielleicht eine gute Vorbereitung. Aber manchmal ging es vielleicht doch ein wenig wild zu.»

Das klang gleichzeitig traurig und verrucht und interessant. Sollte Marie jetzt kondolieren? Helene wirkte nicht so, als wäre ihr daran gelegen. Sie sah eher so aus, als hätte sie Lust, einen Schwank aus ihrer Jugend zu erzählen. Also wagte Marie, im Schutze des Hufgeklappers leise zu fragen: «Was hast du denn beispielsweise angestellt?»

Helene lachte. «Ach, viel und nichts Schlimmes. Kinderstreiche. In der Schule saß ich oft auf der Büßerbank. Einmal haben meine Freundin Marianne und ich allerdings ein wenig über die Stränge geschlagen – sie war die Tochter von Ratsherr Wiencken und wohnte gleich nebenan in der Achternstraße. Wir haben die Schule geschwänzt und uns nach dem Frühstück auf Wanderschaft begeben, zur Irrenanstalt.»

«Zur Irrenanstalt!», wiederholte Marie erschrocken.

«Ja, wir wollten einmal echte Verrückte sehen. Bei uns in Oldenburg sind sie im Kloster Blankenburg untergebracht. Das liegt ein paar Meilen von der Stadt entfernt, und wir mussten knietief durch Matschwiesen und Schlamm waten, immer an der Hunte entlang. Dabei sind wir fast von einem Stier aufgespießt worden.» Sie lachte. «Das habe ich natürlich meinem Vater nicht erzählt. Auch nicht, dass wir uns auf dem Heimweg von zwei Dragoneroffizieren hoch zu Ross haben mitnehmen lassen.»

Marie warf einen Blick zum Kutschbock, aber Vater war in sein Gespräch mit Rall vertieft. Es schien um Kittels Frau zu gehen.

«Was hätte dein Vater denn dazu gesagt?»

«Ach, er konnte schon streng sein. Aber er hatte Vertrauen zu uns und nahm an, dass wir nichts Böses im Sinn hätten. Als die Sache mit den Dragonern später herauskam, hat er sich schrecklich darüber amüsiert.»

Marie war beeindruckt und auch befremdet. Das war ja eine regelrechte Wilde, die sie sich da ins Haus geholt hatten! Sie würde dafür sorgen müssen, dass Helene bei ihren Eltern nicht in Schwierigkeiten geriet. Helene selbst schien vollkommen unbesorgt zu sein – unerschrocken.

Wenig später hielt die Kutsche in der Eninger Hauptstraße vor dem weiß gestrichenen Pfarrhaus mit den weißen Fensterläden.

«Was für ein schönes, großes Haus! Und es ist ja umringt von Bergen!», rief Helene. Gepflegt und hell ragte Maries Elternhaus gegenüber der Kirche auf mit seinen vier Stockwerken, und jedes der unzähligen Fenster blitzte einladend in der Sonne. Die Stockrosen vor der Mauer zur Straße blühten in aller Pracht.

«Das dort drüben ist unser Hausberg, die Achalm, mein Kind, und gegenüber sehen Sie den Albtrauf», erläuterte der Vater. «Wir sitzen im Tal dazwischen. Es geht recht steil hinauf auf die Schwäbische Alb. Wir können hier auf den schönsten Wegen wandern.»

«Ich wandere gern! Mein Vater hat mit uns einmal eine hübsche Tour unternommen. Ich komme mir vor wie in den Ferien! Und das Dorf ist größer, als ich es mir vorgestellt hatte.»

Vater freute sich offenkundig über Helenes Begeisterung. Er war stolz auf seine Gemeinde. «In Eningen leben an die fünftausend Seelen. Zum Eninger Congress im Sommer und im Winter kommen noch dreimal so viele Gäste hinzu. Wir sind ein großes Dorf von Landhändlern, wenigen Bauern und Webern. Wenn es auch einige Armut gibt.»

Er wandte sich zum Gotteshaus um. Hinter ihm bohrte sich der Kirchturm in den Himmel mit seiner langen, dünnen Spitze, auf der ein Wetterhahn thronte. «Unsere Andreaskirche steht an der Grenze zwischen Ober- und Unterdorf.»

In dem Augenblick trat Mutter mit Anna, der Pfarrmagd, und den beiden anderen norddeutschen Pensionatstöchtern Friederike und Alwine auf den Hof hinaus, um die Neue in Empfang zu nehmen. Klein und müde sah sie aus in ihrer Schürze mit dem braunen Tuch um den Kopf, aber ihre dunklen Augen funkelten gütig.

«Du musst uns Onkel und Tante nennen, liebes Kind», sagte sie und ergriff Helenes Hände, nachdem diese durch das Tor getreten war. «Wir freuen uns, dass du hier bist. Und nun kommt ins Haus, wir haben Streuselkuchen gebacken.»

 

Bald saßen sie alle in der Wohnstube um den großen runden Tisch beim Kaffee. Marie genoss es, sich einfach zu setzen, als wäre auch sie ein Gast. Mutter hatte mit Friederike und Alwine alles vorbereitet. Edmund Pfleiderer, ihr derzeitiger Vikar, kam aus seinem Zimmer herunter und begrüßte Helene neugierig. Es waren zudem wie fast immer Gäste auf der Durchreise im Haus. An diesem Freitag handelte es sich um das Tübinger Ehepaar Schulze, das mit dem Vater gemeinsame Bekannte hatte. Man hatte sie den ganzen Tag nicht gesehen, nun aber schien der Kuchenduft sie in die gute Stube gelockt zu haben.

Marie hoffte, dass der Kuchen für alle reichen würde.

«Nun beginnt also dein letztes Ausbildungsjahr», wandte sich der Vater, der inzwischen ebenfalls zum Du übergegangen war, an Helene. «Was fehlt dir noch, mein Kind, was möchtest du lernen?»

Helene dachte über die Antwort eine Weile nach, vielleicht wollte sie nichts Falsches sagen. «Meine Mutter ist gestorben, als ich sieben Jahre alt war.» Sie sah Mutter an, und zum ersten Mal entdeckte Marie einen Anflug von Traurigkeit, von Verletzlichkeit in Helenes kühlem Blick. «Ich muss in erster Linie alles lernen, was gewöhnlich eine Mutter einem Mädchen beibringt.»

«Freilich.» Vater nickte Mutter wohlgefällig zu. Sie war heute blass, fand Marie. Ihr Haar wirkte dünn und war inzwischen beinahe ganz grau. Helene sah neben ihr sehr groß, hell und aufrecht aus.

Alwine beugte sich neugierig vor. «Du hattest also keine Tanten, keine Großmutter?»

«Meine Tante wohnt nicht in Oldenburg, und meine Großmütter leben beide nicht mehr. Ich hätte sicher mehr von der Mamsell lernen können, aber … Ich werde mir alle Mühe geben, das verspreche ich.»

Marie gab sich einen Ruck. «Stickst du gern? Wir könnten uns zusammen eine Arbeit vornehmen.»

Helene lächelte gequält. «Sticken und stopfen habe ich nur wenig gelernt. Meine Mutter hat mich wohl hier und da einmal ein Taschentuch säumen oder etwas nähen lassen, aber über diese Arbeiten haben meine Brüder immer sehr gelacht. Deswegen wurden unsere Sachen, nachdem Mutter gestorben war, von der Mamsell in Ordnung gehalten.»

«Und wie sieht es mit dem Stricken aus?», erkundigte sich Friederike. «Das ist mir auch lieber.»

Helene zog in gespielter Verzweiflung die Augenbrauen in die Stirn. «Meine Mutter hat einmal meinem Vater einen Brief geschrieben, als sie fort war. Sie hielt es für wichtig, ihn zu warnen: ‹Dass Helene ja Acht gibt, wenn sie strickt, sie könnte Theodor stechen›.» Bei der Tischgesellschaft kam Heiterkeit auf. «Theodor ist mein jüngerer Bruder. Ihr seht also, es besteht Gefahr für Leib und Leben, wenn ich am Handarbeitskorb sitze.»

«Dann wollen wir zunächst eine andere Beschäftigung für dich finden», sagte Mutter lachend. «Bist du in der Küche …?» Sie unterbrach sich, als sie Helenes Gesicht sah.

Vater schüttelte gutmütig den Kopf, seine Augen glitzerten vor Vergnügen. «Da hast du ja eine schöne Aufgabe vor dir, Adelgunde.»

«Und worauf hast du dich stattdessen verlegt?», fragte Vikar Pfleiderer, der offenbar von Helenes Unzulänglichkeiten ablenken und zu ihren Stärken überleiten wollte. Er hatte sein Stück Kuchen schon aufgegessen und zog an seiner Pfeife, die er gar nicht erst hatte ausgehen lassen.

Helene sah ihn dankbar an. «Lesen. In der Schule hatte ich den ersten Platz. Ich lerne leicht. Und ich singe gern und spiele Klavier.»

Die Tübinger Frau Schulze schnaubte und blickte säuerlich vor sich auf den Tisch.

«In Maßen ist das Lesen eine sinnvolle Beschäftigung für ein Mädchen. Wenn du möchtest, kannst du in der Lesebibliothek der Gemeinde aushelfen», sagte Vater. «Besonders im Winter wird sie gut angenommen.»

«Vater hat sie vor ein paar Jahren für die Jugend gegründet», warf Marie stolz ein. «Im Winter lese ich dort manchmal den Kleinsten vor.»

«Ich habe da etwas für dich!» Mutter erhob sich behände und schloss den Bücherschrank auf. Sie reichte Helene ein schmales rotes Bändchen. «Kennst du schon die Geschichten von Ottilie Wildermuth? Sie ist eine Tübinger Lehrersfrau und schreibt herrlich über das Leben hier bei uns in Württemberg.»

Dankend nahm Helene das Buch entgegen, hielt es mit beiden Händen vor der Brust fest und wandte sich wieder an Vater. «Werde ich denn Stunden haben? Ich habe so viele Fragen …»

«Wenn ich Zeit habe, unterrichte ich euch, meistens aber übernimmt das Pfleiderer.» Er nickte seinem Vikar zu. «Ich schlage euch eine Lektüre vor und empfehle ansonsten, fleißig mit anzupacken und bei der Predigt die Ohren zu spitzen. Dabei lernt ihr Mädchen alles, was ihr wissen müsst.»

«Mutter! Mutter! Gibt es Kuchen? Gibt es …» Schmutziger, als jemand an nur einem Tag werden konnte, stürzte Maries kleiner Bruder in die Stube und blieb wie angewurzelt stehen, als er die große Tischgesellschaft sah. In Richards blondem Haar hingen Blätter. Marie stöhnte innerlich über ihren Bruder, der mittlerweile auch schon zehn Jahre alt war und sich nach seinem Streifzug durch Wald und Flur zumindest hätte die Hände waschen können. Auch der Vater sah ihn streng an. «Richard, zieh dich um. Der Kuchen ist schon aufgegessen.»

Das Gesicht des Jungen verzerrte sich. Richard hob ein Bein, um aufzustampfen, beherrschte sich aber noch rechtzeitig und rannte stattdessen wieder aus der Tür.

«Der Arme! Er mag Kuchen doch so gern!», kicherte Alwine.

«Du hast also auch einen Theodor!», sagte Helene zu Marie.

«Ja, und vielleicht sollte ich ihn auch öfter einmal mit der Stricknadel stechen», gab Marie zurück und entlockte Helene damit zum ersten Mal ein echtes Lächeln. Es gelang Marie nicht oft, einen Scherz zu machen. Sie tat so, als bemerkte sie Mutters tadelnden Blick nicht.

«Kommt heute der Max nach Hause?», erkundigte sich Pfleiderer.

«So ein prächtiger Bursche, euer Ältester», mischte sich Frau Schulze ein. Ihr Mann war offenbar wenig gesprächig. «Wir haben ihn schon ein paarmal zum Abendessen bei uns gehabt.»

«Ich danke Ihnen.» Mutter lächelte erfreut. «Er kommt heute, und er bringt übers Wochenende noch jemanden mit. Einen Studienfreund.»

 

Der Nachmittag verging damit, dass Marie Helene das große Haus und den Garten zeigte und sie zusammen Helenes Habseligkeiten in Maries leer geräumter Schrankhälfte verstauten. Die in den ersten Stunden so mitteilsame neue Pensionatsschwester war dabei eigenartig still und abwesend. Vielleicht war es ihr unangenehm, das Zimmer mit Marie zu teilen, vielleicht war sie erschöpft von der Reise. Sie schien düsteren Gedanken nachzuhängen, für die sie ja auch Anlass genug hatte. Einmal ertappte Marie sie dabei, wie sie mit dem Armvoll Weißzeug nachdenklich aus dem Fenster in den Grasgarten blickte, wo Friederike und Alwine unter der Buche saßen und stickten.

Stirnrunzelnd wandte sich Helene zu Marie um. «Habt ihr denn schon viele Pensionatstöchter gehabt?»

«O ja.» Marie klappte Helenes leeren Lederkoffer zu und schloss die Schnallen. «Es kommen jedes Jahr welche, seit ich groß genug bin, um mitzuhelfen.»

«Ist es nicht traurig für dich, wenn sie wieder gehen?»

Natürlich war Marie traurig gewesen, früher, als die Ersten gekommen und gegangen waren. Da hatte sie sich an die Mädchen noch gebunden, mit ganzem Herzen auf die Freundschaften zu ihnen eingelassen. Marie war schon immer ein schüchterner Mensch gewesen, der sich nur schwer öffnete. Doch als ihre liebste Pensionatsschwester Elise nach ihrem Jahr in Eningen abgereist war, hatte Marie einen ganzen Tag im Gebüsch hinter der Scheuer gesessen und bitterlich geweint. Vierzehn Jahre alt war sie da gewesen. Inzwischen ging sie mit den vielen Gästen erwachsener um. Gäste galt es zu versorgen, man musste sich ihren Sorgen und Kümmernissen widmen und ihnen den Besuch so angenehm wie möglich gestalten, damit sie mit Freude und Wärme im Herzen weiterzogen. Das sahen die Eltern so, und deswegen war es eben Maries Aufgabe. «Wir schreiben uns doch und bleiben mit den meisten im Kontakt. Und es ist schön, in alle deutschen Länder Beziehungen zu haben», antwortete sie.

«Willst du nicht auch einmal selber ein Pensionsjahr verbringen?»

Marie lachte. «Aber ich werde hier doch gebraucht! Wie soll Mutter denn alles alleine schaffen? Es ist immer so viel Trubel bei uns. Vater sagt, dadurch bekomme ich hier zu Hause die beste Ausbildung.»

Helene setzte sich auf ihr Bett, die Wäsche immer noch auf dem Schoß. «Es muss schön sein, in so einem lebendigen Haus aufzuwachsen!»