Ein deutsches Versprechen. Weimar 1756–1933 - Helge Hesse - E-Book

Ein deutsches Versprechen. Weimar 1756–1933 E-Book

Helge Hesse

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Beschreibung

Ein Ort kann durch seine Menschen zum Versprechen werden 1756 begann Herzogin Anna Amalia in der kleinen Stadt Weimar, Politik und Kultur zu verbinden. Goethe und Schiller schufen dort Meilensteine der Literatur und des Denkens. Franz Liszt gab der Musik wichtige Erneuerungsimpulse, Harry Graf Kessler sowie Henry van de Velde brachten die moderne Kunst und Architektur voran. In Weimar entstand die Verfassung der ersten deutschen Republik. Und Walter Gropius gründete das Bauhaus, das alle Gebiete der Gestaltung bis heute beeinflusst. Helge Hesse begleitet die prägenden Persönlichkeiten jener Epoche, in der Weimar ein Ort deutscher Versprechen für eine bessere Welt war – bis 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Eine mitreißende Lektüre, die über bloße Geschichte hinaus die Fragen aufzeigt, die uns heute und in der Zukunft beschäftigen.

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Seitenzahl: 380

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Helge Hesse

Ein deutsches Versprechen. Weimar 1756–1933

Reclam

2023 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2023

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961847-0

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-11436-0

www.reclam.de

Inhalt

Vorweg

Der junge Herzog und Anna Amalia 1756–1775

Goethe allerorten 1776–1793

Schiller, der belebende Nachbar 1794–1804

Maria Pawlowna, Napoleon und die Schopenhauers 1805–1832

Über Liszt und Andersen bis zum Bild 1832–1899

Mit Kessler und van de Velde in die Moderne 1899–1918

Vom Bauhaus bis zum Bruch mit der Menschlichkeit 1919–1933

Ausblick

Literaturverzeichnis

Vorweg

Ein Ort kann durch seine Menschen zu einem Versprechen werden. Weil sich zwischen 1756 und 1933 viele herausragende Menschen in Weimar die Erfüllung der vielfältigsten Versprechen erhofften, entwickelte sich die kleine Stadt zu einem der geistigen und kulturellen Kraftzentren Deutschlands. In einem Zeitraum von etwas mehr als anderthalb Jahrhunderten entstanden hier zahlreiche Ideen und Werke, die von Deutschland aus noch immer in die Welt strahlen. Dazu gehören bedeutende Beiträge zu Philosophie, Wissenschaft und Literatur, neue Ansätze in der klassischen Musik, das Beschreiten neuer Wege in der Malerei, in der Kunstausbildung und nicht zuletzt bahnbrechende Neuerungen in der modernen Gestaltung und Architektur.

Weimar wurde als Kraftzentrum der Kultur und Kunst vor allem deshalb groß und weltweit so wirkmächtig, weil es prägenden Persönlichkeiten zahlreicher Nationen zum Lebens- und Arbeitsmittelpunkt wurde. Sie kamen aus Italien, aus Russland, Belgien, den Niederlanden, Frankreich oder England, gaben Anregungen aus ihrem Kulturhintergrund und schöpften sie vor Ort aus ihrer Wahlheimat. Mit alldem verbunden ist ein nie direkt gegebenes, aber immer wieder zu ahnendes Versprechen eines Deutschlands, das friedlich zum Fortschritt der Menschheit beiträgt, eines Deutschlands, das aus seiner Kultur, seiner Sprache, seinem Denken, seinen Ideen und seiner Kreativität heraus offen ist für Einflüsse anderer Kulturkreise und auf diese Weise die eigene Kultur bereichern und beständig weiterentwickeln will. Denn eine tiefe und bedeutende Kultur bildet sich nur im Austausch.

Weimar als Ort deutscher Versprechen für eine bessere Welt verschwand 1933, als die Nationalsozialisten die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler nutzten, um die Republik sofort und radikal durch eine umfassende brutale Diktatur zu ersetzen, die auch und gerade in Weimar mit dem Bruch aller menschlichen Versprechen einherging. Mit dieser Zäsur endet das Buch.

Es bleibt der Blick auf all das, was Weimar als Ort in der Welt noch immer inspiriert, jenes Weimar, dessen Ideen in ein neues Jetzt und eine neue und hoffentlich bessere Zukunft getragen werden. Seine Strahlkraft scheint durch in der Architektur der Moderne, in der Gestalt von Alltagsgegenständen, in den Klang- und Konzertkonzepten der deutschen Band Kraftwerk, in Zitaten des Triadischen Balletts, bei David Bowie und Madonna, in der Gestaltung der Cover des Jazz-Labels Blue Note.

Dieses Buch folgt den großen Persönlichkeiten, die dieses Weimar prägten. Es erzählt die Geschichten von Lebenswegen und verbindet Leidenschaften, Ziele, Verbindungen, Feindschaften, Siege und Niederlagen, und es zeigt, wie ein Ort zu einem Versprechen werden kann: durch seine Menschen.

Der junge Herzog und Anna Amalia 1756–1775

Prolog – Ein neuer Herzog

Unten im Tal des Flusses Ilm pfiff der Winterwind durch die Gassen Weimars. Oberhalb der kleinen Residenzstadt im weiten Park von Belvedere lebte in einem Schloss ein 10-jähriger Junge mit Namen Ernst August Constantin; schüchtern, schwach und oft krank. Er war der Erbprinz des kleinen Fürstentums Sachsen-Weimar-Eisenach. Seine Mutter hatte er vor zehn Monaten verloren, und nun, am 19. Januar 1748, verstarb auch sein Vater, Herzog Ernst August I., in dessen Zweitresidenz Eisenach.

Zwanzig Jahre lang hatte der Herzog seinem kleinen Fürstentum und den darin lebenden etwa 90 000 Seelen seinen Willen aufgezwungen. Den Prunk auskostend, den Frauen nachstellend, in den Wäldern das Wild erschießend, das man ihm vor die Flinte trieb. Beamte seines Hofes hatte er zur Heirat mit Frauen gezwungen, mit denen er das Bett geteilt hatte; und manchen wohlhabenden Höfling hatte er so lange inhaftieren lassen, bis der ihm sein Vermögen überschrieb oder eine hohe Geldsumme zahlte. Ernst August I. brauchte das Geld für seinen Hof, vor allem aber für die zwanzig Schlösser, die er gebaut hatte, und für sein übertrieben großes Heer, durch das er hohe militärische Ränge im Kaiserreich zu ergattern hoffte. Viele seiner Erpressungsopfer aber verklagten ihn erfolgreich bei kaiserlichen Gerichten. Nun hinterließ er neben einem nahezu ruinierten Kleinstaat über 1000 Hunde und fast 400 Pferde.

Die meisten seiner Schlösser verfielen bereits. Zu denen, die noch genutzt werden konnten, gehörten das Rokokoschloss Dornburg und der Wohnort seines einzigen verbliebenen Sohnes, das Barockschloss Belvedere südlich von Weimar.

Erbprinz Ernst August Constantin verdankte seine Geburt allein dem Tod des damals noch einzigen verbliebenen Sohnes seines Vaters, der sich, nachdem seine Frau verstorben war, eigentlich nur noch seinen Gespielinnen hatte widmen wollen. Als dann ein neuer Erbprinz hermusste, hatte er kurzerhand erneut geheiratet und noch einmal vier Kinder gezeugt. Von den drei Jungen war nur Ernst August Constantin, der Zweitgeborene, am Leben geblieben. Liebe und Zuneigung erfuhr er wohl kaum. Er war ein Instrument. Ein Erbfolger. Der Vater überließ die Erziehung den Höflingen, und zuletzt sah er seinen Sohn fünf Jahre vor seinem Tod.

Ein Erbfolger war wichtig. Ohne ihn lief ein Fürstentum Gefahr, aufgeteilt zu werden. Ernst August hatte selbst von solch einem Fall profitiert: Weil einem Teil seiner Familie der Erbfolger gefehlt hatte, war ihm Eisenach zugefallen. Der Verlust und der Zugewinn von Landesteilen war seit Generationen Usus in Ernst Augusts weitverzweigter Familie, den Ernestinern. Diese gehörten wiederum zu den Wettinern, einem der ältesten Geschlechter des deutschen Hochadels. Die Wettiner hatten sich bei der Leipziger Teilung 1485 in Ernestiner und Albertiner getrennt. In den nachfolgenden Generationen teilten sich die Ernestiner in weitere Linien und zersplitterten ihre Gebiete in Sachsen und Thüringen. Auch dadurch schwand die Macht des einst großen Sachsen, während im Norden Brandenburg-Preußen aufstieg.

Früh hatten sich die Ernestiner nach der von Martin Luther eingeleiteten Abspaltung von der Kirche in Rom auf die Seite des Protestantismus geschlagen. Der Ernestiner Friedrich der Weise hatte dem für vogelfrei erklärten Luther nach dem Reichstag in Worms auf der Wartburg nahe Weimar Schutz geboten. Später, im Schmalkaldischen Krieg gegen den katholischen Kaiser Karl V., verlor Johann Friedrich von Sachsen, genannt Der Großmütige, 1547 seine Kurfürstenwürde und einen großen Teil seines Herrschaftsgebietes. Er war es, der 1552 das kleine Örtchen Weimar zur Hauptstadt seines verbliebenen Herzogtums Sachsen-Weimar gemacht und 1557 im benachbarten Jena eine Universität gegründet hatte. In der Erfurter Teilung 1572 spalteten sich die Ernestiner erneut. Dabei entstand unter anderen das Haus Sachsen-Weimar.

Die Stadt Weimar war aus einer Ansammlung von Hütten und Häusern um eine zunächst hölzerne Befestigung auf einem erhöhten Stück Land entstanden. Daran vorbei schlängelte sich in mehreren Armen durch ein Tal das Flüsschen Ilm. Der Name Weimar leitet sich vermutlich von der Benennung des Platzes als geweihter Ort oder heiliger Wasserstelle ab. Von ›wih‹ für ›heilig‹ und ›mare‹ oder ›mere‹ für ›Wasserstelle‹. 984 wurde der Ort erstmals schriftlich erwähnt.

Aus einer Wehranlage aus Holz auf einer Anhöhe am Ufer der Ilm baute man eine Wasserburg, um die herum das Netz der Gassen Weimars wuchs. Aus der Wasserburg wurde die Burg Hornstein. Ab Mitte des 16. Jahrhunderts, Weimar war nunmehr Residenzstadt, entstand am Hof ein lebhaftes Interesse an Kultur. 1617 gründete man die Fruchtbringende Gesellschaft, auch Palmenorden genannt, eine Art Sprachförderungsvereinigung, in der fast 900 Adelige die deutsche Sprache pflegten. Man betrieb ein Münzkabinett, Orchester und Theater.

Weil Ernst August I. nach dem Hinzukommen von Eisenach zwei Fürstentümer in Personalunion regierte, durfte er sich fortan Herzog nennen. Sein Herrschaftsgebiet, nunmehr Sachsen-Weimar-Eisenach betitelt, war aufgeteilt in zwei getrennte große Gebiete sowie kleine Ämter und Exklaven. Andere Fürstentümer besaßen wiederum Enklaven auf Ernst Augusts Gebiet. Um von der Residenzstadt Weimar zur Zweitresidenz Eisenach zu gelangen, musste man fremdes Staatsgebiet durchqueren. So war das Herzogtum ein kleiner weiterer Flickenteppich im großen Flickenteppich Deutschland.

Vieles hätte jetzt mit dem Tod Ernst Augusts I. in Weimar enden können. So auch das Herzogtum selbst. Ernst August hatte zwar die Primogenitur eingeführt, wonach der älteste Sohn alle Regierungsgewalt und Güter erbte, so dass Erbteilungen, die das Herzogtum und die Familie schwächten, ausgeschlossen wurden. Doch kränklich, wie Ernst August Constantin war, musste man in einer Zeit, da viele Kinder das Erwachsenenalter nicht erreichten, wie es ja diese Familie ebenfalls bewies, mit allem rechnen. Kurzum: Das Haus Sachsen-Weimar drohte in diesen Tagen jederzeit zu verschwinden, zumal im Fall des vorzeitigen Ablebens Ernst August Constantins die Verwandten in anderen Fürstentümern nicht abgeneigt schienen, sich das kleine Herzogtum einzuverleiben. Ob Weimar dann noch Residenzstadt bliebe, ob es überhaupt seine Bedeutung bewahren könnte, war fraglich. Und so ging bei Weimarer Höflingen, Beamten, Kaufleuten, Handwerkern und Bediensteten die Angst um. Denn das Städtchen war abhängig vom Hof der Herzogsfamilie.

Der 10-jährige verwaiste Erbprinz kam unter die Vormundschaft seiner Vettern in den Herzogtümern Sachsen-Coburg-Saalfeld und Sachsen-Gotha-Altenburg. Am Hof in Gotha versuchte man, ihn auf seine zukünftigen Aufgaben vorzubereiten. Erheblichen Einfluss auf seine Erziehung übte bald Heinrich Reichsgraf von Bünau aus, der ab 1751 zum obervormundschaftlichen Statthalter ernannt worden war.

Die junge Braut

Am 8. Dezember 1755 erklärte der Kaiser den 18-jährigen Ernst August II. Constantin für volljährig und damit für fähig, die Regentschaft anzutreten. Der junge Herzog hatte sich zu einem hochgewachsenen, schmalen, blassen jungen Mann entwickelt und wirkte, auch wegen seines schüchternen Wesens, wie ein dünnes Schilfrohr in einem Sturm. Ende des Jahres übernahm er die Regierung. Kränklich war er noch immer. Darüber, was für ein Mensch er war, ist wenig zu erfahren. Zurückhaltend war er wohl, das scheint aus den Auskünften über ihn durch. Er, der allein dafür geboren worden war, eine Funktion zu erfüllen, wird in vielerlei Hinsicht einsam gewesen sein. Mit einem schwachen Körper als Bürde dazu. Es heißt, er habe zur Melancholie geneigt. Ein wenig abgeschnitten von der Welt war er, wie Weimar selbst. Er ahnte wohl, dass er nicht viel Zeit haben würde, um wenigstens die Pflicht zu erfüllen, den Fortbestand seines Hauses zu sichern.

Kaum an der Regierung, nahm er die Erfüllung seiner wichtigsten Aufgabe in Angriff. Anfang 1756 trat er mit seinem bisherigen vormundschaftlichen Statthalter Heinrich Reichsgraf von Bünau, nun Vorsitzender des Geheimen Consiliums, also des höchsten Regierungsgremiums Weimars, und damit im Grunde Ernst August Constantins Premierminister, eine Reise an. Es galt, eine Braut zu finden.

Die Reise ging nach Braunschweig. Dort regierte Herzog Karl I. über das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel. Wie die Familie Ernst August II. Constantins, die Wettiner, gehörte die Familie Karls, die Welfen, zum deutschen Hochadel. Karls Gattin Philippine Charlotte aus dem Hause Hohenzollern war eine Schwester des preußischen Königs Friedrich II., mit dem Karl gute Kontakte pflegte.

Ernst August II. Constantin und Karl I. waren nur zwei Fürsten im aus über 200 Fürstentümern bestehenden Deutschland. Das wiederum bildete unter dem Dach des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation einen letztlich doch sehr heterogenen und losen Staatenverbund, der mit einem einheitlichen Staatengebilde moderner Prägung nicht zu vergleichen war. Hinzu kamen religiöse Gräben zwischen protestantischen und römisch-katholischen Fürsten sowie ein katholischer Kaiser, der zum Teil konstitutionelle Macht ausüben konnte, aber nur wenig Zugriff auf den politischen Alltag besaß. In dieser Konstellation musste Karl ebenso wie nun Ernst August II. Constantin mit politischen Macht- und Bündnisproblemen jonglieren. Familiäre Verflechtungen setzten dabei im Wesentlichen den Ton.

Man hatte aus Weimar höflich an den Hof in Braunschweig geschrieben, ob man dort bereit sei, eine der Töchter zur Heirat freizugeben. Als Antwort kam, wie bei Interesse üblich, ein tendenziell vorteilhaft gemaltes Porträt jener Tochter, die man womöglich als Braut fortzugeben gedachte. Der Braunschweiger Hof bot Anna Amalia an, erst 16 Jahre alt, die Fünftgeborene von 13 Kindern und die zweitälteste Tochter. Sie war keine Schönheit, zwar mit großen blauen Augen wie die Mutter, aber auch der großen spitzen »braunschweigischen Nase«, nicht sehr viel mehr als 1,50 Meter groß, zierlich, leicht bucklig, vom Wesen jedoch munter und verschmitzt. In Weimar war man nicht abgeneigt. Ernst August II. Constantin machte sich auf den Weg.

Liebe auf den ersten Blick war es wohl kaum, und tiefe Gefühle wurden es vielleicht auch nie. Aber die beiden »convenirten« einander. Der Ehevertrag war schnell ausgehandelt, in dem unter anderem die finanzielle Absicherung Anna Amalias geregelt wurde. Am 16. März fand im gerade erst erbauten Braunschweiger Residenzschloss die Hochzeit statt. Die Feierlichkeiten dauerten vier Tage, und danach nahm Anna Amalia Abschied von ihrer Kindheit und Heimat. Als es nach Weimar ging, durfte sie nur eine Hofdame mitnehmen.

Am 24. März näherte sich das Brautpaar über den Ettersberg seinem Ziel. An der Landesgrenze hatte ein Husarencorps gewartet, das nun die Kutsche in die Stadt eskortierte. Postillione gaben Kunde von der nahen Ankunft. Glocken läuteten. Alle waren auf den Beinen. Vor dem Residenzschloss, der damaligen Wilhelmsburg, empfing Bünau, der die Festivitäten perfekt organisiert hatte, die kleine Braut und den hochgewachsenen, schmalen und blassen Bräutigam. Im Großen Saal des Schlosses wurde getafelt, dann fuhren Ernst August II. Constantin und Anna Amalia in die Sommerresidenz Schloss Bellevue vor den Toren der Stadt. Dort galt es, ihrer Pflicht nachzukommen, alsbald einen Erben präsentieren zu können. Sie erfüllten sie.

Am 2. Juni 1757, dem 20. Geburtstag Ernst August II. Constantins, teilte der Hof der entzückten Weimarer Öffentlichkeit die Schwangerschaft der jungen Herzogin mit. Drei Monate später, am 3. September, brachte Anna Amalia um 5 Uhr 30 im Morgengrauen den Erbprinzen zur Welt. Er erhielt den Namen Carl August. »Könnte ich Ihnen beschreiben das Gefühl, welches ich bekam, als ich Mutter wurde!«, berichtete sie später in ihrer autobiographischen Skizze Meine Gedanken. »Es war die erste und reinste Freude, die ich in meinem Leben hatte. Mir war, als wäre ich von verschiedenen andern neuen Empfindungen entbunden. Mein Herz wurde leichter, meine Ideen wurden klarer, ich bekam mehr Zutrauen zu mir selber.« Sie war erst 18 Jahre alt.

In Europa tobte mittlerweile der Siebenjährige Krieg. Friedrich II. war 1756 mit der preußischen Armee in Sachsen einmarschiert, und Weimar musste den römisch-deutschen Kaiser Franz I. Stephan und seine de facto regierende Gattin Maria Theresia, das Regentenpaar der Habsburger Monarchie, unterstützen. Am Tag der Geburt des herzoglichen Erben nahm ein Infanteriekorps des Kaisers in Weimar Quartier. In den Tagen darauf zogen weitere Truppen durch die kleine Stadt.

Nur vier Monate nach der Geburt Carl Augusts war Anna Amalia erneut schwanger, denn zur Absicherung musste ein zweiter Sohn her. Derweil verschlechterte sich die Gesundheit des jungen Herzogs. Für das Eheleben, das Pflegen von Gemeinsamkeiten, blieb nicht viel Zeit. Doch sowohl Ernst August II. Constantin als auch Anna Amalia liebten die Musik. Beide beherrschten mehrere Instrumente. Anna Amalia spielte Cembalo und Harfe; sie war mit Musiktheorie und dem Kontrapunkt vertraut.

Der junge Herzog versuchte, der Musik in Weimar mehr Raum zu geben. Er gründete eine neue Hofkapelle. Die Reste der alten hatte 20 Jahre zuvor sein Vater aufgelöst. Mit der Leitung der Hofkapelle betraute Ernst August II. Constantin nun Johann Ernst Bach, einen Neffen des großen Johann Sebastian Bach. Der kam trotz der Tatsache, dass Wilhelm Ernst, der Großvater seines neuen Dienstherrn, einst jenen Johann Sebastian Bach, der damals als Musiker in Diensten des Weimarer Hofes stand, im Residenzschloss hatte einsperren lassen, weil der so kühn gewesen war, sich nach einem anderen Dienstherrn umzusehen. In seinen neun Jahren in Weimar hatte Johann Sebastian Bach den größten Teil seines Orgelwerks geschaffen.

Johann Ernst Bach durfte wohl vor allem deshalb kommen, weil er das kostengünstigste aller eingeholten Angebote in Aussicht stellte. So sollten die engagierten Sänger auch als Hofdiener eingesetzt werden und bestenfalls auch als Instrumentalisten aushelfen. Bach wurde Hofkapellmeister, blieb aber außerdem Stadtorganist in Eisenach. Seine Truppe nannte Bach »Hof-Bande«, den Begriff »Hofkapelle« mied er.

So schloss Ernst August II. Constantin an eine frühere Zeit an, als habe er ein Versprechen aufgreifen wollen, das zwar längst nicht eingelöst, jedoch auch nicht vergessen war: das Versprechen von Weimar als Ort der Musik!

Die junge Witwe

Ernst August II. Constantin, das fiel Anna Amalia bald auf, stand unter dem nahezu erdrückenden Einfluss Bünaus, der die Regierungsgeschäfte fest in den eigenen Händen hielt und jede Gelegenheit ergriff, als Vorsitzender des Geheimen Consiliums seine Macht auszuweiten. Seitdem Bünau 1751 für den damals unmündigen Prinzen tätig geworden war, führte er im Prinzip den Staat, auch mit dem Ziel, die Finanzen Sachsen-Weimar-Eisenachs zu sanieren. Bünau ließ Ernst August II. Constantin ohne besondere Vorbesprechungen meist vorgefertigte Schriftstücke unterzeichnen, und zum Entsetzen Anna Amalias beschränkte er sogar die Auszahlungen aus der Privatschatulle des jungen Herzogs.

Und Bünau begann vorzusorgen. Am 21. Februar 1757 unterzeichnete der kranke Ernst August II. Constantin sein Testament. Bünau, der darin zum weiterhin regierenden ersten Beamten bestimmt worden war, hatte ihm dabei die Hand geführt, und so lautete eine der Verfügungen, dass Bünau nur im Falle seines eigenen Todes ersetzt werden konnte. Die Vormundschaft über den Erbprinzen hatte Ernst August II. Constantin für seine Frau und den dänischen König Friedrich V. vorgesehen, der mit einer Tante Anna Amalias verheiratet war.

Dies alles mochten weder Anna Amalia noch ihr Vater Karl akzeptieren. Dreierlei versuchte Anna Amalia nun in ihrem Sinne zu klären. Erstens wollte sie das alleinige Erziehungsrecht für ihre Söhne, zweitens das Recht, die Regierung zu führen, drittens wollte sie ihre Einnahmenseite sichern. Ihr Vater sandte Unterstützung in Person seines Vizekanzlers Georg Septimus Andreas von Praun. Der traf am 14. März in Weimar ein.

Derweil schien sich der Zustand des kranken Herzogs wieder etwas zu bessern. Es keimte sogar Zuversicht, er könnte wieder gesund werden. Doch Karl I. und Praun wollten sichergehen und suchten weiter konsequent nach Mitteln, die Anna Amalia die größten Vorteile nach Ernst August Constantins Ableben bringen konnten.

Zusammen mit Gottfried Nonne, der im Geheimen Consilium saß und ein Gegner Bünaus war, ergänzte Praun nun das Testament. Eine von Ernst August II. Constantin unterzeichnete Anordnung hielt schließlich fest, dass Anna Amalia im Falle seines Todes bei ihrer Volljährigkeit die volle Vormundschaft für die Söhne und die Regentschaft über das Land erhalten sollte, weshalb Anna Amalia die Bestätigung ihrer Volljährigkeit umgehend beim Kaiser beantragte. Bünau sollte alle Ämter behalten, doch sei er der Herzogin nachgeordnet. Zudem stand in den neuen Verfügungen, man werde seine Dienste so lange in Anspruch nehmen, wie es »die Administration für nützlich hält«. Man setzte Bünau über seine Quasi-Entmachtung in Kenntnis, und da es Ernst August Constantin wieder besser ging, reiste Praun zurück nach Braunschweig.

Am 27. Mai aber schrieb Nonne, der Herzog liege im Sterben. Praun brach sofort wieder nach Weimar auf. Doch Ernst August II. Constantin starb bereits am 28. Mai. Bald sollte sich herausstellen, dass es ihm trotz allem gelungen war, sein kurzes Leben zum Anfang von etwas Großem zu machen.

Bünau wurde nun vorgeschlagen, selbst um seine Entlassung zu bitten. Doch der versuchte, sich in die neuen Machtverhältnisse einzufügen. Kaiser Franz I. Stephan bestätigte am 9. Juli 1759 nach langem Hin und Her Anna Amalias Volljährigkeit, ihre alleinige Regentschaft und ihre alleinige Vormundschaft für ihre Söhne. Anna Amalia musste sich im Gegenzug verpflichten, allen vom Reich auferlegten Pflichten nachzukommen, also auch Truppen für den Kaiser bereitzustellen, der gegen ihre Verwandten in Braunschweig und Preußen Krieg führte.

Die Regentin

Anna Amalia war noch keine 20 Jahre alt, und sie war Regentin. Doch ähnlich frei entscheiden wie andere Fürsten durfte sie nicht. Sie musste ein Erbe verwalten und dieses ihrem Sohn bei seiner Volljährigkeit übergeben. Der Kaiser hatte ausdrücklich eingefordert, dass sie über ihre Regentschaft Rechenschaft abzulegen habe. Auch das Testament ihres Gatten legte ihr Fesseln an. Strukturen im Herzogtum zu verändern, war darin nicht vorgesehen. Hinzu kamen die zerrütteten Finanzen und der Siebenjährige Krieg, der noch bis 1763 das Land und seine Menschen herausfordern sollte.

Praun gab Anna Amalia nun einen Schnellkurs in Verfassungs- und Staatskunde. Um ihr ein wenig mehr Handlungsspielraum zu verschaffen, fassten Karl I., Praun und Anna Amalia den Entschluss, sich Bünaus endgültig zu entledigen. Man bauschte einen Formfehler im Consilium auf, um ihm ein Übergehen Anna Amalias vorzuwerfen. Bünau bat daraufhin Karl I. um seine Entlassung. Der überließ es Anna Amalia, das Rücktrittsgesuch zu bewilligen, was sie am 13. Dezember 1759 tat.

Den Regierungsapparat organisierte Praun nun so, dass Anna Amalia Einsicht in alle Abläufe erhielt. Ein neuer Premierminister wurde zunächst nicht ernannt. Alle Entscheidungen mussten ihr vorgelegt werden und waren von ihr abzuzeichnen. Der aus Braunschweig stammende Kabinettssekretär Carl Christian Kotzebue wurde zu ihrer Vertrauensperson im Consilium. Zudem konnte sie sich auf die erfahrenen Verwaltungsbeamten Rehdiger, Nonne und Greiner stützen. Von Gottfried Nonne war sie befremdet, da er sie mit allzu viel Vertraulichkeiten und Klatsch behelligte, während Johann Poppo Greiner zu ihrem engsten Vertrauten wurde.

Die Beziehung zu den Landständen gestalteten sich während Anna Amalias Regentschaft angespannt. Immer wieder spielte die Vorläufigkeit ihrer Macht in die Auseinandersetzungen hinein und schwächte damit ihre Durchsetzungsmöglichkeiten. Zudem hatten die Landstände ein Mitspracherecht, wenn es um wichtige Aspekte des Wohls der beiden Prinzen ging. Denn die sicherten die Zukunft des Landes.

Das enge Korsett des Zeremoniells, die Einflüsterungen und Machtspiele der Höflinge kannte Anna Amalia von Kindheit an. Nun erlebte sie, wie um ihre Gunst als Fürstin und Regentin gebuhlt wurde, kämpfte damit, wie alle um das geschriebene Protokoll und die ungeschriebenen Verhaltensregeln kreisten, lernte mit der Eifersucht am Hofe umzugehen und sie auch als Waffe zu nutzen. Es war von Bedeutung, wenn man etwa in aller Öffentlichkeit in die Loge der Fürstin gebeten wurde. Gunstbezeigungen, Geschenke, ein Lächeln, ein Nicken der Fürstin wirkten im feinen Netz der Abhängigkeiten. Sie wusste um den Argwohn anderer, wenn jemand sich dauerhaft in ihrer Nähe etablierte, ahnte die Furcht der von ihr Abhängigen vor dem Verlust ihrer Gunst und Nähe. Hinzu kam das Zeremonielle, das sich über Jahrhunderte im Alltag des Adels entwickelt hatte: Wie groß die Ehrenbezeigungen zu sein haben, welche Kutsche, welches Gespann, wer wen bis zu welchem Treppenabsatz, zur Kutsche begleitet. Wem man wann mit welchem Aufwand entgegenreist und wen man wie bei der Abreise begleitet. Wer wo sitzt. Ob und wann Ehrenpforten, Kapellen, Lobgedichte angebracht sind.

Der Geist im Weimar dieser Tage war abseits aller Etikette orientierungslos, und er hätte sich auf dieser Kreuzung vieler Möglichkeiten jede Richtung wählen können. Anna Amalia schlug nun für sich selbst und für den Hof, dem sie vorstand, die Richtung der Kultur ein. Auf diesem Gebiet konnte sie vielleicht angesichts ihrer Position als vorläufige Regentin am ehesten Einfluss gewinnen, zumal sie sich der Dichtung und der Musik nahe fühlte.

Weimar war nicht wie Anna Amalias Heimat Braunschweig, dessen Fürstenhof zu den wohlhabendsten und kultiviertesten in Deutschland zählte und ein Zentrum der Aufklärung war. Braunschweig war Hansestadt und Messestadt; es hatte damals etwa 25 000 Einwohner. In Weimar lebten zur gleichen Zeit nur etwa 6000 Seelen. Die kleine Stadt lag abseits der Fernstraßen. Die Landstraßen ins nahe Erfurt und nach Jena waren in erbärmlichem Zustand. Handel, Gewerbe, Manufakturen waren kaum nennenswert. Die meisten Familien im Ort lebten von den Diensten, die der Hof beanspruchte. Man wohnte in schindelbedeckten Häusern entlang enger und verwinkelter Gassen, von denen viele ungepflastert waren. Die Abwässer flossen frei über die Wege, auf denen Trittsteine von Haus zu Haus halfen. Den Inhalt der Nachttöpfe schüttete man einfach aus dem Fenster. Es stank. Man trieb Schweine, Kühe und Schafe durch die Stadt. Manche Besucher waren entsetzt und wollten gleich wieder abreisen. Zumindest gab es unter Anna Amalias Regentschaft bald erste Straßenbeleuchtungen. Einige Lampen mit Fischtran spendeten in der Nacht spärliches Licht.

Anna Amalia wollte etwas gegen all die Verschlafenheit tun. Es musste bekannt werden, dass es sich für Größen des Geistes und der Kultur lohnte, nach Weimar zu kommen. Und vielleicht kämen sie nicht nur zu Besuch. Vielleicht blieben sie dauerhaft. Doch an Verlockungen gab Weimar als Stadt kaum etwas her. Was Größen gleichwohl locken konnte, war eine Anstellung am Hof. Ein Auskommen verbunden mit einer schönen Aufgabe.

Die Prinzenerziehung und Wieland

Kein Dichter oder Schriftsteller konnte seinerzeit vom Verkauf seiner Werke leben. Daher verdingten sich viele von ihnen als Hauslehrer oder Erzieher an Höfen, in adeligen Familien oder in Haushalten des aufstrebenden wohlhabenden Bürgertums. In Weimar mussten die Prinzen erzogen werden, und Anna Amalia wollte die Kultur am Hof und in der Stadt beleben. Vielleicht konnte man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.

Nach seiner Geburt übergab man einen Prinzen der Säugamme. Eine fürstliche Mutter stillte nicht selbst. Das »Frauenzimmer« mit den Bediensteten der adeligen Hausherrin sorgte obendrein für das Wohl und Wehe des Kleinkindes. Für die anschließende schulische Ausbildung des Kindes war der Erzieher verantwortlich. An einem größeren Hof wurde er oft Hofmeister genannt. Ihm unterstanden weitere Lehrer. Arbeitete er zur Zufriedenheit, konnte er in diesem Amt die ersten Schritte zu einer größeren Karriere am Hof tun.

Graf Johann Eustach von Schlitz genannt Görtz – so sein voller seltsamer Name – hielt sich seit 1759 in Weimar auf. Er brachte sich selbst für die Aufgabe ins Spiel, und Anna Amalia schlug ihn dem Consilium als Prinzenerzieher vor. Görtz war erst 25 Jahre alt, doch Anna Amalia, die blutjunge Mutter, meinte, der gebildete junge Mann könne wie sie auch mit seiner Aufgabe wachsen. Am 7. Mai 1762 trat Görtz sein Amt an. Zunächst vertraute man ihm Carl August an, und damit war Görtz sofort unter allseitiger Beobachtung. Denn Prinzenerziehung war ein Politikum. Anna Amalia, die Bediensteten, der Hof, das Geheime Consilium, die Landstände: Alle hatten berechtigtes Interesse am Werden des nächsten Landesherrn. Als Görtz einmal im Sommer die etwa drei Kilometer vom Belvedere zum Residenzschloss mit Carl August zu Fuß ging, warf man ihm vor, mit der Gesundheit des Prinzen allzu nachlässig umzugehen.

Anna Amalias Verhältnis zu Görtz blieb nicht frei von Eifersucht auf ihn, der mit beiden Söhnen im täglichen Kontakt stand.

Görtz wiederum versuchte, sich in seiner Machtstellung zu behaupten und die allseitigen Interessen auszugleichen. Immer wieder kämpfte er bei Anna Amalia um seine Kompetenzen. Die Einstellung eines Französischlehrers führte fast zu seinem Rücktritt.

Hinzu kamen die verschiedenen Charaktere der beiden Prinzen, mit denen Görtz und Anna Amalia umgehen mussten. Erbprinz Carl August zeigte schon als Kind einen starken eigenen Willen und eine sehr gute Auffassungsgabe, beides besaß er weit ausgeprägter als sein Bruder Constantin. Carl August entwickelte sich zu einem gesunden Jungen. Eine Erleichterung allenthalben, denn in Erinnerung an den kränklichen Vater blieben Anna Amalia und der Hof beständig besorgt. Carl August war noch nicht fünf, da wusste er, er würde einmal der Herrscher über alle um ihn herum sein, und er begann das auszunutzen. Unablässig versuchte er das Hofzeremoniell zu umgehen, und er ließ die Höflinge wissen, wer er einmal sein würde. An seine künftige Aufgabe wurde er früh herangeführt. Schon als Sechsjähriger redete er 1763 zur Eröffnung des Landtags. Zwei Jahre später huldigte ihm erstmals das Volk in Eisenach.

Die Beziehung Anna Amalias zu ihren Söhnen gestaltete sich nicht unkompliziert. Sie meinte, Carl August und Constantin hätten sich die Mutterliebe durch Benimm und Folgsamkeit zu verdienen. Görtz versuchte, teils gegen Anna Amalias Wunsch, den Jungen Freiräume zu geben, in denen sie Kinder sein konnten. Dies aber immer im Wissen, dass er gehalten war, beide schnell zu Erwachsenen heranzuziehen. Daneben hatte er beständig seine eigene Position im Blick. So formulierte er in den frühen Jahren Briefe der Söhne an die Mutter. Carl August und Constantin mussten das Vorgefertigte dann nur kopieren. Anna Amalia sah ihre Söhne während der Jahre, in denen sie heranwuchsen, meist nur jeden zweiten Tag stundenweise. Selten speiste sie mit ihnen. Hof und Regierung ließen ihr auch wenig Zeit dafür.

Als Görtz vorschlug, die Prinzen auch an anderen Orten auszubilden, reagierte Anna Amalia zurückhaltend. Sie wollte die Söhne nicht noch enger an deren Erzieher binden oder noch weiteren Zugriff verlieren. So fand sie den Ausweg, eine Reise der Söhne mit Görtz 1771 nach Braunschweig an den elterlichen Hof vorzuschlagen. Und sie begleitete sie. In Braunschweig lernten die Prinzen den Umgang mit anderen Fürsten und machten sogar die Bekanntschaft ihres Großonkels Friedrich II., Anna Amalias Onkel. Der war angetan von dem nun 14-jährigen Carl August. Er habe schon viele ältere Prinzen gesehen, bemerkte der preußische König, »und unter ihnen war nicht einer, der sich so wohl betragen hätte«. Görtz war stolz.

Görtz erkannte bald, dass Carl August vermutlich mit bereits 18 Jahren für volljährig erklärt werden würde. Bis dahin aber galt es, an der Erziehung weiter zu justieren. Weil Anna Amalia alle Pläne für eine Kavalierstour Carl Augusts ablehnte, musste eine adäquate Ausbildung in Weimar vor Ort her. Görtz schlug mehrere Lehrer vor, darunter ein Mitglied des Consiliums, das so einen besseren Zugriff auf die Erziehung bekommen würde. Und: Der Gelehrte und Schriftsteller Christoph Martin Wieland sollte Philosophie unterrichten. Wieland, seinerzeit Professor in Erfurt, war im November 1771 zum ersten Mal für einige Tage in Weimar gewesen. Er hatte 1761 den erfolgreichen Roman Geschichte des Agathon veröffentlicht und war mit Shakespeare-Übersetzungen hervorgetreten. Doch man zögerte.

Anfang März 1772 las Wieland Anna Amalia am Weimarer Hof aus seinem neuesten Roman Der goldene Spiegel oder die Könige von Scheschian vor. Einem Buch, das für die aufgeklärte Erziehung eines Fürsten wirbt. Wielands Idee eines idealen Staates bestand in einer aufgeklärten Monarchie, wie man etwa die von Anna Amalias Onkel Friedrich in Preußen sah. Das gefiel der Regentin. Vielleicht konnte man mit Wielands Berufung nach Weimar tatsächlich die Prinzenerziehung auf eine neue Stufe heben. Mit Sicherheit aber wäre Weimar durch das Engagement dieses bekannten Mannes in aller Munde.

Anna Amalias längst schon eingeleitete Förderung des Zuzugs bedeutender Gelehrter hatte bereits erste Früchte getragen. Noch vor Wieland war 1763 der durch einen Briefroman bekanntgewordene Schriftsteller Johann Karl August Musäus aus Jena gekommen, zunächst als Pagenhofmeister und in dieser Funktion für Ausbildung und Einsatz der Pagen bei Hofe verantwortlich. Seit 1769 lehrte er als Professor am Wilhelm-Ernst-Gymnasium.

Tatsächlich war Wieland an einer Anstellung bei Hofe interessiert. Er hoffte dadurch abgesichert seinen schriftstellerischen Ambitionen nachgehen zu können. An Ostern kam er wieder nach Weimar, und es entwickelte sich ein kurzer vertraulicher Briefwechsel zwischen ihm und Anna Amalia. Die gestand Wieland, sie glaube, bei der Erziehung der Söhne versagt zu haben. Vor allem dem Erbprinzen mangele es an Respekt und Mutterliebe. Könnte sie noch einmal beginnen, würde sie in der Erziehung besonders darauf achten. Wieland wischte ihre Selbstvorwürfe beiseite. Man könne nicht immer vollkommene Vernunft und Reinheit erreichen. Er zeigte die Briefe Anna Amalias Görtz – der indigniert war, da er Kritik an seiner Arbeit darin las.

Nach längeren Verhandlungen, in denen Wieland schließlich der Titel eines Hofrats und höhere Bezüge gewährt wurden, war man sich einig. Wieland sollte als Erzieher des Erbprinzen fungieren. Die Verpflichtung war bis zu Carl Augusts 18. Geburtstag angelegt.

Im September 1772 zog Wieland nach Weimar. Er schloss schnell Freundschaft mit Görtz. »Unsere Prinzen ausgenommen hat Er keinen Freund als mich, ich keinen als Ihn«, berichtete er in einem Brief an seinen Freund, den Arzt und Dichter Johann Georg Zimmermann. Den beiden Prinzen brachte der neue Lehrer in seinem Unterricht die Philosophie des Schotten Adam Ferguson nahe. Der Unterricht dauerte pro Tag nur ein bis zwei Stunden, da die Jungen noch von weiteren Lehrern unterrichtet wurden. Vom jungen Carl August war Wieland beeindruckt. Am 4. Dezember 1772 schrieb er an Jacobi: »Wenn der Himmel ihn und ein paar gute Freunde, die er hat, leben lässt, so sollen Sie in sechs Jahren a dato einen kleinen Hof sehen, der verdienen soll, dass man von den Enden der Welt komme, um ihn zu sehen.«

Anna Amalia allerdings war, was Wieland betraf, bald ernüchtert. Zu ihrem Staatsrat Jakob Friedrich von Fritsch sprach sie von einem Mann von »ehrenwerter Gesinnung«, doch sei er ein »schwacher Enthusiast« mit »viel Eitelkeit und Eigenliebe«. Leider zu spät erkenne sie, dass Wieland »nicht gemacht ist für die Stellung, in der er sich befindet«.

Doch zunächst versuchten Görtz und Wieland, den jeweils anderen für ihre Zwecke einzusetzen, und sie buhlten um die Gunst des Erbprinzen – mit der Folge, dass auch die Entfremdung zwischen Carl August und seiner Mutter fortschritt. Die sah die beiden Prinzenerzieher zunehmend argwöhnisch als eitle, ehrgeizige, vor allem ihren Zielen verpflichtete Männer. Als sie Carl August darauf ansprach, wies der das brüsk zurück. Er vertraue ihnen und sie seien seine besten Freunde, sie wolle sich nur gegen sie stellen.

Die Zwistigkeiten gingen so weit, dass Anna Amalia ihre vorzeitige Demission erwog. Man könne Carl August auch schon mit 17 Jahren für volljährig erklären, überlegte sie. Ein Gedanke, den auch Görtz bereits in sich trug. Anna Amalia zog ihren höchsten Beamten, den Staatsrat Jakob Friedrich von Fritsch, ins Vertrauen. Der hatte 1772 den Vorsitz des Geheimen Consiliums erhalten, nachdem Anna Amalias langjähriger enger Vertrauter Johann Poppo Greiner verstorben war. Fritsch antwortete, indem er Lob und gute Worte für sie und für ihren Sohn fand, und er riet listig, was Görtz und Wieland betraf, müsse man nur deren Nachteile und schlechte Seiten stärker herausstellen. Der Prinz werde dann schon merken, was sie seien. Zudem werde Eifersucht die beiden Erzieher sicher rasch entzweien.

Fritsch wusste, wie man bei Hofe die Fäden spann. Anna Amalias Zutrauen zu ihm wuchs noch, als er für ihren Sohn Constantin einen »Gouverneur« vorschlug und für diesen Posten den preußischen Offizier Carl Ludwig Knebel präsentierte. Der, gebildet und einfühlsam, hatte bereits im Herbst 1773 am Weimarer Hof eine gute Figur gemacht; und er war ein ausgewiesener Literaturliebhaber. Anna Amalia stimmte zu.

So trat der 30-jährige Knebel 1774 die Stelle des Hofmeisters und Erziehers für Prinz Constantin an. Für den war als nachgeborenen Adeligen wie üblich die Militärlaufbahn vorgesehen. Da Knebel aber nicht nur Constantins militärische Ausbildung für wichtig hielt, sondern auch eine umfassende Erziehung in seinem Aufgabengebiet sah, geriet er rasch in Konflikt mit Görtz. Knebel aber konnte den zunächst skeptischen mittlerweile 17-jährigen zukünftigen Herzog Carl August von seinen Plänen mit Constantin überzeugen. Und bald schon sollte Knebel darüber hinaus eine bedeutende Rolle für die Geschicke Weimars spielen.

Rahmen und Fundamente

1766 hatte man den Umzug der fürstlichen Bibliothek in das »französische Schlösschen«, auch »Grünes Schloss« genannt, abgeschlossen, das seit 1761 für die beständig wachsende Büchersammlung aus- und umgebaut worden war. Nun zog auch die von Ernst Wilhelm gegründete Herzogliche Bibliothek mit mittlerweile etwa 11 000 Bänden aus dem nahegelegenen Residenzschloss um und fand Platz in einem wunderschönen hellen ovalen Rokokosaal. Ebenfalls nur wenige Schritte entfernt von der Bibliothek war am 3. Mai 1770 die Grundsteinlegung für das »Fürstliche Landschaftshaus« gefeiert worden. Einen großen Bau, vorgesehen für die Stände des Herzogtums, repräsentativ, doch nüchtern gestaltet.

Zwischen 1772 und 1774 verfasste Anna Amalia ihre autobiographische Skizze Meine Gedanken. In ihrer knappen freien Zeit spielte sie Klavier, improvisierte, schuf einige Kompositionen, sogar den Anfang einer Sinfonie. Sie »dilettierte« in der Kunst, wie man sagte, was damals noch kein negativ besetzter Begriff war. Er stammt vom italienischen Wort dilettare ab, das ›sich erfreuen‹ bedeutet. Das Dilettieren galt als eine Art Adelsprivileg. Der Begriff wandelte sich allmählich zum Negativen, als man begann, das Dilettieren insbesondere aus dem Bürgertum heraus abwertend gegen die zunehmende, aus einer breiten Gesellschaft entstehende Professionalisierung in den Künsten abzugrenzen. Es ging um das Selbstverständnis und um die Rechtfertigung der sich in der Kunst zunehmend entwickelnden Berufe. Nichtsdestotrotz wurde beim Dilettieren nicht selten eine hohe Qualität erreicht. So auch durch Anna Amalia, die zuweilen im engeren höfischen Kreis konzertierte. Zu Ostern 1768 soll auch ein von ihr komponiertes Oratorium am Hof aufgeführt worden sein.

1768 veranlasste Anna Amalia die Neugründung eines Theaterensembles. Es war aufgrund der Finanznot im Siebenjährigen Krieg kurz nach Ernst August II. Constantins Tod aufgelöst worden. Mit dem Wegfall der Gehälter der 31 Theatermitglieder konnte man seinerzeit immerhin fast 10 Prozent des Hofetats einsparen. 1761 hatte Hofkapellmeister Wolff das Orchester wieder aufzubauen begonnen. Ab 1767 gaben wieder Schauspieltruppen Gastspiele. Doch sie kamen und gingen. Ein eigenes Ensemble besaß Weimar nicht mehr.

Dann, am 6. Mai 1774, stand das Schloss in Flammen. Tags zuvor hatten sich nebenan auf dem Marktplatz große Teile der Bevölkerung im Protest versammelt. Das Vorhaben, ein Geburtshaus einzurichten, empfand man als Verwahrlosung der Sitten. Die verantwortlichen sogenannten Viertelsmeister in den Stadtteilen hatten sich geweigert, für das Geburtshaus eine Abgabe bei der Bevölkerung zu erheben, und waren daraufhin verhaftet worden. Erst als der Rat versprach, die Viertelsmeister freizulassen, löste sich die Versammlung auf. Es war nicht das letzte Mal, dass das Fürstenhaus dem eigenen Volk in Weimar zu fortschrittlich war.

Nord- und Westflügel des Schlosses brannten an diesem Tag bis auf die Fassaden nieder. Auch die Schlosskirche im Süden des Westflügels und viele Gemälde der Bilderkammer wurden vernichtet. Die Ursache des Brandes konnte man nicht feststellen. Aber man fand Menschen, die man dafür bestrafen konnte. Die Weimarerin Dorothea Sophie Axt soll den Brand angeblich vorhergesagt haben. Das genügte, um sie ohne Gerichtsverfahren zwei Jahre einzusperren. Anna Amalia unterzeichnete die dafür benötigten Verfügungen. Außerdem verlor der fürstliche Landbaumeister Johann Gottfried Schlegel seinen Posten. Es hieß, er habe den Brandschutz beim Fürstenhaus vernachlässigt. Beweise aber brachte man nicht bei. Schlegel floh sicherheitshalber.

Die Fürstenfamilie kam zunächst in der Residenz von Staatsrat Fritsch unter, einem großzügigen Palais, das der sich in der Stadt hatte errichten lassen. Der Entwurf stammte von dem geflohenen Schlegel. Als eine Residenz für die Fürstenfamilie und ein neuer Repräsentationsort des Hofes gesucht wurde, setzte der bereits zunehmend in die Geschicke Weimars eingreifende Erbprinz Carl August gegen den Willen Anna Amalias durch, das noch nicht ganz fertiggestellte Landschaftshaus zu beziehen, das fortan Fürstenhaus genannt wurde.

Ein weiterer bemerkenswerter Mann traf ein. Einer von jenen, die in Annalen und Chroniken oft nicht erwähnt werden, die aber durch diesen und jenen Impuls neue Wege eröffnen. Christian Joseph Jagemann kam im Januar 1775 nach Weimar, und er unterrichtete Anna Amalia in Italienisch. Jagemann war einst von seinen Eltern gegen seinen Willen in ein Augustinerkloster gegeben worden und von dort geflohen. Nachdem er als Lehrer und Gymnasialdirektor gearbeitet hatte, suchte er nach einer neuen Stellung. Er konvertierte zum Protestantismus, und Anna Amalia ernannte ihn im Dezember 1775 zum Leiter ihrer Privatbibliothek, die Jagemann fortan beständig ausbaute. Etwa 3000 Werke in noch sehr viel mehr Bänden erwarb sie nach und nach. Sie las viel. Und sie übersetzte.

Von Jagemann verwaltet, wuchs nicht nur die Bibliothek zu einer der großen persönlichen Fürstenbibliotheken an, sondern er brachte nun auch Italien und dessen Kultur dem Weimarer Hof und dessen Umkreis nahe. Von 1777 bis 1781 veröffentlichte er in fünf Bänden sein Werk Geschichte der freien Künste und Wissenschaften in Italien, und von 1780 bis 1785 in acht Bänden das Magazin der italienischen Literatur und Künste, zudem 1803 in vier Bänden ein Italienisches Wörterbuch. Und im Januar 1777 wurde ihm eine Tochter geboren. Er nannte sie Karoline. Sie sollte noch für viel Wirbel in Weimar sorgen, dies auch in Verbindung mit dem jungen Mann, der bald Herzog werden würde.

Nun, da sich Carl August der Volljährigkeit näherte und bald als neuer Herzog die Regentschaft antreten sollte, galt es für ihn, rasch eine adäquate Braut auszusuchen. Von gleichem Stand und somit von hohem Adel musste sie sein und einen attraktiven finanziellen Hintergrund bieten, am besten war sie außerdem familiär und politisch verbunden mit den Kreisen der Macht Deutschlands, noch besser: auch Europas. Und – da seinerzeit allmählich auch den Gefühlen mehr Bedeutung beigemessen wurde – eine gewisse Zuneigung war ein willkommenes Kriterium.

Anna Amalia dachte an das Haus der Landgrafen von Hessen-Darmstadt. Und es traf sich, dass Karoline Henriette, die Goethe später die Große Landgräfin nannte, gerade nach Russland aufbrach, um drei ihrer Töchter am Kaiserhof Katharina der Großen vorzustellen, die wiederum nach einer Braut für ihren Sohn Paul, den künftigen Kaiser, suchte. Eine Tochter aus einer Familie, die Aussicht auf derlei exquisite neue Bande hatte, war daher äußerst interessant, um als Braut für Carl August in Betracht gezogen zu werden.

Als nun die Große Landgräfin auf dem Weg nach Russland mit ihrer Reisegesellschaft in Erfurt Station machte, kamen Anna Amalia und ihre beiden Söhne vorbei. Man wollte sich gegenseitig in Augenschein nehmen. Die drei Töchter wurden präsentiert. Jedoch stellte die Landgräfin unmissverständlich klar, dass der Kaiserhof in Russland das Recht auf die erste Wahl habe.

In Russland entschied die Zarin sich dann für Wilhelmina. So begann sich das Weimarer Interesse angesichts der beiden Töchter, die noch zur Wahl standen, auf Prinzessin Luise zu richten. Sie war fast im gleichen Alter wie Carl August, nur acht Monate jünger, und Görtz und Wieland hatten bereits Erkundigungen über sie eingeholt, die zu ihren Gunsten ausfielen. Prinzessin Luise tanze gut, wussten sie zu berichten, sei gebildet in Kunst und Literatur und von gutem Herzen, wenn auch ihre Höflichkeit Mängel zeige. Carl August zog Luise in Erwägung.

Eine bedeutende Reise

Die von Anna Amalia immer wieder herausgezögerte Kavalierstour ihrer Söhne startete schließlich doch; auch, weil Carl August damit einen Besuch bei seiner möglichen Braut verbinden konnte. Am 8. Dezember 1774 brach der Prinz mit seinem Bruder Constantin, dem Grafen Görtz, Constantins Erzieher Carl Ludwig von Knebel, der die Reise im Wesentlichen vorbereitet hatte, dem Oberstallmeister Josias von Stein, dem Leibarzt und einer angemessen großen Dienerschaft auf. Es sollte nach Straßburg gehen und auch nach Karlsruhe, wo Carl August die Annäherung an die potentielle Braut Luise vorantreiben sollte. Die war nach dem Tod ihrer Mutter, der Großen Landgräfin, bei ihrer Schwester Amalie untergekommen, die durch Heirat Erbprinzessin von Baden geworden war.

Auf dem Weg nach Karlsruhe lag Frankfurt. Und dort hatte Knebel etwas ganz Besonderes geplant. Kaum angekommen, suchte er am 11. Dezember den jungen Dichter Johann Wolfgang Goethe in dessen Elternhaus am Großen Hirschgraben auf, wo er zwischenzeitlich wieder lebte und halbherzig als Anwalt arbeitete. Knebel wollte den durch das Drama Götz von Berlichingen und die sensationellen, allüberall für Furore und Herzensstürme sorgenden Leiden des jungen Werthers berühmt gewordenen Mann kennenlernen. Und Knebel wollte, dass Carl August dies auch tat.

Als Knebel in Goethes Anwaltszimmer im Halbdunkel durch die Tür trat, hielt der den schlanken Mann zunächst für seinen Freund Johann Georg Jacobi. Aber auch Knebel war ihm nach der kurzen Irritation sofort sympathisch, und als jener ihn zu einem Besuch in der Unterkunft der Reisegesellschaft der beiden Weimarer Prinzen einlud, stimmte Goethe sofort zu. Goethe hatte, wie er später in seinen Erinnerungen vermerkte, von den Erfolgen der Belebung des Theaters in Weimar durch Anna Amalia bereits erfahren.

Die Prinzen logierten im »Roten Haus«, und als Goethe deren Quartier betrat, lag dort ein noch nicht aufgeschnittener Buchblock von Justus Moesers Patriotischen Phantasien auf dem Tisch. Das habe Goethe sofort, wie er Jahre später berichtete, zu der Bemerkung veranlasst, in dieser Schrift habe Moeser der Zersplitterung Deutschlands in Kleinstaaten durchaus viel abgewonnen, da sie insbesondere für die Entwicklung der Kultur gut sei. Mit dieser Themensetzung gelang Goethe bei dem künftigen Regenten fast ein Entrée par excellence. Denn im weiteren Verlauf der Epoche sollte sich vor allem die Kultur als entscheidend für die Selbstbehauptung des kleinen Herzogtums Weimar erweisen. Aber vielleicht hatte Goethe bei der Erzählung dieser Episode im Nachhinein etwas nachgeholfen.

Man fand Gefallen aneinander, plauderte über Literatur und verabredete sich zu einem erneuten Treffen in Mainz drei Tage später. Dort vertiefte man die Gespräche und fuhr gemeinsam Schlittschuh. Carl August sprach Goethe auf Wieland an. Der hatte in seiner seit dem Vorjahr in Weimar erscheinenden Literaturzeitschrift Teutscher Merkur mit einem Text Goethe so verärgert, dass der als Antwort darauf die Farce Götter, Helden und Wieland veröffentlichte. Goethes – wie er selbst zugab – »garstig Zeug« parierte Wieland mit Grandezza, indem er im Teutschen Merkur den Text des jungen Angreifers als Meisterstück seines Genres lobte.

Carl August regte nun an, Goethe möge sich doch entschuldigen. Es folgte ein Billett Goethes an Wieland. Darin berichtete er, ihm und dem Herzog schmeckten die Bratwürste vortrefflich und sie wünschten, Wieland sei dabei.

Mit dem 26-jährigen Goethe, der erfüllt von hochfliegenden Träumen war und der sich aufgrund des Erfolgs seines Werthers zweifellos als Genie sah, sowie dem 17-jährigen Erbherzog, der bald volljährig war und kaum erwarten konnte, seine Regentschaft anzutreten, trafen zwei Männer aufeinander, die sich in der Verschiedenheit ihrer Herkunft, ihrer Charaktere, ihres Alters, aber auch in der Nähe vieler ihrer Gedanken und Wahrnehmungen hervorragend zu ergänzen versprachen.

Goethe gehörte einer wohlhabenden Familie an. Der Vater, ein Jurist, der nunmehr von seinem üppigen Erbe lebte, fühlte sich eher als Bürger und hielt Distanz zum Höfischen. Sohn Johann Wolfgang zeigte sich weniger zurückhaltend im Umgang mit Adelskreisen. Er hatte begeistert am aufgeklärten Hof des Landgrafen von Hessen-Darmstadt verkehrt und dort dem erweiterten Umfeld der Großen Landgräfin Karoline Henriette angehört, wegen deren Tochter Luise nun Carl August aus Weimar anreiste.

Nach dem Tode der Großen Landgräfin im März 1774 hatte sich der von Goethe geschätzte Kreis am Darmstädter Hof jedoch aufgelöst. Carl August reiste nach seiner ersten Begegnung mit Goethe weiter nach Karlsruhe. Es galt, Luise zu treffen. Am 18. Dezember berichtete er von dort seiner Mutter nach Weimar: »Ich habe gestern Abend die Bekanntschaft der Prinzessin Luise erneuert.« Und: »Sie ist gewachsen und schöner geworden. In den wenigen Minuten, in denen ich den Vorzug hatte, sie zu sehen, ist sie mir als eine Prinzessin von Geist und Charakter erschienen.« Und: »Ich gebe mir alle mögliche Mühe, sie kennen zu lernen.« Am nächsten Tag fand die Verlobung statt. Seine Verlobte beschrieb Carl August in einem weiteren Brief: »Sie ist nicht schön, aber wenn man sie liebt und sie fühlen lässt, dass man sie liebt, ist sie unendlich liebenswürdig. Sie besitzt große kornblumenblaue, ein wenig vorstehende Augen; ihr Blick ist nachdenklich. Nase und Mund sind klein, jeder Zug ihres Gesichtes ist wohlgebildet. Ihr Herz scheint nobel, frei und stark; sie gibt sich sehr einfach, wenn man sich mit ihr unterhält.«

Nach erfolgreicher Brautfahrt reisten die Prinzen und ihre Begleiter für sieben Wochen nach Straßburg. Man besuchte das Theater und parlierte en français. Es ging weiter nach Paris. Dort lernte die Reisegesellschaft einige der Enzyklopädisten kennen, die in Europa mit ihrem bahnbrechenden umfangreichen Werk die Wahrnehmung und die Vermittlung von Wissen auf völlig neue Ebenen hoben. Am 7. März 1775 machten Carl August und Constantin dann am Hof von Versailles die Bekanntschaft von Ludwig XVI. und Marie-Antoinette. Zudem erlebte der frisch verlobte Carl August in den Wochen in Paris mit der Gemahlin des Fürsten von Monaco wohl sein erstes erotisches Abenteuer.