Ein Garten mit Elbblick - Petra Oelker - E-Book

Ein Garten mit Elbblick E-Book

Petra Oelker

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Beschreibung

Trügerische Gefühle. Windige Geschäfte. Eine Frau nimmt ihr Schicksal in die Hand. Hamburg im Sommer 1895: Nach dem Tod ihres Vaters kehrt die junge Henrietta Winfield aus Bristol an die Elbe zurück. Der alte Mann hat ihr kaum mehr hinterlassen als eine Sammlung moderner Gemälde; sein Vermögen ist verschwunden. Henrietta glaubt sich durch ihren englischen Ehemann versorgt. Bis dieser eintreffen wird, steht die Familie ihr zur Seite: Die Grootmanns gehören zur Crème der hanseatischen Gesellschaft, sie handeln seit Generationen mit Chile-Salpeter, Kaffee und Kautschuk. Doch dann wird am Rande der Speicherstadt ein Toter gefunden – Thomas Winfield. Henrietta, ganz auf sich gestellt, sucht nach Antworten. Warum war ihr Mann heimlich in Hamburg? Was geschah mit dem Vermögen ihrer Familie? Und wie wird ihre eigene Zukunft aussehen?

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Seitenzahl: 507

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Petra Oelker

Ein Garten mit Elbblick

Roman

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

PrologFrühsommer 1881Kapitel 1Juli 1895 In der Nacht von Montag auf DienstagKapitel 2Dienstag, mittagsKapitel 3In der Nacht von Dienstag auf MittwochMittwochKapitel 4Mittwoch, vormittagsKapitel 5FreitagSonntagabendKapitel 6Acht Tage später … MontagKapitel 7Montag, mittagsDienstag, mittagsKapitel 8MittwochKapitel 9DonnerstagKapitel 10Donnerstag, abendsSonnabendKapitel 11SonntagMontagKapitel 12DienstagKapitel 13MittwochEpilogDanksagung
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Prolog

Frühsommer 1881

Bis zu jenem Tag, an dem sie das Loch in der Hecke entdeckte, war Henrietta ein braves Kind mit einer großen Taftschleife im Haar. Wenn man acht Jahre alt ist, bedeutet ein Loch in der Hecke ein Tor zur Welt, zum Abenteuer, um hindurchzukriechen, braucht besonders ein braves Kind Mut und Bereitschaft zu rebellischen Momenten. Und Neugier? Die spürt ohnedies jedes Kind. Selbst wenn eine Reihe von Gouvernanten unermüdlich daran arbeitet, ihrem Schützling diese Untugend auszutreiben. Henrietta war auch ein stilles Kind, denn ihr Herr Papa hatte sie am liebsten, wenn sie brav und still war. Da es ihre Mama nur noch in ihren Träumen, auf dem Gemälde in der Diele und den beiden silbergerahmten Fotografien in Papas und Henriettas Zimmer gab, bemühte sie sich, immer brav zu sein, was überwiegend gelang. Bis eben zu jenem Tag, an dem sie das Loch in der Hecke entdeckte.

Mit acht Jahren war sie kein Dummerchen mehr, sondern ein Fräulein mit Erfahrung. Sie hatte nicht verstanden, warum Papa und Onkel Friedrich sich so amüsierten und Mademoiselle scharf den Atem einzog, als sie diese Neuigkeit beim Nachmittagstee auf der Terrasse kundgetan hatte. Natürlich wusste sie, dass es hinter der Hecke am Elbhang eine bunte und sehr gefährliche Welt gab, sie kannte sie auf eine Weise, die sich für ein Mädchen aus gutem Hause schickt: von der Kutsche aus, wenn sie zu den Verwandten in die Villa mit den Türmchen, Erkern und dem noch größeren Garten fuhr. Papa sprach vom ‹dicken weißen Schloss›, was sie in Gegenwart der Schlossbewohner allerdings keinesfalls wiederholen durfte. Einige Male war sie mit Mademoiselle auch mit dem kleinen Fährdampfer nach Hamburg gefahren, was sich schon sehr nach Abenteuer anfühlte, und im Sommer ging es in die Ferien nach Travemünde oder Scharbeutz, sonntags immer in die Nienstedtener Kirche, wo man einige sehr interessante Leute traf. Die rochen seltsam und trugen nur an sehr kalten Wintertagen Handschuhe.

Aber bis auf die Besuche im ‹Schloss› an der Außenalster verließ das Kind die im Vergleich zu benachbarten Anwesen bescheidene Villa am Elbhang nur in Begleitung der jeweiligen Gouvernante. Sie waren alle nicht mehr ganz junge Damen aus Frankreich oder der Schweiz. Seltsamerweise blieben sie nie lange, was wirklich nicht an Henrietta lag, dem braven Kind, sondern einerseits an Papa, der sich leicht in seiner Ruhe gestört sah, andererseits an den Damen, wenn sie sich in der Hoffnung auf eine angenehmere Zukunft zu sehr bemühten, ihrem Dienstherrn die Einsamkeit zu vertreiben.

In Henriettas achtem Frühling wachte eine Schweizerin aus Bern über ihre Erziehung. Ihr Französisch lag erheblich unter den Erwartungen Papas, der nicht bedacht hatte, in welchem Teil der Schweiz Bern lag, aber das machte sie durch ihre gemütliche Art und Erscheinung und den völligen Mangel an Ambitionen hinsichtlich des Hausherrn wett. (Leider heiratete Mademoiselle Ackermann schon nach einem Jahr Papas Weinhändler und zog mit ihm zur Gründung einer neuen Filiale nach Magdeburg, wobei strittig blieb, ob der Verlust eines verlässlichen Weinhändlers oder einer nachsichtigen Gouvernante schwerer wog.)

Mademoiselle Ackermann fand, kleine Mädchen sollten täglich üben, sich zwei Stunden selbst zu beschäftigen. Diese unendlich lange Zeit musste Henrietta einfach dazu verführen, einem über den Rasen hoppelnden Kaninchen zu folgen (die durch die Krone der alten Rotbuche hüpfenden Eichhörnchen waren leider unerreichbar) und bisher gemiedene, düstere Ecken des Gartens zu erkunden. Da niemand auf die Idee gekommen war, ein braves Kind mit einer Taftschleife im Haar könne überhaupt Lust dazu verspüren, war es nicht verboten worden. Ein echtes Versäumnis, das ihr Leben nicht nachhaltig verändern, aber doch weit in die Zukunft hinein beeinflussen sollte.

Womöglich war das Loch in der Hecke schon immer da gewesen und nur dem Blick des Gärtners entgangen; Papa spazierte niemals dorthin, wo aus Eiben und anderem, zumeist stacheligem Gesträuch eine kleine, das Anwesen hier nach außen hermetisch abschließende Wildnis gepflegt wurde. Womöglich war es erst im gerade vergangenen strengen Winter entstanden. Erstaunlich war nur, dass dieses Loch und auch das im dahinterliegenden Zaun bis in den Sommer hinein nicht geschlossen wurden. Beide waren gerade weit genug, dass ein großer Hund oder ein kleines Mädchen hindurchschlüpfen konnten, ohne Fell oder Kleid erheblich zu beschädigen.

So trat das kleine Fräulein Mommsen an einem frischen Tag Anfang Mai zum ersten Mal ohne Bewachung, ohne Schutz hinaus in die fremde Welt. Sie zögerte nur kurz und lauschte zurück in den Garten, doch niemand rief nach ihr oder befahl sofortige Umkehr. Es war ganz still, nur ihr Herz klopfte laut, als sie durch den schmalen, von weit über ihren Kopf aufragenden dunklen Hecken begrenzten Gang zur Elbe hinunterrannte, zum Strand. Dorthin, wo die anderen lebten, wo Mädchen auch am Sonntag weder Taftschleifen noch Lackschuhe trugen, wo keine Gouvernanten und Klavierlehrer ihren verdienstvollen Tätigkeiten nachgingen und niemand Damastservietten benutzte, wo die Jungen unverschämt waren und die Messer locker saßen, alle Männer ständig fluchten und tranken, und die Frauen – was mit den Frauen war, hatte Henrietta nicht verstanden, jedenfalls waren sie offenbar keine Damen. All das hatte sie erfahren, als sie in ihrem Lieblingsversteck unter der Hintertreppe der Köchin und der vorletzten Gouvernante gelauscht hatte, die sich darin einig gewesen waren, das Leben unten am Ufersaum sei nur für Proleten, während Menschen von Feingefühl und Anstand nach oben, nämlich nach den vornehmen Villen und Parks auf dem Hochufer entlang der Elbchaussee strebten.

Der Gang hinter dem Loch im Zaun erschien zwischen den gepflegten dichten Hecken wie ein grüner Tunnel, er machte einen scharfen Knick, dann noch einen – und da war die Elbe, da war der Uferweg, und da waren auch – Proletenkinder?

Nach rechts verwehrte ein soliderer Zaun den Durchgang, dort gehörte auch der Strand zu den großen Anwesen am Geesthang. Nach links, nicht weit bis Teufelsbrück, wo im Sommer Spaziergänger flanierten und ganz Mutige im Fluss badeten, wo nun bald ein Hafen für die dahinterliegenden Dörfer gebaut werden sollte, saß ein Junge vorne auf einem in den Fluss ragenden Steg. Obwohl es erst Mai war, trug er weder Schuhe noch Strümpfe, dafür sah seine Jacke aus, als sei sie aus mehreren Schichten Stoff genäht. Sein Haar war sehr kurz, dick und blond, fast wie Stroh. Er saß ganz ruhig, in der Rechten eine Angelrute, aus der Linken stieg dünn feiner Rauch auf. Henrietta war beeindruckt, bis er die Hand an die Lippen hob und sie feststellte, dass es kein Zauberkunststück war, sondern nur ein Zigarettenstummel. Gerade schnippte er den Rest in den Fluss, als sie sich heftig in den Rücken gestoßen fühlte, vorwärts stolperte und mit beiden Füßen im Wasser landete.

Ein Mädchen lachte, es klang überhaupt nicht freundlich. Hetty sprang zurück aufs Trockene, aber das Wasser hatte ihre feinen schwarzen Stiefeletten schon durchnässt. Sie drehte sich um, ängstlich und wütend zugleich, und blickte in ein frisches sommersprossiges Gesicht, in dunkle Augen unter rotblondem Haar. Das Mädchen war einige Jahre älter als sie, fast einen Kopf größer, fast schon kein Kind mehr.

Sie grinste breit. «Hast dich wohl verlaufen, was?» Sie gab Hetty wieder einen unsanften Schubs. «Pass mal gut auf, sonst schmelzen deine Zuckerfüße, und aus’m Wasser kommt ein Riesenaal, der frisst dich mit Haut und Haar und deiner blöden Schleife.»

Eine blitzschnelle Bewegung, und Henriettas Schleife war mitsamt einem dünnen Büschel Haare in der Schürzentasche des Mädchens verschwunden.

Ihr erschreckter Schrei hatte den jungen Angler herumfahren lassen; bevor das Mädchen zum nächsten Schubs gegen den Eindringling aus der feinen Welt ausholen konnte, war er da und fasste es grob am Arm.

«Was soll das, Martha?», sagte er. «Sie hat uns nichts getan. Willste wieder Ärger haben? Was hast du in die Tasche gesteckt? Gib’s ihr zurück.»

Martha starrte ihn nur wütend an. Er war ein paar Fingerbreit kleiner als sie, trotzdem hatten seine Worte Gewicht.

«’ne Haarschleife», piepste ein zweites Mädchen, das vorsichtig abwartend bei einem struppigen Weidenbusch gestanden hatte und nun näher hüpfte. «So ’ne schöne Schleife.» Sie mochte zwei oder drei Jahre jünger als Henrietta sein, zumindest sah sie so aus; sie war dünn, ihre Blässe wurde durch die ungesunden roten Flecken auf den Wangen nur betont, ihr Kleid aus drei Sorten aufgerauten Baumwollstoffes hing von ihren schmalen Schultern wie von einem Kleiderbügel, die dünnen Beine steckten in faltigen, an Knien und Knöcheln gestopften braunen Wollstrümpfen, die Füße in Holzgaloschen.

Da geschah etwas Seltsames. Henrietta, gerade in einer ihr fremden Welt angekommen, begriff eine wichtige Spielregel: Wer etwas will, muss etwas geben. Sie wusste noch nicht, was sie hier wollte, aber dass sie etwas wollte, irgendetwas, vielleicht einfach nur hier sein, mittun, das wusste sie, bevor ihr Verstand es begriff.

«Ja», stieß sie hervor, «so ’n großes schlappes Ding.» Sie bemühte sich, ihre Sprache nachlässig schleifenzulassen, was ihr tiefe Freude bereitete, denn es hätte Mademoiselle Ackermann und besonders Tante Lydia schockiert. «Hab sie ihr geschenkt, ich hab noch eine.»

«Stimmt das?» Der Junge blickte streng von einer zur anderen, und das Mädchen, das er Martha genannt hatte, starrte das fremde Kind wütend an. Überhaupt nicht dankbar. Aber ihre Hand blieb mitsamt der Beute tief in der Schürzentasche.

«Spiel dich bloß nicht so auf», fuhr sie den Jungen an. «Du bist ein Jahr jünger als ich, du …»

«Halbes Jahr.»

Martha verdrehte die Augen, und das kleine Mädchen kicherte, trat noch einen Schritt vor und streichelte den weichen Stoff von Henriettas Kleid. «Ist das Seide?», fragte sie. «Oder Samt?»

«Nee.» Henrietta schüttelte den Kopf. Weder Samt noch Seide, das wusste sie, aber sonst? Wer machte sich schon Gedanken über einen Kleiderstoff? «Wenn du willst», sagte sie zu dem dünnen Kind, weil ihr nichts Besseres einfiel, «bringe ich dir auch so ’ne Schleife mit.»

«Wirklich? Was willst du dafür haben? Ich hab nicht viel. Nur ’ne schöne Muschel, aber die …» Das Kind schob die Unterlippe vor, ihre Augen sahen gefährlich nach Tränen aus.

«Nichts», beeilte sich Henrietta zu versichern, sie kannte sich mit der Unersetzlichkeit heimlicher Schätze aus. «Ich will nichts dafür haben. Die Muschel ist bestimmt wunderschön, behalt sie ruhig. Du kriegst die Schleife, wenn …» Sie machte ein Gesicht, als denke sie furchtbar angestrengt nach, Papa und Onkel Friedrich fanden das immer sehr putzig. «Ja», sagte sie, als keiner der drei auch nur ein kleines bisschen amüsiert aussah, «wenn ich mal mit euch angeln darf.»

Der Junge nickte ernsthaft. Wie sich bei Henriettas nächstem Besuch am Steg herausstellen würde, war er der Bruder des kleinen und ein Nachbarkind des großen Mädchens. «Das geht», sagte er, «wir nehm’ nämlich nichts geschenkt von Leuten, die wir nicht kenn’n.»

So begann ein langer Sommer heimlicher Freiheit, gestohlener Stunden. Wer nun glaubt, er habe für Henrietta das reine Glück bedeutet, hat vergessen, wie es war, damals in solchen Sommern im Taftschleifenalter. Erstaunlich blieb, dass Mademoiselle Ackermann niemals fragte, wo und auf welche Weise ihr Schützling in der Sicherheit des Gartens Kleider und Schuhe derart ramponierte, Knie zerkratzte, einmal, als die Brombeerranken am Elbhang gar zu stark geworden waren, sogar das Gesicht. Sie fragte auch nie nach dem Verbleib mindestens sechs verschwundener Taftschleifen verschiedener Größen und Farben. Wäre es nicht ihren Pflichten zuwidergelaufen, hätte man vermuten können, sie zeige so etwas wie einen Anflug heimlicher Zufriedenheit, wenn Henrietta wieder einmal ihrer Aufsicht entkommen war, was für gewöhnlich ein- oder zweimal in der Woche geschah.

Nach Kalendertagen gerechnet waren Henriettas Ausflüge in verbotenes Land und fremdes Leben nicht von langer Dauer, die Flucht aus der Sicherheit und Geborgenheit des väterlichen Besitzes gelang ihr nur bis in die letzten Junitage. Dann folgten vier Wochen Sommerfrische in Travemünde mit Papa, Mademoiselle und einigen der Verwandten aus dem ‹Schloss›, bei der Rückkehr fand Henrietta die Lücke in der Hecke und das Loch im Zaun geschlossen. Als phantasievolles Kind hätte sie vielleicht nach einiger Zeit gezweifelt, ob es sie überhaupt gegeben hatte, ob sie die Stunden im Leben der anderen nur geträumt hatte. Aber wo sonst hätte sie lernen können, auf zwei Fingern zu pfeifen wie ein Fischerjunge und mit der Flitsche auf Eichhörnchen oder die Teetasse von Mademoiselle Ackermanns Nachfolgerin zu schießen?

Auch darüber hinaus hatte sie in diesen Wochen eine Menge gelernt. Nur mit dem Angeln hatte es nicht geklappt. Kein einziger Fisch war an ihrem Haken geblieben.

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Kapitel 1

Juli 1895 In der Nacht von Montag auf Dienstag

Er empfand die Verabredung mitten in der Nacht als angenehm. Vielleicht war angenehm nicht ganz das treffende Wort. Anregend? Aufregend? Von allem etwas. Es war eine Stunde, die schlichte Schatten zum großen Theater, vage Geräusche zur Bedrohung aus dem Hinterhalt machte. Doch die Stadt war trotz der engen, von hohen Fassaden gesäumten Straßen nicht ganz düster, der Mond hing über den Dächern, und die Straßenlaternen brannten noch, was er für Verschwendung hielt – wenn es auch nicht so still war wie nachts in seiner erheblich kleineren Heimatstadt, war doch kaum noch jemand unterwegs. Selbst die Straßenbahnen und Pferdeomnibusse, von denen einige Linien bis nach Mitternacht verkehrten, fuhren nun nicht mehr, die Theater, sogar die frivolsten der Varietés, hatten lange genug geschlossen, dass deren Besucher schon zu Hause oder in den Hotels angekommen waren. Hier in der Nähe des Hafens gab es zudem Kaschemmen für die letzten Nachtschwärmer, auch Bordelle und Hinterzimmer für Karten und Würfel, aber bisher war er niemandem begegnet, der der Beachtung wert gewesen wäre.

Trotzdem blieb er wachsam, patrouillierenden Schutzleuten wollte er ebenso wenig über den Weg laufen wie irgendwelchem dunklen Gelichter. Heiterkeit stieg in ihm auf, vom Bauch, diesem unvernünftigen, gleichwohl verlässlichen Freund, direkt hinauf in den Kopf, und ließ ihn lächeln. Noch vor zwei Wochen hatte er nur zwei Optionen für seine Zukunft gesehen: den ehrenvollen Tod mit der Pistole oder die heimliche Flucht Richtung Australien oder über den Atlantik nach Westen, von New York ging die Eisenbahn nun bis nach San Francisco am Pazifik. Natürlich war diese Ehrenschießerei absurd. Also hatte er sich nach annehmbaren Schiffspassagen erkundigt, diskret und ganz allgemein. Wenn man ein neues Leben in Angriff nahm, einen neuen Anfang wagte, tat man das klugerweise, ohne dass jemand darum wusste. Sollten doch alle denken, er sei in der Nacht über Bord gegangen. So war es am besten.

Nun hatte sich alles gewendet. Das Leben war immer für eine Überraschung gut – eine banale, aber wunderbar zutreffende Feststellung. Womöglich war es nun gar nicht mehr nötig, zu verschwinden? Es war trotzdem die beste Option, Glück war ein launisches Ding. Außerdem brauchte er frischen Wind, sein Leben war von zu vielen Erwartungen, Pflichten und Vorschriften eingeschnürt, es fühlte sich erstarrt und staubig an. Und wenn er nun noch ein wenig mehr riskierte, wurde der neue Anfang in einem der Länder hinter dem Horizont sogar halbwegs komfortabel. Was er in diesem übermütigen Gefühl von Aufbruch und Abenteuer beinahe bedauerte. Ganz unten anfangen – das war die echte Herausforderung. Natürlich fing einer wie er nie ganz unten an.

Schritte kamen näher, gleichmäßig und gemächlich, Stiefel in doppeltem Klang. Zwei Männer. Es hörte sich mehr nach Patrouille als nach Flaneuren an. Er duckte sich tief hinter einen vor einer Eisenwarenhandlung abgestellten Karren. Wenn sie ihn dort entdeckten, konnte er behaupten, etwas zu suchen, eine Münze oder einen Schlüssel, immerhin steckte ein perfektes Passpapier in seiner Tasche. Er sah unter dem Karren hindurch ein Paar Uniformstiefel aus grobem Leder, die verrieten den einfachen Schutzmann, und ein Paar gut gearbeitete Herrenstiefeletten. Die Männer blieben nur zwei Meter vor dem Karren stehen, er hörte ihre Stimmen, zu leise, als dass er verstand, worüber sie sprachen. Dann gingen sie weiter, nun mit entschlossenen Schritten. Als er vorsichtig über den Karrenrand blickte, sah er sie bei der nächsten abzweigenden Gasse stehen bleiben. Gleich darauf waren sie von der Dunkelheit verschluckt.

Noch einen Atemzug lang verharrte er bewegungslos im Schatten und lauschte, dann glitt er hinter dem Karren hervor und ging rasch weiter. Rasch und beinahe geräuschlos.

Nicht geräuschlos genug.

Am Rand des gepflasterten Platzes blieb er stehen, hier war es noch heller. Die Längsseite wurde vom Zollkanal begrenzt, an dessen anderem Ufer wuchsen die neuen Speicher mit ihren Simsen und Türmchen in den Nachthimmel. Hier verlief die nördliche Zollgrenze zum Freihafen, hier patrouillierten Zöllner, zu Fuß und zu Boot. Niemand war so misstrauisch wie Zöllner.

In wenigen Stunden wimmelte es auf dem Platz von Marktleuten mit ihren Körben und Karren voller Obst und Gemüse aus den Vierlanden und der großen Zahl ihrer Kundschaft. Jetzt war niemand zu sehen. Nicht einmal ein Gassenkehrer oder einer der Kehrichtwagen, die in den Nächten für die Sauberkeit der Straßen und Plätze sorgten. Der Brunnenaufsatz hob sich dunkel, in den Laternenhaltern filigran, vom Nachthimmel ab. Es waren nur wenige Schritte. Er ließ den Blick rasch über die Hauseingänge gleiten, dann auf die andere Seite zur Wandrahmbrücke, dort führte eine Treppe hinunter zu den Anlegern, auf der sich jemand verbergen konnte.

Immer noch war niemand zu sehen. Vielleicht war er ein paar Minuten zu früh. Bevor er seine Uhr aus der Tasche gezogen hatte, schlug die Glocke von einer der Kirchen. Er war pünktlich, auf die Minute.

Hinter keinem Fenster der den Platz säumenden Häuser brannte ein Licht, die Laternen auf der Brücke und am Rand des Platzes glommen nur noch mit müdem Schein, nur die am Brunnen leuchteten heller. Er hörte keine Schritte mehr, einige Straßen entfernt klapperten müde Hufe über das Pflaster, ratterten eisenbeschlagene Räder, es klang, als entfernten sie sich. Da mochte doch einer der Straßenkehrichtwagen in der Nähe sein.

Allmählich fühlte er Unruhe aufsteigen. Er konnte nicht ewig hier stehen, er musste sich zeigen, womöglich wurde er längst erwartet, von einer anderen dunklen Ecke aus. Er löste sich aus dem Schatten der Hauswand und ging, wie es verabredet war, zum Brunnen. Vielleicht fand sich dort eine Nachricht. Oder ein kleines diskretes Päckchen? Auch gut. Nein, es war nicht gut. Auf seinem Weg durch die dichtbebauten Straßen mit ihren labyrinthischen Durchgängen, mit Kellertüren, Schuppen und düsteren Löchern hatte er sich nicht gefürchtet, die wenigen Schritte über den freien Platz hingegen fand er bedrohlich. Was lächerlich war, Gefahr lauerte in dunklen Gassen oder Höfen, auch im Gedränge, aber nirgends war man sicherer als an einem übersichtlichen Ort, einem Platz, auf dem man von vielen gesehen werden konnte.

Tatsächlich wurde er nur von einem gesehen. Und der hatte auf ihn gewartet. Als der Mann, der sich auf ein neues Leben freute, den Brunnen erreichte, hörte er ein Geräusch – nicht die erwarteten Schritte auf dem Pflaster, sondern einen leisen Pfiff. Er drehte sich um, erleichtert, alles lief nach Plan …

Das Messer hörte er nicht, dabei heißt es, wenn ein Messer durch die Luft saust, höre man es wie einen scharfen Windzug. Er hörte nichts. Auch spürte er im ersten Augenblick nichts, und als er es im zweiten doch spürte, war es nur noch ein kurzer Moment des Staunens. Dann gaben seine Beine nach, sein Herz hörte auf zu schlagen, das tiefrote stoßweise Sprudeln aus seinem Hals gerann schnell zum Sickern.

* * *

Etwa zur gleichen Stunde passierte die Lilly Prym Brunsbüttel. Der Fährdampfer hatte Verspätung. Auf der Fahrt zwischen Themse und Elbe hatte er Stunde um Stunde am Rand einer Sandbank nahe den Ostfriesischen Inseln gedümpelt. Die Englandfähren waren bekannt für ihre Pünktlichkeit, ausgerechnet diese hatte fast einen ganzen Tag länger gebraucht als geplant, irgendetwas war mit der Maschine gewesen. Es hatte Stimmen gegeben, die zumindest ein freies Abendessen als Entschädigung forderten. Dem hatte der Kapitän nachgegeben, das freie Bier zur Beruhigung der Nerven jedoch strikt verweigert. Bier beruhigte die wenigsten – er kannte kaum Übleres als randalierende Passagiere, nur Springflut bei Vollmond und Sturm von Nordwest.

Die Lilly Prym hatte wieder Fahrt aufgenommen, die Passagiere schliefen in ihren Kabinen, in den Aufenthaltsräumen und wo immer sich eine ruhige Ecke fand. Henrietta Winfield aus Bristol hatte nur wenig Schlaf gefunden, sie quälte die Gewissheit, zu spät zu kommen, zugleich fürchtete sie das Ende der Fahrt.

Sie war völlig überstürzt zu dieser Reise aufgebrochen, alle Kabinen waren vergeben gewesen. Sie hatte Glück, eine andere alleinreisende Dame überließ ihr das zweite Bett in ihrer Kabine. Dafür erachtete Mrs. Bell aus Chelsea es als selbstverständlich, dass ihr die zweiundzwanzigjährige Mrs. Winfield Gesellschaft leistete, was bei Mrs. Bells außerordentlichem Mitteilungsbedürfnis ein hoher Aufpreis war. Schon in Höhe der Inseln vor der holländischen Küste war Henrietta bestens über die prominenteren Bewohner des feinen Chelsea in Londons Westen informiert, vornehmlich über pikante Affären, einschließlich der einiger Butler, und Verbindungen zum Königshaus – ein in England unvermeidbares Thema.

Als junge Dame aus guter Familie beherrschte Henrietta Winfield alle Spielarten des Smalltalks. Also hatte sie ein interessiertes Gesicht gemacht, hin und wieder ein ‹Ist es die Möglichkeit?› oder ‹Wirklich? Kaum zu glauben!› gemurmelt oder leise Missbilligung mit der Zunge geschnalzt und war dabei nur ihren eigenen Gedanken gefolgt. Als Mrs. Bell endlich ihrer Schläfrigkeit nachgab, murmelte sie, es sei ihr immer eine Freude, sich mit einer gebildeten jungen Dame auszutauschen.

In Cuxhaven waren die Männer vom Zoll an Bord gekommen, sie kontrollierten nun im Bauch des Schiffes Ladung und Reisekoffer. Das Handgepäck der Passagiere folgte später, wenn alle wach und wieder an Deck waren. Mrs. Bell schlief tief und fest, als Henrietta die stickige Kabine verließ. Sie sehnte sich nach frischer Luft und dem weiten Blick, den sie immer als Erstes erinnerte, wenn sie an diesen Fluss dachte, an dem sie aufgewachsen war.

Die Morgendämmerung war erst zu ahnen, doch aus dem Speisesaal kamen schon Stimmen, Geschirr und Besteck klapperten, es roch nach Tee, Spiegeleiern und angebranntem porridge.

Die Lilly Prym stampfte wieder in stoischem Gleichmut durch die Fluten, das auflaufende Wasser gab ihr Schwung. Die beiden Ladebäume und der Schornstein zeichneten sich gegen den Himmel ab, an dem die letzten Sterne verblassten.

«Take care, Missy», brummte ein vorbeistolpernder Matrose, als sie sich über die Reling lehnte, das Gesicht in die Brise hielt und die Augen schloss. Ihr Besuch an der Elbe war seit geraumer Zeit geplant gewesen, der erste nach einer Reihe von Jahren, sie hatte sich darauf gefreut wie ein Kind. Umso mehr, als es seit ihrer Hochzeitsreise vor zwei Jahren auch die erste gemeinsame Fahrt mit Thomas hätte sein sollen. So steckte sie tief in den Vorbereitungen, als das Kabel mit der Nachricht kam.

Sie hatte nicht wirklich erfasst, was das Telegramm in dürren abgehackten Worten mitteilte, es blieben nur Worte. Sie hatte den nächsten Zug nach London genommen, allein, ohne die Begleitung zumindest einer Bediensteten, von dort das Schiff nach Hamburg. Nun war das vertraute Ufer schon nah, und sie hatte immer noch das Gefühl, in einem Wartesaal zu verharren. Bis der Inhalt des Telegramms begreifbar sein würde, die Nachricht vom Tod ihres Vaters.

Plötzlich fühlte sie tiefe Verlassenheit und die Sehnsucht nach Thomas wie einen Schmerz in Körper und Seele. Sie hätte gerne geweint, hier, wo niemand sie sah oder hörte, aber ihre Augen brannten nur von der Schlaflosigkeit der Nacht und sie beschloss, tapfer zu sein, sich kühl zu zeigen, wie es sich für eine erwachsene Frau gehörte. Überhaupt war es ein guter Schmerz, er bewies, wie sehr ihr Mann ein Teil von ihr war und dass sie sich geirrt hatte, als sie an ihrer Ehe zweifelte. In wenigen Tagen war Thomas da und stand ihr bei, sobald er seine Verpflichtungen in Antwerpen erfüllt hatte, das hatte er versprochen. Inzwischen musste er ihr Kabel bekommen haben und verstehen, warum sie so überstürzt ohne ihn abgereist war. Und natürlich bemühte er sich nun noch mehr, seine Geschäfte rasch abzuschließen, um direkt nach Hamburg zu reisen.

Geschäfte schnell abschließen – ging das überhaupt? Sie verstand so wenig davon. Tatsächlich wusste sie gar nichts. Besonders im zweiten Jahr ihrer Ehe war er häufig nach London gefahren, ab und zu auch auf den Kontinent. Und immer hieß es nur: in Geschäften. Es gehe um die Verwaltung des Familienbesitzes, hatte er auf ihre Frage erklärt, da müsse er sich oft beraten, die Gelder klug anlegen – mit solchen Angelegenheiten wolle er sein liebstes Mädchen aber gewiss nicht langweilen, alles diene ihrem behaglichen und sicheren Leben. Dann hatte er sie auf die Stirn geküsst und war davongeeilt.

Sie hätte es gerne genauer gewusst, er war ihr Mann, und sie liebte ihn, also wollte sie wissen, womit er seine Tage verbrachte, was er dachte, was ihn bewegte, aber sie hatte nie weitergefragt. Es war sein Familienbesitz und im Übrigen Männersache.

«Mrs. Winfield? Verzeihen Sie, wenn ich Sie einfach anspreche. Ich dachte, Sie mögen vielleicht eine Tasse Tee.»

Es war eine männliche Stimme, und sie klang auf unaufdringliche Weise besorgt. Eine seltene Kombination, fand Henrietta und drehte sich um. Neben ihr stand ein Mann im zerknitterten Sommeranzug, das sehr kurz geschnittene Haar war in der beginnenden Dämmerung hell wie sein Gesicht. Sie erinnerte sich an ihn, er hatte beim Abendimbiss am Nachbartisch gesessen. Nun reichte er ihr eine Tasse mit dampfendem Tee und lächelte auffordernd.

«Kresslin», fuhr er fort, «ich heiße Andreas Kresslin. Eisenbahningenieur auf der Durchreise nach Berlin und weiter nach Kleinasien.»

«Das ist eine lange Reise», antwortete sie so allgemein wie passend. «Woher kennen Sie meinen Namen?»

«Ich gestehe, ich habe gelauscht. Die so unermüdlich plaudernde Dame hat ihn einige Male genannt.» Er lächelte, ob verschmitzt oder beschämt, war im diffusen Licht schwer zu entscheiden. «Sie sollten an Ihrem Tee wenigstens nippen, er weckt die Lebensgeister. Machen Sie einen Heimatbesuch? Ich muss mich schon wieder entschuldigen, meine Neugier ist eine Familienkrankheit. Mein Bruder kann es Wissenschaft nennen, er ist Archäologe. Merken Sie es? Ich will Sie beeindrucken.»

«Troja?»

«Gut pariert!» Er lachte. «Nur Pergamon. Nicht ganz so mythenschwer, trotzdem gibt es für ihn nichts anderes. Schauen Sie», er lehnte sich leicht an die Brüstung der Reling, «im Osten wird es schon hell. Dieser Himmel verspricht einen sonnigen Tag, und die ersten Möwen sind auch schon unterwegs.»

Henrietta fühlte sich plötzlich leichter. Troja, Pergamon, Berlin, die Wissenschaft – das alles war wunderbar weit weg, wie auf einem anderen Planeten.

«Ich nehme an, Ihr Gatte erwartet Sie an den Landungsbrücken», sagte er, es klang ungemein beiläufig. «Sollte er nicht dort sein – wegen unserer immensen Verspätung liegt das nahe –, steht Ihnen meine Droschke zur Verfügung, natürlich auch meine Begleitung.»

«Mein Mann ist in Antwerpen, er kann erst in einigen Tagen hier sein.» Sie blickte auf die Uferlandschaft, das Reet, die Wiesen, alles gewann im zunehmenden Licht Farbe, wie wenn bei einem Aquarell eine der dünnen Wasserfarbschichten auf die andere folgt. An Bord eines Schiffes war alles anders, in dieser kleinen geschlossenen Welt mit der großen Aussicht war man einander näher. Der junge Mann mit der Familienkrankheit Neugier war ihr ein völlig fremder Mensch, und doch widerstand sie nur schwer dem Wunsch, ihm vom Anlass dieser Reise zu erzählen, von ihrer Angst vor der Bibliothek mit dem leeren Sessel, dem Fehlen der Stimme, dem ganzen leeren Haus. «Ich werde in Nienstedten erwartet», sagte sie nur. «Das ist eine ganze Strecke vor Hamburg, sogar vor Altona. Mit etwas Glück kann ich dort ganz in der Nähe schon von Bord gehen.»

«Aber das Schiff legt nicht vor Hamburg an. Wollen Sie schwimmen?»

Sie blickte elbaufwärts, wo gerade die Sonne über den Horizont stieg und das Schiff in wenigen Stunden den Hafen erreichen würde. «Das wird hoffentlich nicht nötig sein. Aber genau weiß man so etwas vorher nie.»

* * *

«Es gibt bequemere Orte zum Sterben», sagte Dr. Winkler, ohne den Blick von der Leiche abzuwenden, «aber kaum eine leichtere Art. Hoffen wir, er hat es verdient, unsere schöne Welt schnell und schmerzlos zu verlassen.»

«Schmerzlos? Wirklich?» Kriminalkommissar Ekhoff fuhr mit den Fingerspitzen unter seinen in der Eile zu eng geschlossenen Kragen. Der Tote lag wie zusammengesackt auf den Stufen des Meßbergbrunnens. Es war noch vor Sonnenaufgang, doch das Licht war schon weich und machte alles diffus. Die Lampe, die Dr. Winklers Gehilfe hielt, ließ die Blutlache erkennen, die sich unter Kopf und Oberkörper des Toten ausgebreitet hatte, und auch deren Ursache.

«Ziemlich schmerzlos. Nicht nur, wenn man an Vergiften oder Erschlagen denkt, auch Erdrosseln ist höchst unangenehm. Für beide Beteiligten. Das hier», der blutige Finger des Polizeiarztes zeigte auf eine klaffende Schnittwunde an der linken Halsseite seines Untersuchungsobjektes, «das hier ist schnell und sauber gegangen.»

Es klang gleichmütig, nur wer ihn kannte, hörte den bedauernden Unterton. Der Arzt war ein kleiner dicker Mann, die Kahlheit auf seinem Kopf wurde durch einen mächtigen eisgrauen Schnauzer ausgeglichen, der ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit einem freundlichen Walross gab, obwohl er schon seit mehr als zwanzig Jahren im Polizeidienst stand.

Ekhoff nickte – selbst in diesem Licht erkannte er, wie sauber der Schnitt war, also mit einer äußerst gut geschärften Klinge ausgeführt – und unterdrückte ein Gähnen. Er wiederum war noch nicht lange genug im Polizeidienst, als dass ihm ein solches Gähnen bei der Ankunft am Fundort einer Leiche gleichgültig wäre. Ein Polizist hatte im Dienst hellwach zu sein. Immer.

Dr. Winkler löste auch jetzt nicht den Blick von dem Toten. Er erkannte die Kripo-Beamten an der Stimme, nur sehr selten irrte er sich dabei.

«Ekhoff», sagte er, «Sie sind schnell hier, Ihre Wohnung liegt in der Nähe, richtig? Und der verehrte Herr Staatsanwalt? Wo ist der?» Mit einem Ächzen stemmte er sich hoch und blinzelte in das Lampenlicht. «Kommt sicher aus Blankenese. Das kann dauern. Und wir vom Fußvolk müssen wieder warten.»

Wie etwa die Hälfte der Polizeiärzte betrieb Dr. Winkler nebenbei eine kleine Privatpraxis, seine lag am Hafenrand, wo überwiegend arme Leute wohnten. Das hatte ihn trotz seiner Herkunft aus gutbürgerlichen Kreisen zu einer gewissen Radikalität im Denken verleitet. Auch im Handeln, wie etliche seiner Berufskollegen kritisierten. Wenn sich einmal ein halbwegs wohlhabender Patient in seine Praxis verirrte – für gewöhnlich ein ahnungsloser Reisender –, musste der im selben Wartezimmer ausharren wie die Leute vom Hafenrand und den Gängen um St. Jacobi, aber den dreifachen Preis für die Behandlung bezahlen. Es hieß, man treffe dort auf Verrückte, die sich dem extra aussetzten, als eine Art Abenteuer im Dschungel der Großstadt. Es hieß auch, seit die Cholera in der Stadt gewütet hatte wie sonst nur im Mittelalter, sei diese Art von Abenteuerlust kaum noch zu beobachten.

Obwohl er sich vorgenommen hatte, nicht mehr so schnell zustimmend zu nicken, nickte Paul Ekhoff wieder. In diesem Fall bedeutete es allerdings keinen vorauseilenden Gehorsam, ihn störte es überhaupt nicht, wenn der Staatsanwalt lange auf sich warten ließ. In Gegenwart studierter, sich schon durch ihr Amt überlegen gebender Männer fühlte er sich wieder wie der Junge, der er einmal gewesen war, der alles, was er besaß, aus dritter Hand bekommen hatte.

«Wie lange liegt er hier?», fragte er.

«Etwa zwei Stunden, denke ich, höchstens drei. Und: Nein, ich habe ihn noch nicht bewegt, ich bin ja kein Anfänger. Was der Mann auf dem Kehrichtwagen gemacht hat, als er ihn entdeckte, weiß ich allerdings nicht. Ich habe nur vorsichtig den Hinterkopf abgetastet, ob da eine Überraschung auf uns wartet. Bei diesem Kandidaten hier hat es mich auch nicht zu mehr gedrängt. Die Schnittwunde an seinem Hals hat gereicht, ihm den Lebensfaden abzuschneiden. Das kann man hier mal wörtlich nehmen. Aber es soll vorkommen, dass ein Mörder besonders gründlich ist und sozusagen einen Doppelmord an einer Person begeht. Den Schädel hat er diesem hier nicht auch noch eingeschlagen, aber ob er ihm vorher eine Prise Gift ins Nachtmahl gerührt hat? Das habe ich erst einmal erlebt in all den Jahren, und da, ob Sie es glauben oder nicht, waren es zwei Mörder. Ein Mörder und eine Mörderin, um präzise zu sein, mit einem gemeinsamen Opfer, ohne dass sie voneinander wussten. Interessant, was? Diese doppelte Gleichzeitigkeit, ich meine des Opfers und der Tatzeit. Das Gift hat übrigens nicht die Dame verabreicht, obwohl es heißt, Frauen greifen lieber zu Gift als zu Keule, Schießprügel oder Messer. Andererseits – oje, ich verplaudere mich. Verzeihen Sie, Ekhoff, so halte ich mich munter und aufmerksam. Was wollen Sie noch wissen?»

Alles, dachte Paul Ekhoff und sagte: «Bleiben wir erst mal bei der Verletzung, die war …»

«… gleich tödlich, ja. Trotzdem interessant. Es ist ja zum Glück nicht so, als hätten wir wie in Chicago oder Shanghai alle Tage ein Dutzend Mordopfer zu beklagen, mir reicht es auch, wenn die Leute am Dreck und an der Armut krepieren, wenn sie – na egal, das ist jetzt nicht unser Thema. Dieser arme Kerl wäre übrigens sicher nicht an Elend und Hunger geendet. Wenn man vom Blut absieht, ist er ein gepflegter und gutgekleideter junger Mensch. Ganz jung nicht mehr, das werden wir bei besserem Licht und auf dem Sektionstisch verlässlicher feststellen, jetzt schätze ich ihn auf etwa dreißig. Jedenfalls war das, was er am Leibe trägt, nicht billig. Das nebenbei gesagt. Mich geht ab jetzt nur noch an, was er unter der Haut zu bieten hat. Für alles andere werden Sie bezahlt.»

Diesmal nickte Ekhoff nicht, diesmal grinste er. Dr. Winkler war einer von denen, die sich trotz gegenteiliger Beteuerungen nie mit den Grenzen ihres Fachgebietes arrangieren konnten.

«Ich merke es mir trotzdem. Verraten Sie mir, was an dem Schnitt in den Hals besonders interessant ist.»

«Abgesehen davon, dass der Mann nun tot ist, an sich schon ein Ereignis, jedenfalls für seine Familie, falls er eine hat, wie fast jeder Hund auf Erden», er seufzte, vielleicht dachte er an seine fünf Töchter, und beugte sich wieder über die Wunde, sein Gehilfe senkte eilfertig die Laterne, «tja, abgesehen davon ist, was wir hier sehen, Ekhoff, ein tadelloser Schnitt. Geradezu kunstvoll. Die Gazetten werden schreiben, da habe ihm einer die Kehle durchgeschnitten, weil die sich was anderes nicht vorstellen können. Hier ist die Kehle, die bekanntlich vorne im Hals sitzt, aber nicht mal angekratzt. Wenn einer einem anderen ‹die Kehle durchschneidet›, meint das im Prinzip einen Schnitt von rechts nach links oder umgekehrt. Das klassische Verfahren: Der Mörder steht hinter dem Opfer, umfasst es und zieht die Klinge ruck, zuck von links nach rechts durch den Hals, oder umgekehrt, wenn er ein Linkshänder ist. Klar. Wenn er hübsch tief ansetzt, geht es auch durch die Kehle.»

«Wenn nicht Hemdkragen und Krawatte im Weg sind?»

«Stimmt. Das macht die Sache natürlich schwieriger. Erst recht, wenn der Kragen tüchtig gestärkt ist oder aus Pappe – schwierig, schwierig. Solche Kragen sind im Leben manchmal unbequem, dafür können sie sich bei Mordanschlägen dieser Art als lebensrettend erweisen. Unbedingt. Unser Opfer hier hat einen weichen und niedrigen Hemdkragen, ich dachte immer, so was tragen vor allem Künstler. Bohemiens, sozusagen. Hätte er einen höheren oder so einen Pappkragen getragen, hätte er den Anschlag wahrscheinlich überlebt. Jedenfalls wenn er dann schnell gerannt wäre. Einer, der es auf diese Weise mit dem Messer versucht, gibt nicht einfach auf und lässt sein Opfer davonkommen, oder? Messermörder sind besondere Leute. Andererseits – wenn der Überfallene um Hilfe schreit und eines der vielen Fenster hier aufgeht, wenn dann einer noch ‹Ruhe, verdammt noch mal!› oder gleich nach der Polizei schreit …»

Ekhoff hüstelte vernehmlich, und der Arzt schlug sich an die Stirn. «Ich kann die Maschine da oben einfach nicht abstellen. Das reinste Perpetuum mobile. Meine Frau sagt, ich soll lieber medizinische Detektivgeschichten aufschreiben, Fortsetzungsromane für Zeitungen, dann komme endlich genug Geld in die Haushaltskasse. Was ich übrigens bezweifele. Aber wenn Sie mal beim Grübeln über einen Fall feststecken, klopfen Sie bei mir. Auch nach Mitternacht, ich bin immer gern zu Diensten. Wo waren wir gerade, als mein Geist auf Abwege geriet?»

«Sie wollten erklären, warum dies kein Schnitt durch die Kehle ist, obwohl die Journalisten es so nennen werden. Was daran besonders ist.»

«Ach ja.»

«Herr Kriminalkommissar.» Ein Schupo stand in respektvollem Abstand von zwei Schritten hinter Ekhoff. «Wenn ich mir erlauben darf, daran zu erinnern: Heute ist Markttag. Die Leute stehen mit ihren Gemüsekörben hinter der Absperrung, noch mehr sitzen unten in ihren Booten und wollen auf den Platz. Sie fragen, ob es noch lange dauert und wer ihren Verdienstausfall bezahlt.»

Dr. Winkler lachte. «Verdienstausfall. Hat man so was schon von Bauern gehört? Die lernen schnell von den Arbeitern, was? Demnächst streiken auch noch die Bauern und lassen die Rüben in der Erde verfaulen.»

Ekhoff fehlte meistens der Sinn für solche Scherze, heute Morgen ganz besonders. «Es dauert so lange, wie es dauert», erklärte er dem Schupo, «wie immer. Sagen Sie das den Leuten. Natürlich trödeln wir nicht rum.» Er sah sich auf dem Platz um, sah die Menschen, die sich stauenden Fuhrwerke, dahinter eine Straßenbahn – alle warteten. Erstaunlich, dass nicht längst die ersten Straßenhändler die gute Gelegenheit nutzten und ihre Bauchläden aufklappten. Sein Blick glitt über die Häuserreihe, da war kaum noch ein Fenster, aus dem das Geschehen auf dem Meßbergmarkt nicht verfolgt wurde.

«Also mich kurzfassen, ich werd’s versuchen», erklärte Dr. Winkler. «Was ich sagen wollte: Die Kehle ist nicht mal angekratzt, nur die Halsschlagader an der linken Seite ist durchtrennt. Hier war ein Könner am Werk, Ekhoff. Der mit dem Messer, für einen solchen Schnitt muss es scharf wie ein Rasiermesser sein, ja, also, der mit dem Messer steht vor seinem Opfer», Dr. Winkler stellte sich dem Kommissar gegenüber in Positur, «machen Sie mal das Opfer, Ekhoff, dann zeige ich Ihnen, was ich meine. Also, er steht vor Ihnen, etwas seitlich wohl, vielleicht kommt er Ihnen auch entgegen, geht schnell vorbei – nun treten Sie doch mal zur Seite, Dolfhaus», herrschte er seinen Gehilfen an. «Sie stehen dem Mörder im Weg! Er geht an seinem Opfer vorbei, dabei hebt er blitzschnell den Arm, und – ratsch! – schlitzt er Ihnen seitlich den Hals auf, durchtrennt die Schlagader – und ein paar Sekunden, höchstens Minuten später – Exitus.»

Dr. Winkler ließ aufschnaufend den Arm sinken. Der Kommissar war erschreckt einen halben Schritt zurückgetreten, das Gesicht des sonst stets gelassenen Arztes hatte sich für einen Moment auf dramatische Weise verändert.

«So. Und bevor Sie fragen, verehrter Kommissar: Ja, er hätte noch um Hilfe schreien können, das ist aber Theorie. Mit durchschnittener Kehle kriegen Sie keinen Pieps mehr raus, mit dieser Verletzung schon. Aber bevor er begriffen hatte, was passiert war, schließlich wird einem nicht alle Tage die Halsschlagader aufgeschlitzt, war es schon aus mit dem Bewusstsein und gleich darauf mit dem ganzen schönen Leben. Es kann aber auch anders gewesen sein. Na, Sie werden an die Türen klopfen und fragen, ob einer was gesehen und gehört hat. Es gibt eine Menge Schlafgestörte. Nun die andere Möglichkeit. Wie sehen zurzeit die Programme der Zirkusse in der Stadt aus? Gucken Sie nicht so indigniert, ich mache mir keine Gedanken über mein nächstes Sonntagsvergnügen. Ich folge nur meinen Vorurteilen.»

«Obwohl Sie sich kurzfassen wollten.» Ekhoff bemerkte bei der von den Anlegern heraufführenden Treppe dichtes Gedränge. Es dämmerte, bald ging die Sonne auf, die Bauern und ihre Frauen und Mägde hatten die Boote festgemacht und wollten mit ihren schweren Körben hinauf auf den Platz. Aber immer noch lärmte, drängelte oder pöbelte niemand, alle reckten nur ihre Hälse, mit niederdeutschem Gemurmel wurden die, die von den unteren Stufen aus nichts sehen konnten, über das Geschehen auf dem Meßberg informiert.

«Das war die Kurzfassung. Suchen Sie im Zirkus oder im Varieté. Das ist doch klar», rief der Arzt ungeduldig, als Ekhoff ihn nur fragend ansah, senkte dann aber wieder die Stimme – ein Polizeiarzt weiß, was nicht ins auf Neuigkeiten begierige Publikum hinausposaunt werden sollte. «Suchen Sie einen Messerwerfer. Für diese Verletzung ist das die wahrscheinlichere Variante. Der Kerl hat Glück gehabt, das Opfer Pech. Seine Kunst erfordert Talent, ein präzises Auge und ausdauernde Übung. So gut gezielt und getroffen wie hier – alle Achtung. Vielleicht finden Ihre Leute das Messer, ich glaube es zwar nicht, aber man muss immer auf das Glück und den Zufall vertrauen.»

Paul Ekhoff sah dem Arzt, der erst im Davoneilen die große blaue Schürze abnahm, fröstelnd nach. Er fröstelte immer, wenn er zu wenig Schlaf und kein Frühstück bekommen hatte, er sehnte sich nach heißem Kaffee, keinem Muckefuck, sondern richtigem aus frisch gerösteten Bohnen. Leider war heute kein Sonntag. Tatsächlich fröstelte er aber, weil er noch nicht daran gewöhnt war, für das, was nun hier geschah oder nicht geschah, allein verantwortlich zu sein. Der alte Jowinsky, ein so erfahrener wie unerschütterlicher Kriminalist und bis vor wenigen Monaten sein Vorgesetzter, war in den Ruhestand gegangen und lebte bei seiner Tochter im Elsass. Er hatte sich entschieden dafür eingesetzt, dass sein Polizeiassistent den Posten bekam. Nun war Paul Ekhoff der jüngste (und am schnellsten aufgestiegene) Kriminalpolizeikommissar Hamburgs und hatte gelernt, dass das gut klang, aber einem Lauf über rissiges Eis glich. Er musste es trotzdem schaffen, eine andere Möglichkeit gab es für ihn nicht.

«Lass dich nicht schrecken, Ekhoff», hatte Jowinsky zum Abschied gesagt, «es gibt immer Neider, die werden dir ans Bein pinkeln, wo sie nur können. Du wirst Fehler machen, aber du bist gut, nur deshalb bist du befördert worden. Du hast viel gelernt, und du hast es im Bauch. Andere sagen, in der Nase, das ist wurscht, jedenfalls hast du es, und das braucht man in unserem Geschäft unbedingt. Lass dir nicht ausreden, was du hast und kannst. Man scheitert nur, wenn man nicht an sich selbst glaubt.» Ekhoff fand solche Gedanken erstaunlich.

«Immer nachts», brummelte der Fotograf, der sich schnaufend mit seiner Assistentin durch die Schaulustigen geschoben und endlich den Brunnen erreicht hatte. Er stellte die Deichsel des Handkarrens auf, mit dem er seine Utensilien transportierte, und schob einen Holzkeil vor eines der Räder. Er befestigte die Balgenkamera so an dem dreibeinigen Stativ, dass das Objektiv nach unten zeigte, zog die Stangen auf etwa zwei Meter Länge auseinander und platzierte sie über dem Toten, was ihn einige Mühe kostete, weil der Leichnam direkt am Brunnen lag. Endlich stieg er auf die Trittleiter, und Ekhoff ging einige Schritte beiseite. Der Magnesiumblitz leuchtete grell auf, ein Raunen ging durch die Menge, hier und da ein erschreckter Aufschrei. Nicht alle, die sich inzwischen versammelt hatten, verstanden, was da vor sich ging. Ekhoff hatte es oft erlebt. Er schloss immer rechtzeitig die Augen, der blendende Blitz wirkte nur für einen Moment nach, aber er mochte das nicht.

Der Staatsanwalt war immer noch nicht da, Sicherung und Untersuchung des Fundortes und der Leiche durften davon nicht aufgehalten werden – nicht nur wegen der wartenden Marktleute und ihrer Kundschaft. Der Meßberg genannte Platz lag wohl am Rand der City, wie die Innenstadt neuerdings genannt wurde, aber an einer der großen Brücken, die direkt auf die Wandrahminsel und in die neue sogenannte Speicherstadt führte. Auch sonst war er von jeher einer der wichtigen und verkehrsreichen Plätze der Stadt. Wie anderswo die Droschken auf Fahrgäste, warteten hier stets Fuhrleute mit ihren Wagen auf Transportaufträge. Die Fuhrwerke stauten sich schon hinter den Absperrungen der auf den Platz führenden Straßen, an denen Polizisten die Durchfahrt verwehrten, bis die Leiche abtransportiert und der Tatort gründlich abgesucht worden war.

Ekhoffs Polizeiassistent, ein blasser junger Mann mit umschatteten Augen in einem auffallend schmalen Gesicht, kam von der Anlegertreppe.

«Und?», fragte Ekhoff.

«Nichts», sagte Henningsen, «jedenfalls nichts, was der Rede wert ist.» Er ließ den Kommissar in eine offene Schachtel blicken.

«Das ist alles?», fragte der und schob die Reste eines schmutzigen nassen Taschentuches mit der Fingerspitze an den Rand der Schachtel.

Henningsen nickte. «Kein Monogramm oder sonst etwas Besonderes, gar nichts. Einfach ein billiger Fetzen. Er klebte in einer Ecke der dritten Stufe, deshalb ist er dem Kehrichtbesen entgangen.»

Zwei Schutzpolizisten – jeder in beiden Händen je eine Laterne – standen hinter Henningsen und in respektvollem Abstand von drei Schritten ein halbes Dutzend zivile Helfer, halbe Kinder, sicher Söhne und Nachbarn der Polizisten.

«Der Platz ist zu groß», erklärte der Assistent müde. «Wir konnten nicht jeden Quadratzoll absuchen, die meisten Schutzleute wurden für die Absperrung gebraucht, und bei diesem Licht versprach das ohnedies wenig Erfolg. Außerdem haben die Straßenkehrer und der Kehrichtwagen hier gründlich gearbeitet und aufgeladen, bevor sie beim Brunnen angelangt waren und den Toten entdeckten. Aber die Einmündungen der Straßen, der Brücke und die von dort jeweils direkte Linie zum Fundort haben wir mit den Laternen geradezu abgegrast. Zweimal, weil vier Augen mehr sehen. Und die Treppe zum Anleger, die zuerst, bevor die Bauern mit ihren Booten kamen. Kann ja sein, dass einer mit dem Boot gekommen oder wieder verschwunden ist. Die tote Katze, die dort lag, war schon halb von den Ratten aufgefressen, die Jungs haben sie in den Kanal geworfen. Aber so ein Kadaver hätte uns kaum weitergebracht. Im Resümee hat die Sucherei nichts ergeben.»

Ekhoff hatte das erwartet, aber wie immer auf eine Überraschung gehofft. Er fragte auch nicht nach dem Messer. Solche Fragen hatte er selbst oft gestellt bekommen und es gehasst. Als ob einer auf der Suche nach Indizien und Tatwerkzeugen ein Messer, womöglich ein blutiges, unerwähnt lassen würde.

Wieder ging ein Raunen durch die hinter der Absperrung drängende Menge, mit dem Hellerwerden hatte sie sich vervielfacht. Der Fotograf hatte seine Arbeit getan, Detailfotos würde er später in der Anatomie in der Brennerstraße machen, besonders Aufnahmen des Gesichts und der tödlichen Verletzung. Nun schob sich der Leichenwagen durch die Menge, die meisten wichen respektvoll oder in abergläubischer Furcht zurück. Immer, wenn Ekhoff das schlichte Fuhrwerk mit den beiden Aluminiumsärgen sah, fühlte er sich an das Grauen der Cholera vor drei Jahren erinnert. Damals hatte es allerdings bald keine Särge mehr gegeben, schon gar keine aus Aluminium. Tücher, ungelöschter Kalk und ein Loch in der Erde, ein Massengrab. So hatte für die allermeisten das Ende ausgesehen.

«Kommissar Ekhoff?» Henningsen sah ihn fragend an. «Alles in Ordnung?»

«Natürlich!» Ekhoff klang schärfer, als er beabsichtigt hatte. «Ich habe nachgedacht, das sollten Sie auch ab und zu tun.»

Henningsen neigte errötend den Kopf und trat einen halben Schritt zurück. Ekhoff verwünschte sich. Eigentlich mochte er seinen Assistenten, aber manchmal machte der ihn nervös. Henningsen war ‹aus gutem Hause›, ungewöhnlich für einen Polizisten. Solche jungen Männer studierten Jurisprudenz und wurden Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Notare. Mit Glück und guten Verbindungen sogar Senatssyndici oder Senatoren. Aber Polizisten?

«Schon gut, Henningsen», sagte er, «schon gut. So früh am Tag bin ich unwirsch. Ist nicht so gemeint. Nun erzählen Sie. Sie waren als einer der Ersten hier?»

Henningsen nickte eifrig. «Der Straßenkehrer hat seine Entdeckung gleich hier bei der Dovenfleet-Wache gemeldet, dort wissen sie, dass ich nur vier Häuser weiter wohne. Ich war schnell hier und habe alles andere veranlasst.»

Er habe auch Namen, Abteilung und Anschrift des Kehrers notiert, man könne ihn zu weiterer Befragung leicht finden.

«Sehr gut. Dann wollen wir unseren neuen Kunden noch mal ansehen, bevor er in die Anatomie verschwindet.»

So hätte Jowinsky sich ausgedrückt, er selbst bis vor wenigen Wochen nie. Aber es schadete nicht, wenn er ein bisschen von Jowinsky annahm. Henningsen würde es gar nicht bemerken, er hatte nie mit dem Alten gearbeitet. Aber er würde Henningsen nie duzen. Jowinsky, der um fünfunddreißig Jahre ältere erfahrene Beamte hatte ihn, den Anfänger, immer beim Nachnamen, aber mit Du angeredet. Ekhoff hatte das gefallen, es hatte nie herablassend geklungen, sondern bei aller klug gewahrten Distanz ein bisschen väterlich. Mit Henningsen und ihm war es anders, der Assistent war nur drei Jahre jünger als er, und gesellschaftlich – wenn sie sich je auf privatem Feld treffen sollten, was sich gewiss nie ergeben würde – stand sein Polizei-Assistent über ihm.

«Sie haben nichts gefunden, was auf seine Identität hinweist, richtig?»

«Nichts Konkretes. Dass er tot war, habe ich gleich erkannt, er war schon», Henningsen schluckte, obwohl er schon fünf Jahre im Polizeidienst war, hatte er sich an blutige Leichen nicht gewöhnt, «na ja, er fühlte sich kalt an und schien nicht mehr zu atmen. Dann das viele Blut, der Schnitt am Hals – das konnte ich mit der Laterne erkennen. Dann habe ich ganz vorsichtig in seinen Rocktaschen gefühlt, ob er irgendein Dokument bei sich trägt. Sicher hat das Jackett eine innere Brusttasche, dort habe ich nicht nachgesehen, ich wollte die Leiche unverändert liegen lassen, bis alles genau dokumentiert ist.»

Plötzlich erhob sich von allen Seiten Stimmengewirr, Holzschuhe trappelten, Karrenräder knirschten über das Pflaster, ein alles durchdringendes wütendes Klingeln der Straßenbahn, vier Wagen rollten über den Platz. Ekhoff hatte Anweisung gegeben, die Absperrung bis auf einen schützenden Abstand um Leiche und Fundort aufzuheben. Es würde geraume Zeit dauern, bis auch die in den verstopften Zugangsstraßen wartenden Fuhrwerke und Kutschen ihren Weg gefunden hatten. Und es würde Beschwerden geben. Das kümmerte ihn nicht, umso weniger, als der Tote kein verkommener Säufer oder eine syphilitische Hure war. Der Mann, darin teilte er die Ansicht des Doktors, war keiner, der Hunger und Elend kannte. Zumindest nicht während der letzten Phase seines Lebens. Der sah nach einem Bürger aus, also würden die, die auf ihren gepolsterten Stühlen darüber zu befinden hatten, die radikale Sperrung des Platzes und Behinderung des Geschäftsverkehrs zur Sicherung von Indizien, Fundort und Leichnam angemessen finden.

Was ihn hingegen sehr wohl kümmerte, war die wie eine in Bewegung geratene Mauer vorrückende Menge. Je älter er wurde, umso besser und leichter verstand er sich auf den Umgang mit Menschen. Wenn sie aber in Massen auftraten und ein gemeinsames Anliegen oder Ziel hatten, fühlte er sich wie eine Ratte im Käfig. Selbst wenn ihn niemand beachtete, hatte er das Gefühl, bedrängt zu werden, und spürte den wachsenden Wunsch, zuzuschlagen. Und tief in seiner Seele fürchtete er sich. Er dachte dann an die Französische Revolution, wie damals die Massen von Menschen Blut verlangt hatten, nach immer mehr Blut schrien, wie sie der Guillotine zugejubelt hatten, geifernd im Vergnügen am Entsetzen und der Qual der Opfer. Wie sie lustvoll lynchten, Herzen und Lebern aus noch zuckenden Körpern rissen …

«Halten Sie verdammt noch mal die Leute auf mehr Abstand!», brüllte er der Reihe von Schutzmännern zu, und als das wenig brachte, ließ er den Leichenwagen herankommen, um ihn als Barrikade einzusetzen. So hatten sie von zwei Seiten Schutz, vom Brunnenbecken und von Pferd und Wagen, den Rest schafften die Schutzleute.

Als er noch einmal aufsah, erkannte er in der fahlen Dämmerung nur noch graue Gesichter mit Augen, die nach Aufregung gierten. Die meisten Gestalten glichen einander, alle verschwammen ihm zu einer grauen Masse. Leute, die um diese Stunde unterwegs waren, gehörten zumeist ins Souterrain oder in Dienstbotenkammern, selbst die Kleider der jungen Frauen, denen das Leben die Hoffnung und die Eitelkeit noch nicht ausgetrieben hatte, waren braun, blau, grau. Dazwischen schimmerte mal eine weiße Bluse oder Schürze, mal ein farbiges Schultertuch, ein hellerer Strohhut. Vielleicht bemerkte er nur deshalb trotz seines flüchtigen und abwehrenden Blickes bei der Laterne die Frau im dunkelroten Kleid. Sie stand in der ersten Reihe gleich hinter den Polizisten und hielt eine große, fast quadratische graue Mappe mit beiden Armen umfangen und an ihre Brust gepresst. Später würde ihm einfallen, dass sie dunkles Haar gehabt und keinen Hut getragen hatte, obwohl ihr schmales, fein geschnittenes Gesicht vornehm wirkte. Hinter ihr, höchstens einen halben Schritt weiter, stand ein in gutes hellgraues Tuch gekleideter Mann, sein Gesicht wiederum war von einem Hut beschattet. Zwischen beiden stand ein Halbwüchsiger mit auffallend schadhaften Zähnen. Ekhoff nahm das mit seinem kurzen Blick in die Runde wahr, und wie so oft verschwand das Bild in einer Ecke seines Gedächtnisses, um einige Stunden später, wenn er in Ruhe über alles nachdachte, plötzlich deutlich wieder aufzutauchen.

Er beugte sich wieder über den Toten. Als ein Kind heulend aufschrie, zuckte er zusammen und sprang auf. Das fehlte noch an diesem Tag, dass hier ein Kind unter die Räder kam, womöglich ausgerechnet unter die des Leichenwagens – aber nichts war passiert, als dass ein Knirps, der kaum über die Tischkante gucken konnte, beim Stehlen erwischt worden war.

Hoffentlich gab der Mann, der den Jungen wegzerrte, ihm nur eins hinter die Ohren und schleppte ihn nicht gleich auf die Wache.

Dann nahm der Leichenwagen die Sicht, der Kutscher zog die Bremse an und schlang die Zügel um den Knauf. In drei Minuten würde er eingedöst sein.

Endlich konnte Ekhoff sich dem unbekannten Toten am Brunnen ganz widmen. Sein Herzschlag hatte sich beruhigt, und er fühlte sich stolz und kompetent.

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Kapitel 2

Dienstag, mittags

Eine Stunde weiter flussabwärts war wenige Tage zuvor ein anderer Mann gestorben, allerdings friedlich in seinem Bett und in fortgeschrittenem Alter. Zu Grabe getragen wurde Sophus Mommsen, Henrietta Winfields Vater, an einem dieser schönen Julitage, die besser zu einer Taufe oder Hochzeit passen als zu einer Beerdigung. Über den tiefblauen Himmel zogen pompöse weiße Wolkenschiffe, leichter Wind milderte die Sommerwärme, und in den Gärten duftete es nach Rosen. Es war auch einer dieser Tage, die Mommsen, mit sich und seiner Welt zufrieden, am liebsten unter der Markise auf seiner Terrasse verbracht hatte, mit einer Zigarre und einem Glas weißen Bordeaux, auf dem Tisch Zeitungen und ein Stapel Bücher. Ab und zu hatte er dann die Lektüre sinken lassen und über den Garten und den breiten Fluss geblickt und gedacht, womöglich sogar gemurmelt, das Leben sei recht angenehm, wenn man verstehe, es zu genießen. Er hatte nach seiner Hausdame geklingelt, die er nie Alma, sondern stets korrekt Frau Lindner genannt hatte, ihr diesen Gedanken mitgeteilt und nach dem Plan für das Abendessen gefragt. Auch ob Gäste erwartet wurden, denn er hatte sich gern ein wenig vergesslich gegeben. Er hatte es genossen, wenn jemand anderes für ihn die Banalitäten des Alltags organisierte. Sogar seine Beerdigung. Obwohl die selbst Mommsen, dem es gerade in erheblichen Dingen hin und wieder an Ernsthaftigkeit mangelte, kaum zu den Banalitäten gezählt hätte.

Als Privatier hatte er keine in der Welt bedeutende Position, somit keine Macht zu vererben gehabt. Niemand nahm an, seine irdischen Güter könnten über die kleine Villa, das weitläufige Gartengrundstück am Elbhang und einige recht manierliche, allen Krisen trotzende Wertpapierpakete hinausgehen. Von dem einen oder anderen kleinen Legat abgesehen, konnte ihn nur seine im Ausland lebende Tochter beerben, von anderen Verwandten in gerader Linie war nichts bekannt. Wenn er von der ‹lieben Familie› gesprochen hatte, hatte er die Grootmanns gemeint, mit denen seine Frau verwandt gewesen war.

Für einen solchen Mann hatte sich eine angemessene Trauergemeinde in Nienstedten an der Elbchaussee zusammengefunden. An der Auffahrt zur Kirche und zum nahen Friedhof standen nur drei teuer lackierte geschlossene Kutschen und ein leichter offener Zweisitzer. Dennoch waren viele Bänke des Gotteshauses besetzt gewesen, einige Trauergäste waren mit der Pferdebahn gekommen, die meisten zu Fuß. Man sah es am Zustand ihrer Schuhe, Rocksäume und Hosenbeine, wie Lydia Grootmann mit schweigender Missbilligung bemerkt hatte.

Als sich der Trauerzug nach dem Gottesdienst für den kurzen Weg hinüber zum Friedhof formierte, folgten alle still und ernst der hinter dem schwarz verhängten Wagen gehenden Familie. Und dann, als der Sarg in die Erde gesenkt wurde, war da nichts als ein innig gemurmeltes Gebet aus den hinteren Reihen.

Mommsen war in den Augen honoriger hanseatischer Kaufleute schon immer eigen gewesen. Bei aller Behäbigkeit ein Freigeist, sagten die einen, ein Ignorant, urteilten die anderen, die strengeren. Ein Genießer und Philosoph mit einem Hang zu liebenswürdiger Besserwisserei, fanden einige, die ihn gerngehabt hatten.

Zu Letzteren zählte auch Friedrich Grootmann. Der Senior des Handelshauses Grootmann & Sohn gehörte zur Spitze der hanseatischen Gesellschaft, sein Haus stand für Handel mit der halben Welt. Die beiden so unterschiedlichen Männer waren durch ihre Ehefrauen miteinander verbunden, Lydia Grootmann und Juliane Mommsen waren Schwestern gewesen. Juliane, die jüngere, war vor vielen Jahren gestorben.

Hin und wieder, wenn seine Geschäfte oder andere Besuche Grootmann in die Elbvororte führten, hatte er seinen Schwager in der behaglichen Villa am Geesthang besucht. Er hatte ihn auf seine stets ein wenig unverbindlich erscheinende Art gemocht.

Womöglich hatte er ihn um sein friedliches Leben beneidet, um die Freiheit eines Mannes ohne Verantwortung für andere, man konnte sagen: eines Mannes ohne Bedeutung, und um seine dafür symbolische friedliche Terrasse, auf die nie jemand nur wegen der Politik und der Geschäfte eingeladen worden war. So ein Leben ohne echte Herausforderungen würde Männer wie Grootmann und seine Söhne auf die Dauer langweilen und ermüden. Dennoch – diese Ruhe, dieser Blick vom Garten über den Fluss und die Schiffe bis zu den waldigen Hügeln hinter dem Marschland am jenseitigen Ufer, wenn dann der Sonnenuntergang Land, Wasser und Segel in flüssiges Rotgold tauchte …

Eine Amsel schmetterte ihre Fanfare in den Moment der Stille, nachdem der Pastor die letzten Worte gesprochen hatte, die Totengräber die Schaufeln schon fester griffen, aber alle Köpfe noch gesenkt, alle Hände noch gefaltet waren. So bemerkte niemand Friedrich Grootmanns breites Lächeln. Diese freche Amsel – immerhin hatte sie gewartet, bis die Grabrede absolviert war –, diese Amsel mit ihrer unverschämt fröhlichen Fanfare hätte auch Sophus amüsiert.

Und endlich fühlte er Trauer. Eine unerwartet tiefe Trauer. Er würde Sophus sehr vermissen.

* * *

Als die Droschke kurz vor Teufelsbrück leicht bergab zu rollen begann, rief Felix Grootmann dem Kutscher zu, er möge am Hafen für ein paar Minuten halten. Der Mann auf dem Bock nickte gleichmütig. Am Altonaer Bahnhof hatte der Herr es noch enorm eilig gehabt, die reichen Leute änderten ständig ihre Meinung. Wie es ihnen grad in den Kopf kam.

Der Hafen bestand nur aus einem Becken für Jollen und kleine Kutter oder Ewer, so hielt der Kutscher auf dem Platz oberhalb der Mole.

«Nur fünf Minuten», sagte der Fahrgast im Aussteigen, beschirmte die Augen mit der Hand – seinen Hut hatte er bei Mantel und Gepäck in der Droschke gelassen – und schlenderte zur Mole hinunter. Da lagen, gut vertäut, gepflegte Jollen von Besitzern der umliegenden Anwesen; sonst hatten nur drei kleine und ein zweimastiger Ewer nahe der Einfahrt festgemacht. Oder war der mittlere, der behäbige Einmaster mit den Seitenschwertern, eine holländische Tjalk? Das konnte er nie erkennen. Das Schiff wurde noch entladen, der Schiffer und sein Knecht liefen trotz der prall gefüllten Säcke auf ihren Schultern so leicht und sicher wie auf festem Grund über das Brett zwischen Boot und Mole.

Bevor der Hafen gebaut worden war, hatten Schiffer mit Fracht für die allmählich zu Villenvierteln wachsenden Dörfer Klein Flottbek oder Nienstedten in der Mündung des Flüsschens Flottbek geankert; manche Ewer wurden einfach auf die bei Ebbe trockenfallenden Uferstreifen gelenkt und dann entladen, um mit der Flut wieder abzulegen.

Einige Schritte oberhalb der Mole blieb Felix Grootmann stehen und beschirmte wieder die Augen, diesmal mit beiden Händen, die Sonne reizte seine müden Lider. Auf der Elbe herrschte Betrieb.

Er sah den Fluss und sein breites Tal nicht wie ein Kaufmann oder Reeder. Ihm fielen bei diesem Anblick keine Zahlen zu Tonnagen und Gewinn oder Verlust ein, keine Sorgen über den beständig zum Versanden neigenden Fluss, auch kein Gefühl von Triumph, weil der wenige Kilometer östlich liegende, mächtig prosperierende Hamburger Hafen nun nach New York und London der drittgrößte der Welt war.

Er spürte Wärme und sanften Wind und endlich auch, wie seine innere Ruhe zurückkehrte. Es war eine gute Idee gewesen, am Fluss halten zu lassen.

Felix Grootmann, gut dreißig Jahre alt, wie stets elegant, lehnte sich gegen einen Stapel Bauholz, schob die Hände in die Jacketttaschen, und seine starren Gesichtszüge wurden weicher. Für die Trauerfeier war es zu spät, das war ihm sehr recht. Beerdigungen gerieten leicht zu leeren Ritualen, oft war die Anwesenheit nur Pflicht und Konvention. Heute wäre es für ihn anders gewesen. Trotzdem gönnte er sich diesen Moment der Besinnung beim Blick über die Elbe ohne schlechtes Gewissen.

Er stand im Ruf einer gewissen Leichtfertigkeit, wenn es um Zwischenmenschliches ging. Er bestritt das nie, den Mitgliedern seiner Familie jedoch war er ein verlässlicher Sohn, Bruder oder Cousin. Familienpflichten empfand er nicht als Last, sondern als echte Anliegen und Selbstverständlichkeiten. Mommsen hingegen hatte sich in seiner Abgeschiedenheit zum Exzentriker gemacht.