Ein Geheimnis im Schnee - Viola Shipman - E-Book
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Ein Geheimnis im Schnee E-Book

Viola Shipman

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Beschreibung

Liebe, Verlust, Familie – und die heilsame Wirkung von Schnee  Als Sonny Dunes, eine Meteorologin aus Südkalifornien, deren Job nur aus Sonnenschein und 22-Grad-Tagen besteht, durch eine virtuelle Mitarbeiterin ersetzt wird, ist der einzige Fernsehsender, der der 50-Jährigen noch eine Chance gibt, ausgerechnet an dem Ort, den Sonny seit ihrem Schulabschluss gemieden hat – in ihrer Heimatstadt im Norden Michigans. Widerwillig kehrt Sonny in den langen, kalten, verschneiten Winter ihrer Kindheit zurück ... mit der zusätzlichen Demütigung, wieder bei ihrer Mutter einzuziehen. Sonny ist zwar keine Außenseiterin mehr, aber auch keine Einheimische, und ihre Vergangenheit holt sie überall ein: von den Schulfreundinnen, die sie vergrault hat, über den ehemaligen Journalistenkollegen, der jetzt ihr Chef ist, bis hin zum tragischen Grund für ihre Abkehr von der Heimat. Um sich von den Erinnerungen abzulenken, die sie ihr ganzes Leben lang verdrängt hat, stürzt sich Sonny kopfüber in die Berichterstattung über jedes Winterereignis in der Kleinstadt. Doch jemand versucht, ihren beruflichen Erfolg zu vereiteln. Wenn Sonny jemals wieder hier zu Hause sein will, muss sie ihren Frieden mit ihrem früheren Ich machen und auf ihr Herz hören.

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Seitenzahl: 462

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Viola Shipman

Ein Geheimnis im Schnee

Roman

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Anita Nirschl

 

Über dieses Buch

 

 

Als Sonny Dunes, eine TV-Meteorologin aus Südkalifornien, deren Job nur aus Sonnenschein und 22-Grad-Tagen besteht, durch eine virtuelle Mitarbeiterin ersetzt wird, die weder altert, noch an Gewicht zunimmt, noch ihren Vertrag neu verhandelt, ist der einzige Fernsehsender, der der 50-Jährigen noch eine Chance geben will, ausgerechnet an dem Ort, den Sonny seit ihrem Schulabschluss gemieden hat – in ihrer Heimatstadt im Norden Michigans. Um sich von den Erinnerungen abzulenken, die sie ihr ganzes Leben lang verdrängt hat, stürzt sich Sonny kopfüber in die Berichterstattung über die zahllosen jahreszeitlichen Events in der Kleinstadt. Ein gutaussehender Witwer gibt sich alle Mühe, ihr die Freuden des Winters wieder näherzubringen. Doch jemand versucht, ihren beruflichen Erfolg zu vereiteln.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Viola Shipman arbeitet regelmäßig für People.com, Entertainment Weekly und öffentliche Rundfunkprogramme. Ihre Romane »Für immer in deinem Herzen«, »So groß wie deine Träume«, »Weil es dir Glück bringt« und »Ein Cottage für deinen Sommer« waren sofort Bestseller. Viola Shipman schreibt im Sommer in einem Ferienort, inspiriert von der grandiosen Kulisse des Michigansees, und lebt im Winter in Palm Springs, Kalifornien.

 

Anita Nirschl studierte Englische, Amerikanische und Spanische Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Seit 2007 arbeitet sie als freie Übersetzerin und hat zahlreiche Romane ins Deutsche übertragen.

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

Ein persönlicher Brief an meine Leser

Danksagung

1

Dezember 2021

»Und sehen Sie hier! Ein Sturmtief zieht quer durchs Land und bringt schwere Schneefälle für den oberen Bereich des mittleren Westens und die Großen Seen, bevor es an der Ostküste ankommt und dort wütet. Das ist für einen Großteil des Landes ein besonders früher und hässlicher Start in den Winter. Tatsächlich weisen frühe Modelle darauf hin, dass Teile des westlichen und nördlichen Michigans – der Lake-Effect-Gürtel, wie wir es nennen – dieses Jahr bis zu vier Meter Schnee erwartet. Bis zu vier Meter!«

Ich wende mich in meinem roten Wickelkleid und den hohen Absätzen vom Green Screen ab.

»Aber hier in der Wüste …« Ich warte darauf, dass auf dem Bildschirm die Graphik auftaucht, die verkündet: Sonny sagt, die Sonne scheint … wieder!

Als sich die Kamera zurück auf mich richtet, werfe ich eine selbstklebende Sonne mit meinem Gesicht darauf auf den Green Screen hinter mir. Sie bleibt direkt auf Palm Springs, Kalifornien, kleben.

»… herrscht Sonnenschein, so weit das Auge reicht!«

Ich breite die Arme aus wie ein Rabe in den Bergen, der sich in die Lüfte schwingt. Die wöchentliche Vorhersage wird eingeblendet. Jeden Tag ziert eine lächelnde Sonne, die meiner Wenigkeit gleicht: golden, fröhlich, strahlend.

»Und so wird es die ganze Woche bleiben, bei Temperaturen um die fünfundzwanzig Grad und Tiefstwerten um die dreizehn Grad. Nicht schlecht für diese Jahreszeit, was? Das perfekte Wetter hier in der Wüste für all die Designliebhaber, die wegen der Mid-Century Modernism Week in der Stadt sind.« Ich gehe hinüber zum Nachrichtenpult. Die Kamera folgt mir. Ich lehne mich ans Pult und wende mich den Nachrichtensprechern Eva Fernandez und Cliff Moore zu. »Oder für jemanden, der gern Golf spielt, stimmt’s, Cliff?«

Er lacht sein falsches Lachen, das seinen Mund aussehen lässt wie eines dieser alten aufziehbaren Klappergebisse, als ich noch ein kleines Mädchen war.

»Ganz genau, Sonny!«

»Deswegen leben wir hier, nicht wahr?«, sage ich.

»Mir tut jedenfalls der Rest des Landes leid«, meint Eva, deren blendend weißes Lächeln so hell strahlt wie die Studiobeleuchtung. Ich bin überzeugt, jede einzelne von Evas Kronen ist noch mal zusätzlich überkront.

»Diese armen Leute in Michigan werden morgen jedenfalls nicht in Shorts golfen wie ich, oder?«, sagt Cliff mit einem Lachen und seinem nachgeahmten Golfschwung. Er wackelt mit seinen buschigen Brauen und zwinkert mir übertrieben zu. »Danke, Sonny Dunes.«

Ich nicke, meine Hände an den Hüften, als wäre ich ein Model bei Der Preis ist heiß und keine Meteorologin.

»Martinis in den Bergen? Ist doch auch nicht verkehrt«, sagt Eva mit zur Seite geneigtem Kopf, ihrem Markenzeichen. »Als Nächstes hier in den Nachrichten werfen wir einen Blick auf einige der großen Events der diesjährigen Mid-Century Modernism Week. Wir sind gleich wieder für Sie da.«

Ich beende die Nachrichtensendung mit derselben Wettervorhersage – einer Reihe lächelnder Sonnenschein-Emojis, die wie mein Gesicht aussehen – und scherze mit den Nachrichtensprechern über die perfekten Pooltemperaturen, bevor eine weitere Graphik auf dem Bildschirm auftaucht – Ihre Nr. 1 der Abendnachrichten in der Wüste! – und wir in die Werbung gehen.

»Jemand Lust, was trinken zu gehen?«, fragt Cliff wenige Sekunden nach dem Ende der Nachrichtensendung. »Es ist Freitagabend.«

»Für dich ist doch immer Freitagabend, Cliff«, sagt Eva.

Sie steht auf und nimmt ihr Mikro ab. Die obere Hälfte von Eva Fernandez ist so perfekt wie J.Lo: glänzende Locken, lange Wimpern, glamouröses Lipgloss, ein hautenges Oberteil in Smaragdgrün, das zu ihren Augen passt, goldener Schmuck, der ihre schimmernde Haut betont. Aber Evas untere Hälfte steckt in einer Jogginghose, ihre Füße in Hauspantoffeln. Das ist das Geheimnis, das die Zuschauer nie zu sehen bekommen.

»Ich bin sowieso schon halb bettfertig«, sagt sie mit einem dramatischen Seufzen. Eva ist sehr dramatisch. »Und ich moderiere morgen das Weihnachtsfrühstück des Girls Club und dann morgen Abend die Weihnachtsspendenaktion des Eisenhower Hospitals. Und Sonny und ich übernehmen an den nächsten Wochenenden jede lokale Weihnachtsparade. Du solltest darüber nachdenken, der Gesellschaft etwas zurückzugeben, Cliff.«

»Oh, das tue ich«, erwidert er. »Ich halte die Gastronomie in Palm Springs am Leben. Es gäbe keine florierende Bar hier ohne meine Unterstützung.«

Cliff lacht schallend, was seine Klapperzähne in Gang setzt.

Ich nenne Cliff das ›Einhorn‹, weil er tatsächlich in Palm Springs geboren und aufgewachsen ist. Er ist nicht hierhergezogen wie die älteren Zugvögel, um Schnee und Kälte zu entfliehen. Er hat sich mit seinem Geld kein Mid-Century-Haus geschnappt wie die Silicon-Valley-Technikfreaks, die erkannt haben, dass sie eine Immobiliengoldmine sind. Und er hat nicht plötzlich ›entdeckt‹, wie hip Palm Springs ist, so wie die Millennials, die in Scharen zum Coachella Music Festival strömen, um einen Blick auf Drake, Beyoncé oder die Kardashians zu erhaschen.

Nein, Cliff ist einer von der alten Garde. Er war schon in Palm Springs, als noch Büschel von Steppenläufern mitten durch die Innenstadt rollten, Bob Hope vor dir Benzin zapfte und Frank Sinatra vielleicht neben dir an der Bar Platz nahm, einen Martini bestellte und niemand so tat, als wäre das eine große Sache.

Ich bewundere Cliff, weil …

Unvermittelt dreht sich das Set, und ich muss mich am Arm eines vorbeigehenden Tontechnikers festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er sieht mich an, und ich lasse los.

… weil er nicht von dort, wo er aufwuchs, fortgelaufen ist.

»Wie sieht’s mit dir aus, Sonnenschein?«, fragt Cliff mich. »Lust auf einen Drink?«

»Heute Abend bleibe ich trocken, Cliff. Ich bin geschafft von der Woche. Ein andermal.«

»In der Wüste ist es immer trocken, weil es nie regnet«, scherzt Cliff. »Das solltest du doch wissen.«

Er sieht mich an. »Was würde Frank Sinatra tun?«

Ich lache. Ich liebe Cliffs schmalzige Art.

»Du bist nicht Frank Sinatra«, ruft Eva.

»Mein Martini wartet, ob mit oder ohne euch.« Cliff salutiert, als wäre er Bob Hope auf einer Tour für die US-amerikanischen Streitkräfte, und wendet sich zum Verlassen des Studios.

»Die Einschaltquoten kommen dieses Wochenende rein!«, ruft eine Stimme. »Dann feiern wir.«

Wir alle drehen uns um. Unser Produzent Ronan steht in der Mitte des Studios. Ronan ist gerade mal dreißig. Er trägt Flip-Flops, Surfershorts und ein T-Shirt mit der Aufschrift SUN’S OUT, GUNS OUT, als käme er gerade vom Coachella Festival. Oh, und er trägt eine Sonnenbrille. Abends. In einem Studio, in dem das Licht aus ist. Ronan ist der Enkel des Mannes, dem unser Sender DSRT gehört. Jack Clark von ClarkStar gehört heutzutage so ziemlich jeder Sender in den Staaten. Er hat seinem Enkel die Leitung übertragen, weil Ro-Ros Vater ein NFL-Team gekauft hat und zu besessen von seinem schicken neuen Spielzeug ist, um sich um sein schickes altes Spielzeug zu kümmern. Vor DSRT war Ronan ein auf Hawaii lebender Surfer, der es kaum glauben konnte, dass es mitten in der kalifornischen Wüste kein Meer gibt.

Zu unserem ersten offiziellen Nachrichtenmeeting kam er in einem Tanktop mit einem nach oben zeigenden Pfeil, auf dem stand: Dieser Typ ist der CEO!

»Ihr könnt mich Ro-Ro nennen«, hatte er bei der Vorstellungsrunde verkündet.

»Nein«, hatte Cliff geantwortet. »Das kann ich nicht.«

Ronan hatte seinen trüben Blick auf mich gerichtet und gesagt: »Yo, Wetter ist irgendwie nicht wirklich mein Ding. Man kann doch schließlich rausgucken und sehen, was los ist. Und ich hab es auch auf meinem Handy. Nur damit das klar ist … Kapiert?«

Mir blieb beinahe das Herz stehen. »Die Leute müssen doch wissen, wie sie ihre Tage planen sollen, Sir«, protestierte ich. »Das Wetter ist ein unverzichtbarer Teil unseres Lebens. Es sind die täglichen Nachrichten. Und was ich studiere und an die Öffentlichkeit bringe, kann Leben retten.«

»Quotenparty, wenn wir immer noch Nummer eins sind!«, brüllt Ronan und reißt mich damit aus meinen Gedanken.

Ich sehe Eva an, und sie verdreht die Augen. Sie kommt dicht neben mich und flüstert: »Weißt du, diese ganzen Witze über Millennials? Die haben alle ihn als Hauptfigur.«

Ich unterdrücke ein Lachen.

Wir gehen zusammen zum Parkplatz.

»Bis Montag«, sagt sie. »Wir tragen nächsten Samstag bei der Parade doch immer noch unsere Weihnachtsmannmützen?«

Ich nicke lachend. »Wir sind seine besten Wichtel.«

»Du meinst, seine sexyesten Nachrichtenwichtel«, sagt sie. Zwinkernd winkt sie mir zu, und ich schaue ihrem glänzenden SUV hinterher, wie er wegfährt. Dann sehe ich mein Auto an und steige mit einem Lächeln ein. Die Bewohner von Palm Springs sind fixiert auf ihre Autos. Nicht auf die Marke oder die Farbe, sondern auf die Sauberkeit. Da es in Palm Springs so selten regnet, achten die Einwohner darauf, dass ihre Autos immer gewaschen und poliert sind. Es ist wie ein Wettbewerb.

Ich fahre auf den Dinah Shore Drive Richtung zu Hause.

Palm Springs liegt im Dunkeln. Es gibt eine Beleuchtungsverordnung, die die Anzahl der Straßenlaternen beschränkt. In so einer schönen Stadt wäre es ein Verbrechen, die Sicht auf die Berge durch hohe Masten zu verstellen oder das Leuchten der Sterne von grellen Lichtern überstrahlen zu lassen.

Ich beschließe, durch die Innenstadt von Palm Springs zu fahren, um nachzusehen, was an diesem Freitagabend los ist. Ich fahre den Palm Canyon Drive, die Hauptvergnügungsmeile der Stadt, entlang. Die Restaurants sind brechend voll. Leute sitzen in kurzen Hosen draußen – im Dezember! – und genießen ein Glas Wein. Musik schallt aus den Bars. Palm Springs ist lebendig, die Stadt strotzt nur so vor Leben, sogar kurz vor Mitternacht.

Als ich an einer roten Ampel stehen bleibe, hält neben mir eine Junggesellinnenabschiedsparty mit Schärpen und Diademen auf einem Partybike an. Das ist ein Wagen mit Sitzen und Pedalen, aber man kann darauf trinken – und zwar viel. Ich nenne diese Thekenfahrräder »Woo-hoo-Bikes«, weil …

Ich hupe und winke.

Die Mädchen kreischen, heben ihre Gläser und brüllen: »WOO-HOO!«

Die Ampel schaltet um, und ich fahre los, wohl wissend, dass diese Ladys in etwa einer Stunde vermutlich ziemliche Schwierigkeiten haben werden, wenn sie vielleicht in einer Tiki-Bar gelandet sind, wo die Drinks ebenso tödlich sind wie die Totenköpfe auf den Gläsern.

Ich fahre auf dem Palm Canyon Drive weiter nach Norden – vorbei am Copley’s Restaurant, das in den 1940ern mal Cary Grants Gästehaus war, und an einer Fülle von Designerläden und Vintageshops. Ich bremse an einer weiteren Ampel und werfe einen Blick hinüber, als ein absolut schmutziger SUV, der aussieht, als käme er gerade von einem Schlammrennen, neben mir hält. Die Windschutzscheibe ist überzogen von grauem Morast, und die Türen sind dreckverkrustet. Ein älterer Mann in einer Winterjacke beugt sich über das Lenkrad, und ich kann sehen, wie die Frau neben ihm auf das Navi am Armaturenbrett zeigt. Sofort weiß ich, dass sie nicht nur versuchen, in einer der unmöglich zu lokalisierenden Seitenstraßen von Palm Springs ihr Airbnb zu finden, sondern auch, dass sie von irgendwo herkommen, wo es winterlich kalt ist und die Sonne bis Mai nicht mehr scheint.

Welcher Staat?, frage ich mich, als die Ampel grün wird und das Auto vor mir losfährt.

»Bingo!«, schreie ich gleich darauf, als ich das Nummernschild sehe. »Michigan!«

Wir alle laufen im Winter von Michigan fort.

Ich sehe wieder zurück auf die Straße vor mir, und sie ist plötzlich verschwommen. Ein Auto hupt, was mich zu Tode erschreckt, und ich schüttle den Kopf, um ihn frei zu bekommen, winke entschuldigend und fahre nach Hause.

Mein Haus liegt in der Movie Colony von Palm Springs, einer ruhigen Enklave historischer Häuser, versteckt im nördlichen Teil der Stadt. Hier gibt es breite Straßen, gesäumt von großen Häusern, die sich hinter hohen Hecken verbergen. Viele Stars lebten während ihrer Glanzzeit hier oder in der Nähe – Bob Hope, Liberace, Ann Miller, Steve McQueen, Howard Hughes, Elvis, Marilyn Monroe, Truman Capote –, daher der Name des Viertels.

Ich wohne im Haus einer Schauspielerin von Hollywoods B-Liste. Sie war berühmt für ihre Rollen als das erste Mordopfer in all den alten Krimis – die beste Freundin, die mit jemandem verwechselt wird, die einzige Kellnerin nachts in einem Burgerimbiss, das Zimmermädchen, das ein Verbrechen entdeckt, die neugierige Schwester, die weiß, dass der Verehrer Ärger bedeutet. Man würde sie erkennen, wenn man sie in einem Film sieht, man würde einfach nur nicht ihren Namen wissen. Aber sie hat einen Haufen Geld damit gemacht, sich umbringen zu lassen.

Ironischerweise stirbt Amerikas Faszination für Berühmtheiten nie aus.

Besonders nicht in Palm Springs.

Endlose Touristenströme wälzen sich tagtäglich durch meine Nachbarschaft, Karten von den Häusern der Stars in der Hand, und bleiben mitten auf der Straße stehen, um von den Orten, an denen ihre Idole einst gewohnt haben, Selfies zu knipsen. Während der Modernism Week fahren stündlich Doppeldeckerbusse vorbei. Die Stimmen der Reiseleiter dröhnen mit einer Lautstärke nur wenige Dezibel leiser als ein Flugzeugstart, und die Touristen können über die Hecken in unsere Häuser und Gärten spähen. Ich habe einen Pool vor dem Haus, und gelegentlich habe ich mich – nach ein, zwei Gläsern Wein – oben ohne gesonnt, um ein bisschen Farbe zu bekommen. Einmal habe ich hochgesehen und eine ganze Familie entdeckt, die mich angestarrt hat: Der Junge im Teenageralter und der Ehemann schossen Fotos, während die Frau versuchte, ihnen die Augen zuzuhalten. Ich denke immer noch, sie war der Hauptgrund, warum diese Fotos nie an die Öffentlichkeit gelangten.

Obwohl ich kein berühmter Star bin, bin ich eine Lokalberühmtheit, was bedeutet, dass die Busse stündlich anhalten und der Reiseleiter brüllt: »Dieser Bungalow im spanischen Stil aus den 1920ern gehörte einst Lexi LaMar, berühmt für die Rolle der ›Jungfrau in Nöten‹, die in jedem Hitchcockfilm als Erste umgebracht wurde. In ihren späteren Jahren verlieh sie Animationsfilmfiguren ihre Stimme. Das Haus ist nun im Besitz von Lokalberühmtheit und Palm Springs’ Meteorologin Nummer eins Sonny Dunes, die uns für die ganze Woche strahlenden Sonnenschein versprochen hat. Bitte rufen Sie alle: ›Sonny sagt, die Sonne scheint … wieder!‹«

Ich drücke auf die Fernbedienung meines Tors, und es öffnet sich, worauf mein Auto hinter der drei Meter hohen Ficushecke verschwindet. Wir nennen es hier draußen eine Hollywoodhecke, weil sie so wahnsinnig grün und üppig ist, dass sie regelrecht künstlich wirkt. Ich fahre an dem schimmernden Pool vorbei in die Garage, parke und gehe ins Haus, während ich im Vorbeigehen die Lichter ausschalte.

Mein Haus ist völlig anders, als sich die Leute ein Haus in Palm Springs vorstellen. Es ist nicht minimalistisch, modern, clean, weiß und kantig, sondern genau genommen original Palm Springs: ein niedriger, in Terracottatönen gedeckter Bungalow mit dicken weißen Stuckwänden, Bogenfenstern, dunklen Deckenbalken, mehreren offenen Kaminen im spanischen Stil und einem von Bougainvillea überwucherten Garten. Ich gehe zu meinem Schlafzimmer und streife die Schuhe ab, dann werfe ich mein Kleid in den Wäschekorb und drehe die Dusche auf.

Ich trete unter den Duschkopf und lasse das heiße Wasser auf mich herabprasseln. Zuerst bewegt sich mein Haar gar nicht. Es ist so steif vor Haarspray, dass das Wasser direkt davon abperlt wie vom Rücken eines Otters. Schließlich wird es weicher, und ich schäume es mit Shampoo auf. Ich drehe mich um und hebe das Gesicht zum Wasser, dann blicke ich hinunter auf den Abfluss, um zuzusehen, wie der Regenbogen aus Make-up davonwirbelt, als hätte ich ein noch feuchtes Aquarell in die Dusche fallen gelassen. An unserem Fernsehset sehe ich vielleicht perfekt aus, aber aus der Nähe betrachtet sehe ich aus wie, nun, etwas, das man freundlich einen Clown nennen könnte. Sogar Cliff trägt mehr Make-up als eine Lancômeverkäuferin im Einkaufszentrum. Es fühlt sich gut an zu duschen, sich – buchstäblich – Sonnys Sonnigkeit abzuwaschen.

Ich bin überhaupt nicht diese Person.

Ich schlüpfe in meine Lieblingsjogginghose, schenke mir ein Glas Sancerre ein und gehe in den Garten. Ich setze mich, nippe und atme tief ein. Der herrliche Duft von Natalpflaume, die ich meinen Wüstenstern nenne, erfüllt die Luft. Der tiefgrüne Strauch, den ich als kleine Pflanze auf der gegenüberliegenden Seite meines Pools eingesetzt habe, duftet so intensiv wie Gardenien. Die weißen, sternenförmigen Blüten tanzen vor den dichten grünen Blättern und imitieren die Sterne am Himmel. Ich liebe es, die Blüten abzuschneiden und in einer altmodischen türkisen Keramikschale schwimmen zu lassen, damit mein Haus – genau wie die Welt gerade – von ihrem himmlischen Duft erfüllt wird.

Ich schlürfe meinen Wein und nehme die Vollkommenheit meiner Welt in mich auf: ein warmer Wind, die Silhouette der Berge – erleuchtet von Sternenlicht und Mondschein –, die die Welt zu umarmen scheinen, mein herrlicher Garten voller unwirklicher Farben von blühendem Mohn, Lavendel und Kakteen.

Ich trinke meinen Wein aus und gehe in die Küche, um mir noch ein Glas einzuschenken. Diesmal entscheide ich mich dafür, mich an den Pool zu setzen. Ich wechsele gern morgens und abends, vor und nach der Arbeit, die Orte, um meine verschiedenen Blickwinkel zu genießen, denn die überwältigenden Ausblicke sind grenzenlos: vom Garten zu den Bergen, von der Terrasse zum Pool. Ich setze mich in einen türkisfarbenen Liegestuhl, lehne den Kopf an das orange Nackenkissen und schlürfe meinen Sancerre. Ich hebe den Kopf, als ich eine Stimme höre. Dann zwei.

»Wo ist bloß dieses Haus?«

»Pssst, du bist betrunken.«

»Nein, bin ich nicht.« Stille. »Doch, bin ich.« Gelächter.

Dann Singen. »When the moon hits your eye like a big pizza pie, that’s amore …«

Diese verirrten Touristen sind so blau wie der Nachthimmel, wird mir rasch klar, zu betrunken, um zu merken, dass Dean Martins ehemaliges Haus das neben meinem ist. Also lasse ich sie träumen. Das ist es, worum es in dieser Stadt geht.

Für einen großen Teil des Jahres ist die Wüste verträumt und Palm Springs einer der besten Orte, um dort zu leben. Der Sommer ist heiß, heiß, heiß, aber ein paar Wochen Hitze gegen sechs Monate Winter sind ein wunderbarer Tausch.

»Ist dieses Wetter zu fassen?«, fragt die Stimme der Frau. »Weißt du noch, wie es heute Morgen war?«

»Im Schnee begraben«, sagt der Mann mit einem shakespearehaften Bühnenflüstern. »Ich musste den Räumdienst anrufen, nur damit wir aus unserer Einfahrt rauskamen.« Stille. »Ich werde ihn auch anrufen müssen, damit wir wieder reinkommen. Aber jetzt? Perfekt.«

»Ich will nie wieder nach Hause«, sagt sie.

»Ich auch nicht«, sagt er.

Ich auch nicht.

Ihre Küsse werden vom Wind herübergetragen.

Eines der Markenzeichen davon, in der Wüste zu leben, ist ihre Stille. Ich kann hören, wie ein Rabe eine Meile hoch am Himmel mit den Flügeln schlägt oder ein Kojote auf einem fernen Gipfel heult. Die meisten Dinge in der Wüste scheinen es alleine zu schaffen, und im Alter von fünfzig bin ich mit meiner eigenen Einsamkeit warm geworden. Sie ist nun ebenso sehr ein Teil von mir wie die Berge, die Palm Springs umgeben. Aber wenn ich ein Pärchen über den Winter sprechen oder einen Urlaub planen höre, bricht mein Herz auf wie der trockene Wüstenboden. Ich frage mich, wie mein Leben gewesen wäre, wenn …

»Wenigstens werden wir weiße Weihnachten haben«, flüstert sie. »Und ich werde mich zusammen mit dir drinnen einkuscheln.«

Ich lächle, bevor ich sie davonschlurfen höre, um betrunken im Dunkeln nach einem anderen Haus zu suchen.

Ich atme die duftende Nachtluft ein und starre auf meinen Pool. Er ist beleuchtet, und die blauen Fliesen schimmern im Licht. Ich habe orangefarbene Akzente überall um den Pool verteilt – Palm-Springs-Orange nennen wir es, ein typischer Farbton, der dem Hermes-Orange nahekommt –, und durch meinen Garten, den Pool, meine Terrasse, das grüne Gras bin ich von einem Traum in Technicolor umgeben.

Michigan wäre jetzt weiß, denke ich. Und bald wird es grau werden. Die ganze Welt grau: der bedeckte Himmel, der matschige Schnee, die trübe Stimmung. Kein Unterschied zwischen Morgen- und Abenddämmerung, Tag und Nacht, früh und spät. Grau den ganzen Tag. Es gibt eigentlich keine vier Jahreszeiten in Michigan. Es gibt nur eine große – Winter! – mit drei winzigen Freunden namens Frühling, Sommer und Herbst. Der Winter in Michigan ist endlos. Bitterkalt. Dunkel. So dunkel, als habe Mutter Natur alle Lichter in ihrem Haus ausgeschaltet, die Vorhänge zugezogen, die Fensterläden geschlossen und die Tür weit offen gelassen.

Sogar um Mitternacht ist es hier in der Wüste warm. Drinnen und draußen.

Ich bin glücklich. Ich bin nicht mehr der Mensch, der ich früher war.

Dieser Mensch ist fort, denke ich. Zu grau verblasst. Jetzt ist alles sonnig, nicht wahr, Sonny?

Ich trinke den Wein aus, stelle mein Glas auf das bunte, trommelförmige Beistelltischchen und schließe die Augen.

»Wach auf, Amberrose!«

Ich spüre mein Bett wackeln, und als ich verschlafen die Augen öffne, sehe ich meine kleine Schwester Joncee am Fußende der Matratze herumhüpfen.

»Wach! Auf!«

»Was?«

»Schau!«

Sie zeigt zum Fenster. Die Vorhänge sind weit offen, und die ganze Welt ist weiß.

»Es schneit immer noch! Wir haben dreißig Zentimeter! Steh auf! Wir müssen rausgehen! JETZT GLEICH!«

Joncee springt mit einem gigantischen Satz vom Bett und schreit: »Cool! Keine Schule!«

Sie rennt hinüber zum Fenster, wobei sie in ihrem Schlafanzug einen kleinen Freudentanz macht, und dann aus dem Kinderzimmer. Ich reibe mir die Augen. Letzten Abend hat Joncee ihren Schneetanz aufgeführt, von dem sie sagt, dass er garantiert immer genug Schnee bringt, um die Schule ausfallen zu lassen, was sie in Michigan eigentlich nie tut. Schneefrei gibt es erst, wenn der Schnee die Stoppschilder verdeckt.

Aber diesmal hat es geklappt. Ihr kleiner Tanz hat geklappt.

Ich gähne, stehe auf und sehe aus dem Fenster.

Und wie es geklappt hat.

Der Schnee fällt immer noch heftig, beinahe in Klumpen, so riesig sind die Flocken. Im Vorgarten verweht der Schnee und tanzt in winzigen Tornados über den Boden. Mit gegen das blendende Weiß zusammengekniffenen Augen schaue ich hoch zum Himmel und dann hinaus zu der eisigen Bucht und wieder zurück zu den Wäldern, die unseren Garten umgeben. Mein Herz beginnt zu rasen.

Ich liebe alles am Schnee. Ich liebe alles am Wetter.

»Warum brauchst du denn so lange?«

Joncee erscheint wieder in unserer Tür. Sie ist bereits angezogen, eine Skimaske über dem Gesicht, nur ihre strahlend blauen Augen und der Mund sind frei. »Beweg dich, du Schnarchnase!« Sie kommt herüber und packt mich bei der Hand, um mich zum Schrank zu zerren. Sie fängt an, Rollkragenpullover und Skihosen und Thermounterwäsche herauszuschleudern. »Was willst du als Erstes machen? Schlittenfahren? Einen Schneemann bauen? Nein, warte! Schneeengel! Nein, einen Schneemann und dann ein Iglu bauen. Danach können wir Schneeschuhlaufen oder Skifahren. Beeil dich, Amberrose! Beeil dich! Keine Zeit verschwenden!«

Joncee rennt so schnell zur Tür hinaus, dass ihre dicken Wollsocken über den Holzfußboden schlittern und sie im Flur gegen die Wand prallt.

»Nix passiert!«, schreit sie, bevor sie die Treppe runterrast. »Mom! Ich will heiße Schokolade und Pancakes in Form eines Schneemanns!«

Ich lache.

Nein, denke ich, was ich am Winter in Michigan am meisten liebe, ist meine Schwester.

»Sie werden Sonny Dunes im Winter in Palm Springs nie von Schnee reden hören. Sonny sagt, die Sonne scheint immer!«

Erschrocken wache ich auf.

»Bitte rufen Sie alle: ›Sonny sagt, die Sonne scheint … wieder!‹«

Ich sehe hoch, die obere Etage eines Touristenbusses macht Fotos von mir. Mit schmerzendem Nacken springe ich von meiner Liege auf und renne hinein.

Ich sehe auf die Uhr meiner Mikrowelle: 8.05 Uhr.

Ich muss völlig erschöpft gewesen sein. Ich habe nicht mehr draußen geschlafen, seit ich ein kleines Mädchen in …

Ich denke an meinen Traum und schüttle den Kopf. Heftig.

Hör sofort auf damit!

Ich mache Kaffee, gehe ins Bad, putze mir die Zähne, dann schenke ich mir eine Tasse Koffein ein, nehme mein Handy und schlüpfe ins Bett. Vielleicht ein paar Stunden normaler Schlaf, dann einen Spaziergang, dann ein Nickerchen, dann werde ich mich mit meinen Freundinnen im The Parker auf einen Drink treffen … Es ist schön, einen normalen Tag und einen normalen Abend zu haben. Nachrichtensprecher haben eigentlich nie einen ›normalen‹ Tag.

Es ist schön, Freunde zu haben, die mich jetzt kennen, ohne eine Spur meiner Vergangenheit. Ich schlürfe meinen Kaffee und sehe auf mein Handy.

Eine endlose Reihe von Nachrichten erscheint. Ich klicke die erste an. Sie ist von Ronan.

Notfallmeeting um 12 Uhr! Dringend!

Ich sehe die anderen Nachrichten an, von Cliff und Eva, die fragen, worum es bei dem Meeting geht. Keine Antwort von Ronan.

Ich rufe Cliff an.

»Ich habe keine Ahnung, was los ist«, sagt er. »Du?«

Ich rufe Eva an. Voicemail. Sie ist bei ihrem Frühstücksevent.

Worum um alles in der Welt kann es dabei gehen?

Ich steige aus dem Bett und kippe meinen Kaffee hinunter, während ich versuche, meinen verschlafenen Kopf klar zu bekommen. Ich genehmige mir eine zweite Tasse, schwimme einen Runde im Pool und fahre dann zum Sender.

Ich bin verblüfft, das gesamte Team – und ich meine das gesamte Team – an einem Samstagmittag im Konferenzraum zu sehen. Eva ist todschick in weihnachtliches Rot gekleidet. Sie zuckt mit den Schultern, als unsere Blicke sich treffen, und ich schnappe mir einen leeren Stuhl am Ende des Tisches neben Cliff. Ronan betritt den Raum in Sportklamotten und mit einer Baseballkappe, auf der steht: Chill, Bro!

»Danke, dass ihr alle so kurzfristig gekommen seid, aber es ist wichtig.« Er hält inne und trinkt einen großen Schluck von seiner DYLN-Alkaline-Wasserflasche. Bei Ronan dreht sich alles um den pH-Wert. Das hat er uns allen schon tausendmal erzählt. »Die Einschaltquoten sind heute Nacht gekommen.« Er sieht in die Runde und hält dann an, um mich direkt anzusehen. »Nicht gut. Gar nicht gut.«

Mir bleibt das Herz stehen.

»Was ist nicht gut?«, fragt Eva. »Sind wir auf den zweiten Platz abgerutscht? Was ist los?«

»Nein, wir sind insgesamt immer noch Nummer eins«, antwortet Ronan.

Ich atme aus, und der ganze Raum explodiert in Applaus.

»Nein, nicht gut«, wiederholt Ronan genervt und trinkt von seiner Wasserflasche, als ginge es um sein Leben. »Wir sind in der entscheidenden Altersgruppe von 18–49 auf den zweiten Platz gefallen.«

»Es gibt in Palm Springs Zuschauer in der Altersgruppe?«, fragt Cliff. Der Raum bricht in Gelächter aus.

»Ja, Cliff!«, schreit Ronan plötzlich. »Und sie sind die Influencer von heute. Sie sind diejenigen, die rausgehen und Geld ausgeben und die Welt regieren, falls Sie es noch nicht bemerkt haben.«

Der Raum wird still.

»Wir können nicht weiter Erfolg haben mit einer Werbung, die aus Haftcreme, Hörgeräten, Rollstühlen und Badewannenliftern besteht!«

»Die Hausnotrufknöpfe nicht zu vergessen«, wirft Cliff ein.

Der Raum kichert.

»Sie sind gefeuert, Cliff!«, schreit Ronan.

»Was?« Cliffs geschmeidige Nachrichtensprecherstimme ist plötzlich zittrig.

»Aus und vorbei. Mit sofortiger Wirkung.«

»Das können Sie nicht machen«, sage ich.

»Ach, kann ich nicht?«, erwidert Ronan. »Nun, ich kann, und ich habe es getan. Und Sie sind auch gefeuert, Sonny.«

Meine Augen weiten sich. Der Raum dreht sich. Ich möchte aufstehen, aber meine Beine sind aus Wackelpudding.

»Wie bitte?«, gelingt es mir zu keuchen.

»Darf ich Ihnen Ihre Nachfolgerin vorstellen?«

Ronan dreht das Licht aus und schaltet den riesigen Fernseher an der Wand ein.

Eine animierte Frau erscheint auf dem Bildschirm. Unter ihr erscheint der Name KIera. Sie ist eine erstaunlich realistisch aussehende, amazonenhafte, zum Leben erwachte Barbiepuppe: blond, blauäugig, mit, wie es aussieht, Brüsten in Doppel-D. Sie trägt ein pinkfarbenes Kleid mit einer großen Schleife um ihre Zehn-Zentimeter-Taille.

»Hi, ich bin KIera, die präziseste und zuverlässigste Meteorologin der Welt auf Basis künstlicher Intelligenz.«

Ich blicke in die Runde, um die Reaktion der Leute zu sehen. KIera fährt fort. »Ich kompiliere alle sechzig Sekunden die neuesten Computermodelle, um Ihnen die aktuellsten Wettervorhersagen für Ihre Gegend und die ganze Welt zu bieten«, sagt KIera mit einer gruseligen Stimme, die sich anhört, als habe man sich verwählt und eine von Alexa betriebene Sexhotline erwischt. »Und ich kann immer und überall bei Ihnen sein: auf Ihrem Handy, Laptop, Ihrer Smartwatch oder in Ihrem eigenen Zuhause.«

Ronan drückt auf seiner Fernbedienung auf Pause. KIera hält mitten in der Bewegung an, die großen Puppenaugen direkt auf mich gerichtet. Ronan lächelt, dann drückt er wieder auf Play.

»Das Wetter heute in Palm Springs wird sonnig bei achtundzwanzig Grad. Und so wird es in der Wüste die ganze Woche bleiben.«

»Wartet auf ihren Slogan«, sagt Ronan mit absoluter Begeisterung in der Stimme.

»Sonnenschein, so weit das Auge reicht«, sagt KIera und hüpft dabei aufgeregt auf und ab, dass ihre animierten Brüste wippen. »Es wird sonnig, Honey!«

Ronan drückt auf Stopp.

»Soll das eine Art Scherz sein?«, frage ich.

»Nein.« Ronan dreht sich um, seine Silhouette vor dem Fernseher mit KIera hinter sich. »Ist sie nicht der Hammer? KIera ist die Zukunft der Meteorologie.«

»Sie können mich nicht feuern«, sage ich, als mein Verstand endlich wieder klar wird. »Ich habe einen Vertrag.«

»Wir zahlen Ihnen eine Abfindung.« Ronan verstummt und sieht mich an. »Ich dachte wirklich, Sie würden sie mögen.«

Seine Stimme klingt gekränkt. Ronan lässt den Kopf hängen. Er verhält sich, als wäre eigentlich er derjenige, der hier verletzt wurde.

»Lassen Sie uns darüber reden«, sage ich mit ruhiger Stimme. »Die Leute wollen ihr Wetter nicht von einem Roboter vorhergesagt bekommen.«

»Sie ist kein Roboter«, widerspricht Ronan.

»Nein, aber Sie sind einer«, sagt Cliff. »Sie haben keine Ahnung, was Sie tun.«

»Oh«, sagt Ronan, als wäre ihm gerade etwas Wichtiges wieder eingefallen. »Ihnen zahle ich auch eine Abfindung, Cliff. Eva, Sie sind sicher. Fürs Erste. KIera wird heute Abend vorgestellt.«

»Können wir uns wenigstens von unseren Zuschauern verabschieden?«, fragt Cliff ungläubig. »Ich war vierzig Jahre hier auf Sendung. Sonny ist seit 1993 hier.«

»Montag wird Ihre letzte Sendung sein. Danke Ihnen allen. Eva, wenn Sie noch kurz hierbleiben könnten? Wir müssen ein paar Dinge besprechen.«

Eva sieht mich völlig verwirrt an, während sie fortgeführt wird. Das Nachrichtenteam bildet eine Schlange, um Cliff und mich zu umarmen, als wären wir auf einer Beerdigung.

»Willst du jetzt auf einen Drink gehen?«, fragt Cliff, als alle fort sind.

»Nur einen?«, antworte ich. »Wir treffen uns, nachdem ich meine Agentin angerufen habe.«

Der Purple Room ist eine alte Jazzbar, in der früher das Rat Pack getrunken und spontane Vorstellungen gegeben hat. Es ist ein größtenteils fensterloses Lokal, mittlerweile ein wunderbares Restaurant und ein Jazzclub, mit starken Drinks und einem Inhaber, der die weltbeste Judy-Garland-Imitation und -Show bietet.

Als ich ankomme, wartet schon ein Cosmo auf mich.

»Du kannst Gedanken lesen«, sage ich.

»Prost, auf unseren Untergang«, sagt Cliff und hebt sein Glas.

Ich trinke einen kräftigen Schluck und sehe Cliff an. »Was zum Teufel ist da gerade passiert?«

»Wir wurden rausgeworfen, Schwester«, sagt er, während er an seinem Manhattan nippt. »Von einem kleinen Mann mit großem Ego und einem winzigen …«

»Schon kapiert, Cliff«, unterbreche ich ihn.

Er hört nicht auf. »… der versucht, sich vor noch kleineren Männern mit noch größeren Egos etwas zu beweisen«, sagt er. »Vatersöhnchen können nie eigenständige Männer werden. Besonders keine reichen Vatersöhnchen.«

»Was machen wir jetzt?«, seufze ich.

»Ich hatte eine lange, wunderbare Karriere bei meinem lokalen Sender«, sagt Cliff. »Konnte im Paradies leben, wo ich geboren und aufgewachsen bin. Ich musste mit meiner Familie nicht quer durchs Land ziehen, von Des Moines bis Denver, um alle paar Jahre in einer anderen Stadt neu anzufangen. Ich bin stolz auf das, was ich erreicht habe. Du solltest es auch sein.« Cliff sieht mich an und zieht eine seiner buschigen Augenbrauen hoch. »Wahnsinn kann man nicht kontrollieren. Und Ronan ist so irre wie ein rasendes Eichhörnchen, das seine Nüsse für den Winter versteckt. Genau genommen tut mir Eva gerade mehr leid als wir. Stell dir nur vor, was sie wohl ertragen muss. Und für wer weiß wie lange, bevor er sie auch leid wird.«

Cliff verstummt und nimmt einen Schluck von seinem Drink. »Das gibt uns Zeit zum Überdenken und Neuerfinden. Ich mache vielleicht Radio. Ich kann all diese ehrenamtlichen Dinge machen, die Eva von mir will. Vielleicht schreibe ich ein Buch.« Er verstummt kurz. »Oder ich mache einfach gar nichts. Ich könnte meine Frau tatsächlich unter der Woche zum Essen ausführen oder mir die Nachrichten im Bett ansehen, so wie der Rest der Welt. Es ist Jahrzehnte her, seit ich eine normale Woche hatte.« Er nimmt einen weiteren Schluck von seinem Cocktail. »Was dieses Ronan-Jüngelchen nicht zu interessieren scheint, ist, dass ich bereits über Kriege berichtet habe, über Rassenunruhen, über Präsidentschaftswahlen. Diesem Schwachkopf ist nicht bewusst, dass du nach dem Erdbeben ’94 rund um die Uhr auf Sendung warst und im Studio geschlafen hast, damit du den Zuschauern die neuesten Nachrichten bringen, Notfallhilfe leisten, und am wichtigsten, sie beruhigen konntest. Dieser Wetterroboter wird dazu nie in der Lage sein. Und Ronan wird das erst herausfinden, wenn es zu spät ist, wenn es eine Krise gibt. Du hast schon mehr gemacht, bevor du fünfundzwanzig warst, als er in seinem ganzen Leben zustande bringen wird.« Cliff hebt erneut sein Glas. »Es war eine Ehre, ein Nachrichtensprecher zu sein. Und es war eine Ehre, in all diesen Jahren an deiner Seite zu arbeiten.«

Ich schüttele den Kopf über Cliff und zwinge mich, nicht zu weinen. »Ich bewundere dich wahnsinnig.«

»Aber? Da kommt doch noch ein Aber. Das merke ich.«

»Aber ich bin fünfzig, Cliff. Ich muss arbeiten. Ich muss mir meinen Lebensunterhalt verdienen. Und ich liebe immer noch, was ich tue.«

»Dann wirst du dein Leben hier in Palm Springs abbrechen und woanders hingehen müssen.«

»Das will ich nicht«, sage ich.

»Du kannst um deinen Job kämpfen«, schlägt Cliff vor. »Vielleicht überlegt Ronan es sich noch einmal anders.«

Ich sehe Cliff an, und er lacht los, noch bevor ich es tue.

»Du kannst klagen«, sagt Cliff. »Aber seine Taschen sind viel tiefer als deine.« Er zögert eine Sekunde lang. »Vergiss nie, dass dir die Welt offensteht, Sonny. Für dich ist sie immer sonnig, oder nicht?« Er nimmt meine Hand und drückt sie. »Was würde Frank tun?«

Ich nicke, wobei ich mir erlaube, ein kleines bisschen feuchte Augen zu bekommen beim Gedanken an Frank Sinatra, und ein weiterer Drink wird bestellt. Dieser Cosmo führt zu einem weiteren, der zu einem Tequila führt und dann dazu, dass ich auf der Bar stehend Songs des Rat Packs singe, während sich die Welt vor meinen Augen dreht.

Das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich Hände um meine Taille spüre, die mich von der Bar heben und zur Lobby führen. Ich breche auf einem der runden Sofas aus den 60ern zusammen.

»Ich rufe dir ein Taxi«, sagt Cliff. »Du kannst dein Auto morgen holen.«

Ich sehe zwei Cliffs, die versuchen, auf einem Handy zu wählen, und fange an zu lachen. Dann bemerke ich direkt hinter ihm das große Wandbild, das auf eine der Lobbywände gemalt ist. Ich kneife ein Auge zu, um den Raum anzuhalten, und konzentriere mich darauf, den Spruch zu lesen.

Alkohol mag der schlimmste Feind des Menschen sein, aber in der Bibel steht, man soll seine Feinde lieben.

Frank Sinatra

»Der Wagen ist da.« Cliff zieht mich vom Sofa hoch und führt mich durch die Türen hinaus und zum Auto.

»Bringen Sie sie direkt nach Hause«, sagt er zum Fahrer.

Er lehnt sich ins Auto. »Ich rufe dich in einer Stunde an, um sicherzugehen, dass du zu Hause bist, okay? Meine Frau wird mich jeden Moment abholen.« Er verstummt kurz. »Sonny? Sonny!«

Ich versuche, mich auf Cliff zu konzentrieren.

»Hab dich lieb«, sagt er. »Du wirst schon klarkommen.«

Er schließt die Tür und geht – oder vielmehr torkelt – zurück in die Lobby.

Ich nicke kurz ein und wache auf, um zu bemerken, dass wir zurück zu meinem Haus fahren.

Eine Stimme in meinem Kopf fragt: Was würde Frank tun?

»321 Dinah Shore«, sage ich zum Fahrer.

»Das ist nicht, was ich hier habe«, erwidert er und blickt auf sein Handy.

»Planänderung«, sage ich.

Er wiederholt die Adresse, ich nicke, und er aktualisiert sein Navi. Ich lächle. Er sieht mich immer wieder im Spiegel an. »Hey, sind Sie nicht …?«, setzt er an.

»Nein«, sage ich.

Meine Lider werden schwer, und ich blinzle, einmal, zweimal …

»Ma’am? Ma’am? Wir sind da.«

Ich wache zusammengesunken quer über der Rückbank auf, als wäre mein Rückgrat aus Gummi.

Kopfschüttelnd richte ich mich auf.

»Sie wohnen im TV-Sender?«, fragt der Fahrer.

»Ist eine vorübergehende Sache«, nuschele ich.

Ich versuche, meine Kreditkarte zu finden, kann es aber nicht, also reiche ich dem Fahrer meine ganze Handtasche.

»Ihr Freund hat bereits bezahlt, bevor ich Sie abgeholt habe«, sagt er, während er sie mir zurückgibt.

»Danke«, erwidere ich. »Und sagen Sie ihm danke, wenn Sie ihn sehen.«

»Geht es Ihnen gut?«, fragt er.

Der Fahrer ist gerade mal zwanzig, wahrscheinlich. Er ist nichts als strahlende Augen und gute Haut und eitel Sonnenschein.

Ich stolpere aus dem Auto und lehne mich dann durchs Fahrerfenster hinein.

»Ist noch nicht entschieden«, antworte ich, bevor ich torkelnd meinen TV-Sender betrete.

Ich sehe mich um. Samstags ist es ruhig. Die große Uhr im Wartebereich zeigt 18.10 Uhr.

Perfekt.

Ein Schild über der Tür blinkt LIVE! AUF SENDUNG!

Ich halte mich für verstohlen, als ich auf Zehenspitzen ins Studio schleiche, aber ich pralle gegen den Rücken eines Kameramanns.

»Sonny?«, fragt er. »Was machen Sie denn hier?«

»Ich wollte meine Nachfolgerin in Aktion sehen«, sage ich, aber die Worte kommen in einem undeutlichen Durcheinander heraus.

»Sind Sie betrunken?«, fragt er.

»Sind Sie’s?«

Eva steht hinter dem Nachrichtenpult, zusammen mit einem der Wochenendsprecher, Brant, der aussieht, als käme er frisch von der Junior High.

Ronan muss Eva gebeten haben, die große Nachricht zu verkünden.

»Willkommen zurück«, sagt Eva. »Nun, DSRT nimmt eine Reihe wunderbarer Veränderungen vor, die das Leben unserer Zuschauer bereichern und unseren großartigen Sender noch besser machen sollen. Eine dieser Veränderungen ist eine neue Meteorologin in unserem Team. Ich möchte unseren Zuschauern KIera vorstellen, eine der ersten auf künstlicher Intelligenz basierenden Meteorologinnen der Welt. KIera erhält minütlich die neuesten Wetterdaten und kann Ihnen so die präzisesten Informationen bringen, nicht nur für Palm Springs, sondern auch für die ganze Welt. Und für jene, die sich fragen, wo Sonny ist, nun, sie wird am Montag zurück sein, um sich zu verabschieden und uns alles über die phantastischen Dinge zu erzählen, die sie für die Zukunft geplant hat. Hi, KIera! Und willkommen!«

Eva sieht nach links, wo ich normalerweise stehen würde. Einer der schwersten Tricks, die ich als Meteorologin lernen musste, war, sich vor dem Green Screen natürlich zu verhalten. Ich musste lernen, wohin ich auf einem leeren Bildschirm zeigen muss, der für die Zuschauer wie eine Live-Einblendung der Wetterkarte aussieht.

Wer glaubt, dass das einfach ist, soll es mal versuchen.

KIera muss nicht mal zeigen. Sie muss das Wetter nicht studieren. Sie muss es für die Zuschauer nicht in einen Kontext setzen. Sie muss gar nichts tun. Graphiken poppen einfach hinter ihr auf wie in einem Pixar-Animationsfilm.

»Hallo, Eva. Hallo, Brant. Was für eine Freude, hier zu sein.«

»Das ist so gruselig«, sage ich zu laut zum Kameramann. Ich fange an, mich wie ein Roboter zu benehmen und auch so zu sprechen. »Hal-lo. Ich klinge wie R2D2, aber ich habe größere Möp-se.«

Eva hört meine Stimme und sieht zu mir rüber.

Nein, Sonny, formt sie lautlos mit den Lippen.

Aber es ist zu spät. Ich marschiere bereits schnurstracks aufs Set zu.

»Halt die Klappe, KIera«, sage ich, als ich vor die Kameras platze.

KIera macht einfach weiter, weil sie nicht echt ist. Ich kann sehen, wie der Kameramann zwischen mir und KIera hin- und hersieht, unsicher, was er tun soll.

»Hi, Zuschauer von DSRT. Wollt ihr wissen, was wirklich los ist? Ich wurde gefeuert. Von einem verwöhnten reichen Bengel. Weil ich zu alt bin. Weil ich ein paar Falten bekomme und gelegentlich ein, zwei Pfund zunehme. Weil ich zu echt bin. Weil ich einen Vertrag habe. Wegen diesem … Ding.«

Ich schlage mit der Hand gegen den Green Screen. »An ihr ist nichts echt. Weder ihr Gesicht noch ihre Figur noch ihre Stimme … Schaut.« Ich fange an, gegen den Green Screen zu treten, immer wieder. Ich ziehe meinen Schuh aus und fange an, damit auf ihn zu schlagen, bis er zusammenbricht. KIeras Bild verschwindet, aber ihre Stimme fährt fort wie ein roboterhafter Geist.

Ich wende mich zur Kamera. Fange an zu schreien.

»Sie ist nicht echt! Nichts an ihr ist echt. Ist es das, worauf wir alle im Leben zusteuern? Von Robotern ersetzt zu werden? Bis gar nichts mehr echt ist?«

Über mir sagt KIera: »Es wird sonnig, Honey!«

»Oh, nein, nichts da!«, sage ich. »Sonny ist diejenige, die immer sagt, es wird sonnig! Du kannst mir nicht MEINEN Spruch klauen. HONEY!«

Ich greife unter das Nachrichtenpult. Sie sind immer noch da.

Ich packe zwei der Sonnen mit meinem Gesicht darauf und klebe je eine auf jede meiner Brüste. Ich gehe auf die Kamera zu.

»Du willst wissen, was echt ist, KIera?« Ich schüttle mein Dekolleté. Der Kameramann spuckt seinen Kaugummi aus. »Ich! An mir ist alles echt!«

Ich sehe rüber und merke, dass der Sender endlich zu einem Werbespot übergeblendet hat. In einem Moment der Klarheit wird mir bewusst: Sie haben mich so lange auf Sendung gelassen, weil sie wussten, dass das gut für ihre Einschaltquoten sein würde. Alles für die Einschaltquoten.

Eva steht auf, kommt zu mir herüber und hält mich.

Ich schluchze in ihren Armen.

Die letzte Nachricht auf meinem Handy, an die ich mich erinnere, als ich nach Hause komme und ins Bett falle, ist eine von Cliff.

Du bist nicht nach Hause gefahren, oder?

Ich verliere das Bewusstsein und träume von Schnee.

2

Ich wache mit den schlimmsten Kopfschmerzen seit dem Aufnahmeritual meiner Studentinnenverbindung am College auf. An dem Tag bin ich um vier Uhr nachmittags in einem Kleid aufgewacht, das ich am Abend zuvor nicht getragen hatte, und mit Pizza, die mir am Oberschenkel klebte.

Ich erinnerte mich an nichts davon.

An letzte Nacht erinnere ich mich auch nur sehr wenig, außer …

Mir kommen Erinnerungsfetzen, in denen ich Schnaps kippe, tanze und schlimme Dinge mit Klebesonnen anstelle.

Ich stöhne.

»Bitte, lieber Gott«, bete ich laut. »Lass das alles einen schlechten Traum gewesen sein. Wenn du das tust, verspreche ich, in meinem ganzen Leben nie wieder etwas Böses zu tun.«

Bei meinem Gebet muss ich lachen, worauf mir der Kopf nur noch mehr weh tut.

Warum verhandeln wir nur dann mit Gott und machen Versprechungen, wenn wir etwas von ihm wollen oder wissen, dass wir Mist gebaut haben?

Ich wappne mich innerlich, hole tief Luft und setze mich auf. Sofort dreht sich das Zimmer wie ein Brummkreisel. Ich suche nach meinem Handy. Es klebt an meinem Oberschenkel, genau wie die Pizza vor so langer Zeit.

Eine lange Reihe von Textnachrichten, länger als ein königlicher Erlass, erwartet mich.

Wie es scheint, ist meine Tochter – wie nennt ihr Kids das – viral gegangen! Kam sogar hier in Michigan in den Nachrichten. Ruf mich an! Wenn du wieder nüchtern bist.

Meine Mom. Die ehemalige Kranken- und jetzige Hospizschwester.

Ich klicke auf den Link des Nachrichtensenders in Traverse City, Michigan, den meine Mutter mit mir geteilt hat.

Eine TV-Meteorologin aus Palm Springs hat Zuschauern ihr, nun ja, ›Hochdrucksystem‹ gezeigt, bei einem Ausraster, der nun um die Welt geht …

Ich schleudere mein Handy durchs Zimmer.

Das Video läuft weiter.

… falls sie Ihnen bekannt vorkommt, haben Sie recht. Das ist Amberrose Murphy, geboren und aufgewachsen in Traverse City und nun bekannt unter dem Namen Sonny Dunes …

Sonny. Sunny. Sonnig.

Ich blinzle, als die Sonne in mein Schlafzimmer strahlt.

Wie ironisch, Amberrose, denke ich.

Stöhnend steige ich aus dem Bett, während sich mir der Magen umdreht. Ich schubse mein Handy mit dem Fuß in Richtung Bad und bücke mich dann, um es aufzuheben und auszuschalten, eine einfache Handlung, bei der mir schwindlig wird, als ich mich wieder aufrichte. Mein Mund ist trockener als die Wüste, und meine Zunge fühlt sich an, als wäre sie von Bienen zerstochen. Ich spritze mir Wasser ins Gesicht und halte meinen Mund dann einfach unter den Wasserhahn, um das Wasser aufzuschlabbern wie ein durstiger Hund. Ich betrachte mein Gesicht im Spiegel. Es ist fleckig und aufgedunsen. Meine Augen haben mehr Ringe als Tiffany.

Sogar die Ringe haben Ringe.

Ich dusche, und als ich fertig bin, fühle ich mich womöglich ein Fünkchen besser. Wobei besser relativ ist. Besser bedeutet, dass ich mich nicht mehr so fühle, als könnte ich sterben, allerdings bin ich immer noch eine wandelnde Tote, wie ein Zombie. Ich gehe in die Küche, mache Kaffee, nehme drei Aspirin, trinke eine ganze Flasche pH-Wasser, das ich mir Anfang der Woche von Ro-Ro stibitzt habe, und ein Glas Orangensaft, dann lege ich meinen Kopf auf die Arbeitsplatte und sehe dem Kaffee beim Durchlaufen zu.

Wenn wir früher, als ich noch ein Kind war, in meiner Familie Spiele gespielt haben, war meine Schwester immer der Zeitstopper, mein Dad immer der Punktezähler und meine Mom und ich die Unterhaltung. Joncee hatte die kleine Plastiksanduhr, und – wenn keiner hinsah – tippte sie fest drauf. Dann sah sie mich an, legte zwinkernd einen Finger an die Lippen und machte lautlos Pssst.

Im Winter, nachdem wir den ganzen Tag im Schnee gespielt hatten und die Welt am späten Nachmittag dunkel wurde, machte mein Dad ein Feuer im Kamin, und meine Schwester kramte aus dem Schrank daneben alle Spiele hervor: Doktor Bibber, Kniffel, Monopoly, Mensch ärgere dich nicht, Schiffe versenken, Uno, Candyland.

Mehr als alles andere liebte Joncee Puzzles, die mit tausend Teilen, für die man ewig brauchte, um sie fertigzustellen. Ihre Lieblingspuzzles waren natürlich Winterszenen: rote Kardinäle auf verschneiten Zweigen, eine Hütte im Wald mit rauchendem Schornstein, ein schlittenfahrendes Mädchen auf einem Hügel. Oft ertappte ich sie dabei, wie sie mit einem Puzzleteil in der Hand vor dem Kamin saß und uns einfach nur zusah. Sie liebte Spiele und Puzzles, das wurde mir endlich bewusst, nicht um zu gewinnen oder weil es Spaß machte, sondern weil die ganze Familie an einem kalten Winterabend zusammen war. Wir waren eins.

Ich sehe dem Kaffee dabei zu, wie er langsam durchläuft, und denke mir nicht nur, wie flüchtig die Zeit ist, sondern auch wie oft die wirklich magischen Momente unseres Lebens die einfachsten sind und wie gedankenlos wir sie verstreichen lassen. Wir glauben törichterweise, dass sie irgendwie für immer dauern werden, dass das Schicksal nicht unangemeldet vor unserer Tür stehen und anklopfen wird, wenn wir es am wenigsten erwarten.

Ich habe das geglaubt.

Ich habe vergessen, dass die Zeit grausam ist. Ich habe so getan, als wären die Dinge anders.

Zuerst meine Schwester.

Dann mein Dad.

Jetzt meine Karriere.

Ich bin mit fünfzig allein. Verkatert, den Kopf auf der Küchenarbeitsplatte, darauf wartend, dass mich Kaffee aus einem Tief holt, das kein Ende hat.

Ich nehme eine Tasse und dann die Kaffeekanne, schenke mir ein, gebe einen Schuss Kaffeesahne dazu und gehe dann mit meinem Handy auf die Terrasse.

Nachdem ich eine halbe Tasse heruntergekippt habe und spüren kann, wie das Koffein durch meinen Körper pulsiert, meinen Verstand wiederbelebt und mir die Lider öffnet, sehe ich mir endlich meine Textnachrichten an.

Dreihunderteinundachtzig.

Ich nehme einen tiefen Atemzug, einen weiteren Schluck Kaffee und fange an zu lesen.

Die meisten haben dasselbe Thema: Geht es dir gut? Möchtest du reden? Gehst du auf Entzug?

Viele sind von diesen Unterhaltungssendungen – Access Hollywood, Entertainment Tonight, sogar The Weather Channel –, die ein Interview wollen.

Mein Handy fängt an zu klingeln.

Meine Mutter.

Ich gehe nicht ran.

In diesem Moment sehe ich, dass sich meine Hecke bewegt. Ich setze mich auf. Da ragt ein Kameraobjektiv durch das Grün.

Was zum …

Ich springe auf und renne mit voller Geschwindigkeit auf die Ficushecke zu, bevor der Fotograf reagieren kann, packe die Kamera und reiße sie heraus.

»Was zum …?«, ruft eine Männerstimme. Er späht von der Straße aus durch die Hecke hindurch.

»Nein, das ist meine Frage«, sage ich. »Was glauben Sie eigentlich, was Sie da machen?«

»Ich bin von Hollywood Gossip«, sagt er. »Der Promi-News-Seite.«

News-Seite?

»Wir hätten sehr gern ein Interview über Ihren Zusammenbruch.«

Zusammenbruch. So nennen sie das also.

»Ich hatte keinen Zusammenbruch«, sage ich entrüstet. »Ich war wütend darüber, dass ich meinen Job verloren habe. Vielleicht habe ich ein bisschen zu viel getrunken.«

Ich spähe durch die Hecke. Er filmt mich mit seinem Handy.

»Ich begehe keinen Hausfriedensbruch«, sagt er. »Ich bin auf öffentlichem Gelände.«

»Ich gebe kein Interview«, sage ich. »Ich erlaube Ihnen nicht, irgendetwas von dem, was ich sage, zu verwenden. Und wenn Sie Ihre Kamera wiederhaben wollen, werden Sie still und friedlich weggehen. Andernfalls landet sie im Pool. Abgemacht?«

»Abgemacht«, sagt er.

»Ich will sehen, dass Sie das löschen.«

Er hebt sein Handy, und ich kann sehen, dass er auf einen Button tippt. Er dreht das Display zu mir. »Sehen Sie? Es ist alles weg.«

Ich stecke seine Kamera zurück durch die dichte Hecke, und er schnappt sie sich.

»Gehen Sie weg«, sage ich. »Bitte. Wenn Sie eine Stellungnahme wollen, reden Sie mit meiner Agentin.«

Er ist einen Moment lang still. »Sie sagte, ich soll mit Ihnen reden.«

Oh, Joanne, denke ich. Alles für die Publicity. Deswegen nenne ich sie »Oh no, Jo!«

»Gehen Sie weg«, sage ich noch mal zu ihm. »Ich bin ein wenig angeschlagen.«

Ich sehe ihm zu, wie er davongeht, dann höre ich ein Auto starten und wegfahren.

Es gibt gerade nur einen einzigen Ort, an dem ich allein sein kann, denke ich und drehe mich zu den Bergen hinter mir um. Auf einer Wanderung.

Trotz des Katers schnappe ich mir meinen Rucksack, fülle eine Trinkflasche mit Wasser und packe einen Apfel, ein paar Nüsse und einen Eiweißriegel hinein. Dann nehme ich mir eine weitere Tasse Kaffee und trinke sie, während ich mich mit Sonnenschutz eincreme. Ich ziehe meine Wanderkleidung an, und auf dem Weg nach draußen nehme ich eine Baseballmütze von einem Haken in der Garage. Auf der Mütze steht: DSRT: Die Nachrichtensendung Nr. 1 der Wüste.

Ich hänge sie zurück und nehme eine gelbe: Sonny sagt, die Sonne scheint wieder!

Ich nehme beide Mützen und werfe sie in die Mülltonne, bevor ich eine dritte vom Haken nehme. Es ist eine lilafarbene Mütze mit einem großen N von meiner Alma Mater, der Northwestern.

Eher wie N für Niete, denke ich.

Mein Handy leuchtet während der Fahrt auf, aber ich ignoriere es. Als ich den Ausgangspunkt des Frank Bogert Trails erreiche, fahre ich auf den Parkplatz, dass Staub und Kies unter meinen Reifen aufspritzen. Ich stecke mein Handy in meinen Rucksack, steige aus dem Auto, setze mir den Rucksack auf und sehe zum Himmel. Der Murray Peak ragt in der Ferne auf.

Er ist der höchste Punkt von Palm Springs und erhebt sich unheilvoll, aber märchenhaft aus dem Wüstenboden. Aus irgendeinem Grund erinnert mich der Murray Peak immer an den Hexenberg aus diesem alten Disneyfilm.

Ich beginne mit der Wanderung und bin – innerhalb weniger Augenblicke – völlig außer Atem. Sogar trotz Sonnenbrille ist die Sonne grell, und ich muss die Augen zusammenkneifen. Mein Kopf hämmert bei jedem Schritt, aber je höher ich komme und je mehr sich mein Körper anstrengt, desto besser fühle ich mich tatsächlich. Bewegung, egal zu welcher Jahreszeit, hat meinem Körper – und meinem Geist – schon immer geholfen. Der Wanderweg besteht aus einer Reihe schneller Anstiege, ein kleiner Gipfel führt zu einem nächsthöheren. Etwa nach einer Stunde ebnet sich der Weg und schlängelt sich durch das High-Desert-Gebiet. Unvermittelt wird die Welt still. Ich kann keinen Verkehr mehr hören. Es ist niemand in der Nähe. Die Touristen wandern üblicherweise nicht so weit. Ich bleibe stehen, trinke einen großen Schluck Wasser und schaue über die Wüste hinweg. In manchen Jahren, wenn wir ein Übermaß an Feuchtigkeit hatten, passiert in Palm Springs etwas, das als »Superblüte« bekannt ist, da die Wüste regelrecht vor Farben explodiert. Wir hatten schon eine Weile nicht genug Regen oder kühle Temperaturen, um eine Superblüte zu haben, aber in diesem Jahr kommt es ziemlich nahe ran, wegen ein paar Monsunregenfällen im Spätsommer und einigen Schauern im Herbst.

Die gelben, kleinen, Margeriten ähnelnden Wüstensonnenblumen, die Kakteen und die violetten Lupinen stehen in voller Blüte. Ihre Freunde – Sandverbenen, braunäugige Nachtkerzen, Mentzelien – blühen ebenfalls.

Ich nehme meinen Rucksack ab, stelle ihn auf einen nahegelegenen Felsen und greife nach meinem Handy, um Fotos von diesem Schauspiel zu machen.

Vielleicht würde sich ein Video davon gut als Vorspann für den Wetterbericht von Montagabend machen, denke ich.

Ohne Vorwarnung breche ich beinahe in Tränen aus.

Ich hebe mein Gesicht zur Sonne, um meine Nerven zu beruhigen.

Die Sonne war mir in den letzten Jahrzehnten ein ständiger Begleiter. Viele denken, ein Meteorologe in der Wüste zu sein, ist leicht – und ich bin eine Meteorologin, keine ›Wetteransagerin‹. Ich habe einen Abschluss in Klima- und Weltraumwissenschaften und Ingenieurwesen gemacht und nach meinem Studium für die Universität in der Forschung gearbeitet – aber das ist es nicht. Die Sonne kann ebenso erbarmungslos sein wie ein Winter in Michigan, und das ständige Verfolgen von Erdbeben ist viel furchteinflößender als jeder Gewitter und jeder Schneesturm.

Ich habe mich an die Sonne gewöhnt. Ich bin vor den Wolken und dem Schnee davongelaufen, weil sie Erinnerungen waren: Sie hingen über mir und wollten sich einfach nicht auflösen. Sie verdunkelten meine Tage und meine Stimmung.

Also wurde Amberrose zu Sonny.

Buchstäblich.

Und wer bin ich jetzt?

Ich blicke auf die blühende Wüste und muss einfach lächeln. Unvermittelt denke ich an Michigan in voller Blüte – nach dem Winter – und was für ein Zauberer von Oz-Technicolortraum das war: die sonnengelben Narzissen gefolgt von den bonbonfarbenen Tulpen, und dieser Baldachin aus Grün, der einfach wie aus dem Nichts hervorsprießt, wenn man eines warmen Tages hinaussieht und jeder Baum und Strauch wieder zum Leben erwacht ist.

Nordmichigan. Südkalifornien.

Vorher. Nachher.

Ich bücke mich und pflücke einen Lupinenstängel.

Was für eine spektakuläre Darbietung von Leben, das unter härtesten Bedingungen hervordrängt.

Aufgeladen mit neuer Energie wandere ich zielstrebig auf den Murray Peak zu. Die letzten fünfzehn Minuten der Wanderung führen steil bergauf. Es gibt keine Serpentinen. Es ist einfach nur eine Treppe in den Himmel. Ohne Vorwarnung fange ich an zu rennen, dass die Steine unter meinen Wanderschuhen hochschleudern, und halte nicht an, bis ich den Gipfel erreiche.