Vier Frauen und ein See - Viola Shipman - E-Book
SONDERANGEBOT

Vier Frauen und ein See E-Book

Viola Shipman

0,0
12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der neue Feelgood-Roman von Viola Shipman bringt das Lebensgefühl der achtziger Jahre zurück und erinnert uns an die Sommer, die uns zu denen machten, die wir sind.  Elizabeth, Veronica, Rachel und Emily lernten sich im Feriencamp kennen, wo sie vier Sommer lang die Clover Girls waren - unzertrennlich für diese magischen Wochen der Freiheit. Bis kleine Intrigen und ein großer Verrat das Kleeblatt auseinander riss. Jetzt, in mittlerem Alter, kämpfen die Frauen mit ihren Ehen, ihren Kindern und ihren Karrieren, als Liz, V und Rachel plötzlich jeweils einen Brief von Emily erhalten. Sie bittet die drei, die einst ihre besten Freundinnen waren, noch ein Mal im Camp Birchwood am Lake Michigan zusammenzukommen.  Eine Woche, um sich an die Mädchenträume von damals zu erinnern und alte Wunden zu heilen. Werden sie sich überhaupt noch etwas zu sagen haben? Eine Woche Auszeit vom eigenen erwachsenen Leben erscheint doch ganz schön lang. Was hat Emily sich dabei nur gedacht? 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 499

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



VIOLA SHIPMAN

VIER FRAUEN UND EIN SEE

Roman

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Anita Nirschl

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungTEIL EINS Briefe nach HauseSommer 1985EMILYSommer 2021VERONICASommer 2021RACHELSommer 2021LIZTEIL ZWEI Kerzen auf dem SeeSommer 1988Sommer 2021VERONICARACHELLIZEMILYTEIL DREI TalentabendSommer 1987Sommer 2021VERONICARACHELLIZTEIL VIER Friendship RockSommer 1986Sommer 2021VERONICARACHELLIZTEIL FÜNF TanzpartySommer 1987Sommer 2021VERONICARACHELLIZTEIL SECHS FlaggenraubSommer 1986Sommer 2021VERONICARACHELLIZTEIL SIEBEN Miteinander singenSommer 1989Sommer 2021VERONICARACHELLIZTEIL ACHT Krieg der FarbenSommer 1985Sommer 2021VERONICARACHELLIZTEIL NEUN SeilbrandSommer 1986Sommer 2021VERONICARACHELLIZTEIL ZEHN LagerfeuerascheSommer 1985Sommer 2021VERONICARACHELLIZEPILOG Briefe nach HauseSommer 2022Danksagung

Für meine Freunde

 

Ihr bringt mich zum Lachen, ihr bringt mich dazu, Dinge zu tun, die ich bereue. Aber vor allem bringt ihr mich dazu, daran zu glauben, dass ich immer noch alles tun und alles sein kann, was ich mir erträume. Ihr inspiriert mich jeden Tag aufs Neue.

TEIL EINSBriefe nach Hause

Sommer 1985

EMILY

Liebe Mom, lieber Dad!

 

Die erste Woche im Ferienlager hat total schrecklich angefangen.

Ich habe mich in einer alten Scheune versteckt, wo sie die ganzen Kanus und Kajaks lagern, und eine Stunde lang geweint. Ich kannte noch keines der Mädchen und hab mich SO allein gefühlt.

Aber dann ist etwas passiert! Drei Mädchen aus meiner Hütte haben gemerkt, dass ich fehle, und mich gesucht. »Es wird alles gut«, haben sie gesagt. »Da müssen wir alle durch, und gemeinsam schaffen wir das.«

Auf dem Weg zurück zum Camp haben wir eine Abkürzung durch dieses riesige Kleefeld genommen, das auf einer Seite vom Lake Birchwood liegt. Das ist sooo schön. Der Klee bewegt sich im Wind, als wäre er lebendig und würde atmen, und das Grün und Weiß passen zu den kleinen Wellen auf dem See. Auf dem Rückweg haben wir uns alle an den Händen genommen und sind durch die Wiese zurückgegangen. Und da ist es passiert! Ich habe ein vierblättriges Kleeblatt direkt vor meinen Füßen gefunden. Ich habe einfach hinuntergesehen, und da war er, dieser winzig kleine Glücksklee auf der riesengroßen Wiese. Wir sind alle total ausgeflippt und zurück zum Camp gerannt.

Mrs. Nigh hat uns erzählt, dass es im Paradies Klee gab und dass Eva ein vierblättriges Kleeblatt mitgenommen hat, um sich an die Pracht und Herrlichkeit des Garten Edens zu erinnern. »Ihr besitzt jetzt ein Stück vom Paradies«, hat sie gesagt. »Deshalb habe ich ihn dort angepflanzt. Damit das Paradies immer bei euch ist, selbst wenn ihr größer seid und dieses Camp hier verlasst.« Sie hat uns gesagt, die drei Blätter eines normalen Kleeblatts stehen für Glaube, Liebe und Hoffnung. Das vierte steht für Glück … der Glücksklee eben.

Jetzt wissen wir es! Wir waren immer dazu bestimmt, uns zu begegnen! Und wir sind alle schon total beste Freundinnen. Wir sind alle SO verschieden, aber jede von uns hat irgendwas Cooles, das die Gruppe komplett macht, fast so, als würden wir vier zusammen einen perfekten Menschen ergeben, genau wie die vier Blätter des Glücksklees. Sie heißen Veronica, Elizabeth und Rachel, und wir kommen alle von woanders! Jetzt ist Camp Birchwood total cool geworden!

Wie ich schon sagte, am Anfang war ich super nervös. Am ersten Abend kannte ich beim Abendessen noch niemanden. Wir saßen alle an einem großen Tisch, und die älteren Mädchen haben gelacht und über die Jungs im Camp Taneycomo geredet. Man konnte die Jungs sogar über den See nach den Mädchen rufen hören, sie haben geklungen wie gestörte Eulen. Ein paar von uns kannten sich aus der Schule, aber die meisten saßen einfach herum und kauten an ihren Hot Dogs vor sich hin. Also, die Jugendleiter (unsere heißt Dana, und sie ist SO nett!) wollten, dass alle neuen Camper sich vorstellen, indem wir etwas Künstlerisches machen, das repräsentiert, wer wir im Innern wirklich sind. Manche Mädchen haben gesungen, manche haben getanzt, manche haben Szenen aus Stücken aufgeführt, manche haben Bilder von sich und ihren Familien gemalt, aber WIR vier?! Wir haben ALLE das gleiche gemacht! Wir haben Freundschaftspins gebastelt! Und sie waren alle grün! Die Jugendleiter dachten, das wäre, weil wir alle in derselben Hütte wohnen und dass wir deswegen grün genommen haben, aber wir haben es gemacht, weil es unsere Lieblingsfarbe ist. Und als wir fertig waren und ich auf unsere Turnschuhe hinuntergeschaut habe, bin ich total ausgeflippt! Unsere Schnürsenkel sind jetzt alle voller Freundschaftpins!

Am nächsten Abend, bei unserem ersten Lagerfeuer, haben wir Marshmallows gegrillt, Kekssandwichs gemacht und Camplieder gesungen, als Rachel plötzlich angefangen hat zu kreischen. »Oh, mein Go-ooott!« Sie hörte sich an wie eines dieser Valley Girls. Ich habe gelacht, aber als ich zu ihr rübergesehen habe, hat sie die Augen voll weit aufgerissen und auf uns ums Feuer gezeigt. »Emily, Veronica, Elizabeth und Rachel …«

Und Veronica so: »Äh, ja, wir wissen, wie wir heißen.« Liz meinte nur: »Geht’s dir gut?« Und dann hat Rachel angefangen, auf sich selbst zu zeigen, dabei hat ihr Arm so heftig gezittert, dass ihr Marshmallow ins Feuer gefallen ist. Wir dachten alle, sie albert nur rum, aber dann hat sie aufgehört und jede von uns angesehen, dass ihr Gesicht durch die Flammen ganz unheimlich war. »Du bist Emily!«, sagte sie zu mir. »Du bist Veronica. Du bist Elizabeth. Ich bin Rachel.«

»Wir haben’s kapiert«, lachte Veronica.

»Nein, habt ihr nicht«, sagte Rachel. »Die Anfangsbuchstaben unserer Namen … E-V-E-R! Wie in forever. Vier Freundinnen für immer! Kapiert? FOUR-ever!«

Wir alle sahen einander an, und dann haben wir es auch kapiert.

Jedenfalls, genau als Rachel das sagte, fing auf dem Transistorradio von einem der älteren Mädchen Girls Just Want to Have Fun an zu spielen, und wir haben alle gleichzeitig geschrien, sind aufgesprungen und haben angefangen zu tanzen, genau wie Cyndi Lauper, ohne uns darum zu kümmern, was irgendjemand sonst denkt. Und gleich danach kam That’s What Friends Are For, und wir haben angefangen, uns zusammen im Takt zu wiegen und zu singen. Jetzt nennen wir Camp Birchwood das ›Girls-Just-Wanna-Have-Fun-Camp‹, und alle Jugendleiter nennen uns die ›Clover-Girls‹, weil wir alle vier Grün lieben und grüne T-Shirts tragen. Aber besonders weil wir wie der vierblättrige Glücksklee sind, den ich am ersten Tag gefunden habe. Wir bringen einander Glück.

 

THE CLOVER GIRLS! FREUNDINNEN4-EVER!

 

Ich will versuchen, euch die Clover Girls zu beschreiben.

Veronica wird ›V‹ genannt, und sie ist wunderschön. Sie sieht genauso aus wie eine High-School-Prinzessin, sie ist so selbstbewusst und witzig. Sogar die älteren Mädchen sind neidisch auf sie, und die Jungs in Taneycomo haben ihr schon Briefe geschickt, die sie auf kleinen Flößen über den See hertreiben lassen. Sie ist so was wie die Anführerin der Clover Girls, ohne sich auch nur dafür anstrengen zu müssen. Ich glaube, wenn sie nicht meine Freundin wäre, könnte ich sie nicht ausstehen.

Liz sieht aus, als käme sie direkt aus einem Madonna-Video auf MTV. Ihre Haare brauchen eine eigene Schlafkoje, sie bindet sich Spitzenbänder und Tücher hinein und macht lauter T-Shirts mit wilden Schriftzügen in unseren Bastelstunden. Sie hat uns allen ›Clover Girls‹-T-Shirts gemacht, aber die lassen sie uns nicht anziehen, weil wir zuallererst Camp Birchwood sind, dann Haus Pinewood und zuletzt erst Clover Girls. Sie hat die obercoolste Add-a-bead-Halskette – mit ungefähr einer Million Perlen dran –, die sie zusammen mit all ihren Freundschaftsnadeln und Freundschaftsbändchen trägt. Sie sagt, sie hat Forenza-Pullis in jeder Farbe, und sie trägt sie verkehrt rum mit dem V-Ausschnitt nach hinten – ist das zu fassen? Verkehrt rum! Auf die Idee wäre ich nie gekommen!

Rachel ist unser Filmstar. Sie sieht aus wie die Zwillingsschwester dieser Schauspielerin aus Footloose. Sie kann singen und tanzen, und sie hat den letzten Talentwettbewerb gewonnen! Als Campfrischling! Wir haben sie gestylt wie einen Zombie, und sie hat Thriller gesungen. Sie kannte sogar jede Tanzbewegung. Rachel will nach New York oder LA ziehen und ein Star werden. Wir alle wissen, dass sie es schaffen wird!

Ich schätze, ich bin so was wie die Mutter der Gruppe, genau wie du, Mom. Ich sorge mich um jede und will einfach nur, dass alle glücklich sind. Außerdem fühle ich mich wie der Klebstoff, der die Gruppe zusammenhält, genau wie du, Dad. Wir haben bereits einen Pakt geschlossen: Eines Tages in der Zukunft, wenn wir total alt sind (so wie ihr, ha ha!), werden wir Camp Birchwood kaufen und uns gemeinsam hier zur Ruhe setzen. Jungs sind nicht erlaubt (wir dürfen mit ihnen reden, aber sie müssen drüben auf der anderen Seite des Sees bleiben). Das wäre PERFEKT! Das Camp wird für immer unser Zuhause sein, wo wir uns umeinander kümmern, gegenseitig das Beste aus uns rausholen, uns zum Lachen bringen und uns sicher fühlen. Vor allem werden wir einander besser kennen als irgendjemand sonst, und wir werden immer füreinander da sein, egal, was passiert. Alle lachen uns aus, aber das ist mir egal. Wir sind Freundinnen 4-EVER, und eines Tages werden die Clover Girls alle zusammen sein. Ihr werdet schon sehen!

Jeden Abend, bevor wir ins Bett gehen, läutet die Glocke, und das ganze Camp singt Land of the Silver Birch. Das ist so unheimlich und schön zugleich, und bei der Art und Weise, wie die Stimmen aller über den See hallen, bekomme ich Gänsehaut, fühle mich aber auch geborgen.

 

Blue lake and rocky shore,

I will return once more,

Boom, didi, boom, boom,

Boom, didi, boom, boom,

Boom, didi, boom, boom … Booooom.

 

Und dann sagen die Clover-Girls alle gute Nacht zueinander, genau wie bei den Waltons. Und jedes Mal, wenn wir das tun, direkt bevor ich die Augen zumache und einschlafe, verstehe ich, warum ihr wolltet, dass ich ins Ferienlager gehe. Damit ich mich nicht so allein fühle. Und ich werde nie mehr allein sein, solange ich Freunde habe. Deswegen habt ihr mich hierhergeschickt, nicht wahr? Um Freunde zu finden.

Ich habe noch niemandem von Todd erzählt. Ich meine, wie erzählt man jemandem, den man gerade erst kennengelernt hat, dass der eigene Bruder gestorben ist? Aber das werde ich noch tun. Ich weiß, sie werden es verstehen. Es ist komisch, aber es fühlt sich so an, als ob er hier bei mir ist. Wenn ich die Jungs von Taneycomo höre, höre ich Todds Stimme. Er wird immer ein kleines Kind bleiben, während der Rest von uns alt wird.

Ich erlaube mir jetzt nur noch zu weinen, wenn ich mit dem Schwimmreifen auf dem See treibe und weit weg von allen anderen bin. Dann heule ich, sogar noch heftiger als an dem Tag, an dem ihr vom Camp fortgefahren seid und mich allein zurückgelassen habt. Aber das weiß niemand. Nur der See und die Fische und die Falken.

Und Todd.

Aber jetzt habe ich Freundinnen. Und sie sorgen dafür, dass ich jeden Tag etwas weniger weine.

Ich liebe euch, Mom und Dad. Und ich liebe das Camp! Wir sehen uns im August!

 

Em

Sommer 2021

VERONICA

Einkaufsliste

Milch (Hafermilch, Kokosmilch, Sojamilch)

Mineralwasser (Kirsch-, Limetten-, Wassermelone-, Waldfrucht-Aroma)

Chips (Linsen, Quinoa, Grünkohl, Rote Bete)

Müsli (Vollkornflocken, Hafergrütze, NICHT genetisch verändert! SEHR WICHTIG!)

Was ist nur aus einer Sorte Milch von einer Kuh, einer Sorte Wasser aus dem Hahn und einer Sorte Chips aus Kartoffeln geworden?

Meine beiden Teenager Ashley und Tyler sitzen einander gegenüber an den Enden des riesigen modernen halbkreisförmigen Sofas, ein original Milo Baughman, das David und ich für unser neues Mid-Century-Haus in Los Angeles bestellt haben. Sie jonglieren Getränke, während sie auf ihren Handys herumfummeln, und ich muss mich mit jeder Faser meiner Seele zusammenreißen, um nicht auszuflippen. Das ist das teuerste Möbelstück, das ich mir jemals gekauft habe. Es war sogar noch teurer als die Studiengebühren für meine ersten zwei Jahre am College und mein erstes Auto, ein roter Plymouth Reliant K, der an roten Ampeln ständig absoff.

Ich weiß immer noch nicht, wofür das K eigentlich stand, denke ich. Kackauto?

Das war vor lang vergangener Zeit, als ich diese Art von negativen Gedanken nie gehabt hätte, als das K nur für Kool oder Kolossal gestanden hätte. Aber das war eine andere Welt, eine andere Zeit, ein anderes Leben und ein anderer Ort.

Ein anderes Ich.

Eine andere V.

Ich legte meinen Stift auf dem Schreibblock ab, den das Logo des Architekturbüros meines Mannes ziert: David Berzini & Associates.

Los Angeles ist der jüngste Stopp für uns. Nachdem Davids Karriere als Architekt durchstartete, ist meine Familie mehr in der Welt herumgekommen als eine Diplomatenfamilie. Er ist jetzt einer der besten Architekten der Welt. David hat mit einigen der berühmtesten Mid-Century-Modern-Architekten gearbeitet – Albert Frey, William Krisel, Donald Wexler – und hat nun ihr Amt übernommen, besonders da die Beliebtheit von Mid-Century-Modern-Architektur gestiegen ist. Jetzt arbeitet er an einer atemberaubenden neuen Bibliothek in LA, die sein Vermächtnis werden wird.

Ich blicke von meinem Block auf. Eine Auswahl an Hochglanzmagazinen – Architectural Digest, Vogue, Harper’s Bazaar – liegt kunstvoll auf einem Beistelltisch verstreut. Die schönen Models starren mich an.

Das war mein Vermächtnis.

»Mom, kann ich was zu essen haben?«

Das ist mein heutiges Vermächtnis.

Ich sehe meine Kinder an. Alles, was früher mal in Mode war, ist wieder angesagt. Ashley trägt dieselbe Art von High-waist-Jeans, die ich früher in den 80ern privat und auf dem Laufsteg getragen habe, und Tylers Haare – seitlich vom Friseur hochrasiert und zu einer hohen schwarzen Tolle zurückgegelt – sehen aus wie ein Style, den ich für ein Video von Robert Palmer trug.

Ja, alles hat ein Comeback.

Bis auf mich.

Ich sehe auf meine Liste.

Und Kohlenhydrate.

Meine Kinder haben genau wie mein Mann nie ein Pop-Tart, eine Schachtel Cap’n Crunch, eine Jeno’s Pizza Roll oder ein Ding Dong gesehen. Meine ganze Familie gleicht langgliedrigen Rennpferden, bereit loszupreschen. Ich bin aufgewachsen, als die Basis einer Nahrungspyramide ein mit Vanillecreme gefülltes Twinkie war.

Wieder setze ich den Stift aufs Papier und schreibe in meinem eigenen Geheimcode den Buchstaben L über den ersten Buchstaben des Namens meines Mannes. Falls jemand zufällig einen Blick auf das Blatt Papier werfen sollte, würde er denken, ich hätte einfach nur herumgekritzelt. Aber ich weiß, was ›LD‹ bedeutet, und es wird mich erinnern, sobald ich zum Laden komme.

Little Debbies.

Ehrlich gesagt bunkere ich diese süßen kleinen Köstlichkeiten überall in unserem neuen Heim, was nicht leicht ist, da das ganze Haus so schlank und minimalistisch ist und gute Verstecke Mangelware sind. Es hat viel Mühe gekostet, aber ich war auch mal so schlank und minimalistisch wie dieses Haus, so kantig und faszinierend wie seine Architektur. In unserem Haus mit Schmetterlingsdach in den Bird Streets hoch über dem Sunset Strip – wo die Straßen nach Goldamseln und Nachtigallen benannt sind und Hollywoodstars wohnen – ist alles Deplatzierte verdächtig.

Sogar jetzt, an einem weiteren perfekten Tag in L.A., an dem der Sonnenschein alles auf träge Weise schön und in Glitzer getaucht wirken lässt, kann ich eine Staubschicht auf den Terrazzoböden sehen. Obwohl zweimal in der Woche eine Putzfrau kommt, ist alles überzogen von Staub, Smog und Asche der ständigen Feuer in L.A. – herbeigetragen von den heißen, trockenen Santa-Ana-Winden. Und David bemerkt alles.

Swiffertücher, schreibe ich auf den Block, bevor ich das ›LD‹ mit dem Stift unterstreiche.

David hasst es, dass ich zugenommen habe. Es ist ihm peinlich.

Oder bilde ich mir das nur ein? Bin ich die Einzige, der es peinlich ist, wer ich geworden bin?

David sagt nie etwas zu mir, aber er geht immer öfter allein zu Galas und sagt, ich müsse auf die Kinder aufpassen (obwohl sie gar keinen Babysitter mehr brauchen) und dass es besser für ihre Stabilität sei, wenn ein Elternteil bei ihnen ist. Aber ich kenne die Wahrheit.

Was erwartet er, das mit meinem Körper nach zwei Kindern und endlosen Umzügen passieren würde? Was erwartet er, das passieren würde, nachdem ich meine Karriere, meine Identität und mein Selbstwertgefühl verloren habe? Es ist so ironisch, weil ich nicht wütend auf ihn oder mein Leben bin. Ich bin einfach nur …

»Warum gibst du das alles nicht einfach in die Notizen-App auf deinem Handy ein?«

»Oder bittest den Kühlschrank, er soll dich dran erinnern?«

»Ja, Mom«, sagen meine Kinder gleichzeitig.

Ich blicke zu ihnen hinüber. Sie haben meine Schönheit und Davids Energie geerbt. Ash und Ty sehen gerade lang genug von ihren Handys hoch, um die Augen über mich zu verdrehen, wie Teenager es tun – wie Teenager es schon immer getan haben –, auf diese Weise, die sagt: Kein Mensch auf der Welt kann so peinlich und uncool sein wie du, Mom. Und darauf folgt stets »der Seufzer«.

»Ich mache es gern so«, antworte ich.

»NIEMAND schreibt mehr irgendwas mit der Hand«, sagt Ashley.

»NIEMAND, Mom!«, echot Tyler.

»Handschrift ist total out, Mom«, fügt Ashley hinzu. »Geh mit der Zeit.«

Ich starre meine Kinder an. Sie sind oft die liebsten Kinder der Welt, aber ab und zu kommen ihre bösen Zwillinge durch, die mit den spitzen Zungen und ätzenden Worten.

Haben sie das von mir? Oder von ihrem Vater? Oder sind sie einfach so, wie Kinder heutzutage sind?

Die Sonne wandert langsam herum, und die Lichtreflexe vom Wasser des Pools tanzen an den weißen Wänden, wodurch es aussieht, als lebten wir in einem Aquarium. Ich blicke den langen Flur entlang, wo sich der Pool spiegelt, den einzigen Ort, an dem David mir erlaubt hat, meinen ›Krimskrams‹ zu haben: einen Korridor mit alten Fotos, einen Raum mit Erinnerungsstücken.

Mein Leben blitzt vor mir auf: unsere Familie vor dem Weihnachtsbaum des Rockefeller Centers in New York, beim Naschen bunter Macarons in einem Café in Paris, Sonnenbaden am Strand von Barcelona und beim Angeln mit meinen Eltern in ihrem Sommercottage am Lake Michigan. Und dann, als ultimativer Kontrast, hängt da ein altes Foto von mir, meinem Teenager-Ich, in einem Bikini am Lake Birchwood, direkt neben einem alten Sports-Illustrated-Cover von mir. Darauf posiere ich an dem Meer, an dem ich David kennengelernt habe. Ich ducke mich auf den Strand wie ein zum Sprung bereiter Tiger. Diese Pose war mein Markenzeichen, die Pose, die ich erfunden hatte und die alle anderen Models nachahmten, die Tigerpose.

Ich war damals eines dieser Mädchen mit nur einem einzigen Namen: Madonna, Iman, Cher, V. Alles, was ich brauchte, war sogar nur ein einziger Buchstabe, um mich zu identifizieren. Jetzt ist V verschwunden. Ich habe einen richtigen Namen.

»Mom!«

»Mittagessen. Bitte!«

Meine Augen wandern zurück zu unserem Pool. Heute würde ich mich schämen, einen Bikini zu tragen. Ich bin nicht das, was die meisten Leute für übergewichtig halten würden. Aber ich habe ein Bäuchlein, meine Oberschenkel sind schwabbelig und mein Kinn bekommt allmählich einen besten Freund. Es war dieses Foto in allen Klatschmagazinen vor etwa einem Jahr, das mich fertiggemacht hat. Paparazzi hatten mich erwischt, wie ich eine Eistüte verdrückte, während ich meinen Wagen auftankte. An dem Tag hatte ich die Kinder bei dreiundvierzig Grad herumkutschiert und trug einen wallenden Kaftan. Ich sah massiger aus als mein SUV. Und die Schlagzeilen:

V wie voluminös!

V wurde verschluckt von dieser Frau!

Wenn man mich in echt sähe, würde man wahrscheinlich sagen, ich bin narzisstisch oder gehe viel zu streng mit mir ins Gericht, aber es ist genauso schwer, in L.A. fünfzehn Pfund zu verstecken wie ein geblümtes Zierkissen in diesem Haus. Ich verwende Botox, Filler und Faltenunterspritzung und mache alles, was ich kann, um mein Aussehen zu erhalten. Aber ich habe schreckliche Angst davor, hier ins Fitnessstudio zu gehen. Ich schäme mich, in einer Stadt, in der eine Größe achtunddreißig schon als adipös gilt, nach einem Kleid zu suchen. Die Klatschblätter warten nur auf die kleinste Bewegung von mir.

Meine Augen wandern zurück zu den Fotos.

Ich habe keine Identität mehr.

Ich habe keine Freunde mehr.

»Erde an Mom? Kannst du mir was zu essen machen?« Tyler sieht mich an. »Danach gehe ich zu Justin.«

»Und mich musst du um vier zu Lily fahren, schon vergessen?«

Ich erschaudere. Eine Fahrt von drei Kilometern dauert in L.A. zwei Stunden.

»Mom?«

Ashley sieht mich an.

Es gibt eine Art und Weise, wie deine Kinder und dein Mann dich ansehen oder, besser gesagt, ab einem bestimmten Punkt in deinem Leben nicht mehr ansehen –, ganz zu schweigen von Kindern auf der Straße, jungen Frauen beim Einkaufen, Männern in Restaurants, Davids Kollegen, glücklichen Familien im Supermarkt.

Sie sehen durch dich hindurch. Als wärst du ein Fenster.

Es ist, als wären Frauen über vierzig nie jung gewesen, nie klug, modisch, cool … Als wären wir nie wie sie gewesen, hätten nie Hoffnungen, Träume und noch meilenweise Leben vor uns gehabt.

Was stimmt nicht mit der heutigen Gesellschaft Amerikas?

Warum werden wir Frauen, wenn wir ein ›gewisses Alter‹ erreichen, zu Geistern? Nein. Das ist keine zutreffende Analogie: Das würde implizieren, dass wir tatsächlich eine Stimmung erzeugen, eine Angst, irgendein Gefühl. Dass wir eine Persönlichkeit haben. Ich konnte einst eine Tüte mit Kartoffelchips hochhalten, einen davon essen, mir die Finger ablecken und damit eine Million Tüten Junkfood für diese Firma verkaufen. Jetzt bin ich nicht mal mehr erinnernswert genug, um ein Geist zu sein. Das Model ist zu einer Requisite geworden. Einem Möbelstück. Nicht wie das stylische Möbel, auf dem sich meine Kinder ausstrecken, sondern von der zuverlässigen, strapazierfähigen, allgegenwärtigen Möbelhaussorte, ohne jede Tiefe oder Substanz, ohne Gefühl, Attraktivität oder Sexualität. Ich bin einfach nur da. Wie die Luft. Nötig zum Überleben, aber etwas, das man weder sieht noch bemerkt.

Früher wurde ich bemerkt. Früher wurde ich gesehen. Begehrt. Bewundert. Gewollt.

Ich war die Anführerin meiner Freundinnen, diejenige, die sagte, wo es langging. Jetzt bin ich Hotel, Chauffeurin und Lieferando-Botin für zu Hause, und ich konsumiere Produkte, die ich früher verkauft hätte, anstatt sie zu benutzen.

Ich atme tief durch und notiere ein paar weitere Dinge auf meiner antiquierten handgeschriebenen Einkaufsliste, dann stehe ich auf, um meinen Kindern Mittagessen zu machen.

Sie sind heranwachsende Gesundheitsfreaks und schon jetzt besessen von jedem Bissen, den sie zu sich nehmen. Sind genetisch veränderte Zutaten enthalten? Wie ist das Eiweiß-Kohlenhydrate-Verhältnis?

Habe ich ihnen das angetan? Ich glaube nicht.

Sogar als Model habe ich Pizza gegessen, aber das war damals, als Kurven noch sexy waren und ein Bikini ausgefüllt sein musste. Ich nehme ein paar Spicy Tuna Rolls heraus, die ich bei Gelson’s geholt habe, und arrangiere sie auf einer Platte. Ich wasche und schneide ein paar Erdbeeren klein und gebe sie in eine Schale. Dann sehe ich meinen Kindern zu, wie sie ihre Teller füllen.

Ashley ist Cheerleaderin und Möchtegern-Schauspielerin, Tyler ist ein skatebordender, kreativer Technikfreak, der sich an der UCLA – der University of California – beworben hat, um Film und Regie zu studieren. Ashley will auf die Northwestern gehen, um als Hauptfach Theaterwissenschaft zu studieren. Sie werden beide später in diesem Sommer spezielle Feriencamps besuchen, Ashley für Cheerleading und Schauspiel, Tyler für Filmemachen und zur optimalen Vorbereitung auf seine Aufnahmeprüfung. Mein Blick wandert zurück zu meiner Fotowand, und ich muss lächeln. Sie werden allerdings nicht ihre Tage damit verbringen, einfach Spaß zu haben, Lagerfeuerlieder zu singen, sich im Krieg der Farben zu messen, Bogenschießen zu üben, in einem kalten See zu planschen, Marshmallows zu rösten und Freunde zu finden. Das Leben eines Kindes heutzutage, besonders hier in L.A., ist ein Wettkampf, und dieser Wettkampf beginnt früh.

Draußen raschelt etwas, und Ashley wirft ihren Teller aufs Sofa und rennt zur Tür. In L.A. sind sogar die Postboten heiß, und unserer sieht aus wie Zac Efron. Wenige Sekunden später kommt Ash wieder zurück, wobei sie sich dramatisch mit der Post Kühlung zufächelt.

»Du wirst mal eine großartige Schauspielerin«, sage ich lachend. Ashley will die Post einfach auf die Küchenzeile werfen, doch ich hindere sie daran. »Leg die Post für deinen Dad in den Organizer.«

Ja, sogar die Post hat in unserem Heim ein eigenes Zuhause.

»Hey, du hast einen Brief bekommen«, sagt sie.

»Wer schreibt denn heutzutage noch Briefe?«, fragt Tyler.

»Alte Leute«, antwortet Ashley. Die beiden lachen.

Ich setze mich an unseren original Tulip-Esstisch von Saarinen und mustere den Brief. Er hat keinen Absender. Vorsichtig betaste ich den Umschlag. Er ist dick. Ich öffne ihn und fange an, einen von Hand geschriebenen Brief zu lesen.

Liebe V,

 

Wie geht es dir? Es tut mir leid, dass es eine Weile her ist, seit wir miteinander gesprochen haben. Du warst beschäftigt, ich war beschäftigt. Weißt du noch, als wir nur ein Stockbett voneinander entfernt waren? Wir konnten unsere Köpfe über den Rand lehnen und uns unsere dunkelsten Geheimnisse anvertrauen. Das waren noch Zeiten, nicht wahr? Als wir unschuldig waren. Als wir uns so nahestanden wie der Klee, der auf der Wiese wuchs, die sich zum See hinunterzog.

Wie lange ist es her, dass du mit Rach und Liz gesprochen hast? Über dreißig Jahre? Ich schätze, dieses vierblättrige Kleeblatt, das ich damals gefunden habe, hat doch nicht so viel Glück gebracht, oder? Oh, du und Rach habt so viel Erfolg gehabt, aber bist du glücklich, V? Tief in dir drin? Unsagbar glücklich? In meinem Herzen glaube ich nicht, dass du das bist. Ich glaube auch nicht, dass Rach und Liz es sind. Woher ich das weiß? Intuition einer Freundin.

Früher habe ich mich dafür gehasst, allen erzählt zu haben, was in unserem letzten gemeinsamen Sommer passiert ist. Danach war es, als würden Dominosteine umfallen, ein Geheimnis nach dem anderen wurde enthüllt, die Fassade unserer Freundschaft zerrissen, wie wenn man das vierte Blatt von diesem Kleeblatt abreißt, das ich immer noch gepresst in meinem Poesiealbum habe. Aber ich hasse Geheimnisse. Sie reißen uns nur auseinander. Hindern uns daran, die zu werden, die wir werden müssen. Die Dunkelheit hindert Dinge am Wachsen. Das Licht ist es, das den Klee hervorbringt.

Unser ganzes Glück flog zur Hüttentür hinaus und dann – Blatt für Blatt – auch unser Vertrauen ineinander, gefolgt von jeder Hoffnung, die wir vielleicht noch in unsere Freundschaft gesetzt haben mochten, und schließlich wurde jede Liebe, die noch geblieben war, durch Hass ersetzt, dann durch einen dumpfen Schmerz und dann durch überhaupt nichts mehr. Das ist das Schlimmste, nicht wahr, V? Überhaupt nichts zu fühlen.

Ein großer Teil meines Lebens war erfüllt von Reue, und das ist einfach eine schreckliche Art zu leben. Ich will versuchen, das wiedergutzumachen, bevor es zu spät ist. Ich will versuchen, die Freundin zu sein, die ich hätte sein sollen. Ich war einmal der Klebstoff, der uns alle zusammenhielt. Dann war ich die Schere, die uns alle auseinandergerissen hat. Sollten Freunde nicht füreinander da sein, egal, was passiert? Du warst nicht einfach nur schön, V, du warst selbstbewusst, so witzig und voller Leben. Vor allem hast du Licht ausgestrahlt, wie der See bei Sonnenuntergang. So werde ich dich immer in Erinnerung behalten.

Ich habe ähnliche Briefe an Rach und Liz geschickt. Mit Liz bin ich in Kontakt geblieben … und Rach … nun, du kennst ja Rach. Aus irgendeinem Grund habt ihr alle mir vergeben, jedoch euch gegenseitig nicht. Ich schätze, weil ich nur eine unbeteiligte Zuschauerin bei all den Kränkungen war. Die einzige Hoffnung, die mir bleibt, ist, dass ihr einander irgendwann ebenfalls vergeben werdet, denn ihr habt mein Leben verändert, und ihr habt auch gegenseitig euer Leben verändert. Und ich weiß, dass ihr alle einander nun mehr denn je brauchen werdet. Wir haben einander aus einem Grund gefunden. Wir müssen einander erneut finden.

Lass mich direkt zum Wesentlichen kommen, liebe V. Stell dir einfach vor, ich lehne meinen Kopf über den Rand des Stockbetts und verrate dir mein tiefstes Geheimnis.

Wenn du diesen Brief erhältst, werde ich tot sein …

Meine Hand beginnt zu zittern, was den noch verbliebenen Inhalt des Umschlags herausfallen lässt. Ein gepresstes vierblättriges Kleeblatt und ein paar alte Polaroidfotos verstreuen sich auf dem Tisch. Ohne Vorwarnung stöhne ich auf.

»Alles okay, Mom?«, fragt Tyler, ohne sich zu mir umzusehen.

»Von wem ist der?«, fragt Ashley, immer noch auf ihr Handy starrend.

»Einer Freundin«, gelingt es mir zu murmeln.

»Cool«, sagt Ashley. »Du brauchst Freundinnen. Du hast gar keine, bis auf dieses eine Mädchen aus dem Ferienlager.« Sie verstummt kurz. »Emily, richtig?«

Die Fotos auf der Marmortischplatte sind von uns vier im Camp, lachend, singend, uns an den Händen haltend. Wir sind so … so jung, und ich frage mich, was mit den Mädchen passiert ist, die wir einmal waren. Ich starre auf ein Foto von Em und mir zusammen unter einer Decke in derselben Koje. In diesem Moment bemerke ich, dass das Foto auf etwas liegt. Ich schiebe das Bild zur Seite und lächle. Eine Freundschaftsnadel mit E-V-E-R in einem Meer aus grünen Perlen leuchtet mir entgegen.

Ich schaue hoch, und Wasser spiegelt sich durch die Oberlichtfenster unseres Hauses … und plötzlich ist jede dieser Öffnungen wie ein Poesiealbum meines Lebens, das ich – im Camp und danach – in hellen Lichtblitzen vor mir aufleuchten sehe.

Warum habe ich meine Freundinnen verraten?

Warum habe ich meine Identität so leicht aufgegeben?

Warum bin ich reicher, als ich mir je erträumt habe, und fühle mich trotzdem so leer und verloren?

Oh, Em.

Ich blinzle, und da wird mir bewusst, dass es nicht der sich in den Fenstern spiegelnde Pool ist, der meine Augen verschwimmen lässt, es sind meine Tränen. Ich weine. Und ich kann nicht damit aufhören.

Unvermittelt stehe ich auf, reiße die Terrassentüren auf und springe in den Pool, um schreiend auf den Grund zu sinken. Meine Kinder brüllen.

»Mom! Bist du okay?«

Als ich zu ihnen hochsehe und ihnen zuwinke, entspannt sich ihre Haltung.

»Es geht mir gut«, lüge ich, als ich wieder an die Oberfläche komme. »Tut mir leid. Ich wollte euch nicht erschrecken.«

Sie schauen einander an und zucken mit den Schultern, bevor sie wieder reingehen.

Wenigstens sehen sie mich endlich, denke ich.

Ich atme tief ein und tauche noch einmal unter. Unter Wasser kann ich mein Herz laut in meinen Ohren pochen hören. Es trommelt in einem so perfekten Rhythmus, dass ich die Melodie, die meine Seele spielt, sofort erkenne. Ich kann sie hören, als wäre es erst gestern gewesen.

Boom, didi, boom, boom … Booooom.

Sommer 2021

RACHEL

ARGUMENTATIONSHILFEN

KONGRESSKANDIDAT RALPH RUDDY

WAHLBEZIRK47/MICHIGAN

Moderatoren NICHT angreifen, wenn sie verärgert sind.

Immer ›als Frau‹ sagen, um dich menschlicher zu machen.

Wir müssen als den Männern gleichberechtigt gesehen werden! Wir brauchen keine ›Handreichungen‹, wir brauchen ›Händeklatschen‹!

Frauen KÖNNEN und TUN alles!

Kleine Unternehmen können sich bezahlten Mutterschaftsurlaub NICHT leisten; aber wie sollen wir eine Familie großziehen, wenn wir keinen Job haben?

»Wie sind meine Haare?«

»Perfekt.«

»Make-up?«

»Auch.«

»Zähne?«

»Sauber.«

»Danke, Lisa.«

Ich überprüfe meine Notizen, stehe auf, um meinen Blazer zurechtzuziehen, und setze mich dann auf den hinteren Saum, damit er vor der Kamera straff und meine Kleidung faltenlos wirkt.

Wie ich.

»Bist du so weit, Rachel?«

Ich sehe in die Kamera.

»Moment mal! Moment!«, sage ich. »Wir hatten ausdrücklich festgelegt, dass ich vor dem türkisfarbenen Hintergrund mit Ralphs Logo sitze.«

Dana, die Regisseurin, sieht mich an, überprüft ihre Notizen und nickt. Sie redet mit der Produktion, und ein paar Sekunden später bin ich von der Farbe umgeben, von der Umfragen bewiesen haben, dass sie nicht nur auf Frauen am ansprechendsten wirkt, sondern auch meine Augen und mein Outfit perfekt unterstreicht.

»Danke, Dana«, sage ich.

Sie nickt mir flüchtig zu.

»Erinnerst du dich noch an Sorority Sisters?«, frage ich.

Ein kaum merkliches Lächeln huscht über ihre Lippen.

»Das waren noch lustige Zeiten, was?«

Sie antwortet nicht.

Dana kann mich nicht leiden. In unseren frühen Zwanzigern war ich für eine Comedyserie über eine Gruppe sehr unterschiedlicher Collegestudentinnen gecastet worden, die derselben Verbindung beitraten und Freundinnen wurden. Ich weiß immer noch nicht, ob man mich wegen meines Vorsprechens nahm oder weil das Life-Magazin eine Titelstory über das Feriencamp, in dem ich war, gebracht hatte, und man diese Hintergrundgeschichte – und all die Polaroidfotos – als Publicity nutzte.

Es war ganz sicher nicht wegen der, die keinen Namen hat, denke ich. Mein Verstand wandert zu den jüngsten Fotos von ihr in der Klatschpresse, und ein Teil von mir empfindet ein krankes Gefühl von Genugtuung, einem anderen Teil von mir tut sie leid.

Sogar nach allem, was sie getan hat.

Sorority Sisters war anfangs eine solche Low-Budget-Produktion, dass die Zuschauer sehen konnten, wie die Kulissen wackelten, wenn wir eine Tür zuschlugen. Ich war einfach nur begeistert, gleich nach dem College einen richtigen Schauspieljob ergattert zu haben. Und dann startete die Serie durch. Wie wir bis Anfang dreißig auf dem College und in derselben Studentinnenverbindung bleiben konnten, war nebensächlich, weil wir eine kultartige Fangemeinde hatten. Die Serie lief fast ein Jahrzehnt lang, bevor zwei von uns ein Spin-off bekamen.

In A New York Minute folgte unserem Leben als heftig feiernde junge Karrierefrauen in New York City. Es wurde nach einer einzigen Staffel abgesetzt. Dana war Produktionsassistentin bei Sorority Sisters gewesen und hatte sich schließlich zur Regisseurin der Show hochgearbeitet. Wir alle hatten viel Geld verdient, aber die Serie machte uns für Hollywood zu Witzfiguren. Meine Karriere war vorbei, und das – Vorsicht, Wortspiel! – innerhalb einer New Yorker Minute. Dana wechselte ins Nachrichtenfach, und ich ging in die Politik. Mein gutes Aussehen und die Rolle des Mädchens von nebenan machten mich zu einer großartigen Sprecherin für konservative männliche Politiker, die Schwierigkeiten hatten, unabhängige Wählerinnen aus den Vororten für sich zu gewinnen.

Dana arbeitete hart, mit Ehrgeiz und Leidenschaft. Früher hatten wir abends oft noch lange zusammengesessen und darüber geredet, wie wir das Fernsehen verändern würden, indem wir Themen für und über Frauen schaffen und fördern würden.

Ein jäher Schmerz durchzuckt meinen Kopf, und ich trinke einen Schluck Wasser.

Dana kann mich jetzt vielleicht nicht mehr leiden, aber sie weiß, dass ich verdammt gutes Fernsehen mache.

»Hollywood muss man einfach lieben.« Ich grinse.

»Das hier sind Nachrichten«, erwidert Dana.

»Rede dir das ruhig weiter ein.« Ich zwinkere ihr zu, dabei flattern meine falschen Wimpern wie Schmetterlinge.

Ein Werbespot mit fröhlichen Luftballons für ein neues Herzmedikament wird eingeblendet, und ich atme tief durch, um mich zu beruhigen und ein letztes Mal meine Notizen zu überprüfen. Der Moderator Chip Collins nimmt Platz und nickt mir zu, während ihm ein Trio Visagisten das Gesicht pudert, die Haare einsprüht und seine Krawatte zurechtrückt. Chips Haare sind ein Kunstwerk, ein Wasserfall wogender pechschwarzer Wellen. Chip war einmal Amerikas bester Investigativjournalist. Jetzt moderiert er ein Schlammcatchen, das so tut, als wäre es eine Talkshow.

Wenn ich einen Hang zum Wetten hätte, würde ich schätzen, dass ich schon über hundertmal bei Red, White & You zu Gast war, Chips nationaler Frühstücksfernsehsendung, in der über Politik diskutiert wird. Aber ich bin keine Glücksspielerin. Beim Wetten kann man seine Chancen nicht ändern. Sie sind, wie sie sind. Nein, ich bin eine Magierin. Die Leute können mir zusehen und wirklich glauben, sie wüssten, wie mein Auftritt funktioniert, aber dann – voilà – täusche ich sie. Ich mache ihnen etwas vor. Ich ändere die Chancen.

»Okay, Leute«, sagt Dana, um die Aufmerksamkeit der Crew zu bekommen, als die Werbepause vorbei ist. »Drei, zwei …« Ihr Finger signalisiert eins, und dann zeigt sie auf den Moderator.

»Willkommen zurück!«, sagt Chip Collins. »Ich hoffe, Sie hatten noch nicht zu viel Kaffee, denn unsere nächsten Gäste werden Ihren Puls sicher in die Höhe treiben. Zugeschaltet aus Washington, D.C., ist uns Tanya Nebling, Anwältin und Professorin mit Schwerpunkt auf Frauenrechten, und live im Studio haben wir eine unserer regelmäßigen politischen Kommentatoren, Rachel Ives, die gegenwärtig als Sprecherin für Michigans Ralph Ruddy fungiert. Fangen wir damit an, wenn es recht ist. Rachel, Ralph hat sich stark – sehr stark – gegen bezahlten Mutterschaftsurlaub für Frauen ausgesprochen. Warum ist das so?«

»Guten Morgen, Chip! Es ist schön, wieder hier zu sein. Lassen Sie mich gleich mal damit anfangen, dass Sie wirklich wie immer dieselben alten Fake News verbreiten. Ralph Ruddy ist alles andere als frauenfeindlich …«

»Moment mal, wenn ich Sie kurz unterbrechen darf, Rachel«, sagt Chip, dabei sprühen seine blauen Augen Funken. »Können wir die Aussage einblenden, die Ihr Kandidat erst gestern über bezahlten Mutterschaftsurlaub gemacht hat? Da ist sie, Rachel, direkt vor Ihnen. Mr. Ruddy sagte, und ich zitiere: ›Männer zahlen auch so schon genug, wenn Frauen schwanger werden.‹«

»Das war ein Scherz, Chip. Und das wissen Sie. Heutzutage hat niemand mehr Sinn für Humor.«

»Aber Mr. Ruddy hat nicht nur jedes einzelne Mal gegen bezahlten Mutterschaftsurlaub gestimmt, er hat auch bei jeder Gelegenheit gegen Frauenrechte gestimmt, von gleichem Lohn über Arbeitsschutz bis hin zur Gesundheitsvorsorge«.

»Ich als Frau würde keinen Kandidaten unterstützen, der Frauen nicht als gleichberechtigt betrachtet, Chip. Ralph ist der Meinung, dass Frauen keine ›Handreichungen‹ brauchen, wir brauchen Hände, die dem Beifall zollen, was wir alles leisten!«

»Dürfte ich dazu bitte etwas sagen?«

»Nur zu, Tanya.«

»Die Vereinigten Staaten sind die einzige Industrienation ohne gesetzlichen Anspruch auf bezahlten Mutterschaftsurlaub. Vor fünfundzwanzig Jahren hat Präsident Clinton den Family and Medical Leave Act unterzeichnet, demzufolge Arbeitnehmern ein unbezahlter Urlaub von zwölf Wochen für die Pflege eines Neugeborenen genehmigt wird. Betonung auf unbezahlt. Die Vereinigten Staaten sind weiterhin die einzige Industrienation, die Arbeitgebern nicht vorschreibt, jungen Müttern bezahlten Mutterschaftsurlaub zu gewähren.«

Ich atme tief durch und setze zum Sprung an. »Das isst liberales Geschwätz von einer volksfernen bürokratischen Anwältin.« Das letzte Wort ziehe ich mit einem Seufzen in die Länge.

Tanya schüttelt den Kopf und fährt fort. »Das typische Haushaltseinkommen fällt in den USA zum Zeitpunkt der Geburt um zehn Prozent und erholt sich erst viele Monate später, wenn beide Elternteile wieder zur Arbeit gehen. Für alleinerziehende Mütter ist dieser Einbruch sogar noch drastischer: zweiundvierzig Prozent zum Zeitpunkt der Geburt, wobei schon in den Monaten zuvor das Einkommen zurückgeht aufgrund von schwangerschaftsbedingter Reduzierung der Arbeitszeiten.«

»Kleine Unternehmen machen 99,9 Prozent aller US-Unternehmen aus«, sage ich kurz und prägnant. Die Leute haben die Aufmerksamkeitsspanne von Fruchtfliegen. »Kleine Unternehmen beschäftigen nahezu fünfzig Prozent der gesamten Arbeitskräfte des Landes. Wenn diese Unternehmen tun müssten, was Sie verlangen, würde sie das ruinieren. Wäre das besser? Wäre Ihnen lieber, dass Frauen arbeitslos sind, anstatt die Möglichkeit zu haben, sich freizunehmen, um sich um ihre Familie zu kümmern, UND einen Job zu haben?«

»Da vergleichen Sie Äpfel mit Birnen, Rachel«, entgegnet Tanya.

»An apple a day keeps the doctor away«, kontere ich. »Hoffentlich halten uns ein, zwei Birnen die Liberalen vom Leib. Sie müssen gelegentlich mal aus Washington rauskommen, Tanya. Mit ein paar richtigen Amerikanern reden.«

»Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber uns läuft die Zeit davon.« Die Kamera schwenkt auf Chip. »Ich möchte mich bei meinen Gästen bedanken, dass sie heute bei uns waren. Nach einer kurzen Pause sind wir wieder für Sie da.«

»Danke, Tanya«, sagt Dana zum Bildschirm.

Chip steht auf und geht, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Ich will gerade mein Mikro abnehmen, als Tanya sagt: »Wie können Sie nur mit sich selbst leben, Rachel?«

Ich antworte nicht.

»Sie haben keine Kinder, nicht wahr? Sie wissen nicht, wie es ist, sich mit zwei Jobs gleichzeitig durchs College zu arbeiten, die erste in ihrer Familie mit einem Diplom zu sein, rauszugehen und zu glauben, man könnte die Welt verändern, und dann jeden Tag mit Frauen wie Ihnen konfrontiert zu werden, die nichts als Hass versprühen und deren einziges Interesse es ist, noch reicher zu werden.«

»Sie kennen mich doch gar nicht«, entgegne ich.

»Oh, ich kenne Sie sehr wohl.« Tanya sieht mich durch den Monitor direkt an. »Meine Mutter war Krankenschwester in einem Hospiz, und sie hat immer gesagt, fast jeder Mensch, den sie am Ende seines Lebens gepflegt hat, war erfüllt von Reue. Sie, Rachel, werden nicht nur von Reue erfüllt sein. Sie werden davon aufgefressen werden.«

Tanya steht auf, nimmt ihr Mikro ab, und der Bildschirm ist leer.

Ich lege mein Miko ebenfalls weg, stehe auf und lächle Dana gezwungen an.

»Wir hatten früher ein paar tolle Gespräche, nicht wahr?«, sagt Dana.

Zum ersten Mal wird mir bewusst, wie müde sie aussieht. Sie hat dunkle Ringe unter ihren Augen.

»Ja, hatten wir«, antworte ich, erleichtert darüber, dass sie sich an die Jahre erinnert, als wir noch ein Team waren.

»Was ist aus diesem Mädchen geworden?«

Ich fühle mich wie gelähmt.

»Was ist aus all diesen Freundinnen geworden, die du damals hattest? Die, die immer nach dir gesehen und dich auf dem Boden gehalten haben, egal, was in deinem Leben gerade los war?«

Der Atem stockt mir, und mir wird schwindlig.

»Die Presse steht heutzutage unter Belagerung«, fährt sie mit wütender Stimme fort. »Frauen stehen unter Belagerung.« Dana verstummt und sieht mich sehr lange an. »Und du führst den Angriff mit Messern an, getarnt als ›alternative Fakten‹.«

»Danke, dass ich hier sein durfte, Dana«, sage ich. »Ich freue mich schon aufs nächste Mal.«

Dana lächelt traurig. »Die Frage ist, auf welcher Seite wirst du stehen, wenn du wiederkommst, Rachel?«

Ich haste zum Green Room, schnappe mir meine Tasche und eine Flasche Wasser und mache mich auf den Weg zum Wagen, der draußen vor dem Studio auf mich wartet. »Wir sehen uns in Michigan«, verabschiede ich mich von meinem Team, das mir zu späteren Veranstaltungen in dieser Woche folgen wird.

»Zum Flughafen?«, fragt der Fahrer.

Ich nicke, ignoriere mein vibrierendes Handy und lehne den pochenden Kopf an die Rückenlehne. Sobald ich im Flugzeug sitze, bestelle ich ein Glas Wein und nehme eine Schlaftablette. In unruhigen kurzen Schlafphasen träume ich, Tanya zu sein, das Gegenteil von der Frau, die ich bin. Als ich die Augen öffne, starrt mich ein kleines Mädchen von der anderen Seite des Gangs an. Ihre Haare sind zu einem zu straffen Pferdeschwanz gebunden, was ihr das Aussehen eines kleinen Kobolds verleiht.

»Was arbeitest du?«, fragt sie. »Mein Dad ist Schriftsteller.« Sie packt ihren Vater am Arm und zieht daran. »Er ist auf Tour. Die Leute hören sich gern an, was er sich aus den Fingern saugt.«

Ich nicke schläfrig. »Ich bin eine Magierin«, antworte ich. »Die Leute mögen auch, was ich mir aus den Fingern zaubere.«

»Coooool«, sagt sie. »Ich besuche meine Großeltern am Lake Michigan, während mein Dad auf Tour ist. Meine Mom muss arbeiten.«

»Das wird sicher Spaß machen.«

»Warst du schon mal am Lake Michigan?«

Lächelnd nicke ich. »Ich bin in Michigan aufgewachsen. Als ich ein Kind war, habe ich jeden Sommer in einem Camp am See verbracht.«

»Coooool«, sagt sie erneut. »Bei Grandma und Grandpa ist es auch wie im Ferienlager.«

Die Stimme unserer Flugbegleiterin ertönt. »Wir bereiten uns auf den Landeanflug vor.«

Als das Flugzeug landet, winkt das Mädchen zum Abschied, und ich steige in ein weiteres Auto, das mich zu einem weiteren Fernsehinterview und einem weiteren Hotel bringen wird. Mein Handy vibriert unablässig, mein Kopf explodiert fast. Ich werfe zwei Aspirin ein und spüle sie mit Wasser hinunter, aber nichts hilft. Ich versuche, an etwas zu denken, das mich beruhigt. Ich denke an die Spiele, die ich als Kind mit meinen Eltern gespielt habe, wenn wir zum Camp Birchwood fuhren, Spiele wie Autos zählen oder das ABC-Spiel.

Ich sehe eine Werbetafel einer Obstplantage für Selbstpflücker.

Apfel, denke ich. Wie ironisch.

Buick.

Und dann sehe ich eine weitere Werbetafel, die – sogar noch ironischer – CAMP schreit. Sie wirbt für ein Camp im Norden Michigans, genau wie das, das ich als Kind besucht habe. Vier Mädchen springen von einem Steg, die Arme miteinander verschränkt, um gleich platschend in den See zu tauchen. Sie kreischen, lachend, glücklich. »Stürz dich in ein Sommererlebnis, das dein Leben verändern wird!«, steht in riesigen Buchstaben unter dem Bild auf der Tafel.

Während das Auto vorbeisaust, starre ich in die Gesichter der Mädchen und werde jäh in die Vergangenheit zurückversetzt.

D, denke ich. Dad.

Mir wird übel, und ich schließe die Augen.

Mein Handy vibriert und vibriert und vibriert.

»Sie haben da diesen Brief bekommen«, sagt meine Assistentin. »Er hat keinen Absender. Ich habe ihn eingescannt und Ihnen gemailt. Dachte, Sie wollen ihn vielleicht lesen. Ich weiß nicht, ob es ein Schwindel ist oder ein Brief von jemandem, der Sie hasst …«

»Das schließt sich beides nicht aus«, erwidere ich.

Meine Assistentin lacht nicht. »Oh, und vergessen Sie nicht, Sie sind um 20.00 Uhr Eastern Time auf Sendung. Bye.«

Ich lege auf, öffne meine Mails und fange an, den Brief zu überfliegen. Dann lese ich immer schneller, während die Worte verschwimmen und mein Herz zu rasen beginnt.

… Lass mich direkt zum Wesentlichen kommen, meine liebe Rach. Stell dir einfach vor, ich lehne meinen Kopf über den Rand des Stockbetts und verrate dir mein tiefstes Geheimnis.

Wenn du diesen Brief erhältst, werde ich tot sein.

Eine meiner Krankenschwestern hier im Hospiz – eine sechsfache Mutter, die nachts arbeitet, damit sie vor und nach der Schule bei ihren Kindern zu Hause sein kann – hat mir gesagt, ich soll nicht erfüllt von Reue sterben. Sie meinte, die meisten ihrer Patienten, egal, welchen Alters, sind voller Reue, bevor sie sterben. Sie bereuen, dass sie zu viel gearbeitet, nicht genug Zeit mit ihren Familien verbracht, nicht genug von der Welt gesehen, nicht mehr Spaß, nicht mehr Freunde gehabt haben. Ich bereue, was wir alle einander angetan haben. Du, V und Liz wart meine besten Freundinnen und mein ganzes Leben.

Lass mich dir eine Frage stellen: Was geschieht mit Freundschaften, wenn wir älter werden? Was geschieht mit den Menschen, die wir waren, und den Menschen, die zu werden wir uns erträumt haben? Ich schätze, es war albern von mir, mich an all diese Erinnerungen zu klammern, albern zu glauben, dass das die besten Jahre meines Lebens waren. Aber das waren sie, Rach. Das waren sie wirklich. Ich wurde ein anderer Mensch, ein besserer Mensch, durch dich, durch euch alle. Ihr habt mich vollständig gemacht. Ihr habt mir das Gefühl gegeben, geborgen, beschützt, geliebt zu sein. Nachdem ich meinen Bruder verloren hatte, habt ihr mir das Gefühl gegeben, wieder eine Familie zu haben. Ich habe nicht nur dir das Leben gerettet, Rach. Du hast MEINES gerettet!

Dein Leben hätte sich nicht so entwickeln müssen, wie es das tat. Wir beide wissen, warum du tust, was du tust. Aber du musst vergeben, Rach, sonst wirst auch du in nicht allzu ferner Zukunft von Reue erfüllt sein. Ich habe über etwas nachgedacht, während ich krank im Bett lag und dieses vierblättrige Kleeblatt hielt, das ich damals gefunden habe, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind: Genau wie Forever kann man auch Vergebung nicht ohne unsere Initialen buchstabieren.

Vergib, Rach. Ich weiß, das fällt dir möglicherweise am schwersten, aber du brauchst deine Freundinnen wieder, sonst wirst du sogar noch einsamer enden, als du es jetzt schon bist.

Mein Handy klingelt. Meine Assistentin hat einen Haufen Fotos angehängt. Ich klicke den Brief weg und öffne eins davon, und eine Freundschaftsnadel starrt mir entgegen, eine Reihe grüner Perlen, die unsere Initialen einrahmen, als wären wir alle wieder Seite an Seite.

Ich öffne ein weiteres Foto. Es ist von uns vieren, wie wir vom Steg ins Wasser springen, genau wie auf dem Foto auf der Werbetafel.

Und noch eines: ein gepresstes vierblättriges Kleeblatt.

»Halten Sie an«, sage ich plötzlich zum Fahrer. »Bitte. Mir ist schlecht.«

Der Fahrer hält am Straßenrand an, und ich stolpere aus dem Wagen und in einen Graben voller Klee. Ich schließe die Augen, damit die Welt aufhört, sich zu drehen. Ich denke ans Ferienlager. Ich denke an Tanyas Worte heute Morgen. Ich denke an Em. Ich denke an meinen Dad und meine Mom. Die Sommerluft Michigans füllt meine Lunge, als ich tief einatme und mich dann vorbeuge und die Hände in die Hüften stemme.

Das dumpfe Geräusch der Autoreifen, die über eine nahe gelegene Brücke fahren, ist rhythmisch, wie ein Lied. Mein Herz setzt aus. Ich kenne diese Melodie. Weil sie ein Teil von mir ist. Ein Teil von mir, den ich vor langer Zeit vergessen habe.

Es war der beste Teil von mir.

 

Boom, didi, boom, boom … Booooom.

Sommer 2021

LIZ

BITTE MRS. ANDERSONS KLEIDUNG NICHT WASCHEN!

DIE FAMILIE MACHT DIE WÄSCHE ZU HAUSE!

LASSEN SIE DIE KLEIDUNG FÜR DIE TOCHTER IM KORB!

DANKE!

Ich stecke mir den Edding in den Mund und sehe rüber zu Mrs. Dickens, die eins der lila Nachthemden meiner Mutter trägt. Es ist völlig mit Essen bekleckert.

»Hi, Miffif Dickenf!«, sage ich mit einem aufgesetzt fröhlichen Tonfall trotz meiner Verärgerung. Der Marker verzerrt meine Worte, aber Mrs. Dickens bemerkt es nicht. Sie winkt mir zu. Sie winkt jedem zu.

Ein Vogel landet draußen auf einem Vogelhäuschen, und Mrs. Dickens dreht sich zum Fenster und winkt ihm zu.

Das Stück Klebeband, mit dem mein letztes Schild befestigt war, baumelt immer noch an der Tür des kleinen Einbauschranks gegenüber vom Bett meiner Mutter. Ich klebe das neue Schild an die Schranktür, öffne die oberste Schublade ihrer wackligen Kommode und nehme die neuen Nachthemden heraus, die ich gerade für sie gekauft habe. Dann nehme ich den Edding aus dem Mund und schreibe mit großen Buchstaben ANDERSON auf die Etiketten an der Rückseite.

Als meine Mutter zu husten beginnt, lasse ich Nachthemd und Marker fallen. Ich eile an ihre Seite, nehme das große Wasserglas und stecke ihr den knickbaren Strohhalm in den Mund. Meine Mom hustet und prustet, bevor sie sich endlich wieder beruhigt. Dann sieht sie mich an, ihre Augen werden weicher, und sie hebt die Hände ein paar Zentimeter von der Bettdecke und schüttelt sie aufgeregt.

»Hi, Mom«, sage ich. »Erkennst du mich heute? Liz? Deine Tochter?«

Ihre blauen Augen, die einst so strahlend wie der Sommerhimmel Michigans waren und jetzt die Farbe einer verblühten Hortensie hatten, blinzeln ein paarmal.

»Oh, ich hab dich auch lieb«, sage ich. Ich stelle das Wasserglas ab. »Weißt du, wie lieb ich dich habe?« Ich breite die Arme aus. »Bis zum Mond und wieder zurück!«, sage ich, und dann überschütte ich ihren Kopf mit Küssen. Meine Mom riecht wie ein Baby.

Meine Mom ist wieder ein Baby.

Sie seufzt, dann dämmert sie weg. Die Stoffpuppe, die sie gern im Arm hält, ist auf den Boden gefallen. Ich gehe zur anderen Seite des Bettes und hebe sie auf, um sie meiner Mutter in die Armbeuge zu legen.

Mrs. Dickens winkt mir zu, als ich wieder zurück zum Schrank gehe.

»Hi, Mrs. Dickens!«, sage ich.

Ich nehme den Marker und das weggelegte Nachthemd und fange noch mal an.

Mrs. Dickens war meine Lehrerin in der dritten Klasse hier in Holland, der kleinen Stadt, in der ich aufgewachsen bin und von der ich dachte, ich würde sie einmal verlassen. Ich habe es nie getan.

Sie war die liebste Frau der Welt und diejenige, die mir gezeigt hat, wie man in Holzschuhen tanzt, für die berühmte Tulpenparade im Frühling, bei der die Kinder sich herausputzen, um das niederländische Erbe der Stadt zu feiern. Mrs. Dickens, dämmert es mir endlich, hat allen Kindern in ihren Klassen beigebracht, der Menge beim Marschieren majestätisch zuzuwinken.

Sie sind hier, um euch zu sehen, sagte sie der Klasse. Winkt, um sie willkommen zu heißen.

Ich quetsche mich in den Schrank hinein, mache die Lamellentür zu und fange an zu weinen. Das hier ist mein geheimes Versteck, wenn ich all die Emotionen rauslassen muss, die sich in mir anstauen und dann herausbrechen. Für die Welt bin ich Mount Rushmore. Hier drin bin ich die Niagarafälle.

Ich drücke mein Gesicht in das neue Nachthemd meiner Mutter und lasse den Tränen freien Lauf. Ich darf nicht zulassen, dass irgendjemand mich weinen sieht. Ich darf nicht zulassen, dass irgendjemand weiß, wie verletzlich ich bin. Ich bin jetzt das letzte noch verbliebene, funktionierende Glied in unserer Familienkette, die letzte Erzählerin unserer Familiengeschichte, der solide Flicken in unserem alten Familienquilt.

Manchmal denke ich, ich bin der einzige starke Mensch, den es auf der Welt noch gibt. Manchmal denke ich, ich bin der schwächste auf der Welt.

Als ich die Schranktür öffne, steigt mir zusammen mit einem Strom kühler Luft der Geruch von – was ist es heute, Hackbraten? – in die Nase. Ich atme tief ein und beruhige mich wieder.

Sorgfältig falte ich die Nachthemden meiner Mom zusammen und sortiere sie in den Schrank. Ich schwöre, die haben Beine, denn sie gehen ständig verloren, egal, wie viele ich kaufe, egal, wie oft ich den Namen meiner Mom hineinschreibe, egal, wie viele Schilder ich an die Schranktür klebe.

Meine Mom hat lila geliebt. Die Farbe war ihr Markenzeichen. Sogar die Blumen, die sie pflanzte – Petunien, Tulpen, Salbei, Lavendel –, mussten alle lila sein. Anfangs, als sie gerade erst nach Manor Court gekommen war, habe ich die Kleidung meiner Mom verziert. Ich habe einen hübschen Kragen an ihren Pullover oder glänzende Strasssteine an die Seitennähte ihrer Hosen genäht. Jetzt würden sie ihre papierdünne Haut aufreißen.

Ich setze mich neben ihr Bett, öffne mein Handy und checke die Nachrichten. Da sind eine Million Mails von der Arbeit sowie Nachrichten von meinen Kindern und Enkeln.

Die Olsens wollen das Haus am Lakeshore Drive 421 um 17.30 Uhr statt 17.00 Uhr besichtigen. Klappt das?

 

Mom, kannst du meine Sachen von der Reinigung holen?

 

Grandma, kaufst du mir ein neues Handy?

Ich antworte auf keine der Nachrichten. Stattdessen klicke ich auf meinen Etsy-Shop.

VINTAGE GIRL IN A MODERN WORLD

Ich bin Immobilienmaklerin, Pflegerin, Mutter und Großmutter. Ich bin die Wurst in der Sandwichgeneration. Aber ich halte mich immer noch – und habe es immer getan – für eine Designerin. Ich entwerfe meine Kleider schon ewig selbst und bin fasziniert von der wiederauflebenden Beliebtheit von Vintage-Kleidung. Kendall, Kylie und all die anderen hippen Girls von heute tragen die Dinge, die ich in den Siebzigern und Achtzigern getragen habe. Und fangt mir gar nicht erst mit High-Waist-Jeans und schmalen Gürteln an. Ich habe diesen Look erfunden.

Nicht du, V.

»Oh!«, sage ich, als ich auf meine Seite schaue. Ich habe vier neue Bestellungen. Zwei Leute wollen das Imitat der Bomberjacke von Members Only, das ich mache.

»Hi, Mrs. Anderson.«

Eine Krankenpflegerin eilt mit einem Tablett voll Essen herein, das meine Mutter nicht essen wird.

»Hi, Mrs. Anderson«, sagt sie noch mal zu mir.

Ich habe immer noch Schwierigkeiten damit, auf meinen Mädchennamen zu reagieren, nachdem ich so viele Jahre verheiratet war.

»Hi, Tammy.«

Die Pflegerin zieht das Klapptischchen meiner Mom über ihren Schoß und stellt das Tablett ab.

Mrs. Dickens winkt ihr zu.

»Sie sind als Nächste dran«, sagt Tammy zu ihr.

Ich sehe meiner Mom beim Schlafen zu.

Sie ist spindeldünn und isst kaum etwas. Oft schlägt sie mir den Löffel aus der Hand und schreit, genau wie ein Kleinkind, das zum ersten Mal Karotten probiert und sie nicht leiden kann. Sie ist meine Mutter, und sie ist auch nicht meine Mutter. Sie stirbt – und obwohl es sich schrecklich anhört und ich mich dafür hasse, es auch nur zu denken, finde ich mich nicht nur damit ab, sondern bete auch dafür, dass das Ende lieber früher als später kommt.

Die Pflegerin saust wieder herein, um das Tablett für Mrs. Dickens zu bringen, die versucht, selbst zu essen, und dabei die Hälfte des Essens auf dem Weg zum Mund auf das Nachthemd kleckert, das ich für meine Mom gekauft habe. Ich stehe auf und nehme ihr den Löffel aus der Hand. Dann füttere ich sie, ganz langsam, und Mrs. Dickens gurrt vor Freude. Ich sehe aus dem Fenster, und mich überfällt eine jähe Erinnerung daran, in ihrer Klasse zu sitzen. Als Teil ihres Geschichtsunterrichts hatte Mrs. Dickens einen International Food Day einberufen, an dem sie uns Gerichte aus der ganzen Welt kochte. Da wir in Michigan lebten, waren wir hauptsächlich an Fleisch und Kartoffeln gewöhnt, deshalb waren viele Kinder nicht besonders scharf darauf, Kreuzkümmel, Knoblauch oder Curry zu probieren. Sie hielt immer einen kleinen Löffel voll Tamale, Lasagne, Paella oder Butter Chicken hoch und bat uns zu probieren.

Was ist denn das Schlimmste, das passieren könnte? Dass es euch nicht schmeckt, sagte sie dann. Und was ist das Beste? Dass ihr es toll findet und für immer eure Art und Weise zu essen ändert.

Bis zum heutigen Tag liebe ich all die Dinge, die sie gekocht hat.

Ich halte den Löffel hoch, und Mrs. Dickens lächelt.

Wieder spüre ich den Drang, zum Schrank zu rennen und zu weinen, aber ich lächle ebenfalls und erzähle ihr von meinen Erinnerungen.

Mrs. Dickens hatte einen Mann, der schon gestorben ist, und eine Tochter, die in Detroit lebt. Sie taucht ein paarmal im Jahr auf, mit großem Tamtam, manchmal mit ihren Kindern im Schlepptau, und bleibt höchstens eine Stunde.

»Bye, Mom«, sagt sie immer, bevor sie mich ansieht. »Ich weiß nicht, wie Sie das hinbekommen.«

Ich weiß nicht, wie ich das nicht hinbekommen kann.

Als Mrs. Dickens fertig ist, wische ich ihr den Mund ab, stelle das Tablett zur Seite und kehre zurück zu meiner Mom. Sie schläft immer noch tief und fest. Ich nehme ihren Löffel, probiere einen Bissen Hackbraten und Kartoffelpüree und dann noch einen.

Hör auf damit, Liz, sage ich zu mir. Du brauchst das nicht zu essen.

Mein Handy klingelt erneut, doch stattdessen hebe ich den Löffel. Das Kartoffelpüree ist buttrig und salzig, der Hackbraten mit viel Ketchup. Ich esse alles auf und mache mich dann an den Schokoladenpudding.

»Wow, Ihre Mom war heute eine gute Esserin«, sagt Tammy, als sie zurückkommt.

Ich nicke.

Zeit meines Lebens habe ich geplant und geplant und geplant, aber von dem hier habe ich nie irgendetwas geplant: Ich habe nie geplant, von meinem Mann verlassen zu werden, nachdem unsere Kinder groß waren. Ich habe nie geplant, für immer in meiner kleinen Heimatstadt zu bleiben. Ich habe nie geplant, dass mein Vater stirbt und meine Mutter unmittelbar nach dieser Tragödie krank wird. Ich habe nie geplant, die Kümmertante einer Familie zu sein, die sich im Gegenzug weder um mich noch um unsere Familiengeschichte kümmert.

Freunde bieten mir und meiner Mom mehr Unterstützung an als meine Familie. Die Menschen, mit denen sie in der Kirche zu tun hatte, in ihrer Nachbarschaft, im Frauenclub oder als Ehrenamtliche, empfinden eine tiefere Zuneigung und Verbindung zu ihr als ihre eigenen Kinder und Enkel.

Mit rasendem Herzen sehe ich hoch. Mrs. Dickens winkt mir schon wieder zu.

Ich betrachte das als Privileg. Wie wir altern und sterben sollte Würde haben, und für jemanden am Ende seines Lebens zu sorgen, so wie er es für uns getan hat, als wir Babys waren, als wir heranwuchsen, als wir krank waren, ist ein Segen. Außerdem glaube ich, dass es zeigt, wer wir wirklich sind.

Ich schreibe meiner Tochter Lisa eine Nachricht.

Bin bei Grandma. Kann deine Sachen nicht von der Reinigung holen. Habe hinterher eine Hausbesichtigung. Kommst du sie diese Woche besuchen?

Mein Herz beginnt schon wieder zu rasen, als kleine, sich bewegende Punkte auf meinem Handy zeigen, dass Lisa bereits eine Antwort schreibt.

Kann nicht. Zu beschäftigt.

Mehr Punkte.

Außerdem weißt du doch, Dan und ich wollen nicht, dass die Kinder sie so sehen.

Wie denn?, denke ich. Wie eine alte Frau, die immer noch Liebe braucht?

Warum frage ich überhaupt noch? Warum tue ich mir das an?

Sie sind noch nie zu Besuch gekommen. Niemals. Nicht um die Frau zu sehen, deren Rücken gebeugt wie der Stängel einer Pfingstrose war, weil sie Jahrzehnte damit verbracht hat, in einer Fabrik Overalls zu nähen. Nicht um die Frau zu sehen, die sich jeden Penny vom Mund abgespart hat, damit ich ins Ferienlager gehen und die Erste in unserer Familie sein konnte, die aufs College ging. Nicht um die Frau zu sehen, die dabei geholfen hat, dich großzuziehen und in unzähligen Nächten für deine Kinder gesorgt hat. Nicht um die Frau zu sehen, deren Opfer dir geholfen haben, das Leben zu führen, das du jetzt hast, ein besseres, als sie selbst es je hatte, was alles war, was sie in diesem Leben wollte.

Wie kannst du es wagen!