Familie ist das größte Geschenk - Viola Shipman - E-Book

Familie ist das größte Geschenk E-Book

Viola Shipman

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Beschreibung

***Familie ist das größte Geschenk: Zwei Bände von Erfolgsautorin Viola Shipman jetzt in einem eBook*** »Für immer in deinem Herzen«: Ein Sommer, der drei Lebenswege zusammenführt und für immer verändert. Alle Frauen der Familie Lindsey besitzen ein Armband mit Glücksbringern, Großmutter Lolly, Tochter Arden und Enkelin Lauren. Die Anhänger werden von Generation zu Generation weitergegeben und stehen für Geschichten voller Hoffnung, Sehnsucht und Lebenslust. Jedes Armband erzählt eine Geschichte. »So groß wie deine Träume«: Im Alter von zehn Jahren bekommt Mattie eine Truhe geschenkt, um darin alles zu sammeln, was sie als Erwachsene an ihre Familie erinnern würde: ihre geliebte Stoffpuppe, glitzernder Christbaumschmuck, eine Vase ihrer Mutter, und vieles mehr. Der neue Roman ist eine hochemotionale, tief berührende Geschichte über drei Menschen, die neuen Mut schöpfen und ihrem Leben Sinn geben, indem sie füreinander da sind.

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Seitenzahl: 835

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Viola Shipman

Familie ist das größte Geschenk

Für immer in deinem Herzen & So groß wie deine Träume

Aus dem Amerikanischen von Anita Nirschl

FISCHER digiBook

Inhalt

Buch 1: Für immer in deinem HerzenWidmungPrologLolly 4. Juli 19531. Teil1232. Teil45673. Teil894. Teil101112135. Teil141516176. Teil1819202122237. Teil2425262728298. Teil303132339. Teil343536373810. Teil3940414211. Teil4344454647EpilogArden, Lauren & Lolly [...]DankBuch 2: So groß wie deine TräumeWidmungMottoProlog Der Duft von ZedernMai 20161. Teil Die Stoffpuppe1232. Teil Der Strandglasanhänger4563. Teil Das Wildrosenporzellan7894. Teil Die McCoy-Vase1011125. Teil Die Schürze1314156. Teil Das Erinnerungsalbum1617187. Teil Der bestickte Kissenbezug19208. Teil Der Familienbilderrahmen2122239. Teil Der alte Christbaumschmuck24252610. Teil Das Hochzeitstortenbesteck27282911. Teil Die Schneekugel3031323312. Teil Die Eintrittskarte343513. Teil Die Familienbibel363738394041Epilog Die HochzeitstruheOstern 2017Dank

Für meine Großmütter

… und meine Mom

 

 

Ihr habt mir beigebracht, dass die größten Geschenke im Leben die einfachsten sind, und ihr habt mir eure Charm-Anhänger anvertraut, die mich diese Lektion neu gelehrt haben. Ich danke euch!

Prolog

Das geteilte HerzFür ein Leben, in dem wir nie voneinander getrennt sind

Lolly4. Juli 1953

Glühwürmchen flimmerten in der Abenddämmerung und erhellten den Pfad aus Trittsteinen, der zu unserem Bootssteg am Lost Land Lake hinunterführte, mit flackerndem Licht.

»Siehst du das?«, lachte meine Mom. »Mutter Natur gibt uns schon einen Vorgeschmack auf das Feuerwerk.«

Ich lächelte und atmete tief ein.

Meine ganze Welt roch nach Sommer: nach Sonnencreme und Feuerwerkskörpern, nach Kiefernnadeln und Barbecue.

Als wir zum Steg schlenderten, begleitete uns das Schwirren von Libellen, wie ein privates Streichorchester, das nur für meine Mom und mich spielte.

Ich hatte gerade erst die Kerzen auf dem Kuchen zu meinem zehnten Geburtstag ausgepustet, und Dad war damit beschäftigt, ein Lagerfeuer zu machen, an dem wir später Marshmallows rösten würden. Er hatte mir sein Geschenk schon gegeben, meine erste Angelrute, damit ich die Sonntage mit ihm verbringen konnte, aber jetzt war es Zeit für Moms Geschenk. Und das gab sie mir immer am Ende unseres Stegs.

In der zunehmenden Dunkelheit griff ich nach ihrer Hand, dabei berührten sich unsere Handgelenke, und unsere Bettelarmbänder klimperten. Ich kicherte. Aus Gewohnheit tastete ich nach ihren Anhängern und versuchte, jeden einzelnen davon blind zu erraten. Ein Spiel, das ich mir vor Jahren ausgedacht hatte.

»Mein Babyschuh!«, sagte ich aufgeregt.

»Für ein Leben, erfüllt mit gesunden, glücklichen Kindern«, antwortete meine Mom.

»Ein Schlüssel!«, rief ich.

»Weil du mir das Herz geöffnet hast«, erklärte sie.

»Eine Schneeflocke?«

»Ja«, bestätigte sie. »Für eine einzigartige Persönlichkeit mit vielen Facetten.«

Flink tasteten meine Finger weiter, und für jeden der kleinen Glücksbringer hatte meine Mutter eine Bedeutung und eine Geschichte. Ich kannte sie fast alle auswendig, deshalb flogen meine Finger, bis ich meine Lieblingsanhänger fand, die, mit denen ich immer spielte: den Konzertflügel, dessen Deckel sich auf- und zuklappen ließ, die Schildkröte mit den Augen aus grünen Schmucksteinen, deren Kopf hin und her wackelte, und einen Wunschbrunnen mit beweglicher Kurbel.

»Für ein Leben voller Schönheit, für besonnene, bedeutsame Entscheidungen und für ein Leben, das all deine Wünsche wahr werden lässt!«

Als wir uns dem Ende des Stegs näherten, ertasteten meine Finger einen Anhänger, den ich nicht identifizieren konnte.

»Was ist das für einer, Mommy?«, fragte ich. »Den kenne ich nicht.«

»Das …« Ihre Stimme brach leicht, und sie zögerte.

»Ist alles in Ordnung?«

»Das ist mein Schaukelstuhl«, erklärte sie.

»Wofür steht er?«

»Der ist für …«, wieder stockte sie und musste tief Luft holen, als wäre sie gerade eine weite Strecke durch den See geschwommen, »ein langes und gesundes Leben.«

Wir setzten uns ans Ende des Stegs und ließen die Füße ins Wasser baumeln, gerade als das Feuerwerk anfing.

»Ooooh!«, rief ich aus, sowohl wegen der Kälte des Wassers als auch wegen des Feuerwerks. »Wow!«

Mein Geburtstag fiel auf den vierten Juli, genau wie der unserer Nation, und ich war ein Kind des Sommers.

»All das ist in Wirklichkeit für dich!«, flüsterte meine Mom immer, wenn das Feuerwerk über unseren Köpfen explodierte und von der Wasseroberfläche widerhallte. »Die Welt feiert deine Einzigartigkeit!«

Schon so lange ich zurückdenken konnte, bekam ich von meiner Mutter zu besonderen Gelegenheiten einen Anhänger geschenkt: zu Weihnachten, Zeugnisverleihungen, besonderen Leistungen. Und jedes Jahr an meinem Geburtstag fügte sie meinem Armband einen weiteren Glücksbringer hinzu.

Dieses Jahr bildete keine Ausnahme.

»Alles Gute zum Geburtstag, Lolly!« Meine Mutter zog mich in ihre Arme und küsste mich auf den Kopf. »Bist du bereit, zuerst unser Gedicht aufzusagen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Warum nicht?«

»Mom! Ich bin doch schon zu alt dafür.«

»Dafür ist man nie zu alt. Komm, dann sagen wir es gemeinsam auf!«

Diesen Anhänger will ich dir geben,

Heut’ an deinem besonderen Tag …

Das Gesicht meiner Mom leuchtete auf, als sie zu den ersten Zeilen des Gedichts ansetzte. Plötzlich war es, wie an einem heißen Tag in den See zu springen – ich konnte einfach nicht widerstehen. Also stimmte ich mit ein:

Bei jedem Schritt in deinem Leben

Soll er dir sagen, wie lieb ich dich hab.

Bei jedem kleinen Geschenk von mir

Da denke stets daran,

Mit dir und mir

Fing alles an.

Strahlend vor Freude drückte meine Mom mich an sich. »Hier, das ist für dich«, sagte sie und zog ein Schächtelchen aus der Jackentasche.

Eifrig öffnete ich es, und wie üblich thronte dort ein silberner Anhänger auf einem kleinen Samtkissen.

»Was ist es, Mommy?«, fragte ich und kniff die Augen zusammen, um den Gegenstand in der Dunkelheit besser erkennen zu können.

»Es ist die Hälfte eines Herzens. Für ein Leben, in dem wir nie voneinander getrennt sind.«

Ich nahm den Anhänger aus der Schachtel, um ihn zu betrachten, und zog mit den Fingern die filigrane Kontur nach.

»Wo ist die andere Hälfte?«

»Hier«, antwortete sie und zeigte mir ihr Armband, das so üppig mit Anhängern beladen war wie unser Weihnachtsbaum mit Christbaumkugeln. Dann nahm sie mein Handgelenk, befestigte den Anhänger am Kettchen und legte meine Hand auf ihr Herz. »Und hier. Du wirst immer ein Teil von mir sein.«

Lächelnd schmiegte ich mich an sie. Sie war warm, sicher und roch nach einer Mischung aus Pfingstrosen und Sonnencreme.

»Siehst du, wenn man unsere beiden Anhänger aneinanderhält«, sie fügte die zwei Hälften unseres Herzens zusammen, »dann steht da ›Mutter und Tochter‹. Sie vervollständigen einander. Also ganz egal, was von nun an geschieht, ich werde immer ein Teil von dir sein, und du immer ein Teil von mir. Versprichst du mir etwas, Lolly?«

»Natürlich, Mommy.«

»Versprich mir, dass du unsere Geschichte erzählen wirst und dass du immer du selbst bleiben wirst.«

»Versprochen, Mommy«, antwortete ich.

Meine Mutter lächelte und blickte hinaus über den See, während das Feuerwerk den Nachthimmel erhellte, legte den Arm um meine Schulter und zog mich noch enger an sich.

»Ich werde immer bei dir sein, Lolly. Besonders, wenn du dein Armband trägst. Es wird immer von den Erinnerungen an unser gemeinsames Leben erfüllt sein. Niemand kann dir das je nehmen.«

Sie küsste mich auf die Wange, als eine weitere Salve bunter Feuerwerkskörper über uns krachte.

»Ich werde dich immer lieben, Lolly.«

»Ich werde dich auch immer lieben, Mommy.«

Ein Windhauch strich über die Wasseroberfläche und den Steg und ließ unsere Armbänder klimpern.

»Weißt du, manche Leute sagen, sie hören die Stimmen ihrer Familie in diesem See: im Ruf der Nachtschwalben, dem Schrei der Seetaucher, dem Klagen der Ochsenfrösche«, flüsterte meine Mom. »Aber ich höre die Stimmen meiner Familie im Klimpern der Anhänger an meinem Arm.«

Wie sie es sagte, klang so schön, dass mich ein Schauder durchrieselte und ich mich zu meiner Mutter umdrehen und sie ansehen musste. Die Lichtblitze des Feuerwerks erhellten ihr lockiges, blondes Haar und die rosigen, mit Sommersprossen gesprenkelten Wangen. Es war, als nähmen tausend Kameras mit tausend Blitzlichtern ihr Bild auf, damit ich nie vergessen sollte, wie sie in diesem Moment aussah.

Erst als ich näher hinsah, bemerkte ich die Tränen, die ihr übers Gesicht strömten.

Ein Jahr später war meine geliebte Mutter tot, an Krebs gestorben.

4. Juli 2013

Das Feuerwerk sprüht krachend über mir und reißt mich aus dieser Erinnerung.

Ich bin jetzt siebzig. Meine Mutter und mein Vater sind schon lange gestorben. Mein Mann ist tot, meine Tochter Arden ist erwachsen und lebt fünf Stunden entfernt in Chicago, meine Enkelin Lauren geht aufs College. Zu viele Jahre schon feiere ich meinen Geburtstag allein. Und dennoch, wenn ich hinauf in den Nachthimmel blicke, bin ich immer noch verzaubert von der schlichten Schönheit eines Sommerfeuerwerks, überwältigt von Erinnerungen.

Als ich den Kopf hebe, spüre ich, dass mir Tränen übers Gesicht laufen.

Meine Mutter mag die Hälfte meines Herzens mit sich genommen haben, aber ich durfte all ihre Anhänger behalten, und sie hatte recht: Das Bettelarmband erinnert mich unablässig an ihre Liebe zu mir.

Ich habe mir geschworen, die Geschichten unserer Familie mit Arden und Lauren zu teilen, denn niemand von uns stirbt je wirklich, solange wir unsere Geschichten an die, die wir lieben, weitergeben. Ich fing an, ihnen von unserer Familie zu erzählen, als sie noch klein waren, doch inzwischen sind sie so beschäftigt, und das Leben fliegt dahin, schnell wie ein flacher Stein über die Wasseroberfläche des Lost Land Lake.

Ich versuche, sie durch die Anhänger, die ich ihnen immer noch schicke, an unsere Geschichte und unsere Traditionen zu erinnern, aber meine Tochter hat unsere Vergangenheit und mich abgestreift, als wären wir eine Jacke, die sie nicht mehr tragen möchte. Und ich spüre ihre Abwesenheit schmerzlich, wie die Kälte des ersten Frosts im Oktober.

Während ich also dafür bete, dass sie nach Hause zurückkommen, setze ich die Tradition allein fort: Ich lese dem See immer noch das Gedicht meiner Mutter vor, jeden vierten Juli an meinem Geburtstag, während das Feuerwerk explodiert. Und unweigerlich fährt der Wind durch mein Bettelarmband – noch schwerer inzwischen sogar, als das meiner Mutter je war –, und ich schließe die Augen und lausche dem Klimpern der Anhänger.

Alles Gute zum Geburtstag, Lolly, höre ich meine Mutter sagen.

1. Teil

Der HeißluftballonFür ein Leben voller Abenteuer

1

ArdenMai 2014

Zu spät bemerkte Arden Lindsey, dass sie laut aufgeschrien hatte. Sie stand auf und schloss die Tür ihres Büros in der Redaktion von Paparazzi. Nun konnte sie ihrem Zorn über den miserabel geschriebenen Artikel, den das jüngste Mitglied ihres Autorenteams gerade eingereicht hatte, freien Lauf lassen.

Beyoncé rockte ihren ›seit kurzem unschwangeren Bauch‹ mit Sushi?!

Soll das ein Witz sein?!

Simóne interessierte sich stets mehr für Champagner und Backgroundtänzer als dafür, knackige Schlagzeilen und flüssige Sätze zu Papier zu bringen.

»Wie oft kann man eigentlich das Wort singen in irgendeiner Form verwenden?«, schimpfte Arden weiter. »Singt? Sang? Gesungen? Sängerin?« Sie holte tief Luft.

»Und ist es denn wirklich zu viel verlangt, den Artikel gleich für die Webseite zu formatieren?«, brummte sie resigniert.

Schwungvoll ließ sie sich zurück in den Bürostuhl fallen, wobei ihr der schwarze Bob ins Gesicht schwang und der dicke, schwarze Rahmen ihrer Brille auf der Nase hüpfte.

Sie nahm die Brille ab, schloss die Augen und rieb sich die Schläfen. Schon spürte sie, dass sich dumpf pochende Kopfschmerzen ankündigten, so wie die vibrierenden Schienen der Chicago Elevated, die direkt an den hippen Bürolofts von Paparazzi im River North District vorbeiführten, die Ankunft des Zuges verkündeten.

Den Zug kannst du auch nicht aufhalten, dachte Arden, als sie zwei Ibuprofen aus der Tasche fischte, während der El unvermittelt an ihrem Fenster vorbeidröhnte.

Arden warf sich die Tabletten in den Mund und spülte sie mit dem Rest ihres Latte Macchiato hinunter. Sie atmete tief durch und versuchte, ihre innere Yogi heraufzubeschwören, dann schob sie sich die Brille hoch auf die Nase und brachte ihre Finger wie eine ausgebildete Pianistin auf den Tasten ihres Macs in Position.

Backstage mit Beyonc[ACUTE »e«]!

(Nur [ITALIC »Paparazzi«] war live dabei!)

 

Von Simóne Jaffe

[P]

Bereit für die Party, Single Ladies? [CELEBRITY_LINK »Beyonc[ACUTE »e«]«] rockt los!

[P]

Die Pop-Diva, die am Freitag und Samstag im [LINK »United Center«] ihre [LINK »Mrs Carter Show«] performen wird, feierte im [LINK »Sunda«] eine private Party, um ihre Ankunft in [LINK »Chicago«] zu feiern. Sie schlemmte Sushi und Sake mit ihrem [BUSINESS LINKS »Göttergatten«] [CELEBRITY_LINK »Jay-Z«] und ihren Celebrity-BFFs [CELEBRITY_LINK »Gwyneth Paltrow«] und [CELEBRITY_LINK »Alicia Keys«].

Wenn Arden Lindsey so hochkonzentriert arbeitete, dann war es, als verlasse ihre Seele unvermittelt den Körper, um unter die Decke des zugigen Lofts zu schweben und von dort zwischen freiliegenden Rohrleitungen und Holzbalken auf sie herabzublicken.

Sie konnte sich selbst beobachten, wie ihre Finger nur so über die oberste Reihe der Tastatur flogen, Tasten, die die wenigsten Leute je benutzten.

Runde und eckige Klammern, Hashtags und Et-Zeichen.

Arden übte einen Beruf aus, von dessen Existenz nur wenige überhaupt eine Ahnung hatten. Sie verbrachte ihren Tag damit, zu editieren und umzuformulieren, mit Suchmaschinenoptimierung, Klickraten, Codierung, Links – kurz: mit all den Dingen, über die niemand nachdachte, der das Magazin auf seinem Laptop, iPad oder Handy las, die jedoch dafür sorgten, dass die Werbekunden glücklich waren und Paparazzi zur meistbesuchten Celebrity-Webseite der Welt avancierte.

Arden begann, sich durch die Fotos zu klicken, die der Fotograf von Paparazzi ihr im Morgengrauen gemailt hatte: Beyoncé, die Gwyneth umarmt. Jay-Z mit Sonnenbrille. Die unglaublich große Kimora Lee Simmons in High Heels.

Und natürlich die umwerfende Simóne.

Simóne sah aus, als gehöre sie auf die Seiten von Paparazzi. Üppiges, dunkles Haar, blasser Teint mit smaragdgrünen Augen, exotisch und doch nahbar, gewissermaßen eine Kardashian für Arme. In Natura war Simóne nur knapp über eins fünfzig groß und wog um die fünfundvierzig Kilo. Aber auf Fotos sah sie aus wie ein Star.

Sie benahm sich auch wie einer. Sie konnte so ungezwungen mit Berühmtheiten plaudern, dass es wirkte, als gehöre sie zu ihrem engsten Freundeskreis. Sie brachte sie schon nach wenigen Drinks dazu, gesprächig zu werden.

Das heißt, wenn sie nicht vergisst, sich Notizen zu machen, dachte Arden.

Während Arden die Fotos musterte, erhaschte sie plötzlich einen Blick auf ihr eigenes Spiegelbild im Bildschirm des Laptops, ihr blasses Gesicht und das farblose Kleid ein herber Kontrast zu der Schönheit von Alicia Keys und Kelly Rowland.

Sie betrachtete Kelly Rowlands Haare näher und fragte sich, ob es sich bei der glatten Mähne in Wirklichkeit womöglich um eine Perücke handelte.

Also das nenn ich mal eine gute Zweitfrisur, Mom!, kicherte sie bei dem Gedanken an die peinlichen Perücken, die ihre eigene Mutter trug, um die Touristen in dem Erholungsort, in dem sie aufgewachsen war, zu unterhalten.

[PHOTO CODE: »TZQ189&04L«]

Arden ging den Artikel ein letztes Mal durch, dann lud sie ihn zu Paparazzi.com hoch, gekrönt mit einem umwerfenden Foto von Beyoncé und Gwyneth, die sich umarmten, unter einem tanzenden roten Banner, das BREAKING NEWS! schrie.

Arden nahm ihren leeren Kaffeebecher und warf ihn in hohem Bogen in den Papierkorb. Sie stand auf und ging hinüber zu ihrem Fenster im achten Stock, von dem aus man – zwischen den Hochbahnschienen und umgebenden Wolkenkratzern hindurch – einen kleinen Blick auf den Michigansee erhaschen konnte.

Es war ein schöner, warmer Tag spät im Mai, und das Sonnenlicht verwandelte die Wasseroberfläche in ein funkelndes Kaleidoskop.

Arden betrachtete die vielen Boote, die entlang des Ufers auf den dunkelgrünen Wellen schaukelten.

Sie war am Michigansee aufgewachsen, gefühlte tausend Meilen weit entfernt, »auf der anderen Seite«, wie die Chicagoer ihr Gegenüber in Michigan manchmal nannten.

Für Arden war er wahrhaftig einer der »Großen Seen«, denn als Kind war es ihr so vorgekommen, als trenne das gewaltige Gewässer sie vom Rest der Welt.

»Ich kann gar kein Salz riechen«, oder »Soll das heißen, man sieht gar nicht auf die andere Seite?«, pflegten Stars aus L.A. und New York zu sagen, wenn sie nach Chicago kamen, nicht in der Lage, das gewaltige Ausmaß dieses Süßwassersees zu begreifen.

»Gute Arbeit bei der Beyoncé-Story.«

Beim Klang der Stimme ihres Chefs drehte Arden sich um.

»Danke«, antwortete sie. Ihr Blick fiel auf Vans jugendliche Zac-Efron-Frisur und die hippe Fliege.

»Erst ein paar Minuten online, und schon ein paar tausend Klicks«, fuhr er fort. »Jay-Z hat mir bereits gesimst und sich dafür bedankt, dass wir all die Links zu seinen Unternehmen platziert haben. Wir leisten großartige Arbeit, nicht wahr?«

Wir? Du magst zwar der Herausgeber von Paparazzi.com sein, und vielleicht bringen wir auch jeden Tag etwas über die Royals, aber das gibt dir noch lange nicht das Recht, den Majestätsplural zu verwenden, wenn es um MEINE Arbeit geht, dachte Arden.

»Ja«, sagte sie stattdessen. Sie musste sich zusammenreißen, nicht die Augen zu verdrehen.

Dann zögerte sie unsicher.

»Besteht eventuell eine Chance, dass du mich über ihre After-Party morgen Abend berichten lässt?«

»Eigentlich eine tolle Idee, aber leider brauchen wir dich hier dringender«, antwortete Van lächelnd, auf dieselbe süßlich herablassende Weise wie ihr Exmann, wann immer sie davon gesprochen hatte, ihren Roman zu schreiben.

Selbst ein ganzes Jahrzehnt danach konnte Arden immer noch nicht fassen, dass ihr Ex sich wegen jeder Kleinigkeit mit ihr gestritten – ihrem Wunsch zu schreiben, Geld, den Nachrichten –, aber nicht um seine eigene Tochter gekämpft hatte. Am Ende hatte er nicht einmal das Sorgerecht haben wollen. Er wollte Arden nicht, und auch Lauren wollte er nicht. Seine Gefühlskälte hatte Arden derart gelähmt, dass sie unfähig gewesen war, ihm die Stirn zu bieten, wodurch sie am Ende ohne nennenswerte finanzielle Unterstützung dastand. Und jetzt hatte ihr Ex eine neue Familie, eine neue Frau und ein neues Leben ohne sie.

»Wie sollten wir denn ohne dich zurechtkommen?«, fügte Van hinzu.

Die Ironie seiner Frage entlockte Arden ein zynisches Lächeln, und sie wandte sich ab und sah aus dem Fenster, um ihre Enttäuschung und Frustration zu verbergen.

»Das soll Simóne erledigen«, fuhr er fort. »Die lebt für so was. Außerdem wird sie ohnehin unsere nächste Feature-Autorin.«

Arden zuckte zusammen, als habe er ihr völlig unerwartet eine Ohrfeige verpasst. Aus Gewohnheit zupfte sie an ihrem Ohrläppchen, eine Marotte, die schon in ihrer Kindheit begonnen hatte, nachdem sie mit ihrer Mutter die Carol Burnett Show angesehen hatte, und sich zu einem nervösen Tick entwickelte, als sie in die Vorschule kam und zu viel Angst davor hatte, von ihrer Mom alleingelassen zu werden.

»Zupf einfach wie Carol an deinem Ohrläppchen«, hatte Lolly ihr vor dem Gruppenraum geraten. »Damit kannst du mir – und dir selbst – auf stumme Weise sagen, dass alles gutgehen wird.«

Arden hielt Van den Rücken zugewandt, bis sie hörte, dass er das Büro wieder verließ. Van war – wie viel? – ein ganzes Jahrzehnt jünger als sie und ihr siebter Boss in den letzten zehn Jahren. Sie alle kamen und gingen, wie hübsche kleine Spielzeugsoldaten, investierten ihre Zeit, bis das Büro in New York sie rief oder sie bei People, Entertainment Weekly oder Entertainment Tonight landeten.

Arden seufzte. Niemand will mehr Autor sein, jeder möchte ein Star sein wie die, über die sie berichten.

»Post!«

Der Ruf und ein lautes Plumpsen veranlassten Arden dazu, sich umzudrehen. Auf ihrem Schreibtisch war ein gewaltiger Berg Briefe gelandet, der bereits ins Rutschen geriet. Sie trat an den Tisch und begann, den Stapel durchzusehen.

»Immer das Gleiche«, murmelte sie, während sie sich durch Pressemitteilungen und Vorabproben von Celebrity-Parfüms blätterte. Doch dann fiel ihr die Absenderadresse eines gepolsterten Umschlags ins Auge und ließ ihren Puls in die Höhe schnellen. Ihr Schreibtisch begann zu vibrieren. Sie blickte aus dem Fenster, sah den El auf heftig ratternden Schienen kreischend vorbeirasen und spürte, wie ihre Kopfschmerzen zurückkehrten.

Arden hob den dicken Umschlag auf und nahm eine Schere aus einer Paparazzi-Kaffeetasse, um ihn aufzuschlitzen.

Eine kleine Karte purzelte heraus.

Arden schlug das Herz bis zum Hals. Die schöne Handschrift ihrer Mutter war nicht mehr das schwungvolle, ausdrucksstarke Kursiv ihrer Jugend, sondern fahrig, schief, gedrungen.

Sie las die Karte:

 

»Aber ich möchte nicht unter Verrückte kommen«, meinte Alice.»Aber ich möchte nicht unter Verrückte kommen«, meinte Alice.

»Da kommst du nicht drum herum«, sagte die Grinsekatze. »Wir sind alle verrückt hier. Ich bin verrückt, du bist verrückt.«

»Woher willst du wissen, dass ich verrückt bin?«, sagte Alice.

»Du musst es sein«, antwortete die Grinsekatze, »sonst wärst du nicht hier.«

 

Wie läuft es mit dem Schreiben, mein Liebes?

Denk dran, wir müssen alle manchmal ein bisschen VERRÜCKT werden, um unser Glück zu finden.

Hoffe, Du kannst mich diesen Sommer besuchen. Ich vermisse Dich und liebe Dich von ganzem Herzen!

Sag Lorna Lauren alles Liebe von mir.

Mom

 

Ardens Herzschlag begann, in ihren Schläfen zu pochen, dann hinter ihren Augen.

Lorna? O Mom!, sagte Arden zu sich selbst, als sie den Fehler sah. Wie konntest du den Namen deiner eigenen Enkelin verwechseln?

Arden nahm den Umschlag und drehte ihn um, woraufhin ein Schächtelchen über ihren Schreibtisch kullerte. Als sie es aufklappte, thronte auf einem Samtkissen ein silberner Anhänger in Form des verrückten Hutmachers.

»Alice im Wunderland!«, lächelte Arden. »Mein Lieblingsbuch!«

Sie betrachtete den Glücksbringer, legte ihn auf ihre Handfläche und strich leicht mit dem Finger darüber.

Immer noch die Anhänger, Mom? Glaubst du immer noch, sie sind irgendwie magisch?

Sie dachte an das Bettelarmband ihrer Mutter, schwer von so vielen Anhängern. Das Armband, das sie nie ablegte und das Arden als Heranwachsende mit seinem unablässigen Klimpern in den Wahnsinn getrieben hatte.

Wie lange ist es her, dass Lauren und ich zu Hause in Michigan waren? Wo ist bloß die Zeit geblieben? Als Ardens Laptop ein leises Pling von sich gab, versetzte es ihr einen schuldbewussten Stich.

Arbeit. Termine. Da ist die Zeit geblieben.

Arden nahm die Karte und las sie noch einmal.

»Hoffe, Du kannst mich diesen Sommer besuchen.«

Ihre Mutter bat nur selten um etwas, am allerwenigsten um einen Besuch. Nach Hause zu kommen stellte für Arden jedes Mal eine harte Prüfung dar, in etwa so wie, nun ja, wie für Alice, in den Kaninchenbau zu fallen. Es war für Arden nicht leicht gewesen, in einer amerikanischen Kleinstadt aufzuwachsen. Es war nicht leicht gewesen, eine Mutter wie Lolly Lindsey zu haben.

»Es ist ja nicht so, als wäre sie ein schlechter Mensch«, erklärte Arden dem Anhänger, als wäre er ein Therapeut. »Sie ist nur …«

»Debbie Reynolds!«

Ja, genau! Überlebensgroß. Immer auf einer Bühne, dachte Arden.

»Arden?«

Arden schrak hoch und sah Van in der Tür stehen, seine blaue, mit gelben Booten verzierte Fliege zuckte an seinem Hals.

Moment mal. Das hab gar nicht ich gesagt?, wurde ihr bewusst.

»Debbie Reynolds datet einen Fünfundzwanzigjährigen! Die Story kommt grad rein! Wir haben sie exklusiv. Sie muss spätestens in fünfzehn Minuten online sein!«

»Natürlich«, nickte Arden. Van hatte sich bereits wieder zum Gehen gewandt. »Aber wenn ich fertig bin, würde ich gern meine Mittagspause vorziehen, wenn das okay ist«, rief sie ihm hinterher. »Ich brauche ein bisschen frische Luft.«

Van blieb stehen, schlurfte im Moonwalk drei Schritte rückwärts und sah auf die Uhr, bevor er mit einer Fingerpistole auf Arden zielte.

»Klar doch. Wir wollen schließlich, dass du frisch und fit bist. Aber für eine Pause ist es wirklich noch zu früh. Mach einen späten Lunch draus, okay? Heute ist jede Menge los. Du hast doch heute Abend eh nichts vor, oder? Oder dieses Wochenende? Über diese Beförderung zur Leiterin der Webnachrichtenredaktion ist noch nicht entschieden …«, fügte Van hinzu.

Arden klappte den Mund auf, um etwas zu erwidern, aber Van war bereits wieder verschwunden.

2

LaurenMai 2014

»Jedes Kind ist ein Künstler. Die Schwierigkeit ist, ein Künstler zu bleiben, wenn man erwachsen wird.«

 

Pablo Picasso

Lauren stellte das Zitat, das sie gerahmt auf ihrem Schreibtisch stehen hatte, wieder an seinen Platz zurück und starrte brütend auf den Bildschirm ihres MacBooks. Die Aufzeichnungen aus ihrem Wirtschaftskurs verschwammen ihr vor den Augen.

Ein warmer Wind wehte durchs Fenster des Studentenwohnheims und spielte mit Laurens blondem Haar.

Sie atmete tief ein. Der Geruch des Michigansees und des nahen Sommers füllte ihre Lunge und das Zimmer, dieser süße Duft nach Blumen und Süßwasser, frisch gemähtem Gras und Wärme, dieser Geruch nach … Hoffnung.

Von draußen drangen fröhliche Schreie herein. Sie stand auf und lehnte sich über ihren Schreibtisch zum Fenster, um die Szene zu betrachten: Ihr Studentenzimmer auf dem Campus der Northwestern University blickte hinaus auf den See und den Studentenstrand. Obwohl der Wind vom Wasser her noch ein wenig kühl war, spielten einige Jungs Frisbee mit nacktem Oberkörper, und Mädchen in Jeans und Bikinioberteil tankten ein paar Sonnenstrahlen.

Dieses schlichte Bild ihrer Kommilitonen, die sorglos den Tag genossen, hatte etwas an sich, das Lauren veranlasste, aufzustehen, sich die lila Wildcat-Kapuzenjacke vom Leib zu reißen und an die Staffelei neben ihrem Schreibtisch zu treten. Sie hob den Pinsel.

»Eiscreme!«

Erschrocken zuckte Lauren zusammen, als ihre Mitbewohnerin Lexie wie ein Tornado mit fliegenden dunklen Locken ins Zimmer wirbelte.

»Dachte, die könnten wir brauchen«, sprudelte Lexie sogar noch schneller als sonst auf ihre typische New Yorker Art hervor, »wo wir doch an diesem herrlichen Tag hier drin festsitzen, um für die Abschlussprüfungen zu büffeln, und außerdem hab ich … na ja, ich hab grad rausgefunden, dass Josh mich wieder mal für dumm verkauft.«

»Was?« Lauren schnappte ihrer Mitbewohnerin eine Eistüte aus der Hand und wedelte ihr mit dem Pinsel vor der Nase herum. »Was hat er denn diesmal angestellt?«

»Ich hab rausgefunden, dass er dieses Wochenende mit Grace ins Beyoncé-Konzert im United Center geht!« Lexie leckte an ihrem Eis. »Da sollte er doch mit mir hingehen!« Sie ließ die Schultern hängen. »Das sollte unser letztes großes Date sein, bevor wir in den Sommerferien nach Hause fahren.«

»Schick den Loser endlich in die Wüste«, riet Lauren und legte den Pinsel weg. »Und zwar auf der Stelle!«

Lexie leckte weiter an ihrem Eis, dann riss sie plötzlich die braunen Augen auf. Sofort war Lauren klar, dass ihre Mitbewohnerin irgendetwas ausgeheckt hatte.

»Kann deine Mom uns denn keine Tickets für das Konzert besorgen?«, bettelte Lexie. »Damit wir ihm nachspionieren können?«

Lauren verdrehte die Augen und setzte sich auf ihr Bett. »Theoretisch könnte sie schon. Aber du weißt doch, dass sie das nie tun würde. Sie ist absolut nicht der Typ dafür, um so etwas zu bitten.«

»Nicht zu fassen, dass deine Mutter für Paparazzi arbeitet und diese Connections nie ausnutzt.«

»So ein Risiko würde sie einfach nie eingehen. Ich bin mir sicher, dass sie über das Konzert berichtet … aber nur von ihrem Büro aus«, antwortete Lauren, dann fügte sie hinzu: »Lexie, du musst dir diesen Typen endlich aus dem Kopf schlagen. Er ist einfach nicht gut für dich.«

Lexie stand auf, schob sich die halb aufgegessene Eiswaffel in den Mund und fing an, auf ihrem Handy zu tippen.

»Erledigt!«, rief sie wenige Sekunden später.

»Wie romantisch!«, meinte Lauren, dann musste sie über ihre Mitbewohnerin lachen. »Übrigens, dir ist hoffentlich klar, dass du wie ein schwangeres Känguru aussiehst, oder?«

Lexie sah an ihrem aufgeplusterten Bauch hinunter und erstickte beinahe an der Eistüte, die sie immer noch im Mund hatte.

»Hab ich ganf fergeffen«, nuschelte sie an der Waffel vorbei. Sie griff in die vollgestopfte Tasche ihres Kapuzenshirts und ließ eine Flut aus Umschlägen und Päckchen aufs Bett regnen. »Hier. Post.«

Lauren begann, sich durch die darauf verstreuten Briefe zu wühlen, und bei jedem Umschlag, den sie öffnete, wurde ihr schwerer ums Herz: Benachrichtigungen über Praktika bei Banken und Unternehmen der Fortune 500, Termine für Bewerbungsgespräche auf dem Campus, Anzeigen für Jobmessen. Es war schon spät im Jahr, und sie hatte jede dieser Benachrichtigungen ignoriert. Und musste ihrer Mutter erst noch beichten, dass sie kein Praktikum oder einen Job für den Sommer vorweisen konnte.

Seufzend ließ Lauren den Kopf hängen, dass ihr die blonden Locken vors Gesicht fielen.

»Dadurch kannst du die Zukunft auch nicht ausblenden«, meinte Lexie. »Warum sagst du deiner Mom nicht einfach, dass du mit deinem Hauptfach nicht glücklich bist?«

»Du kennst sie doch«, erwiderte Lauren. »Glücklich zu sein hat in der Gleichung ihres Lebens schon seit einer ganzen Weile keinen großen Stellenwert mehr.«

»Aber wenn du jetzt schon unglücklich bist«, gab Lexie zu bedenken, »dann stell dir nur vor, wie du dich in zwanzig Jahren fühlen wirst.«

Lauren seufzte.

»Hey, was ist das da?«, fragte Lexie plötzlich und zeigte auf einen kleinen, gelben Luftpolsterumschlag, der auf ihrer lilafarbenen Northwestern-Bettwäsche thronte.

Auf dem Umschlag stand Laurens Name, doch die konnte die krakelige Handschrift erst nicht zuordnen, bis sie die Absenderadresse aus Michigan sah. »Grandma!«, rief sie aus. Freudig riss sie den Umschlag auf, um darin eine Karte und eine kleine Schachtel zu entdecken.

»Ich wette, ich weiß, was es ist«, lachte Lexie. Sie ließ sich aufs Bett fallen. »Na, mach schon auf!«

Lauren klappte die kleine Schachtel auf und fand darin einen silbernen Charm in Form eines Heißluftballons.

»Lies vor«, drängte Lexie.

Bei dem Gedanken an Lolly musste Lauren lächeln. Sie vergötterte ihre Großmutter – ihre verrückten Perücken, ihre sorglose Art, ihre Liebe zur Natur, ihr feuriges Temperament.

Lauren nahm die Karte und begann mit wachsender Rührung in der Stimme zu lesen:

Dieser Anhänger steht für ein Leben voller Abenteuer!

YOLO, vergiss das nicht!

Alles Liebe,

Grandma

»Sie kennt ›You Only Live Once?‹«, fragte Lexie verblüfft, dann klappte sie ihren Laptop auf, um davon abzulenken, dass ihre Stimme plötzlich rau klang. »Deine Großmutter ist so aufmerksam. Ich vermisse meine eigene Grandma. Ich hatte sie so lieb.«

Tief von Lexies Worten berührt, strich Lauren ihrer Mitbewohnerin über die Schulter. »Sie ist immer noch bei dir.«

»Ich weiß.« Lexie biss sich auf die Lippe und wechselte das Thema. »Also: Abschlussprüfung Wirtschaftswissenschaft. Schätze, es wird höchste Zeit, was?«

Lauren gab dem Heißluftballon einen kleinen Kuss, bevor sie ihn vorsichtig an ihrem bereits überladenen Armband befestigte. Dann ging sie zu ihrem Schreibtisch und legte die Karte neben das Picasso-Zitat. Sanft strich sie über die Handschrift ihrer Großmutter. Mit einem Blick auf Lexie versuchte sie sich vorzustellen, wie es wäre, die eigene Großmutter zu verlieren.

Ist sie inzwischen wirklich schon siebzig? Kann das überhaupt sein?

Lauren sah hoch, betrachtete ihre Litanei aus akademischen, künstlerischen und sportlichen Erfolgen, die die Wand säumten, und seufzte.

Du hast ja so recht, Grandma. Ich brauche wirklich ein Abenteuer.

Erneut starrte Lauren aus dem Fenster auf ihre Kommilitonen, die sich am Seeufer vergnügten. Sie schloss die Augen.

Als sie noch klein gewesen war, hatte sie ihre Großmutter jeden Sommer in Michigan besucht, in deren Blockhütte am Lost Land Lake nahe einer Kleinstadt namens Scoops. Es war die schönste Zeit ihres Lebens gewesen. Die Beziehung ihrer Mom zur deren eigener Mutter war Lauren dagegen stets so kalt vorgekommen wie die Eistüten, die sie und ihre Großmutter im Sommer beinahe täglich verdrückten.

»Wenn man von Eiscreme Kältekopfschmerz bekommt, dann ist es das allemal wert, nicht wahr, Liebling?«, pflegte ihre Großmutter zu sagen, wenn sie Lauren mit ihren feuerrot lackierten Fingernägeln die Schläfen massierte.

Mit ihrer Großmutter war jeder Tag ein Abenteuer: Sie brachte ihr alles bei: malen, schwimmen, daran zu glauben, dass alles möglich ist.

»Lachen und träumen sind das Wichtigste auf der Welt, mein Liebes«, sagte sie stets. »Das sind die Dinge, die wir als Erwachsene vergessen.«

Lauren dachte wieder an die Worte von Picasso, ging zu ihrer Staffelei und holte ihre Farben hervor.

Sie konnte das Gesicht ihrer Großmutter vor sich sehen, ihr Lachen hören, ihre Wärme spüren. Eigentlich sollte sie für die Abschlussprüfung lernen, anstatt zu malen.

Ich wünschte, ich könnte ganztägig malen, dachte Lauren mit einem Blick auf ihre Wand der Auszeichnungen. All die vielen Male, die ich es auf die Bestenliste geschafft habe, all die vielen Male, die ich meine Leichtathletikwettbewerbe gewonnen habe, und es hat ihn nicht einmal interessiert.

In Laurens Zimmer gab es kein einziges Foto von ihrem Dad. Abgesehen von gelegentlichen Briefen und dem Scheck zum Geburtstag und zu Weihnachten hatte sie von ihrem Vater seit Jahren nichts mehr zu Gesicht bekommen. Er hatte sie im Stich gelassen, und sie hegte keinerlei Absicht, seine neue Familie kennenzulernen.

Dass man sie an der Northwestern angenommen hatte, war Laurens eigener Verdienst gewesen: Ihre Noten und Auszeichnungen hatten natürlich dabei geholfen, aber es war ihr Talent gewesen – ihre Kunst –, das ihr die Aufnahme ermöglicht hatte.

Doch als Lauren damals für ihr erstes Jahr am College ihre Sachen packte, geschah etwas, das ihr Leben völlig veränderte: Sie fand die abscheulichen Briefe ihres Vaters auf dem Dachboden. In der Garage stieß sie auf die Einzelheiten der Scheidungsvereinbarung. Sie entdeckte die Kontoauszüge und überfälligen Rechnungen im Sekretär ihrer Mutter, und während diese bei der Arbeit war, las Lauren das Tagebuch, das ihre Mutter in einem Schuhkarton unter dem Bett versteckt hatte. So erfuhr sie die Wahrheit: Ihr Vater weigerte sich, Arden bei der Erziehung ihrer Tochter zu unterstützen.

Manchmal muss man seine Leidenschaft aufgeben, um zu überleben, hatte ihre Mutter in ihr Tagebuch geschrieben.

Lauren war von Schuldgefühlen überwältigt worden. Bis zu diesem Zeitpunkt war ihr nicht bewusst gewesen, wie viel ihre Mutter geopfert hatte, und sie schwor sich, dasselbe zu tun: Eine viertel Million Dollar für einen Kunstabschluss war völlig unrealistisch. Wie konnte sie von ihrer Mutter erwarten, solch eine Summe zurückzuzahlen? Aber ein Wirtschaftsabschluss, und dann ein MBA? Damit könnte sie ihrer Mutter helfen, sich aus der finanziellen Notlage herauszukämpfen. Sie könnte dabei helfen, das Chaos, das ihr Vater angerichtet hatte, zu lindern.

Und dann, wenn es noch nicht zu spät ist, könnte ich immer noch malen, schwor Lauren sich.

Nun verstand sie das Mantra ihrer Mutter: »Sei vernünftig«, predigte sie ständig. »Sei vorsichtig. Sei organisiert.«

Es stand in direktem Gegensatz zu dem Mantra ihrer Großmutter: »Träume, mein Liebling. Träume!«

Obwohl sie eigentlich lernen sollte, begann Lauren zu malen. Sie vergaß alles um sich herum, bis auf ihre Pinselstriche.

»Wow«, riss Lexies Ausruf sie schließlich aus ihrer Trance. »Ich meine, wow!«

Lauren hielt inne und betrachtete ihr entstehendes Werk.

Wenn sie malte, verblasste die Welt um sie herum. Sie lebte in dem Gemälde.

»Du weißt hoffentlich, wie talentiert du bist, oder?«, fragte Lexie bewundernd. »Das ist eine Gabe.«

Lauren lächelte und berührte zögerlich die noch feuchte Leinwand, als wäre das Gemälde ein Vogel, den sie nicht durch eine plötzliche Bewegung aufschrecken wollte. Wenn es fertig war, würde das Bild ihre Großmutter zeigen, wie sie an einem Eis leckte, das schnell in der Sommersonne schmolz, ihr alterndes Gesicht eine Mischung aus kindlicher Freude und reifen Zügen.

»Du hast ihre Augen«, stellte Lexie fest. »Die gleiche Farbe wie der Himmel jetzt gerade. Ich muss farbige Kontaktlinsen tragen, damit meine so aussehen, weißt du?«

Lauren musste lächeln. »Danke, dass du so eine großartige Freundin und Mitbewohnerin bist.«

»War anfangs nicht gerade einfach«, antwortete Lexie. »Weißt du noch?«

Lauren nickte.

Als sie an der Northwestern angefangen hatte, war Laurens ursprüngliche Begeisterung fast schon in eine Depression abgeglitten, nachdem sie die finanziellen Schwierigkeiten ihrer Mutter herausgefunden und ihr Hauptfach gewechselt hatte.

Die werden mich zwingen, mit irgendeiner Langweilerin zusammenzuwohnen, die Statistiken liebt und sich weigert, auszugehen, war Lauren felsenfest überzeugt.

In den ersten Wochen verhielt sie sich Lexie gegenüber eisiger als ein Winter in Chicago. Sie belegten beide den Grundkurs Statistik I, und Laurens Anspannung war regelrecht greifbar.

»Wie können die das nur eine ›gut verständliche und umfassende Einführung in die Statistik‹ nennen?«, stieß Lauren eines Abends in ihrem Studentenzimmer frustriert hervor, und ihre Stimme wurde immer lauter. »Gut verständlich? Data-Mining? Quantitative Methoden? Im Ernst jetzt?«

»Lass mich dir helfen«, bot ihre Zimmergenossin in dem offensichtlichen Versuch, sie zu beruhigen, an.

»Nicht nötig«, erwiderte Lauren trotzig. »Ich bin eben kein solches Genie wie du.«

»Weißt du was?«, platzte Lexie der Kragen. »Mir reicht’s! Du willst keine Hilfe. Du willst nicht reden. Du willst mich nicht kennenlernen. Du willst dich einfach nur in Selbstmitleid suhlen. Schön! Kannst du haben. Ich verschwinde!«

Und damit packte sie ihre Sachen zusammen und schlug die Tür hinter sich zu.

Frustriert begann Lauren zu malen. Langsam tauchte aus der Leinwand ein kleines Mädchen auf, das im Schlauch eines alten Autoreifens auf dem See planschte, während sich am Horizont ein Sturm zusammenbraute.

Lauren war gegen ein Uhr früh eingeschlafen, und als sie aufwachte, sah sie, wie Lexie ihr Gemälde betrachtete.

»Du wolltest eigentlich nie Betriebswirtschaft als Hauptfach, stimmt’s?«

Lauren schüttelte den Kopf und brach in Tränen aus.

»Erzähl mir, was los ist«, bat Lexie. »Bitte.«

Von diesem Moment an wurden die beiden unzertrennlich. Und als Lauren ihrer Großmutter erzählte, was Lexie ihr für eine Hilfe gewesen war, schickte sie den Mädchen zwei Anhänger in der Form von Puzzleteilen mit der Aufschrift ›Beste‹ auf dem einen und ›Freundin‹ auf dem anderen, die sie seitdem gewissenhaft trugen.

»Schätze, ich kann das Unvermeidliche nicht länger vor mir herschieben«, kehrte Lauren mit einem Kopfschütteln in die Gegenwart zurück. »Wollen wir irgendwo hingehen und gemeinsam büffeln?«

»Klar. Ich muss mich nur noch schnell fertig machen, okay?«

»Wofür?«

»Ich bin doch jetzt wieder Single«, erklärte Lexie. »Da kann ich doch nicht so vor die Tür gehen!«

»Na, dann beeil dich.« Lauren band ihr Haar zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammen und knotete sich eine leichte Jacke um die Hüften.

»Du brauchst echt nichts zu tun, um gut auszusehen, oder?«, seufzte Lexie auf dem Weg ins Bad, das ihr Zimmer mit dem der Mädchen nebenan verband. »Gib mir fünf Minuten, okay?«

Kopfschüttelnd setzte Lauren sich aufs Bett, da sie wusste, dass fünf Minuten in Lexies Welt in Wahrheit eher zwanzig Minuten bedeuteten.

Nachdenklich betrachtete sie das Gemälde. Ich vermisse meine Grandma. Warum kommt einem das Leben eigentlich immer in die Quere? Laurens Handy vibrierte, und sie zog es aus der Jeanstasche. Es war eine SMS ihrer Mutter.

Treffen wir uns zu einem späten Mittagessen?

Will gleich mit Lexie für die Abschlussprüfung lernen. Ein sehr spätes Mittagessen kann ich schaffen. Um 3?

OK. Wir treffen uns unter Marilyn. Hab dich lieb!

OK. Ich dich auch.

Lauren hielt kurz inne und schrieb dann eine weitere Nachricht.

Hast du von Grandma auch einen Charm bekommen?

Ja. Einen verrückten Hutmacher.

Ich mach mir ein wenig Sorgen um sie.

Laurens Herz klopfte, als sie an ihre so weit entfernte Großmutter dachte. Dann schrieb ihre Mutter zurück: Ich auch. Wir reden später.

Lauren kicherte. Mit ihrer Mutter zu reden, war oft eher Familiengericht als Unterhaltung.

»Fertig?« Lauren schnappte sich ihre Handtasche und wartete ungeduldig.

»Nur noch ein paar Minuten«, kam es von Lexie zurück. »Meine Haare wollen nicht so wie ich.«

Lauren ließ sich wieder auf das schmale Bett fallen und warf einen Blick auf die Karte. Die Sonne schien durchs Fenster auf das Porträt ihrer Großmutter, und es war, als erstrahle ihr Gesicht in einem inneren Licht.

3

Arden & LaurenMai 2014

Die überlebensgroße Marilyn-Monroe-Skulptur ragte über Chicagos Magnificent Mile auf, und die kräftige Spätfrühlingsbrise der »Windy City« schien ihren Rock himmelwärts zu wehen.

Es gab Downtown unzählige Restaurants und Wahrzeichen, wo Arden sich mit ihrer Tochter hätte treffen können – den Water Tower, Millennium Park, den Navy Pier –, aber die acht Meter hohe, lebensechte Skulptur der Schauspielerin, für die Ewigkeit festgehalten in ihrer berühmten Szene über dem U-Bahn-Schacht aus Das verflixte siebte Jahr, erschien Arden heute irgendwie passend.

Sie blickte zu der gewaltigen Marilyn aus schimmerndem Edelstahl und Aluminium hoch und dachte an ihre strahlendere, überlebensgroße Mutter und ihre zu kleine Heimatstadt.

Die Dinge haben sich nicht ganz so perfekt entwickelt, wie ich gedacht hatte.

Arden seufzte beim Gedanken an Van und ihren Job. Sie spazierte direkt zwischen Marilyns Beine und tätschelte die riesige Riemchensandale.

Tut mir leid, Marilyn, murmelte sie ihr zu. Fühlt sich so an, als würde ich dafür bezahlt, den Stars unter die Röcke zu gucken.

Sie setzte sich auf eine Betonstufe gegenüber der Skulptur, und beobachtete, wie Touristen sich in typischer Fotopose an die Beine der Statue lehnten und nach oben zeigten.

»Wissen Sie, ob sie …?«, wollte ein korpulentes älteres Ehepaar mit rosigen Gesichtern und Gürteltaschen von Arden wissen.

»Ja«, lächelte Arden geduldig. »Sie hat Unterwäsche an.«

»Würden Sie vielleicht …?«, bat das Pärchen im selben Augenblick und streckte Arden ihre Digitalkamera entgegen.

»Sicher«, antwortete sie und stand auf. »Bitte lächeln!«

Das Paar zeigte mit dem Finger unter Marilyns Rock und lachte verlegen.

»Ist im Kasten!«

Arden sah den beiden nach, wie sie Hand in Hand davongingen, und eine Sekunde lang fühlte sie sich – in einer Millionenstadt – so einsam wie noch nie zuvor.

Sie schloss die Augen und dachte daran, wie sie ein Foto von ihren Eltern gemacht hatte, am Ufer des Michigansees bei Sonnenuntergang. Sie hatten die Hände so positioniert, dass es aussah, als hielten sie die Sonne davon ab, im Wasser zu verschwinden, ihre Gesichter so froh und strahlend wie der flammende Himmel. Bei der Erinnerung daran musste Arden lächeln, bis ihr ihre eigene gescheiterte Ehe unvermittelt in den Sinn kam.

Ich war auch einmal so glücklich verheiratet, dachte sie. Vor … all dem Ganzen …

Plötzlich marschierte eine kleine Gruppe jugendlicher Demonstranten vorbei, die aufgeregt Protestschilder in den blauen Himmel reckten und etwas von College-Darlehen riefen.

Das Wort Darlehen trieb auf der Frühlingsluft an Ardens Ohr und hallte in ihrer Seele wider.

Ihr Puls ging schneller. Wann ist eigentlich die nächste Rate von Laurens Studiengebühr fällig?, fragte sie sich mit einem vertrauten Gefühl von Besorgnis.

Kurz dachte sie daran, ihren Exmann anzurufen und ihn zu bitten, sie diesen Monat bei der Zahlung zu unterstützen, überlegte es sich dann jedoch schnell anders und wollte ihr Handy gerade wieder in die Handtasche stecken, als es klingelte.

»Sicher Lauren«, murmelte sie vor sich hin. »Verspätet sich wahrscheinlich.«

Doch als Arden auf das Display schaute, stutzte sie. Der Anruf kam aus dem Vorwahlbereich ihrer Mutter, es war aber nicht ihre Nummer.

»Hallo?«, meldete sie sich. »Hier ist Arden.«

»Es tut mir sehr leid, wenn ich Sie störe, Mrs Warren …«

»Ich heiße jetzt wieder Lindsey«, antwortete Arden eisig, weil die Anruferin ihren Ehenamen verwendet hatte und weil Arden sie für eine Telefonverkäuferin hielt. »Ich bin geschieden. Und ich kaufe grundsätzlich nichts am Telefon.«

»Oh, tut mir leid. Das hatte ich vergessen«, sagte die Frau mit einem Akzent aus der North-Woods-Region, dann fügte sie unbehaglich hinzu: »Natürlich nicht das mit dem Kaufen, sondern das mit der Scheidung.«

»Wer spricht denn da?«, wollte Arden wissen.

»Hier ist Doris Van Voozle. Mir gehört der Süßwarenladen in Scoops, in dem Ihre Mutter arbeitet. Ich weiß, es ist lange her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben …«

»Oh, ja … ja«, sagte Arden, während sie sich zu erinnern versuchte, wie lange es genau her war. »Wie geht es Ihnen?«

»Gut, Danke! Wir bereiten uns gerade mal wieder auf den Sommer vor«, antwortete Doris. »Die Hochsaison steht vor der Tür. Und alle freuen sich schon darauf, Ihre Mutter wiederzusehen …«

»Darauf möchte ich wetten«, entgegnete Arden, wobei sie versuchte, es so klingen zu lassen, als meinte sie es auch.

»Der Grund, weshalb ich anrufe, ist der, dass Ihre Mutter, nun ja … Sie hat in letzter Zeit ein paarmal ihre Schicht versäumt«, erklärte Doris, eine Spur Besorgnis in der lebhaften Stimme. »Sobald ich sie anrufe, kommt sie sofort … und spielt es dann mit einer scherzhaften Bemerkung herunter. Sagt, sie brauche in letzter Zeit viel mehr Schönheitsschlaf oder dass ihr Terminkalender schwer zu aktualisieren sei, weil sie ihn in Stein meißeln muss.«

Arden lachte. Das klang haargenau nach ihrer Mom.

»Es sieht ihr gar nicht ähnlich, ihre Arbeit zu versäumen«, meinte Arden. »Sie liebt es, im Dolly’s zu arbeiten. Das ist ihr Lebensinhalt.«

»Und wir lieben sie. Deshalb mache ich mir ein wenig Sorgen um sie«, antwortete Doris, bevor sie hinzufügte: »Oh, meine Güte, da ist Lolly ja! Vergessen Sie, dass ich angerufen habe. Ihre Mutter kommt gerade zur Tür rein … Na, wen haben wir denn da?«, rief sie aus. Der gedämpfte Klang verriet Arden, dass Doris schützend die Hand über den Hörer hielt. Doch dann flüsterte sie ins Telefon: »Das sollten wir besser für uns behalten, okay? Ich will sie nicht unnötig aufregen. Jetzt ist sie ja hier. Kein Grund zur Sorge. Ich hoffe wirklich, wir bekommen Sie bald wieder einmal zu sehen. Ihre Mom sagt, es ist schon Jahre her.«

Ardens Sorge um ihre Mutter verwandelte sich augenblicklich in Schuldgefühle.

»Das hoffe ich auch«, bemühte sie sich um einen gefassten Tonfall. »Bitte sagen Sie meiner Mutter, dass ich sie lieb habe. Und wir werden uns bemühen, sie bald zu besuchen. Auf Wiederhören, Doris.«

»Auf Wiederhören, Schätzchen.«

Arden hatte gerade aufgelegt, dachte jedoch immer noch über ihre Mutter nach und was dieser Anruf zu bedeuten hatte, als sie die Stimme ihrer Tochter hörte.

»Oh, Mom!«, rief Lauren und blieb neben Marilyns riesigen Sandalen stehen. »Ich habe dich da gar nicht stehen sehen. Du …«

»… verschmilzt optisch mit dem Beton?«

»Nein«, protestierte Lauren sofort verlegen. »Na ja, irgendwie schon.«

»Ganz im Gegensatz zu dir, junge Dame.«

Lachend drehte Lauren eine Pirouette um Marilyns wohlgeformtes Bein.

Sie trug ein limettengrünes Off-Shoulder-Top, das sich im Wind blähte, dazu enge zitronengelbe Capri-Jeans, große Creolen, mehrere klimpernde Vintage-Halskettchen und ein Set neongelber Silikonarmbänder, die Madonna in den Achtzigern vor Neid hätten erblassen lassen. Ihr blondes Haar fiel ihr zerzaust um die Schultern.

»Na? Wie läuft es mit den Abschlussprüfungen bisher?«, fragte Arden ihre Tochter lächelnd.

»Anstrengend, aber soweit ganz gut. Wirtschaft ist … eben Wirtschaft«, seufzte Lauren.

»Soweit ganz gut? Du klingst aber alles andere als gut. Was ist los?«

Lauren hätte schon unzählige Male Gelegenheit gehabt, damit herauszurücken, dass sie wusste, wie bitter die Scheidung für ihre Mutter gewesen war, und dass sie all die überfälligen Rechnungen und die Kontoauszüge gefunden hatte. So oft hätte sie ihrer Mutter gestehen können, dass sie ihr Wirtschaftsstudium hasste, doch sie wollte ihrer Mutter nicht noch mehr Kummer aufbürden.

»Ich bin wohl nur gestresst von den Abschlussprüfungen, glaube ich. Ich habe Hunger. Was möchtest du zu Mittag essen?«, wechselte sie das Thema.

Arden zog in gespielter Verwunderung die Brauen hoch, und Lauren wusste, dass das nur eines bedeuten konnte: »Garrett’s Popcorn?«, schlug Arden auch gleich darauf vor.

Lauren lachte und zog ihre Mutter von Marilyn fort. Für die meisten Mütter und Töchter würde Popcorn nicht als Mittagessen durchgehen. Aber wenn Lauren und Arden sich gestresst fühlten und wenn es sich um die berühmte Traditionsfirma handelte, dann passte es. »Ich schätze, du willst den Garrett-Mix? Karamell und Käse?«

»Du kannst Gedanken lesen«, scherzte Arden. »Dann schinde ich mich dieses Wochenende eben doppelt so hart in meinem Spinning-Kurs oder jogge eine wirklich lange Strecke.«

»Es ist schließlich Garrett’s!«, pflichtete Lauren ihr bei. »Das ist es absolut wert! Außerdem essen wir es ja ohnehin im Gehen, da verbrauchen wir ein paar der Kalorien gleich wieder, stimmt’s?«

Die beiden sausten hinüber zur Michigan Avenue und reihten sich in die lange Schlange, um sich eine große heiße Tüte der deftig-süßen Popcorn-Kombination zu sichern.

Während sich die Schlange zur Theke wand, erinnerte Arden sich an die vielen Male, die sie zu Garrett’s gegangen waren, um Trennungen, Rückschläge und Enttäuschungen ein wenig leichter zu machen. Da waren Laurens Niederlage beim staatsweiten Debattierwettbewerb gewesen oder die Trennung von ihrem Freund unmittelbar vor dem Abschlussball.

Wie oft bin ich hierhergekommen, nachdem ich mit meinem Exmann gestritten oder nachdem ich mir erfolgreich eingeredet hatte, dass ich meinen Roman nicht fertigzustellen brauche, dachte Arden.

»Eine große Tüte Garrett-Kombi«, sagten die beiden wie aus einem Mund, als sie an der Reihe waren.

Nachdem sie den Rand der riesigen fettverschmierten Papiertüte heruntergerollt hatten, bummelten sie die Straße entlang, betrachteten genüsslich mampfend die Schaufenster und zogen dabei eine Spur Popcorn hinter sich her.

»Schau dir diese Schuhe an, Mom!«, rief Lauren aufgeregt. »Die solltest du dir kaufen.«

Arden starrte auf die Riemchensandalen mit den himmelhohen Absätzen. Solche Schuhe trugen die Stars auf Paparazzi-Fotos, aber nicht Arden. »Zu gefährlich«, meinte sie. »Zu sexy.«

Die beiden betrachteten immer noch das Schaufenster, als sie hinter sich eine Stimme hörten. »Arden?«

»Zoe?«, antwortete Arden überrascht, den Mund voll Popcorn.

»Du siehst gut aus, Arden«, schmunzelte Zoe mit einem Fingerzeig auf Ardens volle Backen.

»Du auch.« Arden schluckte schwer. Sie meinte es ernst: Zoe Sherman sah umwerfend aus – schicke blonde Wuschelfrisur, pilatesgestylter Körper und ein strahlendes Gesicht.

»Wie lange haben wir uns schon nicht mehr gesehen?«, fragte Zoe.

Stotternd rang Arden um eine Antwort.

Arden und Zoe waren Mitglieder einer Chicagoer Schreibgruppe mit dem Namen Algonquin Wine Table gewesen, eine humoristische Anspielung auf den Algonquin Round Table, den berühmten literarischen Zirkel um die Autorin Dorothy Parker im New York City der zwanziger Jahre.

Die Schreibgruppe war einst Ardens Rettung gewesen: Sie hatten sich einmal pro Woche bei einem der Mitglieder zu Hause getroffen, um zu schreiben, zu reden, Wein zu trinken und zu träumen. Während ihrer Ehe war das Schreiben für Arden wie eine Therapie gewesen, obwohl ihr Exmann sich ständig über die Gruppe und ihre schriftstellerischen Ambitionen lustig gemacht hatte. Und dann kam die Scheidung. Es war der schlimmste Tiefpunkt, den Arden je erlebt hatte, und er gab ihr das Gefühl, dass es albern und angesichts der sich türmenden Ausgaben purer Luxus wäre, ein Buch zu schreiben, wenn niemand garantieren konnte, dass jemals etwas Konkretes daraus werden würde.

»Drei Jahre«, antwortete Zoe schließlich für sie. »Lauren war noch auf der Highschool. Wie ist es auf der Northwestern? Immer noch auf die Kunst konzentriert?«

»Die Northwestern ist toll«, sagte Lauren. »Aber ich habe jetzt Wirtschaft als Hauptfach.«

»Wirtschaft? Ich dachte, du wolltest Kunst als Hauptfach studieren?«, wunderte sich Zoe. »Du und deine Mom, ihr wolltet doch Künstler werden. Was ist dazwischengekommen?«

Mit einem Schulterzucken blickte Lauren zwischen ihrer Mom und Zoe hin und her. »Das Leben, schätze ich.«

»Und wie läuft es mit deinem Buch?«, wandte Zoe sich an Arden. »Bist du schon fertig damit?«

»Nein«, antwortete Arden zu hastig und rang sich ein Lächeln ab. »Und du?«

»Ich schon.« Ein breites Lächeln legte sich über Zoes Gesicht. »Und ich habe sogar eine Agentin! Sie wird es den Verlagen anbieten, sobald ich die letzten Korrekturen vorgenommen habe.«

Arden fühlte sich, als könnte sie jeden Augenblick ohnmächtig werden.

»Gratuliere«, sagte sie mit so viel Begeisterung, wie sie aufbringen konnte.

Unvermittelt fiel ihr Blick auf ihr Spiegelbild im Schaufenster, und die letzten Jahre zogen vor ihrem inneren Auge vorüber: Ich habe mehr Falten und graue Haare, aber nicht eine einzige neue Seite geschrieben. Wie schnell die Zeit vergeht, dachte sie erneut.

»Ihr beiden seht aus, als wärt ihr irgendwohin unterwegs«, meinte Zoe schließlich. »Ich will euch nicht aufhalten. Ich wollte nur kurz Hallo sagen. Und Arden, wir treffen uns immer noch einmal die Woche. Es wäre toll, dich wieder dabeizuhaben!«

Arden zupfte an ihrem Ohrläppchen. »Ich werde es ganz bestimmt versuchen«, antwortete sie. »Es war auch toll, dich wiederzusehen.«

»Lass mal von dir hören!« Zoe umarmte ihre Freundin. »Du fehlst mir.«

Arden und Lauren setzten ihren Spaziergang entlang der Unterführung unter dem Lake Shore Drive fort.

»Wie kommst du denn mit deinem Buch voran, Mom?«, fragte Lauren ermutigend. »Ich glaube, es wäre super für dich, wieder zu der Schreibgruppe zu gehen.«

»Hier.« Arden reichte ihrer Tochter die Tüte Popcorn. »Irgendwie habe ich keinen Hunger mehr.«

Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück, bevor sie auf die Promenade hinaustraten, die sich die gesamte Gold Coast entlang erstreckte. Skyline und Seeufer schimmerten, während Chicago nach einem langen Winter langsam wieder zum Leben erwachte.

Am Oak Street Beach blieb Lauren stehen, streifte die Schuhe ab und testete mit den Zehen die Temperatur des Sands.

»Er ist schon wieder warm!«, stellte sie glücklich fest, rannte auf die Uferlinie zu und fand ein Plätzchen, um sich in den Sand zu setzen.

»Komm schon, Mom!«, rief sie zurück zu Arden.

Arden seufzte und zog langsam ihre Schuhe aus.

»Ich kann nicht voller Sand wieder zurück zur Arbeit kommen«, meinte sie zögernd.

»Warum denn nicht?«

Arden dachte sorgfältig darüber nach, bevor sie sich ihren Weg zu ihrer Tochter bahnte.

»Ein spontaner Tag am Strand.« Lauren zog ihre Mutter zu sich in den Sand.

Arden sah ihre Tochter an und folgte dann ihrem Blick hinaus über den See. Trotz des strahlenden Sonnenscheins und der steigenden Temperaturen war das Wasser des großen Sees immer noch kalt, und der Temperaturunterschied zwischen Wasser und Luft erzeugte einen geisterhaften Nebel, der wie ein Spuk über den Wellen hing. Arden wünschte sich, sie könnte sich entspannen, aber mit ihrer Arbeit und ihren finanziellen Verpflichtungen hatte sie den Kopf zu voll dafür. Ihr Körper war stets angespannt, ihr Verstand schwirrte wie ein Kolibri. Und nun machte sie sich auch noch Sorgen um ihre Mutter.

»Ich habe dir noch gar nicht gezeigt, was Grandma mir heute geschickt hat, oder?«, fragte Lauren. Sie hob das Handgelenk und ließ ihre Charms klimpern. »Einen Heißluftballon … Für ein Leben voller Abenteuer!«

Arden blickte hinaus über das Wasser und dachte an ihre Mutter, allein und so weit fort, durch den großen See getrennt von ihr und doch auch mit ihr verbunden.

»Ich mache mir Sorgen um Grandma«, fuhr Lauren fort. »Sie wird alt, Mom.«

»Ich mir auch«, gestand Arden. »Es ist schon eine ganze Weile her, dass wir sie besucht haben.«

»Dann lass uns doch ein Abenteuer unternehmen!«, schlug Lauren unvermittelt vor und stand auf. »Lass uns zum Memorial Day hinfahren. Was hältst du davon?«

Vor Aufregung wurde Laurens Stimme mit jedem Satz höher. »Ich vermisse sie! Ich mache die Abschlussprüfungen fertig, und du beantragst Urlaub. Ich meine, das sind sie dir schließlich schuldig. Du hast seit Jahren keinen Urlaub mehr genommen.«

Arden zögerte. »Was ist mit deinem Praktikum?«

»Ich rede doch nur von ein, zwei Wochen, Mom.«

»Aber ich habe so viel zu tun«, wandte Arden ein. Sie dachte an Van und sein angedeutetes Versprechen einer Beförderung. »Wie sollen sie ohne mich zurechtkommen?«

»Du hast es dir verdient, Mom. Lass uns Grandma überraschen!« Lauren hielt Arden ihr Armband vors Gesicht und schüttelte es. »Lass uns abenteuerlustig sein.«

Arden dachte an den Anhänger, den ihre Mutter ihr geschickt hatte, und die begleitenden Worte aus ihrem Brief:

Denk dran, wir müssen alle manchmal ein bisschen verrückt werden, um unser Glück zu finden.

Ein verrückter Hutmacher von einer Verrückten.

Das war der Augenblick, in dem eine vergessene Stimme in Ardens Hinterkopf – eine, die unheimlich nach der ihrer Mutter klang – zum ersten Mal seit langer Zeit ihre rationale Stimme übertönte, und alles, was sie antworten konnte, war: »Okay. Lass uns das machen!«

2. Teil

Die LibelleFür ein Leben voller Glück

4

Die Hauptstraße von Scoops, Michigan, sah aus wie ein zum Leben erwachtes Postkartenidyll. Die kleinen viktorianischen Ladenfronten der Restaurants, Cafés und Boutiquen lockten ihre Kunden mit üppigen Blumenkästen voller Petunien, Ringelblumen und Begonien vor den Fenstern.

»Ich hatte ganz vergessen, wie malerisch es hier ist«, stellte Lauren fest. »Es ist einfach so … süß, so wie auf Bildern von Norman Rockwell. Hey, sollten wir Grandma nicht anrufen und ihr Bescheid sagen, dass wir hier sind?«

»Überraschen wir sie lieber«, entgegnete Arden. Schnuppernd sog sie die Luft ein und roch den süßen Duft von Karamell. »Ich habe so das Gefühl …« Ardens Stimme verklang. Sie nahm ihre Tochter an der Hand und führte sie durch die schmalen, von Weißbirken, Zucker-Ahorn und hohen Kiefern überschatteten Straßen des Stadtzentrums. Entlang der Hauptstraße erstreckte sich ein Binnenhafen, auf dessen schimmernden Wellen sich Boote und Kajakfahrer tummelten – und der über die letzte von Hand betriebene Kettenfähre der Vereinigten Staaten verfügte –, während man in der Ferne den Michigansee und seine aufragenden Dünen sehen konnte. Es war eine majestätische Kulisse.

Sie liefen durch die geschäftige kleine Stadtmitte, bis sie auf eine Menge Sommerfrischler trafen, die sich auf dem Gehweg vor Dolly’s Süßwarenladen drängten.

»O Mann! Die Fudgies hatte ich ja völlig vergessen«, stieß Arden hervor. Fudgies war der Spitzname der Einwohner Michigans für die Touristen, die in der Zeit vom Memorial Day Ende Mai bis zum Labor Day Anfang September die Ferienorte an der Küste überrannten. »Die sind wie Zombies. Man wird sie einfach nicht los. Und sie kommen jedes Jahr früher.«

»Mom, pssst!« Lauren versetzte ihr einen Klaps auf den Arm und wies mit einem Nicken auf Dollys nostalgische rote Ladenfassade. »Du weißt doch, warum sie hier sind.«

»Stimmt.« Arden trat näher und klopfte an das große Schaufenster, in das Dollys Logo eingraviert war. »Hallo, Mom«, sagte sie durch die Scheibe.

Lolly blickte von den Kupferkesseln hoch, als sie die Stimme ihrer Tochter hörte, und der verblüffte Ausdruck auf ihrem Gesicht wich heller Freude. Sie hüpfte begeistert auf und ab, bevor sie einer jungen Angestellten ihren mit Karamell-Fudge überzogenen Holzlöffel reichte und hinausrannte.

Lolly Lindsey war schon die Attraktion von Scoops, so lange Arden zurückdenken konnte. Sie stand bereits seit Jahrzehnten im großen Schaufenster von Dolly’s Süßwarenladen, eine prominente Persönlichkeit in dieser typisch amerikanischen Kleinstadt, auffällig wie die extravagante Mame in Die tolle Tante. Obwohl viele des Fudges wegen herbeiströmten, kamen die meisten wegen der Show. Lolly war ein regionales Kulturgut. Sie trug stets eine ihrer unzähligen altmodischen, bunt bedruckten Schürzen: rot mit bunten Eiswaffeln, weiß mit Blaubeeren oder Kirschen verziert, rosa mit tanzenden Cupcakes. Aber ihr Markenzeichen waren die Perücken: rot, pink, weiß; Pagenköpfe und Bienenkorb-Frisuren. Immer zur vollen Stunde gab Lolly eine Gesangs- und Tanzeinlage aus dem Musical Hello, Dolly!, um die Touristen zu unterhalten und in den Laden zu locken.

Arden und ihre Mutter unterschieden sich wie Tag und Nacht: Lolly war so extrovertiert wie Arden zugeknöpft. Aber auch wenn Arden sich oft für Lollys Theatralik schämte, war sie doch überglücklich, ihre Mutter zu sehen.

»Meine Mädchen! Was für eine Überraschung!«, rief Lolly aus und zog Arden überschwänglich in die Arme. »Was um alles in der Welt macht ihr denn hier?« Dann umarmte sie Lauren und hüpfte erneut vor Freude. Lauren stimmte mit ein, und gemeinsam sprangen die beiden kreischend auf und ab, dass ihre Bettelarmbänder rasselten.

»Wir haben dich vermisst und wollten das Memorial-Day-Wochenende mit dir verbringen!«, antwortete Lauren atemlos. »Ich hab dich lieb, Grandma!«

Lolly hörte auf zu hüpfen und drückte ihre Enkelin an sich. »Ich hab dich auch lieb, mein Liebling«, flüsterte sie, bevor sie sich zu Arden wandte und deren Wangen mit Küssen übersäte. »Und dich hab ich auch lieb, mein Baby. Es ist schon viel zu lange her.«

»Ich weiß«, antwortete Arden. »Ich hab dich auch lieb, Mom.«

Mein Gott, ist sie alt geworden, schoss es Arden durch den Kopf, als Lolly das Gesicht ihrer Tochter in die Hände nahm, um sie anzusehen.

Selbst trotz der Perücke und all dem Make-up wirkte ihre Mutter so viel älter als beim letzten Mal, als sie sie gesehen hatte. Lollys leuchtend roter Lippenstift setzte sich in den tiefen Fältchen ab, die von ihren Lippen aus verliefen. Unter der dicken Grundierung waren immer noch dunkle Augenringe zu erkennen, und ihre Wangen wirkten hohl trotz des Rouges. Sogar die Augenfarbe ihrer Mutter – lange Zeit so blau wie die Hortensien, die sie so liebte – schien verblasst. Die Schürze und der Jogginganzug darunter konnten ihren schrumpfenden Körper und den sich rundenden Rücken nicht verbergen.

»Also, was bringt meine Mädchen so unangekündigt nach Michigan?«

Lauren und Arden sahen einander nur stumm an.