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Isabell ist ein ausgesprochener Weihnachtsmuffel. Diese für andere so schöne Zeit würde sie am liebsten aus dem Kalender streichen. Doch dann verschlägt es sie aufgrund einer Erbschaft aus der Hauptstadt Berlin mitten in das idyllische Waldauberg. Dort hat sie gar keine Chance, sich den Weihnachtsvorbereitungen zu entziehen. Tja, und dann sind da ja auch noch ein nettes Café, der hübsche Lukas und die kleine Emma, die sie schon bald um den Finger wickelt. Ein romantischer Weihnachtsroman mit einigen Komplikationen und viel Herz.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Edition Paashaas Verlag
Autor: Brigitte Kemptner Cover-Motive: Pixabay.com Covergestaltung: Michael Frädrich Lektorat: Renate Habets Originalausgabe November 2025 Edition Paashaas Verlag – www.verlag-epv.de Printausgabe: ISBN: 978-3-96174-277-6
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Produktsicherheit (General Product Safety Regulation-GPSR):
Edition Paashaas Verlag, M. Klumpjan,
Im Lichtenbruch 52, 45527 Hattingen
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://dnb.d-nb.de.
Ein Herz für Weihnachten
Mit entsetzten Augen starrte das Mädchen auf die Szene, die sich vor seinen Augen abspielte: „Du bist so gemein!“, rief es, doch der Stiefvater nahm keine Notiz davon. Grob packte er den Arm des Nikolaus‘ und beförderte ihn aus der Wohnung. Den Sack, in dem sich eine Tüte Süßigkeiten und ein Malbuch befanden, warf er gleich hinterher. Als er die Tür hinter ihm zugeworfen hatte, ging er ins Wohnzimmer zu seiner Frau, die neben dem weinenden Kind stand: „Du weißt genau, dass ich nichts Weihnachtliches bei uns dulde. Dazu gehört auch der Nikolaus.“
„Ich wollte doch nur einmal Isabells sehnlichsten Wunsch erfüllen. Schon seit Tagen nervt sie mich damit, dass der Nikolaus auch mal zu ihr kommen soll. Die anderen Kinder im Kindergarten …“
Die Frau kam nicht dazu, den Satz zu vollenden, weil ihr Mann dazwischen sprach: „Was gehen mich die anderen Kinder an? Deine Tochter ist alt genug, um zu begreifen, dass es weder einen Nikolaus noch einen Weihnachtsmann gibt.“
„Sie ist doch erst sechs.“
„Eben, alt genug, sagte ich doch.“ Dann wandte er sich an das Kind. „Es tut mir leid, Mädchen, aber je eher du verstehst, dass ich in meiner Wohnung nichts mit Weihnachten zu tun haben will, umso besser.“
Die Kleine schaute ihre Mutter aus tränennassen Augen flehend an. Doch diese machte keinerlei Anstalten, die Tochter in den Arm zu nehmen und zu trösten. Stattdessen ging sie zu ihrem Mann und umarmte ihn. „Ja, ich werde mich in Zukunft daran halten.“
Zornig verließ das Mädchen den Raum. Im Flur griff es nach dem erstbesten Gegenstand auf einer Kommode und warf ihn zu Boden. Es war eine Glasvase, die in tausend Scherben zersprang. Auf die Ohrfeige der Mutter war es allerdings nicht vorbereitet.
27 Jahre später
Wenn mir jemand prophezeit hätte, dass sich mein Leben von diesem Tag an verändern würde, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Ja, wirklich. Es war ein eher unangenehm kalter Tag. Schon viel zu kalt für den vorletzten Monat des Jahres. Ein rauer Ostwind wehte, der mir die Tränen in die Augen trieb. Ich fröstelte sogar noch unter meiner warmen Daunenjacke. Das änderte sich auch nicht, als ich die Kapuze über meine kurzen Haare zog. Jetzt ärgerte ich mich doch, dass ich mir keine Handschuhe mitgenommen hatte. Was soll’s, dachte ich.
Eigentlich war es auch kein Wetter für eine Beerdigung. Aber ich würde diese schon überstehen. So starrte ich nur ausdruckslos auf das Grab, in das gerade der Sarg hinab gelassen wurde. Sicher war das ungemütliche Wetter schuld daran, dass nur wenige Besucher der Beerdigung beiwohnten. Ich kannte keinen von ihnen.
Von der Grabrede des Pfarrers bekam ich auch kaum etwas mit, weil sich meine Gedanken um ganz andere Dinge drehten. Dann war es endlich vorbei, und ich konnte gehen. Doch allzu weit kam ich nicht. Jemand sprach mich an: „Sie sind also Gretes Enkelin?“
Erschrocken zuckte ich zusammen. Dann starrte ich eine ältere Frau mit vor Kälte geröteten Wangen an. Ich nickte, auch wenn es mir noch immer schwerfiel, das zu glauben. Meine Mutter hatte nie über meine Großmutter gesprochen. Im Gegenteil, sie hatte einmal sogar gesagt, dass sie schon lange tot sei.
„Grete und ich waren viele Jahre lang nicht nur Nachbarn, sondern auch Freundinnen“, redete die Frau weiter. „Sie erwähnte einmal ihre Tochter, aber sie hatte keinen Kontakt zu ihr. Warum das so war, hat Grete mir nie verraten. Ich habe sie auch nicht bedrängt. Als der Krebs kam, hat sie ihre Tochter durch einen Anwalt suchen lassen. Doch der konnte ihr nur mitteilen, dass sie nicht mehr lebt. Aber es soll ein Kind geben, ein Mädchen. Grete ließ dann auch nach ihrer Enkelin suchen, doch leider …“
„Bitte, entschuldigen Sie. Ich muss jetzt wirklich weiter“, unterbrach ich den Redeschwall der Frau. Natürlich war das nicht gerade höflich, aber ich wusste nicht einmal, was ich hätte antworten sollen. Ehrlich gesagt, interessierte es mich auch nicht.
Dass ich Margarete Wohlgemuths Enkelin sein sollte, ging jedenfalls aus dem Brief eines Heidelberger Anwalts hervor, den ich vor gut zwei Wochen erhalten hatte.
Ich ließ die Dame nach einem kurzen „Auf Wiedersehen“ stehen und ging rasch in Richtung Parkplatz davon.
Abermals wurde ich angesprochen: „Frau Isabell Kogler! Warten Sie bitte.“
Ich drehte mich um. Ein untersetzter Mann mit Hornbrille, ich schätzte ihn auf Mitte Fünfzig, kam auf mich zu.
„Doktor Bach“, stellte er sich vor. „Herzliches Beileid. Ich habe Sie angeschrieben. Können Sie morgen Vormittag um 10:00 Uhr in meine Kanzlei kommen? Schillerstraße 1. Es geht um den Nachlass Ihrer Großmutter.“
„Natürlich“, antwortete ich. Am liebsten aber wäre ich gleich wieder zurück nach Berlin gefahren. Ich fühlte mich hier so richtig fehl am Platz.
In meinem Pensionszimmer, in einem Vorort von Heidelberg, holte ich den Brief des Anwalts aus meiner Handtasche. Noch einmal überflog ich die wenigen Zeilen, die den Tod meiner unbekannten Großmutter beinhalteten. Ferner teilte er mir sowohl den Ort als auch den Zeitpunkt der Beisetzung mit. Längst bereute ich, den weiten Weg von Berlin nach Heidelberg gemacht zu haben. Was ging mich denn eine Frau an, die ich nicht kannte? Von der ich nie gehört hatte? Die nicht einmal Kontakt mit ihrer eigenen Tochter hatte, aus welchem Grund auch immer? Vielleicht sogar wegen mir? Aber da ich nun schon einmal hier war, wollte ich mir wenigstens noch anhören, was der Anwalt zu sagen hatte. So war der weite Weg wenigstens nicht ganz umsonst gewesen.
Pünktlich am nächsten Tag saß ich Doktor Bach gegenüber. Nachdem er der Form halber meine Personalien festgestellt hatte, schlug er einen Ordner auf. Dann gab er mir einen verschlossenen Brief.
„Den hat mir Ihre Großmutter für Sie gegeben, für den Fall, dass sie ein Treffen mit Ihnen nicht mehr erlebt. Lesen Sie ihn in aller Ruhe“, meinte er.
„Sind Sie wirklich sicher, dass es sich um keine Verwechslung handelt? Man hört ja so viel.“
„Ziemlich sicher. Ihre Mutter hieß mit Mädchenname Luise Kogler, war verheiratet mit Paul Haase.“
Das bestätigte ich. Auch das Geburtsdatum stimmte.
„Nachdem Frau Wohlgemuth, geborene Kogler, von ihrer Krebserkrankung erfuhr, hat sie unsere Kanzlei beauftragt, nach ihrer unehelichen Tochter zu suchen. Sie wollte ihre Hinterlassenschaft klären, sich mit ihr aussprechen und vor allem versöhnen, bevor es dafür zu spät ist. Das war vor über einem halben Jahr. Es hat einige Zeit in Anspruch genommen, bis ich mit Hilfe einer Detektei Ihre Mutter in Hamburg ausfindig machen konnte, die nach ihrer Hochzeit Haase hieß. Doch zu spät, sie war schon vor einigen Jahren gestorben. Aber ich erfuhr, dass sie eine Tochter haben soll. Das teilte ich Ihrer Großmutter mit. Luises Tod hat sie sehr getroffen. Daraufhin hat sie mich angefleht, ihre Enkelin zu suchen. Doch das kostete wiederum wertvolle Zeit. Zeit, die Ihre Großmutter nicht mehr hatte. Denn an dem Tag, an dem ich ihr die frohe Botschaft mitteilen konnte, dass ich ihre Enkelin in Berlin gefunden habe, ist sie gestorben. Den Brief, den ich Ihnen überreicht habe, hat Frau Wohlgemuth für den Ernstfall schon vorher geschrieben. Ich darf Ihnen hiermit zu Ihrer Erbschaft gratulieren.“
An dieser Stelle wäre wohl jeder andere in Freude ausgebrochen. Aber nicht ich. Denn das Gehörte musste ich erst einmal verdauen. Ich hatte geerbt. Von einer mir wildfremden Frau, deren Enkelin ich sein sollte. Ich musste plötzlich an meine Mutter denken. Unser Verhältnis war nicht so, wie es eigentlich zwischen Mutter und Tochter hätte sein sollen. Sie war nicht böse zu mir, konnte mich aber nie so richtig lieben, geschweige denn mich mal in den Arm nehmen oder trösten, wenn ich Kummer hatte. Warum hatte sie mir damals erzählt, dass meine Oma tot war, obwohl sie noch lebte? Wie gerne hätte ich eine Großmutter gehabt, wie andere Kinder auch.
„Wollen Sie denn gar nicht wissen, was Sie geerbt haben?“, drang die Stimme des Anwalts in meine Gedanken.
Mein erster Impuls war zu verneinen. Dann sagte ich etwas zu hastig: „Ja. Warum nicht?“
„Es ist ein Haus mit Grundstück in Waldauberg.“
Dieser Ort war mir unbekannt. „Nie gehört. Wo ist das?“, fragte ich höflichkeitshalber.
„Hier, ganz in der Nähe von Heidelberg. Genauer gesagt, hinter Neckargemünd.“
Auch dieser Ort sagte mir rein gar nichts.
„Außerdem ist auch noch ein beträchtlicher Betrag an Bargeld vorhanden“, meinte der Anwalt weiter. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Um 13:00 Uhr habe ich Mittagspause, da könnte ich mit Ihnen rausfahren, wenn Sie wollen.“
„Ich weiß nicht, ob ich diese Erbschaft überhaupt annehme. Wie Sie wissen, lebe ich in Berlin.“
„Das ist mir ja bekannt, aber anschauen können Sie es sich, dagegen spricht doch nichts, oder?“
„Natürlich nicht. Dann bin ich um 13:00 Uhr hier.“
Ich nahm den Brief, stand auf und verabschiedete mich. Da es sich kaum lohnte, in die Pension zu fahren, suchte ich mir ein nettes Lokal. Dort aß ich eine Kleinigkeit, so dass ich pünktlich zur verabredeten Zeit vor der Kanzlei erschien.
Doktor Bach wartete schon. „Fahren Sie mir einfach hinterher“, rief er mir aus seinem Wagenfenster zu. Dann schien er es sich anders überlegt zu haben. „Ach was, steigen Sie ein, wir fahren mit meinem Wagen.“
Na schön, dann musste ich mich auch nicht zu sehr auf den Verkehr konzentrieren.
Der Anwalt war ein guter Fahrer. Er erklärte mir nebenbei die Sehenswürdigkeiten, an denen wir vorüberfuhren.
Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, starrte geradeaus und verschwendete keinen Blick an die Natur ringsherum. Doktor Bach schwieg schließlich, worüber ich nicht böse war. So konnte ich wieder ungestört meinen Gedanken nachhängen.
Als wir Neckargemünd hinter uns gelassen hatten, brach der Anwalt das Schweigen. „Der nächste Ort ist Waldauberg. Ich kenne mich dort sehr gut aus. Meine Tochter lebt dort mit ihrer Familie.“
Erst jetzt schaute ich mich etwas genauer um, wenn auch mit wenig Interesse. Rechts der Landstraße lagen abgeerntete Felder, die mit einem Hauch Raureif bedeckt waren. Links floss der Neckar, dahinter erstreckte sich der Odenwald. Über allem spannte sich ein grauer Novemberhimmel.
„Da vorne können Sie schon die ersten Häuser sehen“, sagte Doktor Bach.
Die Straße, durch die wir kurz darauf fuhren, war menschenleer. Die meisten Ein-, Zwei- oder auch Mehr-Familienhäuser hatten wegen der Kälte ihre Fenster geschlossen. Die Vorgärten waren verwaist. Alles wirkte kahl und leblos.
Als hätte der Anwalt meine Gedanken erraten, sagte er: „Warten Sie mal, bis die Adventszeit losgeht. Dann verwandelt sich der Ort in ein wahres Paradies. Die Fenster werden wieder geschmückt. In vielen Vorgärten sieht man mit Lichtern versehene Tannenbäume und Figuren stehen.“
Ich zog es vor, darauf lieber zu schweigen, da mich das alles nicht im Geringsten interessierte.
Wir bogen noch einige Male ab. Auch hier waren keine Menschen zu sehen, so, als würde der ganze Ort seinen Mittagsschlaf halten.
Da ging es in Berlin wesentlich lebhafter zu.
Erst, als wir zu einem großen Platz kamen, in dessen Mittelpunkt bereits jetzt, Anfang November, ein Monstrum von Christbaum stand, jedoch noch nicht beleuchtet, entdeckte ich die ersten Menschen. Sie gingen von einem Verkaufsstand zum anderen.
„Wie Sie sehen können, ist heute hier Markttag“, meinte der Anwalt. „Wir sind auch gleich am Ziel.“
Noch einmal bog er rechts in eine breitere Straße ab, in der auf beiden Seiten einige Geschäfte zu sehen waren. Auch hier waren etliche Passanten unterwegs.
„Waldauberg ist ein hübscher Ort. Um diese Jahreszeit ist es hier allerdings eher ruhig. Aber warten Sie mal, bis der Frühling kommt, bis die Natur sich wieder von ihrer besten Seite zeigt. Aber erst der Sommer. Da es seit drei Jahren hier eine Schiffsanlegestelle gibt, kommen auch die Touristen nach Waldauberg.“
Ich erwiderte darauf ebenfalls nichts, sondern wollte wissen: „Warum wurde meine … Grete nicht hier beerdigt, sondern in Heidelberg?“ Für das Leben in Waldauberg interessierte ich mich überhaupt nicht.
„Das ist schnell erklärt. Ihr Mann Kurt war aus Heidelberg. Er wollte dort auch seine letzte Ruhe finden. So hatte Ihre Großmutter den Wunsch, ebenfalls dort in aller Stille und ohne großen Aufwand begraben zu werden.“
Deshalb also die wenigen Trauernden …
Am Ende der Straße bog der Anwalt ein letztes Mal rechts ab, fuhr immer geradeaus, bis er vor einem Eckhaus stehen blieb. „Wir sind da. Amalienstraße 19.“
Wir parkten direkt vor dem Haus. Als ich ausstieg, schlug mir eisiger Wind entgegen. Ich zog mir die Kapuze über und ärgerte mich, keinen Schal umgelegt zu haben. „Das ist ja ein Geschäft“, bemerkte ich beim Blick auf die beiden Schaufenster, die von innen abgehängt waren.
„Ja, eine Konditorei mit Café-Betrieb. Die Wohnung befindet sich direkt darüber“, erklärte mir der Anwalt.
Mein Blick wanderte zu der Tafel über dem Schaufenster. Gretes Café stand dort schlicht und einfach.
Die Fassade bestand aus Fachwerk und war in sehr gutem Zustand. Die Sprossenfenster waren mit grünen Klappläden versehen. Meine Großmutter musste wirklich nicht gerade unvermögend gewesen sein.
Doktor Bach räusperte sich. „Wir sollten wieder zurückfahren, ich habe heute Nachmittag noch einige Termine. Denken Sie in Ruhe über die Erbschaft nach. Wie lange bleiben Sie hier?“
„Ich wollte eigentlich morgen schon wieder zurückfahren. Aber ich habe mir die ganze Woche Urlaub genommen. Dann fahre ich eben erst am Samstag zurück.“
„Gut, dann erwarte ich Sie Freitagnachmittag in meiner Kanzlei. Ist das für Sie in Ordnung?“ Er nannte eine Uhrzeit.
„Gut“, erwiderte ich.
Die Fahrt zurück nach Heidelberg legten wir schweigend zurück.
In der Pension Berger ließ ich mich in einen der bequemen Sessel fallen. Ich streifte die Schuhe ab und massierte mir die kalten Füße. Ohne dass ich es verhindern konnte, ließ mich der Gedanke an meine unbekannte Großmutter nicht los, auch wenn ich fand, dass es keinen Grund zur Freude gab. Wäre ich noch Kind gewesen, hätte das sicherlich anders geklungen. Wie sehr hatte ich mir eine Oma gewünscht. Noch sehnlicher liebevolle Eltern, die sich um mich gekümmert hätten. Meine Mutter war nie zärtlich zu mir gewesen. Ein bitterer Geschmack lag mir plötzlich auf der Zunge.
Aus meiner Tasche holte ich den Brief, den der Anwalt mir gegeben hatte. Ich öffnete ihn, zog die Bögen aus dem Kuvert und begann zu lesen.
Meine liebe Enkelin,
ich schreibe dir diesen Brief, weil ich nicht weiß, ob mir noch so viel Zeit bleibt, bis ich dich endlich in meine Arme schließen kann. Dass wir beide uns nie kennengelernt haben, daran bin ich nicht ganz schuldlos. Ich versuche, es dir zu erklären:
Meine Eltern waren für die damalige Zeit der fünfziger Jahre eher modern und fortschrittlich eingestellt. So haben sie mir schon einige Freiheiten gelassen. Das bezog sich allerdings nicht auf den Umgang mit Jungen. Dass ich mit sechzehn schon einen Freund hatte, mit dem ich mich heimlich treffen musste, verschwieg ich deshalb. Aber ich mache es kurz: Es stellte sich heraus, dass mein Freund es mit der Treue nicht so eng sah. Ich machte Schluss. Dann bemerkte ich, dass ich schwanger war. Mit siebzehn. Meine Eltern fielen aus allen Wolken. Ein uneheliches Kind war nun doch eine Katastrophe für sie. Besonders bei einer angesehenen Familie, wie wir es waren. Unsere Bäckerei war damals nämlich die einzige am Platz. Aber es war nun mal passiert. Das Gerede in unserem Ort groß. Vor allem bei den älteren Leuten. Hier kannte ja jeder jeden.
Trotz Gerede im Ort durfte mein Kind bleiben, aber die Vormundschaft und die Erziehung übernahmen bis zu meiner Volljährigkeit meine Eltern. Sie hatten anfangs eine sehr liebevolle Beziehung zu meiner Tochter und verwöhnten sie sehr. Im Gegensatz zu mir. Ich konnte Luise einfach nicht die Liebe entgegenbringen, die sie von mir als Mutter gebraucht hätte. Vielleicht hat sie das gespürt, denn sie hat sich nie mal von mir in den Arm nehmen lassen. Als ich einmal mit ihr allein war und ihr etwas nicht erlaubte, meinte sie trotzig: „Du hast mir nichts zu sagen.“ Für meine Tochter stand ich immer an zweiter, nein, an dritter Stelle. Aber daran war ich wohl selbst schuld.
Als Luise älter wurde, begannen die Probleme. Sie war plötzlich nicht mehr das liebe, folgsame Mädchen. Sie wurde launisch, aufsässig und gehorchte auch nicht einmal mehr den Großeltern. Na ja, mir schon gar nicht.
Sie schwänzte die Schule. Fälschte sogar die Unterschrift von meinem Vater. Was natürlich herauskam. Außerdem stahl sie Geld aus Mamas Haushaltskasse. Manchmal trieb sie sich nächtelang mit Jungen in der Disco herum, wenn wir dachten, dass sie bei einer Freundin übernachtet. Auch das kam ans Tageslicht.
Ich hörte auch oft, wie meine Mutter sich mit Luise stritt. Sicher, weil diese mal wieder nicht im Haushalt helfen wollte. Nach jedem Streit verließ Luise das Haus. Dann sahen wir sie erst am Abend oder in der Nacht wieder. Eines Tages hörte ich, wie mein sonst so ruhiger Vater Luise mit harten Worten vor die Wahl stellte: Entweder gibst du dieses Lotterleben auf, oder du kannst gehen.
Und Luise ging im Alter von fast achtzehn Jahren.
Jetzt wäre Zeit gewesen, mich als ihre Mutter durchzusetzen, sie zurückzuhalten. Aber ich tat es nicht. Das habe ich mir bis zum heutigen Tag nicht verziehen.
Über Luise durfte in unserem Haus fortan nicht mehr gesprochen werden. In diesem Punkt waren meine Eltern sehr streng und unbeugsam.
Wenn du diesen Brief liest, weißt du inzwischen auch von der Erbschaft und dem Café. Das Geschäft ist schon seit vielen Generationen in unserer Familie, und es sollte auch weiterhin so bleiben.
Als ich vierzig war, starben meine Eltern kurz hintereinander an einer Virusinfektion. Fortan stand ich allein da, tat zwei Dinge: Ich suchte einen Bäcker oder Konditor für die Backstube und meine Tochter. Ersteres gelang mir in Gestalt von Kurt Wohlgemuth. Er war einige Jahre älter, Witwer und hatte eine 22-jährige Tochter, die kurz vor ihrer Heirat stand. Wir verliebten uns und heirateten, aber Luise blieb verschwunden. Darüber war ich traurig. Doch ich hatte ja inzwischen zum Glück jemanden, der mich tröstete. Nach unserer Hochzeit änderten wir die Bäckerei Kogler auf Kurts Wunsch hin in Gretes Café. Es lief hervorragend.
Als Kurts Tochter und deren Mann Jahre später bei einem Autounfall starben, haben wir ihren dreijährigen Sohn bei uns aufgenommen. Auch wenn wir eine schöne Zeit mit ihm hatten, vermisste ich mein eigenes Kind. Vielleicht wirst du mir das nach alldem, was ich oben geschrieben habe, nicht glauben, liebe Enkelin, aber es war so.
Das Café lief hervorragend. Wir hatten gehofft, dass Lukas später einmal weiter macht, aber der Junge hatte schon sehr früh andere Pläne. Zwingen wollten wir ihn nicht. Dann starb Kurt und hinterließ eine große Lücke. Ich war damals mit siebzig zwar noch recht fit, aber allein schaffte ich es trotz der beiden Mädchen, die im Café bedienten, nicht. Ich stellte kurzerhand einen jungen Konditor ein, der sein Handwerk gut beherrschte.
Alles lief prima, bis die Schmerzen kamen. Ich war nie jemand, der gleich zum Arzt rennt, wenn es mal piekst. So ignorierte ich es und schluckte lieber mal eine Tablette. Kurz nach meinem achtzigsten Geburtstag habe ich mir bei einem Sturz einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen. Dabei stellten die Ärzte fest, dass ich Krebs habe, der schon gestreut hatte. Da ich nach diesem Bruch nicht mehr gut laufen konnte, außerdem auch niemanden hatte, der mich versorgen konnte, riet man mir, ins Pflegeheim zu gehen. Dort würde man sich gut um mich kümmern. Schweren Herzens schloss ich mein Café. So reifte in mir ein Entschluss: Doktor Bach, den Anwalt, kannte ich bereits, weil sein Vater zu Kurts Freunden zählte. So habe ich ihn beauftragt, nach meiner Tochter zu suchen. Ich wollte nicht eher gehen, bis ich mich mit ihr ausgesprochen habe. Außerdem ging es ja um meine Hinterlassenschaft. Luise musste inzwischen dreiundsechzig sein. Doch der Anwalt konnte mir nur mitteilen, dass sie gestorben ist und eine Tochter hat. Aber leider wusste niemand, wo diese sich aufhält. So bat ich ihn, nach dir zu suchen, meine liebe Enkelin. Ich hoffe nur, dass es für ein Treffen nicht zu spät ist. Falls doch, wird dir Doktor Bach meinen Brief aushändigen und meine Erbschaft an dich, in großer Hoffnung, dass du sie gemeinsam mit meinem Stiefenkel Lukas annimmst.
Es grüßt dich deine Großmutter Grete
PS: Den Brief habe ich einer Person, der ich vertraue, diktiert, weil meine Hände mittlerweile viel zu sehr zittern.
Nachdem ich zu Ende gelesen hatte, dachte ich eine Weile über die Zeilen meiner unbekannten Großmutter nach.
Wollte sie mit dieser Erbschaft etwas wieder gutmachen? Etwa, weil sie ihre Eltern nicht daran gehindert hatte, Luise vor diese Wahl zu stellen, als sie Probleme machte?
Da ich weder Ehemann noch Kind hatte, sondern nur einen langjährigen Lebensgefährten, konnte ich mir darüber eigentlich kein Urteil erlauben. Außerdem war Grete ja eine Fremde für mich. Sicher, sie hatte viel mitgemacht. Doch ich war im Augenblick noch nicht fähig, Mitleid mit ihr zu empfinden. Außerdem lebte ich in Berlin und wollte keinesfalls hier in dieser Einöde meine Zelte aufschlagen. Also würde ich wohl oder übel, falls ich die Erbschaft annahm, verkaufen. Plötzlich jedoch fielen mir die letzten Zeilen im Brief ein, in denen es darum ging, dass ich mir das Erbe mit Gretes Stiefenkel teilen musste. Sofort stellten sich mir die Nackenhaare auf. Aber nicht, weil ich teilen sollte, sondern weil das den Verkauf mit Sicherheit erschweren würde. Warum hatte der Anwalt bei meinem ersten Besuch nicht gleich erwähnt, dass es einen zweiten Erben gab? Dann hätte ich sofort abgelehnt. Aber das konnte ich ja immer noch ändern. Ich verdiente gut, war also auf diese Erbschaft nicht angewiesen.
Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Das matte Licht einer Straßenlaterne fiel ins Zimmer, doch mochte ich nicht die Deckenbeleuchtung einschalten. Eine Weile saß ich nur da und ließ das Gelesene noch einmal in meinem Kopf vorüberziehen. Irgendwo im Haus knallte gerade eine Tür kräftig zu und holte mich in die Gegenwart zurück. Von einer nahen Kirchturmuhr schlug es sechsmal. Zeit zum Essen.
Später telefonierte ich mit Simon.
„Hallo, Schatz“, begrüßte er mich. „Wann kommst du heim? Ich habe Sehnsucht nach dir.“
„Samstag“, erwiderte ich. „Freitag fahre ich noch einmal zum Anwalt. Stell dir vor, ich habe geerbt.“ Kurz schilderte ich meinem Freund die Sachlage.
„Mit einem Miterben.“
„Ja, Simon. Das ist ein Problem. Ich würde die Erbschaft am liebsten ausschlagen.“
„Spinnst du? Sei nicht dumm. So eine Erbschaft schlägt man nicht aus. Du könntest deinen Anteil am Haus verkaufen. Falls es sich auch noch um ein gut florierendes Café handelt, dürften sich bestimmt ein oder sogar mehrere Käufer finden. Wir könnten uns dann vielleicht ein eigenes kleines Häuschen kaufen. Du musst dich auf jeden Fall gut informieren und beraten lassen. Dumm, dass ich gerade bis über den Kopf in Arbeit stecke, sonst würde ich gleich morgen kommen.“
„Ach nein, das brauchst du nicht. Ich bin ja schon groß und kann das selbst erledigen. Außerdem ist es auch viel zu weit von Berlin nach hier.“
„Ich meine es doch nur gut, Schatz.“
„Ich weiß. Ich habe ja noch nicht einmal die Erbschaft angenommen. Sollte ich dies tun, muss ich mich zwecks Verkauf erst mit meinem Miterben beraten.“
„Ja, das verstehe ich. Aber solltest du Unterstützung brauchen, dann lass es mich bitte wissen.“
„Dann bis Samstag. Es wird sicher erst später Nachmittag, bis ich zu Hause bin.“
Wir wünschten uns noch eine gute Nacht, dann legte ich auf. Simons Bemerkung fiel mir ein: Wir könnten uns dann vielleicht sogar ein eigenes Häuschen kaufen …
Bei diesem Gedanken hatte ich plötzlich einen seltsamen Beigeschmack im Mund. Dabei meinte Simon es doch nur gut. Ich müsste eher dankbar sein, einen Freund wie ihn zu haben. Ja, einen Freund, schoss es mir in den Sinn. Aber würde ich ihm jemals die Liebe entgegenbringen können, die er für mich empfand? Sex und Freundschaft allein waren doch keine Voraussetzung für eine gute Ehe. Aber ich wollte die Hoffnung nicht aufgeben.
Am Freitag packte ich schon einmal meine Tasche, bezahlte die Pensionskosten, damit ich am nächsten Morgen so früh wie möglich meine Heimfahrt antreten konnte. Während der Fahrt zu Doktor Bach dachte ich an die Erbschaft. Der Anwalt erwartete eine Antwort von mir. Ich war kein Mensch, der nach Reichtum strebte. Wer sagte denn, dass wir das Anwesen, zu dem ich keinerlei Bezug hatte, behalten mussten? Vielleicht wollte dieser Lukas es genauso wenig, und wir könnten es verkaufen. Mit meinem Anteil könnte ich außerdem auch noch so ganz nebenbei etwas Gutes tun. Es gab doch genug notleidende Menschen oder Familien mit Kindern.
„Schön, dass Sie gekommen sind“, begrüßte der Anwalt mich freundlich. „Haben Sie sich entschieden?“, fragte er, als ich ihm gegenüber Platz genommen hatte.
Kurz zögerte ich noch, dann antwortete ich selbst überrascht von mir: „Ja, ich werde die Erbschaft annehmen.“
„Gut. Habe ich zur Kenntnis genommen. Ich muss Ihnen jedoch noch sagen, dass außerdem noch ein gewisser Lukas Schiller von der Erbschaft betroffen ist. Er ist der Enkel von Gretes Mann Kurt.“
„Ja, Grete hat es in ihrem Brief erwähnt. Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen müsste?“
Mir fiel auf, dass der Anwalt zögerte. Dann blätterte er in der Akte und sagte: „Falls Sie oder Herr Schiller mit dem Gedanken spielen, das Anwesen sofort zu verkaufen, muss ich Ihnen sagen, dass es im Testament eine Klausel gibt.“
Mir fiel die Kinnlade herunter. „Aha, die wäre?“
„Meine Mandantin muss sich schon gedacht haben, dass Sie beide oder nur einer von Ihnen eventuell mit dem Gedanken spielt, das Anwesen sofort zu veräußern. In diesem Fall hat Ihre Großmutter verfügt, dass Sie und Herr Schiller sechs Monate lang gemeinsam das Haus in der Amalienstraße 19 verwalten sollen und vielleicht das Café wieder eröffnen, bevor Sie beide über einen endgültigen Verkauf entscheiden.“
„Was passiert, wenn wir beide in diesem Fall nicht mitspielen und sofort verkaufen wollen?“
„Dann gehen laut der Klausel sowohl das Anwesen als auch das restliche Vermögen in den Besitz der Gemeinde von Waldauberg über.“
„Falls wir beide uns aber erst nach diesen sechs Monaten zu einem Verkauf entschließen?“
„Dann steht es Ihnen und Herrn Schiller frei, einen passenden Käufer zu suchen. Durch den Verkauf geht Ihnen dann ja nichts verloren. Sie teilen sich alles untereinander auf.“
Ich stieß ein heiseres Lachen aus.
„Ich weiß zwar nicht, warum Grete diese Klausel in ihr Testament gesetzt hat, auch frage ich mich, wie sie sich das vorgestellt hat. Ich lebe in Berlin und habe dort meine Arbeit. Hunderte von Kilometern von hier entfernt. Wo lebt mein Miterbe?“
„Er wohnt in Walldorf, von hier ungefähr 15 Kilometer. Ich kann Sie beruhigen, denn Herr Schiller hat genauso reagiert, was diese Klausel betrifft. Sie könnten sich zum Beispiel für sechs Monate unbezahlten Urlaub nehmen. Wo sind Sie beschäftigt?“
„Ich arbeite in der Stadtverwaltung.“
„Wäre eine Freistellung möglich?“
„Ich bin zwar in leitender Position, aber ob das für ein halbes Jahr möglich ist, weiß ich nicht. Da müsste ich mich erkundigen. Auf jeden Fall habe ich nicht vor, den Rest meines Lebens in einem Dorf zu verbringen.“
„Dann lassen Sie es mich bis spätestens in einer Woche wissen. Meine Nummer haben Sie ja. Wir machen dann einen neuen Termin aus. Damit haben wir es für heute geschafft. Ich wünsche Ihnen eine gute Heimfahrt.“
Doktor Bach begleitet mich noch zur Tür. „Wir hören voneinander“, sagte er zum Abschied.
***
Am frühen Samstagnachmittag kam ich in Berlin an. Simon, den ich von unterwegs angerufen hatte, wartete bereits in meiner Wohnung. Die Heizung hatte er zu meiner Freude eingeschaltet, so war es mollig warm.
Nachdem wir uns ausgiebig begrüßt hatten, zog er mich in die Küche, wo Kaffee auf mich wartete. Den konnte ich jetzt ganz gut gebrauchen, weil ich trotz Heizung im Auto ziemlich ausgekühlt war. Natürlich musste ich gleich berichten. So erfuhr er von dieser Klausel im Testament und meinem Entschluss.
Sein Gesichtsausdruck sprach Bände, als er meinte: „Dann willst du sechs Monate lang dort unten bleiben?“
Doch bevor ich etwas sagen konnte, klingelte das Telefon. Es war Gunda, meine beste Freundin und gleichzeitig seit einem Jahr auch eine Arbeitskollegin.
„Du willst also wirklich sechs Monate dort unten bleiben?“, fragte auch sie, nachdem ich ihr die Sachlage geschildert hatte.
„Diese Frage hat mir Simon auch gestellt, als ich ihm von dieser Klausel erzählte. Ich habe mir diese Entscheidung wirklich nicht leicht gemacht. Das kannst du mir glauben. Ich werde es schon überleben, auch wenn ich mich nicht darum reiße, sechs Monate in dieser Einöde zu verbringen. Noch dazu mit einem wildfremden Mann. Aber diese Zeit geht auch vorbei, wie schon so manches in meinem Leben.“
„Und was machst du, wenn der Typ später nicht verkaufen will?“
„Der Anwalt hat mir erzählt, dass Lukas Schiller auch nicht gerade begeistert über diese Klausel ist. Vielleicht will er das Anwesen nach den sechs Monaten ebenfalls loswerden. Wenn nicht, soll er mich auszahlen. Dann lege ich mir das Geld fürs Alter zurück und spende einen Teil davon.“
Den Gedanke an ein Häuschen mit Simon hatte ich dabei weit von mir fort geschoben.
„Du musst wissen, was du tust“, meinte Gunda. „Wir werden dich hier ganz schön vermissen.“
Ich lächelte. „Wer sagt denn, dass ich die ganze Zeit in diesem Kaff bleiben muss? Weihnachten fahre ich auf jeden Fall mit Simon nach Gran Canaria, wie in all den letzten Jahren auch. Die Reise ist schon lange gebucht.“
„Du Weihnachtsmuffel. Es ist doch eine so schöne Zeit“, schwärmte Gunda. „Alles ist so toll geschmückt, überall leuchtet es, riecht nach Pfeffernüssen, Zimt und Glühwein. Außerdem …“
„Hör schon auf“, beschwerte ich mich. „Du wirst aus mir keinen Weihnachtsfan machen. Wir bleiben jedenfalls in Verbindung. Du kannst mich ja auch mal besuchen mit deiner Familie. Ihr seid jederzeit willkommen. Im Haus ist sicher Platz genug.“
„Dann halte ich dich nicht weiter auf. Simon ist bestimmt bei dir. Wir sehen uns die Tage.“
Als ich wieder in die Küche zurückkehrte, sagte Simon mit ernster Stimme: „Wenn ich gleich von dieser Klausel gewusst hätte, dann hätte ich dich nicht ermuntert, die Erbschaft anzunehmen. Aber letztendlich ist es ja deine Entscheidung.“ Er schaute mich dabei aus seinen grauen Augen aufmerksam an. „Du hast die Erbschaft angenommen. Aber was wird inzwischen aus uns?“
„Mit uns bleibt doch alles wie immer. Wir können uns besuchen, telefonieren oder schreiben. Sechs Monate gehen auch mal vorüber.“
„Es bleibt doch bei unserem Urlaub?“
„Aber sicher. Du weißt doch, dass ich mit Weihnachten nichts anfangen kann.“
„Leider.“
Ich wusste, dass er jedes Jahr nur mir zuliebe mit nach Gran Canaria flog. Bevor ich ihn vor vier Jahren auf einer Faschingsfete kennen-gelernt hatte, war ich immer allein geflogen. Simon arbeitete als Filialleiter bei einer Bank, war fünf Jahre älter als ich, mittelgroß, dunkelblond und geschieden.
Er hatte mir schon zweimal einen Heiratsantrag gemacht, die ich beide ablehnte. Ich hatte mich bis jetzt zu solch einem Schritt einfach nicht durchringen können. „Ich finde unsere Beziehung sehr schön, so, wie sie ist. Wofür müssen wir heiraten?“, hatte ich ihn gefragt.
„Du traust dich nicht, weil du mit deiner Familie schlechte Erfahrungen gemacht hast, stimmt’s?“, hatte er geantwortet.
„Lass uns bitte nicht darüber reden. Wir sind doch auch so glücklich.“
„Dann lass uns wenigstens zusammenziehen.“
Aber das hatte ich ebenfalls abgelehnt. „Wir brauchen beide unseren Freiraum. Unsere Wohnungen liegen ja nicht sehr weit voneinander entfernt“, hatte ich ihm geantwortet.
„Du bist ein Feigling. Solltest du es dir aber irgendwann anders überlegen, musst du es mir sagen, Schatz. Ich liebe dich, das weißt du doch. Ich wünsche mir so sehr, dass du mich auch eines Tages so lieben kannst.“ Daraufhin hatte er mich geküsst.
Ja, dass er mich liebte, wusste ich. Er hat viel Geduld mit mir. Dafür war ich ihm dankbar. Ich mochte Simon, sehr sogar, aber lieben? Wir haben guten Sex, aber deshalb heiraten und zusammen ziehen?
Die nächsten Tage verbrachten wir sooft zusammen, wie es seine Zeit zuließ. Auch besuchte ich meine Freundin Gunda, mit der ich so manche Diskussion über meine ungewöhnliche Erbschaft führte.
Auch wenn ich sie angenommen hatte, war mir ziemlich mulmig zumute. Aber ich hatte mich ja dafür entschieden.
Am Freitag rief ich bei Doktor Bach zwecks eines neuen Termins an.
Einen Tag nach Volkstrauertag war ich wieder auf dem Weg nach Heidelberg. Zum Glück waren die Straßen jetzt trocken. Es schneite nicht, obwohl es am Morgen noch in den Nachrichten angesagt war. So kam ich gut an der Pension Berger an, die zu dieser Jahreszeit kaum Gäste hatte. Ich bekam sogar wieder das gleiche Zimmer.
Am nächsten Morgen erschien ich rechtzeitig zu meinem Termin bei Doktor Bach.
„Wie schön, dass alles geklappt hat“, begrüßte er mich. Auf seinem Schreibtisch lagen etliche Akten, auf die er nun eine Hand legte und erklärte: „Hier drin befinden sich alle Unterlagen, sowie Dokumente über den Grundbesitz, den Laden, Versicherungen und die Bankverbindung nebst Kontoauszügen Ihrer Großmutter. Als sie spürte, dass es zu Ende ging, hat sie mir alles zum Aufbewahren gegeben. Sie sollten sich mit Herrn Schiller zeitnah mit der Bank in Verbindung setzen.“
„Benötige ich einen Erbschein?“
