Schatten über Osej - Brigitte Kemptner - E-Book

Schatten über Osej E-Book

Brigitte Kemptner

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Beschreibung

Nach dem mysteriösen Tod des kaltherzigen und grausamen Fürsten schien die Welt in Osej wieder in Ordnung zu sein. Das Volk Sidoc, das am meisten unter der Herrschaft gelitten hatte, war wieder frei und unabhängig. Einige Ereignisse in Osej ließen die Bewohner daran jedoch zweifeln. Hatte Walgor vielleicht doch noch genug Anhänger, die seinen Tod nicht so einfach hinnehmen wollten? Spätestens als das Mal des jungen Fürstenssohns Alex erneut zu schmerzen beginnt, weiß er, dass seine Familie in der Anderswelt Hilfe benötigt. Zusammen mit Elena stellt er sich ein weiteres Mal den dunklen Mächten in Osej ... Wird er auch diesmal die Schatten seiner Vergangenheit besiegen können? Dieser Nachfolge-Roman der Fantasy-Story Nebel von Osej sorgt für neue Spannung und noch mehr Magie.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Edition Paashaas Verlag

Autor: Brigitte Kemptner Cover-Motive: Pixabay.com

Covergestaltung: Michael Frädrich Lektorat: Renate Habets Originalausgabe Februar 2022

Edition Paashaas Verlag – www.verlag-epv.de Printausgabe: ISBN: 978-3-96174-101-4

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://dnb.d-nb.de.

Schatten über Osej

Prolog

Der Nebel war jetzt direkt vor ihnen, zum Greifen nahe.

Wieder ertönte die mächtige Stimme: „Was soll das, Walgor? Ich dachte, du kennst keine Angst! Aber ich scheine mich getäuscht zu haben, sonst würdest du dich nicht hinter einem Mädchen verstecken. Aber das nützt dir überhaupt nichts.“

„Das werden wir ja sehen“, rief der Fürst und ließ erneut ein böses Lachen folgen.

„Lass Elena gehen.“ Das war Alex‘ Stimme. „Was hat sie mit unserer Familie zu tun?“

„Du hältst dich besser raus, Sohn. Mit dir beschäftige ich mich später zu Hause. Und nun verzieh dich, Nebel!“

Ein lautes Lachen tönte vom See her. „Kennst du eine Zauberformel, um mich zu vernichten, du Hexenfürst? Nein, kennst du nicht, weil es eine solche nicht gibt, auch nicht in deinen Büchern.“

„Ich unterhalte mich nicht weiter mit jemandem, den ich nicht für voll nehme. Doch jetzt noch einmal zu dir, Sohn. Ich habe nicht ewig Zeit.“ Der Fürst trat hinter Elena und hielt sie nun gewaltsam an beiden Armen fest. „Jetzt reicht es. Wir machen uns nun ganz schnell auf den Weg zur Burg. Wenn dir an deiner kleinen Freundin etwas liegt, Sohn, dann folgst du uns besser. Ansonsten stecke ich sie genau wie deine Mutter ins Gewölbe. Dort mag sie sitzen und versauern bis zum jüngsten Tag.“ Er lachte boshaft. „Du weißt, dass mir das keinerlei schlechtes Gewissen bereitet.“

„Das solltest du aber haben, Bruder! Du erinnerst dich an mich, an deine Schwester Reesa? Ich finde hier unten in meinem Grab erst meinen Frieden, wenn deine Schuld gesühnt ist.“

Plötzlich drang ein schauriges Weinen und Klagen aus dem Nebel hervor, das Elena durch Mark und Bein ging. Erst als sie schwankte und beinahe zu Boden gefallen wäre, bemerkte sie, dass der Fürst sie losgelassen hatte.

„Lauf schnell zu mir, Elena!“ Es war Alex.

Sie setzte ihre Beine in Bewegung. Dann spürte sie seine Arme, die sie umfassten.

Vorsichtig schaute sie zu dem Fürsten, der sich nun die Ohren zuhielt. Das Weinen und Klagen war noch immer laut und überaus schaurig anzuhören. Elena jedoch empfand es nicht als so störend, Alex‘ Vater dafür umso mehr, vermutete sie.

„Hör auf!“, schrie er. Und noch einmal: „Hör auf!“

Aber es geschah nichts, im Gegenteil.

Der Nebel schwebte auf den Fürsten zu, der regungslos verharrte, als wäre er am Erdboden angewachsen.

Elena, die ihn genau beobachtete, sah, wie sich sein Gesicht in Angst und dann in Entsetzen verzerrte. Sein Mund öffnete sich. Ein paar klägliche Worte drangen aus seiner Kehle, die Elena aber nicht verstand.

Wollte er etwa um Gnade winseln?

Jetzt griffen weiße Nebelhände nach ihm, umspielten seine Beine. Dann krochen sie langsam höher, umkreisten seine Hüften, die Brust, den Hals und schließlich den Kopf.

Ein Schrei, wie aus tiefster Not ausgestoßen, gellte über die Lichtung bis in den Wald hinein und kehrte als Echo zurück. Dann war alles still.

Elena wagte in diesem Moment nicht einmal zu atmen.

Der Nebel zog sich so langsam, wie er gekommen war, wieder zurück. Bald lag der See erneut in seiner ganzen Schönheit vor ihnen. Elena riss vor Schreck ihre Augen weit auf und schaute ungläubig.

Der Fürst Walgor von Walgsam war verschwunden.

Nach dem mysteriösen Tod des kaltherzigen und grausamen Fürsten schien die Welt in Osej wieder in Ordnung zu sein. Das Volk Sidoc, das am meisten unter der Herrschaft des Fürsten gelitten hatte, war wieder frei und unabhängig.

Ruwen Mandell, einst Pferdepfleger, wurde von Alex, Walgors leiblichen Sohn, zum stellvertretenden Oberhaupt ernannt und zog in die fürstliche Burg ein. In den folgenden Monaten sorgte er dafür, dass aus dem heruntergekommenen Turadero wieder eine ansehnliche Stadt wurde. Marode Häuser erstrahlten schon bald in neuem Glanz, Straßen wurden erneuert und vom Unrat befreit. In den Gärten blühte eine bunte Blumenvielfalt, es gab wieder Raum für unzählige Kräuter.

Die Gefangenen wurden freigelassen, ihre Wunden versorgt. Walgors Handlanger, die jahrelang, ob freiwillig oder gezwungen, Befehle ausführten, konnten frei abziehen.

Auch die Liebe zog in die Burg ein, als sich Massarial, die junge Witwe und Ruwen ineinander verliebten und heirateten. Als dann im Sommer des folgenden Jahres ihr kleiner Sohn das Licht der Welt erblickte, schien das Glück perfekt zu sein.

In Turadero, der Oberstadt, wurde ein großes Fest für die glückliche Familie veranstaltet, denn jeder mochte das neue Oberhaupt.

Die dunklen Schatten, die aber bald heranziehen sollten, ließen daran jedoch zweifeln. War wirklich jeder über die neue Herrschaft zufrieden? Oder hatte Walgor vielleicht auch heute noch genug Anhänger, die seinen Tod nicht so einfach hinnehmen wollten? …

Aufbruch

Alex ging es so gut wie noch nie in seinem Leben. Die Schatten der Vergangenheit, vor allem die seiner Herkunft, waren endlich verflogen.

Nach seiner Rückkehr aus der Anderswelt im Juni vor einem Jahr hatte er seinen Zieheltern haargenau schildern müssen, wie es ihm im Hause seines leiblichen, aber kaltherzigen Vaters ergangen war. Danach wurde dieses Kapitel nie wieder zwischen ihnen angesprochen.

Eine Veränderung hatte es jedoch noch gegeben. Da Alex nicht wieder auf das Hebel-Gymnasium zurück wollte, hatte sich die Familie entschlossen, nach Mannheim-Neckarau zu ziehen, wo sein Ziehvater arbeitete.

Auch in der neuen Schule, dem Moll-Gymnasium, hatten sie ihn anfangs angestarrt, als sei er ein außerirdisches Wesen, doch das hatte sich bald gelegt. Im Gegensatz zu früher hatte er binnen weniger Wochen sogar einige recht gute Freunde gefunden. Anders war er zwar noch immer mit seinen schrägstehenden großen grauen Augen, der getönten Hautfarbe und dem schwarzen, gelockten Haar, das ihm leicht in die Stirn fiel, aber das Gefühl, nicht in diese Welt zu gehören, war verschwunden, auch das Verhältnis zu seinen Zieheltern hatte sich zum Guten hin verändert.

Zwischen ihm und Elena, die weiterhin in Schwetzingen wohnte, hatte sich im Laufe der Monate eine zarte Liebe entwickelt. Sie telefonierten miteinander und schrieben sich über WhatsApp. Da sie beide bis in den Nachmittag hinein Unterricht hatten, trafen sie sich regelmäßig an Wochenenden oder in den Ferien – und das immer in Mannheim.

So verging das erste Jahr auf der neuen Schule ohne nennenswerte Zwischenfälle. Die Sommerferien kamen. Einen Urlaub konnte sich die Familie nicht leisten. Also ging Alex jobben, um sich etwas Geld zu verdienen. Seine Zieheltern hielten das für eine gute Idee und unterstützten ihn, wo sie nur konnten.

Eines Nachts jedoch geschah etwas Seltsames: Alex wurde aus dem Schlaf gerissen und saß kurz darauf kerzengerade im Bett. Sein Herz klopfte heftig gegen den Brustkorb. Er zitterte am ganzen Körper. Irgendetwas hatte ihn geweckt, aber was? Er lauschte in die Dunkelheit seines Zimmers, doch es war alles ruhig um ihn herum. Er knipste die Nachttischlampe an und starrte zum Wecker: kurz nach Mitternacht. Der konnte es nicht gewesen sein.

Als sein Puls sich etwas normalisiert hatte, sank er zurück in die Kissen. Jedoch Sekunden später fuhr ein heftiger Schmerz in seine rechte Schulter und raubte ihm fast den Atem. Lange hatte er sein sichelförmiges Mal, ein Erbstück seiner Vorfahren, nicht mehr in dieser Stärke gespürt. Aber warum gerade jetzt? Gab es denn einen Grund für diese Schmerzen? Alex horchte in sich herein. Vielleicht war etwas mit seiner Mutter in Osej passiert? Oder mit seiner Schwester Enya?

Am nächsten Morgen war er wie gerädert. Er konnte sich den ganzen Tag über nicht richtig auf seine Arbeit konzentrieren. Doch zum Glück schien niemandem aufzufallen, dass er heute nicht bei der Sache war.

Anders verhielt es sich jedoch zu Hause.

„Was ist los, Alex?“, fragte Agneß beim Abendessen, und ihre Stimme klang sehr besorgt. „Hast du Kummer, oder schmeckt dir das Essen nicht?“

Alex wollte seine Zieheltern nicht beunruhigen und winkte ab. „Ich bin okay, Mama. Und dein Essen schmeckt doch immer, aber ich habe heute kaum Hunger und außerdem letzte Nacht schlecht geschlafen. Wenn ihr nichts dagegen habt, verzieh ich mich gleich aufs Zimmer.“

„Dann geh früh ins Bett, Junge, und schlaf dich richtig aus“, sagte Ansbert. „Wir können unsere Partie Schach auch morgen spielen.“

Alex fiel siedend heiß ein, dass heute ihr wöchentlicher Schachabend war. „Es tut mir leid, Papa, aber ich bin echt nicht so in Stimmung.“

„Schon gut, die Partie läuft uns nicht fort. Dann schau ich mir mit deiner Mutter den Film im Fernsehen an. Gute Nacht, Alex.“

Früher wären solche Unterhaltungen anders verlaufen, unfreundlicher und chaotischer. Alex wünschte seinen Pflegeeltern einen schönen Abend und verschwand. In seinem Zimmer überlegte er, ob er Elena vielleicht eine WhatsApp schicken sollte, ließ es dann aber sein. Er wollte sie an ihren letzten Urlaubstagen nicht unnötig beunruhigen.

Auch in der folgenden Nacht war er da, dieser heftige stechende Schmerz, der ihm die Tränen in die Augen trieb. Es fiel Alex schwer, Ruhe zu bewahren und nicht loszuschreien. Er wollte ja nicht das ganze Haus aufwecken. Diese Pein dauerte nur wenige Sekunden, doch die erschienen ihm wie lange Minuten. Als er endlich wieder schlief, träumte er lauter wirres Zeug. Von seiner leiblichen Mutter, von Ruwen und einer Person, die er nicht erkennen konnte, weil sie von einem Nebel umhüllt wurde. In der darauffolgenden Nacht geschah das Gleiche, nur dass bei seinem Traum ein großer schwarzer Vogel über der Burg kreiste. Am Morgen danach war Alex so durcheinander, dass er endlich mit seinen Zieheltern redete und ihnen alles erzählte. Sie schauten ihn nachdenklich an.

„Ich habe Angst, dass meiner leiblichen Mutter etwas zugestoßen ist. Warum sonst habe ich diese Schmerzen dort, wo dieses verdammte Mal ist? Wenn ich nur wüsste, was diese Träume zu bedeuten haben.“

„Das ist in der Tat alles sehr seltsam“, erwiderte Ansbert. „Du hast uns doch erzählt, dass nach dem Tod deines leiblichen Vaters wieder Ruhe und Ordnung in Osej eingekehrt seien und dass dieser Mann ein verlässliches Oberhaupt ist.“

„Ruwen Mandell, ja. Ihm habe ich von Anfang an vertraut. Aber wenn dort alles in Ordnung ist, wieso habe ich dann dieses brennende Gefühl, und warum sind meine Gedanken so durcheinander?“

„Vielleicht ist auch nur deine Mutter krank oder Enya. Dann verschwinden deine Beschwerden und die Albträume von allein, wenn es ihnen besser geht“, beruhigte ihn Agneß.

Alex wusste, dass die beiden es nur gut meinten, doch an Krankheit wollte er nicht so recht glauben. Doch das behielt er erst einmal für sich.

Später in seinem Zimmer dachte er an Elena, die inzwischen wieder daheim war. Sie hatte ihm schon einige Male geschrieben und auf seinen Anrufbeantworter gesprochen, weil er nicht ans Handy gegangen war. Er war einfach bis jetzt nicht fähig gewesen, ihr zu antworten. Was musste sie nur von ihm denken?

Als er in der folgenden Nacht abermals von Schmerzen gepeinigt wurde, nahm er sich vor, endlich doch seine Freundin ins Vertrauen zu ziehen.

Da er am nächsten Tag nicht arbeiten musste, schrieb er ihr: Können wir uns heute treffen? Ich muss unbedingt etwas Dringendes mit dir besprechen. Schreib mir, wann du am Hauptbahnhof sein kannst, dann hole ich dich ab. Alex.

Als er die Nachricht abgeschickt hatte, ärgerte er sich über den unpersönlichen Gruß, der weder ein Smiley geschweige denn ein anderes Icon enthalten hatte.

Elena schob den Teller mit dem Kirschkuchen fort und trank nur ihren Milchkaffee.

„Na, mein Mädchen? Keinen Hunger heute?“, fragte Cornelius Lanner. „Wenn du so weiter machst, bist du das, was du in drei Wochen Urlaub zugenommen hast, wieder los.“

„Ach, Paps. Seit ein paar Tagen habe ich einfach keinen Appetit.“

„Es gefällt mir aber gar nicht, dass du immer dünner wirst.“

Elena quälte sich ein Lächeln ab: „Jetzt machst du Witze, Paps. So schnell geht das auch wieder nicht.“

„Magst du mir nicht sagen, was dich bedrückt?“

Elena sah ihren Vater an und schüttelte den Kopf. Sie mochte jetzt nicht darüber reden und fragte stattdessen: „Wann kommt Mutti?“

„Nun lenkst du ab, Elena. Aber ich kann dich nicht zwingen, mir zu sagen, was dich bedrückt. Mama hat heute länger Sprechstunde, sie vertritt eine kranke Kollegin.“

„Gut“, antwortete Elena. „Dann räum ich noch den Tisch ab.“

Später, in ihrem Zimmer, ging sie zum Fenster und starrte hinaus. Ihre Gedanken eilten zu Alex, von dem sie seit ihrer Rückkehr aus dem Sommerurlaub noch nichts gehört hatte. Dabei wusste er doch genau den Tag ihrer Heimreise und hatte ihr fest versprochen, sich gleich bei ihr zu melden. Auf ihre Nachrichten an ihn hatte er auch nicht reagiert. Das alles bedrückte Elena und stimmte sie traurig. Vielleicht war sein Ferienjob sehr anstrengend und er brauchte nach Feierabend einfach nur Ruhe. Ein Gefühl der Angst nahm von ihr Besitz. Sie dachte, wie schon so oft in der letzten Zeit, an ihr Abenteuer in Osej. Die Wochen dort verfolgten sie heute noch wie ein böser Traum und ließen sie manche Nacht stundenlang nicht einschlafen, obwohl die Geschehnisse schon über ein Jahr zurücklagen.

Elena hatte damals nach ihrer Heimkehr im Juni des vergangenen Jahres den Eltern von ihrem Abenteuer in Osej erzählt. Auch die Geschichte mit ihren fürstlichen Vorfahren. Mama hatte sie daraufhin teils verdutzt und teils ungläubig angeguckt und nur die Schultern gezuckt, während Papa: „Ich glaube nicht an diesen Hokuspokus“ gesagt hatte. Doch wenig später hatte er seine Meinung infrage gestellt und zugegeben, dass sich seine einzige Tochter so etwas Unglaubliches nicht zum Spaß ausgedacht hatte.

„Es war für uns damals ein großer Schock, als diese Lohensteins hier hereingeschneit kamen und uns deinen Brief gaben“, hatte Cornelius Lanner gesagt. „Als sie uns erzählten, sie seien von einer anderen Welt, hielt ich die beiden im ersten Augenblick für total bekloppt. Aber ihre Geschichte hörte sich so verrückt an, dass man sie einfach glauben musste.“

Natürlich hatte sonst niemand aus dem Freundes- und Bekanntenkreis etwas davon erfahren dürfen. Um Elenas Ausbleiben während ihres Abenteuers in der Anderswelt zu entschuldigen, hatten die Eltern eine ansteckende Viruserkrankung erfunden, die sich länger hingezogen hatte. In der Schule hatte zum Glück niemand Fragen gestellt, und den versäumten Unterrichtsstoff hatte sie spielend nachgeholt.

Eines Tages, es war so um die Weihnachtszeit gewesen, hatte sich auch das gestörte Verhältnis zwischen Elena und Cosima entspannt. Mittlerweile waren sie sogar zu ihrem alten Umgangston zurückgekehrt. Die besten Freundinnen hatten sich wegen Alex zerstritten, weil Cosima auch ein Auge auf den Jungen geworfen hatte, der sich allerdings mehr für Elena interessierte. Für die aufgeweckte Cosima, die meistens das bekam, was sie wollte, war das eine herbe Niederlage, die zum Zerwürfnis mit Elena führte.

Das Klopfen an der Zimmertür riss Elena aus ihren Gedanken. Die Mutter schaute herein: „Schläfst du?“

Elena musste sich erst sammeln, bevor sie antwortete. „Nein, Mami. Ich habe nur nachgedacht.“

„Wir essen in etwa fünf Minuten. Deckst du bitte den Tisch?“

„Klar, ich komme gleich mit.“

Nach dem Abendbrot, als sie die Spülmaschine einräumte, fragte die Mutter: „Du warst bei Tisch so still und hast kaum etwas gegessen. Was ist denn mit dir los? Ich mach mir schon seit Tagen Sorgen um dich. Hat es was mit Alex zu tun?“

Elena zuckte zusammen.

„Dachte ich mir. Ich habe nichts gegen den Jungen, aber mir ist trotzdem nicht wohl bei dem Gedanken an eure Freundschaft.“

„Warum, Mami?“

„Weil er nicht von dieser Welt ist und meiner Meinung nach bei seiner leiblichen Mutter in diesem Osej sein sollte. Versteh mich nicht falsch, seine Zieheltern sind sicher in Ordnung und lieben ihn wie einen richtigen Sohn, aber auch sie könnten wieder in ihr altes Leben zurückkehren. Nach allem, was du mir erzählt hast, spricht nichts mehr dagegen. Ihr Volk und das von deinem Alex leben doch jetzt wieder in Frieden. “

„Wenn es doch ihre Entscheidung ist, hier zu bleiben!“, rief Elena aus, senkte aber sofort die Stimme. „Entschuldige, Mami, aber vergiss nicht, dass unsere Vorfahren auch aus Osej stammen. Genauer gesagt aus Smela, dem Nachbarvolk von Sidoc. Diese Fürstentochter Jinni …“

„… kam vor zweihundert Jahren durch diesen magischen Nebel in unsere Welt. Das hast du uns ja schon erzählt“, unterbrach sie die Mutter.

„Aber wir haben noch Fähigkeiten unserer Ahnen, Mami. Schließlich wusste ich den Spruch, mit dem man auch in der Vollmondnacht den magischen Nebel herbeirufen kann, wenn er nicht von selbst kommt.“

„Das mag ein einmaliger Zufall gewesen sein, Elena. Ich jedenfalls habe keine übersinnlichen Fähigkeiten.“

„Aber ich. Außerdem habe ich Alex lieb, und mir ist es egal, wo er geboren ist.“

„Du bist jung und wirst dich noch oft verlieben.“

„Nein, bestimmt nicht.“

Elena schossen Tränen in die Augen. Sie fühlte Zorn in sich aufsteigen. Abrupt drehte sie sich von ihrer Mutter weg und ging zur Tür. Dort wandte sie sich noch einmal um und sagte mit belegter Stimme: „Ich verziehe mich aufs Zimmer, gute Nacht, Mami!“

„Gute Nacht, Schatz.“

„Na, schon ins Bett?“, fragte der Vater, als Elena an ihm vorbeihuschte. Sie nickte und wünschte auch ihm eine gute Nacht.

Endlich in ihrem Zimmer konnte sie wieder ihren Gedanken nachhängen. Die gehörten im Moment Alex. Am Tag vor ihrer Ferienreise in die Toskana hatten sie sich zum letzten Mal bei McDonalds in der Mannheimer Innenstadt getroffen. Sie war nun entsetzlich traurig, denn Alex hatte sich seit ihrer Rückkehr aus dem Urlaub noch nicht gemeldet und auch auf keinen ihrer Anrufe und WhatsApps reagiert.

Am nächsten Morgen erschien Cosima braungebrannt. „Mann, war das ein Urlaub. Drei Wochen nur Sonne und Strand und erst die Jungs dort unten. Du glaubst nicht, was passiert ist, Leni.“

„Du wirst es mir sicher gleich sagen, Cosi.“

Erst jetzt wurde Elena mit einer lockeren Umarmung begrüßt. „Du musst mir aber vorher versprechen, dass du diesmal nicht dazwischen funkst.“

Elena schaute ihre Freundin von der Seite her an. „Wenn du wieder anfängst, mir irgendwelche Bedingungen zu stellen oder mich schwören lässt, dann lass es. Dann will ich es gar nicht wissen.“

„Sorry, war doch nicht so gemeint.“

Cosima hakte sich bei Elena ein und zog sie mit zu deren Zimmer. „Ich sag ja nichts mehr, aber das damals mit diesem Alex hat mich schon genervt …“

„Cosi!“, unterbrach Elena den Redestrom der anderen. „Das hatten wir schon. Lass es.“

„Schon gut, ich hör ja auf. Ihr beide seid zusammen, das hab ich gerafft. Dass er jetzt auf eine andere Schule geht, hängt mir allerdings zu hoch.“

Als beide in Elenas Zimmer waren, erzählte Cosi: „Die ersten Tage in der Türkei waren echt öd, doch dann zogen Leute in unser Hotel, ein Ehepaar mit seinem neunzehnjährigen Sohn. Der sieht total sexy aus. Dagegen sind die Jungs bei uns in der Schule alles …“

„Pass auf, was du sagst“, warnte Elena. „Du hast auch schon anders geredet.“

„Du bist immer so brav und anständig. Das ist todlangweilig“, rief Cosima.

„Du musst dich ja nicht mit mir abgeben“, antwortete Elena in ruhigem Ton. „Bei deinem Temperament ist es vielleicht ganz gut so, wenn du ab und zu mal einen Dämpfer bekommst.“

„Schon gut, schon gut. Aber ich bin noch nicht fertig. Du weißt doch, dass das Haus neben uns schon länger leer steht. Nun rate mal, wer da in einigen Tagen einzieht?“

„Doch nicht etwa eure Urlaubsbekannten?“

Cosima lachte. „Genau. Das ist vielleicht ein toller Zufall, findest du nicht auch? Ach, Leni, ich bin ja so verknallt!“

Das glaubtest du auch bei Alex, dachte Elena, doch sie schluckte die Bemerkung lieber runter.

Ob dieser Sexy-Junge genauso schwärmerisch über Cosima dachte?

In den nächsten zehn Minuten schwärmte die Freundin von der Türkei, vom Strand und den vielen Basaren, bei denen sie bis zum Umfallen geshoppt hatten. Dann rief Cosima plötzlich: „Herrjeh, ich plappere laufend davon, wie schön unser Urlaub war. Ihr wart ja auch fort, wo nochmal?“

„Toskana, und es war auch sehr schön. Wir sind vor allem viel gewandert, du weißt ja, dass ich nicht gerne den ganzen Tag am Strand liege.“

„Klar, weiß ich. Wann triffst du dich denn wieder mit Alex? Schade eigentlich, dass die Familie nach Mannheim gezogen ist und er dort aufs Gym geht. Wär doch toll, wenn wir mal zu viert was unternehmen könnten.“

Elena wollte gerade etwas erwidern, als Cosima schon weitersprach: „Wollen wir morgen nach Ketsch ins Wellenbad gehen?“

„Geht grad nicht“, schwindelte Elena, weil sie einfach im Moment keine große Lust auf Action hatte. Zumindest solange nicht, bis zwischen Alex und ihr wieder alles in Ordnung war.

„Na schön, dann vielleicht nächste Woche? So, ich muss dann wieder, hab `nen Zahnarzttermin und reiß mich nicht darum. Tschüss, Leni, bis übermorgen, du kommst doch zu meinem Geburtstag?“

„Klaro, geht in Ordnung“, sagte Elena etwas verzögert.

Cosi schien zum Glück nicht bemerkt zu haben, dass sie den Geburtstag glatt vergessen hatte.

Dann meldete sich Alex endlich mit einer WhatsApp bei ihr und bat sie um ein Treffen. Über den unpersönlichen Gruß allerdings ärgerte sie sich.

Dann standen sie sich endlich nach vier langen Wochen wieder gegenüber. Als Elena in sein so vertrautes und geliebtes Gesicht sah, schwand wie durch Zauberei ihr Ärger. Sie schauten sich einige Sekunden lang einfach nur stumm in die Augen, bis er das Schweigen brach und mit rauer Stimme sagte: „Es tut mir so leid, dass ich auf deine Nachrichten nicht reagiert habe. Nun bist du mit Recht sauer auf mich.“

„Du hättest ja wenigstens kurz mal antworten können.“

„Ja, das stimmt. Aber immerhin bist du mir nicht zu böse, sonst wärst du zu Hause geblieben. Lass uns irgendwo hingehen, wo weniger Menschen sind. Ich muss etwas mit dir besprechen und brauche deinen Rat.“

Sie gingen in das kleine Bistro im Hauptbahnhof. Viel Betrieb war hier sowieso nie. Als sich jeder von ihnen einen Cappuccino bestellt hatte, erzählte Alex ihr von seiner schmerzenden Schulter und den wirren Träumen.

Elena rührte in ihrer Tasse und dachte über das eben Gehörte nach.

„Was hältst du davon?“, drang seine Stimme in ihre Gedanken.

„Das, was du da erzählt hast, ist wirklich seltsam. Ob es sich um eine übersinnliche Nachricht deiner Familie aus Osej handelt? Meinst du das etwa?“

„Ja. Wäre doch möglich.“

„Hast du schon mit deinen Zieheltern gesprochen?“

„Habe ich. Die können sich auch keinen Reim darauf machen und denken, dass vielleicht meine Mutter oder Enya krank sind.“

„Wäre möglich, aber du denkst an Schlimmeres, stimmt‘s?“

Alex nickte. „Was rätst du mir?“

„Was willst du hören oder, besser gesagt, tun, Alex?“

„Am liebsten beim nächsten Vollmond nach Osej reisen.“

„Das hätte ich dir auch vorgeschlagen, aber bedenke, dass du dann erst einen Monat später zurückkommen kannst, dann ist längst wieder Schule.“

„Ich weiß es, aber ich muss es riskieren. Wenn ich nicht gehe, und es ist etwas mit Mutter oder meiner Schwester, dann werde ich diese Schmerzen nie los. Aber schön, dass du mich in dieser Entscheidung unterstützt.“

Alex griff über den Tisch hinweg nach ihrer Hand und hielt sie fest. „Dafür liebe ich dich noch mehr.“

Nach einigen Minuten sagte sie: „In zwei Tagen ist Vollmond. Wo willst du den Nebel rufen?“

„Am Rheinauer See. Keine Ahnung, wie ich meinen Zieheltern beibringen soll, dass ich nach Osej gehe. Elena, ich möchte, dass du mitkommst.“

„Du bist doch von allen guten Geistern verlassen“, brüllte Herr Lanner während des Abendessens und donnerte mit der Faust so fest auf den Tisch, dass die Gläser klirrten. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dazu mein Einverständnis gebe.“

Elena hatte schon mit Einwänden ihrer Eltern gerechnet, aber dass ihr Vater so laut wurde, nicht. So aufgebracht hatte sie ihn noch nie erlebt.

„Papa hat recht, Elena. Auf keinen Fall gehst du mit. Alex kann tun, was er will, obwohl ich nicht glaube, dass seine Zieheltern davon begeistert sind.“

„Aber ich bin doch auch von dieser Anderswelt, habt ihr das schon vergessen?“, versuchte Elena, ihre Eltern umzustimmen. „Ich möchte bei Alex sein, wenn er hinüber nach Osej geht.“

„Du hast mit dieser Sippe nichts zu tun, kapier das doch, Mädchen“, sagte Cornelius. Seine Stimme war leiser geworden. „Nichts verbindet dich mit denen, nur weil du einmal solche übersinnliche Fähigkeiten hattest.“

„Ich konnte den magischen Nebel herbeirufen. Das können nur die, deren Wurzeln in Osej liegen.“

„Ich will jetzt nichts mehr von diesem Blödsinn hören“, stieß ihr Vater hervor und begann zu essen. „Und du bleibst hier.“

„Mami“, versuchte Elena es nun bei der Mutter. „Sag was. Ich habe mich doch mit eigenen Augen davon überzeugen können, dass wir von dieser Jinni aus …“

„Schluss jetzt!“, brüllte der Hausherr. „Das ist zweihundert Jahre her. Wer weiß, von wem ich abstamme? Vielleicht vom Kaiser von China? Gehe ich deshalb gleich nach China? Nun will ich von diesem Thema nichts mehr hören.“

Elena war der Appetit vergangen. Im Moment wollte sie einfach nicht vernünftig sein, sie war so verliebt in Alex und musste unbedingt mit ihm nach Osej. Konnte sie wissen, ob er jemals wieder zurückkam?

Später in ihrem Zimmer schrieb sie ihm. Er antwortete umgehend, dass auch Agneß und Ansbert sein Vorhaben nicht mit Begeisterung aufgenommen hatten, aber sie könnten ihn ja verstehen. Sorge war nur, dass er erst einen Monat später wieder nach Mannheim zurückkommen konnte, und da hatte das Schuljahr bereits begonnen. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag im Brühler Freibad.

Elena hielt nach Alex Ausschau und hatte schon Angst, er würde nicht kommen, doch dann stand er neben ihr. Im Freibad suchten sie sich einen Platz ziemlich weit hinten auf dem Rasen und ließen sich auf einer Decke nieder.

„Dumm, dass deine Eltern so reagierten. Irgendwie habe ich mir sowas schon gedacht und kann sie sogar verstehen. Was machen wir nun?“

Elena seufzte. „Ich will aber mit dir kommen, Alex. Ich habe mich damals auch nicht davon abhalten lassen, als ich in diese Anderswelt wollte, um dich zu suchen. Das Donnerwetter lass ich über mich ergehen, wenn wir wieder zu Hause sind.“

„Sie werden mir aber die Schuld geben. Besser, wenn ich doch allein gehe.“

Elenas Herz begann heftig zu klopfen, als sie sagte: „Nein. Ich liebe meine Eltern, doch ich komme mit, sonst sterbe ich hier noch vor Sorge um dich. Wann treffen wir uns?“

„Du bist fest entschlossen und lässt dich nicht umstimmen, hab ich recht?“

Elena nickte, und Alex sagte: „Übermorgen, nach Einbruch der Dunkelheit hole ich dich an der Haltestelle ab. Zum See ist es dann nicht mehr weit.“

Dann kam der Vollmondtag. Womit Elena nicht gerechnet hatte, trat ein. Kaum war sie am Abend unter dem Vorwand, lesen zu wollen, in ihrem Zimmer verschwunden, kam der Vater und verlangte den Zimmerschlüssel von ihr.

„Warum, Paps?“

„Du weißt genau, warum. Also sei ein vernünftiges Mädchen und gib ihn mir.“

Elena hatte keine andere Wahl und gehorchte zähneknirschend. Dann schloss der Vater die Tür von außen ab. Nun saß sie in der Falle. Sie fühlte eine wehe Traurigkeit in sich aufsteigen. Aber nicht lange, denn sie hatte plötzlich eine Idee: Ihr Zimmer war im Erdgeschoss. Unter ihrem Fenster lag eine Wiese. Das müsste zu schaffen sein, dachte sie und begann, einiges einzupacken, was sie mitnehmen wollte. Ein Rucksack voll musste genügen. Auf das Handy konnte sie verzichten, weil es in Osej so etwas überhaupt nicht gab. Euro auch nicht. Nur das Fahrgeld nach Rheinau brauchte sie. Sie überlegte. Hatte sie nicht noch die Jacke, die ihr damals Alex‘ Ziehmutter mitgegeben hatte? Elena suchte in ihrem Kleiderschrank und fand sie ganz hinten unter ein paar Winterpullovern. Zum Glück hatte ihre Mutter die nie entdeckt, sonst wäre sie mit Sicherheit im Müll gelandet. Es steckten auch noch einige Osej-Taler drin, die Elena ebenfalls in ihrem Rucksack verstaute.

Auch diesmal hinterließ sie einen Brief an ihre Eltern. Sie schrieb, dass sie diese lieb hatte und bat um Verzeihung, weil sie nicht anders handeln konnte. Dann wartete sie, bis es Zeit war, zum Bus zu gehen. Der Sprung aus dem Fenster gelang ihr mühelos. So kam sie, ohne gesehen zu werden, an der Haltestelle an.

Alex war schon da. „Hat alles geklappt?“

„Ja. Paps hat mich eingeschlossen, aber ich bin aus dem Fenster geklettert. Ist ja nicht hoch.“

„Es gefällt mir nicht so ganz, dass du einfach durchgebrannt bist. Noch kannst du zurück.“

„Willst du mich loswerden?“

„Red keinen Unsinn. Ich habe dich ja zum Mitkommen angestiftet. Nun lass uns gehen. Wir warten am See, bis sich der Mond auf dem Wasser spiegelt.“

Außer ihnen war um diese Zeit niemand da. Sie setzten sich auf eine Bank und schwiegen. Das war ein Moment, in dem beide ihren eigenen Gedanken nachhingen. Dann standen sie auf, gingen zum Ufer.

„Bist du bereit?“, fragte Alex.

„Ja, bin ich.“

Sie fassten sich an den Händen, dann sagten sie gemeinsam den Spruch, der den magischen Nebel herbeirufen sollte: „Nebel, zeig geschwind, wie schnell du fliegst im Wind,

Nebel, weiß wie Schnee, bring flink mich nach Osej.“

Dieser ließ auch nicht lange auf sich warten. Kurz darauf wurden sie von ihm verschlungen und davongetragen.

Anderswelt

Allmählich ließ der Druck in seinem Kopf nach, auch der Schwindel machte einem dumpfen Schmerz hinter seiner Stirn Platz. Die Atemnot verflog. Trotzdem dauerte es eine Weile, bis er registrierte, dass er nicht in seinem Bett lag, sondern auf hartem Sandboden. Er öffnete die Augen und begann sich zu fürchten, weil alles um ihn herum dunkel war. Eine Stimme drang wie aus weiter Ferne in sein Bewusstsein. „Alex!“, rief sie. „Wo bist du?“

War er etwa gemeint?

Als ihn jemand am Arm berührte, zuckte er zusammen und rief ängstlich: „Nein! Lass mich.“

„Alex, ich bin es, Elena. Komm zu dir, wir sind da.“

Jetzt hörte er die Stimme ganz nahe und fragte vorsichtig: „Wo? Wo sind wir?“ Er richtete sich auf. Plötzlich war es nicht mehr stockfinster. Über ihm stand tief und groß der Vollmond. Dann sah er Elena. Jetzt wusste er wieder, was geschehen war.

„Alles okay?“, fragte sie.

Er glaubte, so etwas wie Besorgnis in ihrer Stimme gehört zu haben. „Ja, es wird allmählich besser. Und bei dir?“

„Auch. Ich hatte Kopfweh, und mir war schwindelig, doch jetzt bin ich ganz in Ordnung.“

Alex lächelte. „Jetzt fragt sich nur, wie wir nach Turadero und in die Burg zu Ruwen kommen. Ich weiß ja nicht einmal, an welcher Stelle des Strandes wir gelandet sind. Was, wenn es an der Küste von Smela ist?“

„Dann sollten wir besser den Morgen abwarten“, schlug Elena vor. „Wenn wir nämlich in Smela sind, müssten wir den Leuchtturm sehen. Den gibt es nur dort. Das weiß ich noch von deinen Zieheltern.“

Alex lachte: „Die Küste ist bestimmt sehr lang. Der Leuchtturm kann ja kilometerweit entfernt stehen, so dass wir ihn von hier aus nicht sehen können. Wir müssen halt darauf vertrauen, in Sidoc gestrandet zu sein. Gehen wir mal davon aus und warten den Tag ab. Zum Glück haben wir Sommer.“

„Dann lass uns einfach nur hier sitzen. Müde bin ich überhaupt nicht.“ Kurz darauf meinte sie: „Auf meiner Uhr ist es gleich vier.“

„Bei mir natürlich auch.“

Dicht zusammengedrängt saßen sie unter dem tiefstehenden Vollmond. Die Zeit zog sich dahin, bis er endlich blasser wurde, und der Himmel sich über dem Meer rot färbte. Die Sonne ging auf.

„Ist das nicht ein herrlicher Anblick?“, rief Elena erfreut.

„Ja“, erwiderte Alex, der daran allerdings nichts Besonderes fand. Elena war eben eine Romantikerin. Er löste sich von ihr und stand auf. Sein Körper war ganz steif von der langen Sitzerei. Er streckte und dehnte seine Glieder. Dann ließ er sich wieder neben Elena nieder.

Als sich der rote Sonnenball vom Wasser gelöst hatte und höher in den blauen Himmel stieg, standen sie auf und klopften sich den Sand aus den Kleidern. Elena rief erfreut: „Von hier aus ist jedenfalls kein Leuchtturm zu sehen, aber wie du sagst, könnte er auch an einer anderen Stelle stehen.“

„Wir tun einfach so, als wäre hier Sidoc und machen uns am besten gleich auf den Weg. Wer weiß, wie weit wir von der Oberstadt entfernt sind und wann wir zu den ersten Häusern kommen. Dort fragen wir einfach.“

Sie verließen den Strand, marschierten noch ein Stück über Sand, überquerten eine Wiese, bis sie schließlich eine staubige Landstraße erreichten. Hier überlegten sie, in welche Richtung sie gehen sollten und entschieden sich spontan für links.

Alex schaute auf die Uhr. „Es ist erst sieben und schon recht warm“, beschwerte er sich.

---ENDE DER LESEPROBE---