Ein kleiner Laden zum Verlieben - Anjali Banerjee - E-Book
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Ein kleiner Laden zum Verlieben E-Book

Anjali Banerjee

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Beschreibung

Auf der Suche nach dem großen Glück: Der Wohlfühl-Sammelband »Ein kleiner Laden zum Verlieben« jetzt als eBook bei dotbooks. Wenn dein Exfreund dich sitzen lässt und dir nur sein Laden bleibt – dann mach ein Wohlfühlparadies daraus! Ganz nach diesem Motto ist Franzi Engels Laden immer voller Fröhlichkeit und gut besucht von ihren besten Freunden. Aber dann lernt sie Felix kennen, einen wahren Traummann, der schon bald ihr ganzes Leben auf den Kopf stellt ... Die junge Lakshmi führt einen zauberhaften Stoffladen und weiß immer genau, was ihre Kundinnen wollen. Aber der charmante Nick könnte sie ihre Berufung aus den Augen verlieren lassen – darf sie sich trotzdem in ihn verlieben? Die Journalistin Juli dagegen ist überzeugt, dass der schillernde Schriftsteller Rafael gut an ihrer Seite aussehen würde –aber als sie dessen Verleger Alexander in ihrem Stammrestaurant »Weinstein« trifft, schlägt ihr Herz plötzlich Purzelbäume ... Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Sammelband »Ein kleiner Laden zum Verlieben« enthält die romantischen Feelgood-Romane »Der kleine Laden der großen Träume« von Pippa Arden, »Der kleine Stoffladen des Glücks« von Anjali Banerjee und »Das Restaurant der süßen Träume« von Jana Seidel. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Wenn dein Exfreund dich sitzen lässt und dir nur sein Laden bleibt – dann mach ein Wohlfühlparadies daraus! Ganz nach diesem Motto ist Franzi Engels Laden immer voller Fröhlichkeit und gut besucht von ihren besten Freunden. Aber dann lernt sie Felix kennen, einen wahren Traummann, der schon bald ihr ganzes Leben auf den Kopf stellt ... Die junge Lakshmi führt einen zauberhaften Stoffladen und weiß immer genau, was ihre Kundinnen wollen. Aber der charmante Nick könnte sie ihre Berufung aus den Augen verlieren lassen – darf sie sich trotzdem in ihn verlieben? Die Journalistin Juli dagegen ist überzeugt, dass der schillernde Schriftsteller Rafael gut an ihrer Seite aussehen würde –aber als sie dessen Verleger Alexander in ihrem Stammrestaurant »Weinstein« trifft, schlägt ihr Herz plötzlich Purzelbäume ...

Eine Übersicht über die Autorinnen finden Sie am Ende dieses eBooks.

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Sammelband-Originalausgabe Oktober 2023

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Eine Übersicht aller Rechtenachweise finden Sie am Ende dieses eBooks.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Kristin Pang, unter Verwendung von einen Motiven von shutterstock.com (Everilda, Tartila, BRO.vector) und Adobe Stock (radenmas, Sharmin, makarova, Spiharu)

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ys)

ISBN 978-3-98690-773-0

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Pippa Arden, Anjali Banerjee und Jana Seidel

Ein kleiner Laden zum Verlieben

Drei Romane in einem eBook

dotbooks

Pippa ArdenDer kleine Laden der Träume

Sie hat ein Herz aus Gold – aber bisher kein glückliches Händchen … Franzi Engel merkt wieder einmal: Auf Männer kann man sich nicht verlassen! Denn plötzlich steht sie ganz allein mit dem kleinen Laden ihres Exfreunds da, der sich ohne ein Wort aus dem Staub gemacht hat. Aber immerhin wird der Laden schnell zum zweiten Wohnzimmer ihres liebevollen Freundeskreises. Auf einen neuen Mann kann sie deswegen wirklich verzichten! Doch dann begegnet sie Felix, hochattraktiv, aber mit einer Wunde im Herzen – die vielleicht nur sie heilen kann? Weil Felix gerade keinen Ort zu haben scheint, an dem er sich sicher fühlen kann, nimmt sie ihn mit nach Hause, nicht ahnend, dass sie damit ihr ganzes Leben auf den Kopf stellt …

Ein warmherziger Roman über Liebe, Freundschaft und die Herausforderung, den eigenen Weg zu finden.

Walk a mile in my shoes

Before you abuse, criticize and accuse

Walk a mile in my shoes

Elvis Presley

Klar kannste in den Schuhen det anderen loofen,

aba du solltest deine eijenen Socken anbehalten.

Oma Elfie

Kapitel 1

Die Lösung all ihrer Probleme kostete genau 496 Euro. Franziska Engel stolperte über diese Erkenntnis bei einem Spaziergang im schönen Berliner Bezirk Charlottenburg, an einem milden, sonnigen Herbstnachmittag, der nach Äpfeln, Zimt und Pflaumen roch. Abgesehen von den Autoabgasen. Und abgesehen von der Tatsache, dass es eigentlich Popcorns Hundeleine war, die sie ins Stolpern gebracht hatte. Glücklicherweise besaß Franzi einen hervorragenden Gleichgewichtssinn. Denn der kleine, lebhafte Mischling-Rüde verhedderte sich ständig irgendwo. Diesmal war es das Bein eines Bistro-Tischchens, das vor dem Café Casablanca auf dem Bürgersteig stand. Franzi bückte sich, um die Leine zu entwirren, und als sie sich wieder aufrichtete, fiel ihr Blick in das Schaufenster der Boutique nebenan.

Da war sie, die Lösung ihrer Probleme: ein schwarzes Kleid. Es wurde von einer schlanken, milde lächelnden Puppe getragen, die ihre Plastikhände nonchalant in die schmalen Hüften stemmte.

Franzi vergaß für einen Moment zu atmen. Vielleicht lag es an dem milden Herbstlicht. An den Sonnenstrahlen, die, gefiltert durch die Blätter einer großen Kastanie hinter ihr, das Kleid in goldenes Licht tauchten. In diesem Augenblick hörte Franzi ein Versprechen:

»Schau mich an«, schien das das schwarze Kleid zu flüstern. »Die Frau, die mich trägt, weiß, was sie will. Und sie bekommt es auch!«

Popcorn bellte ungeduldig und zog an der Leine. Er wollte in den Schlosspark. Doch Franzi stand ganz still da und lauschte. Sie war es nicht gewohnt, dass Kleider mit ihr sprachen. Vor allem, da sie selbst so gut wie nie welche trug. Franzi bevorzugte Jeans, T-Shirts und Blusen. Sie mochte es bunt, bequem und weich. Dieses Kleid hier, ein schlichtes und doch klassisches kleines Schwarzes, war etwas Besonderes, war Selbstbewusstsein pur. Eine Frau, die dieses Kleid trug, hatte ihr Leben im Griff, war erfolgreich in ihrem Job und hatte keine Schulden. Die hatte einen Mann, der sie liebte und unterstützte, und nicht wie Franzi eine Reihe von Kerlen, die sich bei ihr durchfutterten und dann auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Eine Frau, die dieses Kleid trug, die hatte an ihrer Seite einen …

»… einen echten Gentleman«, hauchte Franzi.

Popcorn gab einen seltsamen Laut von sich. Lachte er sie etwa aus?

»Da gibt es nichts zu lachen«, sagte Franzi zu ihm. »Ein echter Gentleman ist respektvoll, ehrlich und zuverlässig.« Der Hund sah sie skeptisch an.

»Guck nicht so«, sagte Franzi. »Ich werde doch wohl träumen dürfen!«

Manchmal wurden Träume sogar wahr. Und wenn nicht, dann konnte man doch ein wenig nachhelfen, oder? Und plötzlich stand Franzi auch schon in der Boutique.

»Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?«

Eine dünne Frau schob sich nach vorne. Sie war sehr blond und ihre lächelnden vollen Lippen hatten große Ähnlichkeit mit glasierten Himbeerdonuts.

»Guten Tag«, erwiderte Franzi, »ich …«

»Hunde sind hier nicht erwünscht«, unterbrach die Dame und presste ihre Himbeerdonut-Lippen aufeinander.

»Popcorn kann sich benehmen«, versicherte Franzi.

»Popcorn?«

Der Mischling-Rüde setzte sich, legte seinen Kopf schief und sah die Dame aus großen braunen Augen erwartungsvoll an. Wenn sein Name so oft genannt wurde, gab es normalerweise Würstchen.

»Nun gut«, sagte die Dame etwas milder.

»Ich interessiere mich für das Kleid im Schaufenster.«

»Ah, ja, unser Modell New York Nights.«

In Franzis Kopf begann Audrey Hepburn, leise Moon River zu singen. Franzi verkniff sich einen sehnsüchtigen Seufzer.

Die Dame schnupperte in Franzis Richtung.

»Wonach riecht es hier? Kuchen?«

»Ich habe vorhin gebacken«, sagte Franzi entschuldigend. »Ein paar Bleche Pflaumenkuchen. Schmeckt hervorragend mit frischer Schlagsahne.«

»Schlagsahne?«

Die Dame sah sie an, als hätte Franzi etwas Unanständiges gesagt.

»Das kleine Schwarze da«, lenkte Franzi ab und deutete zum Schaufenster.

Das lebensverändernde, magische Kleid, hätte sie beinahe hinzugefügt.

»Ich fürchte, wir haben nichts in Ihrer Größe«, sagte die Dame hochnäsig.

Franzi würde sie liebend gerne das Fürchten lehren und ihr ein Stückchen vom selbst gebackenen Kuchen vorbeibringen. Mit einem Berg Schlagsahne.

»In welcher Größe ist es denn vorrätig?«, fragte Franzi beharrlich.

Sie wollte dieses Kleid haben. Unbedingt. Es ging ihr nicht nur um einen Mann. Es ging auch um ihr ganzes verflixtes Leben, das sie endlich in den Griff bekommen wollte. Mit 28 hatten andere Frauen schon Mann, Haus und Kinder. Oder Beruf und Karriere. Viele sogar beides. Franzi hatte ein abgebrochenes Studium vorzuweisen und einen Transvestiten als besten Freund, wohnte in einer billigen Altbauwohnung, und der Whiskyladen Wee Dram, die Hinterlassenschaft ihres Ex, stand kurz vor der Pleite. Eine Frau, die dieses Kleid trug, würde über dieses ganze Chaos nur milde lächeln. Sie wäre in dieses ganze Chaos gar nicht erst reingeschlittert!

»Size Zero«, sagte die Dame und lächelte milde.

Size Zero, Größe null? Franzi war doch keine Nullnummer! Die Dame musterte sie mit kritischem Blick von oben nach unten.

»Ich glaube«, sagte sie zögernd, »Da ist noch eines in Größe 40 hinten im Lager.«

Da, wo sie die kleinen Dicken einsperrten, damit sich keiner bei ihrem Anblick gruseln musste? Aber immerhin, 40. Nur eine Kleidergröße weniger. Das müsste doch zu schaffen sein? Und wenn Franzi weniger aß, sparte sie auch Geld.

»Ananas!«, sagte die Dame unvermittelt.

»Ananas?«

»Entwässert, entschlackt, entgiftet!«

Die Wangen der Frau hatten sich leicht gerötet, ihre Augen glänzten. »Die Enzyme in der Ananas blockieren die Fettverwertung im Körper.«

Franzi hätte nicht gedacht, dass die dünne Dame zu einem solchen Leidenschaftsausbruch fähig war.

»Und Sport natürlich! Gehen Sie ins Fitnessstudio?«

Franzi schüttelte den Kopf.

»Sollten Sie aber.«

»Ich und Sport«, sagte Franzi zögernd.

Die Dame rümpfte zart ihr (vermutlich maßgeschneidertes) Stupsnäschen. »Natürlich. Das ist nicht jedermanns Sache. Zwei Querstraßen weiter gibt es eine XXL-Boutique. Da finden Sie sicher was.«

Franzi fiel keine passende Erwiderung ein. Ihr fiel nie etwas Passendes ein, wenn jemand etwas Gemeines sagte. Im Schaufenster raschelte es leise. Das schwarze Kleid wisperte leise »Ich warte auf dich«. Doch nur Franzi konnte es hören.

»Ich komme wieder«, sagte Franzi entschlossen, bevor sie sich umdrehte und die Edelboutique verließ.

Die augenblickliche Wirtschaftslage und mangelnde Kaufkraft ihrer Kunden konnte sie vielleicht nicht kontrollieren. Aber die eigene Kalorienzufuhr? Das sollte sie doch endlich mal geregelt kriegen, sie war doch eine erwachsene Frau, sie war intelligent! Und wenn sie erst mal ihr Gewicht im Griff hatte, dann würde sie auch alles andere in den Griff kriegen. Steve zum Beispiel. Anfang dreißig, schwarze Haare, dunkle Augen. Gepflegter Dreitagebart. Gepflegter Humor. Wunderbar ungepflegter Sex. Leider hatte er sich schon länger nicht mehr gemeldet. Aber sie musste immer noch an ihn denken, an seinen Humor, seine Küsse. Seinen Hunger. Nicht nur auf ihre Kochkünste, sondern auch auf ihren Körper. Wenn er erst die neue Franzi sah, die kühle Schönheit im kleinen Schwarzen, dann würde er bleiben. Vielleicht sogar für immer. Und wenn nicht, dann wäre die Frau im schwarzen Kleid selbstbewusst genug, ihm endlich den Laufpass zu geben und sich nach einem zuverlässigen Mann umzusehen.

Popcorn flitzte freudig bellend los. »Falsche Richtung«, sagte Franzi. »Wir müssen erst mal zum Obsthändler. Ananas kaufen.«

Kapitel 2

Sie hatten es am gestrigen Nachmittag dann doch nicht mehr in den Park geschafft. Doch jetzt machte Franzi alles wieder wett. Über den morgendlichen Himmel huschten graue Wolken, und unter Franzis Sneakers raschelten Blätter. Mit Popcorn an der Leine lief sie an einer Gruppe von eifrigen Tai-Chi-Jüngern vorbei, die in ihren merkwürdigen Positionen wie erstarrt wirkten. Am frühen Morgen gehörte der Schlosspark Charlottenburg den Joggern und allen anderen gesundheitsbewussten Menschen, die ihr Leben im Griff hatten. Franzi war jetzt eine von ihnen. Tapfer keuchte sie weiter und ignorierte ihren knurrenden Magen. Der wollte lieber nach Hause und frühstücken. Am liebsten starken schwarzen Tee mit Kandiszucker, dazu ein warmes Baguettebrötchen mit Butter und Serranoschinken. Franzis Kopf jedoch wollte nie wieder dicke Tage erleben. Der wollte auf einem schlanken Körper sitzen, umhüllt von einem eleganten schwarzen Kleid. Franzi hatte gestern Ananas gekauft. Aber die Dame aus der Boutique hatte recht gehabt: Ananas allein genügte nicht. Sport musste sein. Franzi hatte ihre alten Turnschuhe herausgekramt, dazu ein buntes Sweatshirt und eine rote Jogginghose. Jetzt atmete sie tief durch und ignorierte ihr leichtes Seitenstechen. Davon ließen sich toughe Frauen nicht aufhalten. Franzi war stolz auf sich. Sie bog schnaufend um eine große alte Kastanie. Vor ihr lag der Teich. Franzi befahl ihrem Magen, mit dem Grummeln aufzuhören, und ihren Füßen, nicht mehr protestierend zu quengeln. Um sich abzulenken, dachte sie an Steve, diesen professionellen Herzensbrecher, vor dem ihr Kopf sie sofort gewarnt hatte. Doch ihr Bauch wollte ihn, und ihr Bauch hatte gewonnen. Ihr Bauch gewann meistens. Deshalb steckte sie ja auch in diesem Schlamassel. Die Frau im schwarzen Kleid würde sich mit Typen wie Steve gar nicht erst abgeben. Sie würde sich in den richtigen Mann verlieben. Kein Taugenichts, sondern beruflich erfolgreich und von Kopf bis Fuß ein Gentleman der alten Schule. Dabei kam es Franzi gar nicht so sehr auf die Umgangsformen an. Es war schön, wenn ein Mann einer Frau die Tür aufhielt. Aber was für Franzi den wahren Gentleman ausmachte, das war ein Mann, der alle Menschen, egal welchen Alters, Aussehens und welcher Hautfarbe, respektvoll behandelte. Einer, der ehrlich war und zuverlässig. Einer, der wusste, was er wollte. Franzi hätte auch nichts dagegen, wenn er außerdem noch charmant und humorvoll wäre. So ungefähr wie Cary Grant in Über den Dächern von Nizza (Franzi hatte eine Vorliebe für alte Filme, die sie mit Viktor teilte). Steve jedenfalls war alles andere als ein Gentleman. Als Gitarrist einer aufstrebenden Indie-Rockband war er viel zu beschäftigt mit Sessions, Auftritten, Groupies und Alkohol.

Auch wenn Franzis Bauch ihn noch sosehr wollte, so sagte ihr Kopf doch, es wäre besser, wenn sie sich einen anderen suchen würde.

Zum Beispiel so einen wie … wie den Mann, der auf der Bank am Teich saß und zumindest äußerlich wie ein Gentleman wirkte. Franzi drosselte ihr Tempo, bis es nicht mehr war als das sanfte Kriechen einer Schnecke. Popcorn blickte sie fragend an. Wenn es nach ihm gehen würde, könnte das mit dem Rennen gerne noch weitergehen.

»Gleich«, versprach Franzi ihm.

Der Mann auf der Bank hatte kurze schwarze Haare, trug einen dunkelgrauen Anzug und auf seinen Knien lag ein schwarzer Aktenkoffer. Er war natürlich nicht Cary Grant, nur jemand, der diesem sehr ähnlich sah. Groß, schlank, gut gekleidet. Ein Hauch von Herbstnebel umwehte Mann und Bank, hüllte beide in graue Melancholie. Was tat dieser Mann hier, warum war er nicht auf dem Weg zur Arbeit? Warum saß er an einem kühlen Oktobermorgen ganz allein am Wasser und wirkte so, als hätte ihn jemand ausgesetzt? Vor allem: Warum trug er keine Schuhe? Denn das war es, dieses eine kleine Detail, das Franzi endgültig zum Stehenbleiben brachte. Sie suchte mit den Augen die Umgebung der Parkbank ab. Hatte er seine Schuhe ausgezogen, weil er seine Füße lüften wollte? War er ein heimlicher Esoteriker, der jeden Morgen den Kontakt zur Natur suchte, bevor er sich in den Arbeitsalltag stürzte? Franzi suchte vergeblich. Keine Schuhe, keine Socken. Nur ein paar nackte Füße, groß und blass. Es ging sie rein gar nichts an. Auch wenn dieser Mann aussah wie Cary Grant (jedenfalls ein bisschen). Auch wenn er verloren wirkte, als wäre er von einem seiner Dächer in Nizza abgestürzt und Grace Kelly hätte ihm noch zusätzlich einen Tritt verpasst, als er schon zuckend auf dem Boden lag. Franzi lief entschlossen weiter. Leider in die falsche Richtung. Denn anstatt den Teich zu umrunden, wie sie es ursprünglich vorgehabt hatte, schlug Franzi den Weg ein, der zu den Bänken am Wasser hinunterführte. Kies knirschte unter ihren Füßen und Popcorn hechelte leise. Doch der Mann auf der Bank ließ nicht erkennen, ob er sie gehört hatte. Oder gesehen. Er starrte einfach weiterhin auf den trüben, mit vereinzelten Laubblättern dekorierten Teich. Die Parkbank hatte eine grazil geschwungene Rückenlehne, in die jemand fuck off eingeritzt hatte. Franzi ignorierte die Botschaft des Sitzmöbels. Je näher sie dem schicken grauen Anzug kam, desto klarer wurde ihr, dass hier etwas nicht stimmte. Der Stoff sah teuer aus, die breiten Schultern waren gut betont, der Schnitt war perfekt. Aber die Bürouniform wirkte zerknittert, so als hätte ihr Besitzer darin geschlafen. Und in seinen leicht strubbeligen Haaren steckte ein kleines, dunkelrotes Blatt. Franzi ging hinter ihm vorbei, trat ans Ufer und versank prompt mit den Füßen in einer weichen, nachgiebigen Masse. Franzi blickte nach unten. Sie war im morastigen Teichufer stecken geblieben.

»Mist!«

Franzi befreite ihre Turnschuhe aus dem nasskalten Modder und hüpfte vorsichtig zur Bank hinüber. Jeder Schritt fühlte sich an, als würde sie in verfaulte Kürbisse treten. Der Gentleman saß ganz außen auf der Bank. Er sah immer noch nicht zu ihr herüber. Selbst Popcorn schien ihn nicht zu interessieren. Franzi steuerte auf die andere Seite der Bank zu und ließ sich mit einem kleinen Seufzer darauffallen. Sie streckte ihre Beine von sich und musterte die traurigen Überreste des ersten Joggingausflugs ihres Lebens.

»Dieser Park ist verdammt gefährlich. Jedenfalls für Schuhe. Hat es Ihre auch erwischt?«

Franzis Worte wurden von einem Rascheln im Schilf beantwortet. Eine kleine, bunte Ente steckte neugierig ihren Kopf hervor und musterte sie erwartungsvoll. Der Mann schwieg. Plötzlich kam Franzi ein schrecklicher Gedanke. Saß sie etwa neben einer Leiche? Franzi wandte so rasch den Kopf nach rechts, dass sie ihre Halswirbel knirschen spürte. Wenn, dann hatte diese Leiche zumindest ein schönes Profil. Auch aus der Nähe betrachtet war die Ähnlichkeit mit dem eleganten amerikanischen Schauspieler frappierend. Ein echter Gentleman. Schmale Lippen, energisch vorgeschobenes Kinn, ein Hauch von Bartstoppeln. In den ruhigen Augen spiegelte sich der graublaue Teich. Und die Augen blinzelten nicht einmal. Franzi hielt die Luft an. Dann hob sich die Anzugbrust fast unmerklich und senkte sich wieder. Franzi atmete aus. Wie gut, dass wenigstens das geklärt war. Im Schilf raschelte es wieder. Der ersten Ente war eine weitere gefolgt, in einfachem braunem Federkleid und sehr viel zurückhaltender als ihr Gefährte. Ein Pärchen, ganz offensichtlich.

»Frühstückshunger?«

Das bunte Männchen steuerte hocherfreut auf Franzi zu. Das Weibchen folgte gelassen. Franzi steckte ihre Hand in die Bauchtasche ihres Sweatshirts und wurde fündig. Die grell orangefarbene Verpackung des Müsliriegels sah zwar mitgenommen aus, aber das schokoladenüberzogene Innere war noch intakt. Franzi brach den Riegel in zwei Hälften und hielt ihrem Banknachbarn eine davon hin.

»Wie sieht’s mit Ihnen aus?«

Cary Grant rückte ein wenig von ihr ab. Popcorn hingegen setzte sich erwartungsvoll vor sie und bettelte mit großen braunen Augen.

»Schokolade ist nicht gut für dich«, sagte Franzi.

Der Erpel hatte mittlerweile das Ufer erreicht und quakte laut. Die Ente hielt sich ein Stück abseits. Franzi zerbröselte den Müsliriegel, nahm eine besonders schön glänzende Rosine und warf sie in Richtung der Entendame.

Mit lautem Gequake stürzte sich das bunte Männchen darauf und schnappte sie ihr vor der Nase weg. Popcorn winselte enttäuscht.

»Typisch Mann.«

Franzi schielte zu ihrem Banknachbarn hinüber. Wenn ihn das nicht aus der Reserve locken würde. Und siehe da, der Gentleman bewegte sich tatsächlich. Er beugte sich vor und hielt Popcorn seinen Handrücken hin. Dieser schnüffelte aufgeregt daran und ließ sich streicheln, mit sichtlichem Wohlbehagen.

»Er ist ein echter Charmeur«, sagte Franzi.

Der Gentleman wandte sich Franzi zu, doch sein Blick wanderte an ihr vorbei und blieb an etwas anderem hängen. Franzi drehte sich ebenfalls um. Am Ufer des Sees stand eine kleine Tafel, und darauf hieß es:

Bitte nicht füttern!

Die zusätzliche Fütterung der Wasservögel führt zu Überpopulation auf engstem Raum, zur Massenvermehrung von Bakterien, zur tödlichen Gefahr für Tiere und Gewässer.

Die Müsliriegelreste schmolzen langsam zwischen Franzis Fingern.

Cary hatte die sture Betrachtung des Teiches wiederaufgenommen. Popcorn winselte enttäuscht. Na gut, Franzi war nicht Grace Kelly. Nie gewesen. Aber er konnte doch trotzdem mit ihr reden. Er war eben doch kein Gentleman, sondern nur pingelig. Ein echter Aktendeckelschubser. Und sie hatte sich eingebildet, dass er ein Problem hatte und dringend Hilfe brauchte. Franzi stopfte sich eine Handvoll pappig schokoladiger Haferflocken in den Mund. Aber deine Diät!, kreischte es in Franzis Kopf. Schokolade!, stöhnte Franzis Bauch. Klappe allesamt!, dachte Franzi. Müsli zählt nicht. Müsli ist gesund. Franzi leckte sich die Finger und wischte sie entschlossen an ihrer Leggins ab. Nun war es auch schon egal.

»Nett, Sie kennengelernt zu haben. Ich wünsche Ihnen noch ein schönes Leben«, sagte sie zu Cary Grant und stand auf.

Franzi konnte sich nicht verkneifen, zum Abschied noch einen kurzen Blick auf seine Füße zu werfen. Nackt und bleich auf dem feuchten Boden, gleich neben Zigarettenstummeln, Entengrütze und einer zerschlagenen Bierflasche. Er hatte große, schmale Füße, auf denen vereinzelt zarte dunkle Haare sprossen. Der zweite Zeh überragte den Ersten jeweils um eine Nagelbreite. Franzi setzte sich wieder hin.

»Wo sind Ihre Schuhe?«

Seine Zehenspitzen krallten sich Halt suchend in die Erde.

»Kann ich Ihnen helfen? Wollen Sie darüber reden?«

Ein tiefer Atemzug bewegte die Brust des Mannes. Seine schmalen Lippen öffneten sich, nur ein bisschen, und schlossen sich sofort wieder. Dann wandte er den Kopf und sah sie an. Diesmal lag in seinen graublauen Augen keine Spur mehr von Kälte und Distanz. Es waren die Augen eines Ertrinkenden.

»Sind Sie krank? Ich habe leider mein Handy zu Hause gelassen. Sonst könnte ich einen Krankenwagen für Sie rufen.«

Keine Reaktion.

»Sie sind stumm, nicht wahr?«

Dass ihr diese Idee nicht gleich gekommen war. Aber das lag daran, dass sie noch nicht gefrühstückt hatte (der klägliche Müsliriegel zählte nicht). Ohne Futter funktionierte ihr Gehirn nun mal nicht.

»Ich bin Franziska Engel. Franzi.«

Der Mann blickte sie nicht einmal mehr an. In derselben Haltung wie vorhin, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, starrte er wieder auf den kleinen Teich.

»Entschuldigung, ich wollte Sie nicht beleidigen. Viktor sagt auch immer, dass ich in jedes Fettnäpfchen trete, wenn ich nur den Mund aufmache. Wenn Sie stumm sind, dann ist das völlig in Ordnung. Sie können mir Ihren Namen buchstabieren, mit den Fingern. Langsam. Dann komme ich schon mit.«

Doch Cary Grant dachte gar nicht daran. Er schloss die Augen, seine Schultern sackten nach vorne. Franzi war ratlos. Was nun? Popcorn hatte keine Probleme. Er schmiegte sich an das elegante Hosenbein und haarte hingebungsvoll auf den teuer aussehenden Stoff. Der Gentleman öffnete die Augen wieder. Popcorn setzte seinen erwartungsvollen Blick auf. Er wurde nicht enttäuscht. Der Gentleman beugte sich vor und strich dem kleinen Hund behutsam über den Kopf.

»Darf ich vorstellen: Popcorn.«

Jetzt warf der Gentleman Franzi doch einen fragenden Blick zu.

»Ich habe ihn im letzten Jahr gefunden, auf einem leeren Autobahnparkplatz. Jemand hatte ihn an einem Papierkorb festgebunden, in dem einer von diesen Riesenpopcornbechern lag. Leer.«

Der Mann schüttelte langsam den Kopf. Franzi war nicht sicher, ob wegen der Grausamkeit mancher Menschen oder wegen des Namens. Egal, Hauptsache, er reagierte. Streicheln konnte er wirklich gut. Er hatte schöne Hände mit schlanken, kräftigen Fingern. Wenn Popcorn ein Kater wäre, dachte Franzi, würde er jetzt schnurren. Und wenn sie, Franzi, eine Katze wäre, ebenfalls. Hoppla, du tust es schon wieder, Engelchen, hörte Franzi ganz deutlich Viktors Stimme in ihrem Kopf sagen. Ich kann nichts dafür, dachte Franzi störrisch zurück. Und dann, um die mahnende Stimme des Wohnungsgenossen in ihrem Inneren zu verdrängen, sagte sie laut:

»Damit habe ich meine Oma schon zur Verzweiflung getrieben. Ich habe immer alles aufgesammelt, was krank oder irgendwie kaputt war. Oma Elfie hat ihr Bestes getan, um gebrochene Taubenflügel, abgeklemmte Katzenschwänze und verletzte Hundepfoten zu kurieren. Sie war es auch, die mich tröstete, wenn die mühselig Geheilten möglichst schnell wieder ausbüxten.«

Dann war Oma gestorben und Franzi hatte angefangen, nicht nur verletzte Tiere, sondern auch kaputte Kerle zu sammeln. Nur leider war niemand da, der ihr half, sich selbst zu kurieren. Und jetzt saß sie hier und rettete schon wieder jemanden. Denn dieser Mensch hatte eindeutig ein Problem, und Franzi wusste, dass nichts so sehr bei der Bewältigung von Problemen half wie eine ordentliche Mahlzeit. Sie würde zuerst einen schönen, starken schwarzen Tee kochen. Für sich. Und für den Gentleman einen Kaffee, mit einem Hauch von Zimt und Koriander. Er sah aus wie ein Genießer. Wenn der Duft von frisch gemahlenen Bohnen die Küche durchzog, fühlte Franzi sich sofort an ihre Kindheit erinnert, wunderbar geborgen und beschützt. Dieses Gefühl wollte sie gerne teilen. Sie konnte ihn doch nicht einfach so hier sitzen lassen. Womöglich kam er noch auf dumme Gedanken. Auf dem Teich zogen Erpel und Ente gelangweilt ihre Kreise. Im letzten Sommer war hier ein kleiner Junge ins Wasser gefallen. Sämtliche Mütter vor Ort waren panisch durcheinandergeflattert, doch dem Kind war nichts passiert. Selbst in der Mitte des Teiches konnte der knapp Sechsjährige stehen. Was sonst noch? Franzi warf einen kurzen Seitenblick auf den schwarzen Aktenkoffer. Wenn dieser gar keine Akten enthielt, sondern einen Strick? Im Park wimmelte es nur so von kräftigen Bäumen, mit Ästen in genau der richtigen Höhe. Nicht gut. Am anderen Ufer des Teiches erschienen ein Mann und eine Frau in dunkelblauen Jacken, die wichtig den Park inspizierten: das Ordnungsamt.

Franzi stopfte hastig das schokofleckige Müsliriegelpapier zurück in die Tasche ihres Sweatshirts. Die Frau sah zu ihnen herüber. Dann stieß sie den Mann an ihrer Seite an, sagte etwas zu ihm und deutete auf Franzi. Verflixt, hatten die beiden sie etwa beim Füttern beobachtet? Franzi warf einen kurzen Seitenblick auf ihren Sitznachbarn. Dann sagte sie:

»Da sind die Leute vom Ordnungsamt. Die können Ihnen bestimmt weiterhelfen.«

Cary Grant blickte auf, und als er die blauen Jacken sah, sackten seine Schultern noch ein bisschen mehr nach vorne.

»Die können Ihnen einen Krankenwagen rufen. Oder die Polizei.«

Er zuckte zusammen. Das Wort Polizei schien ihm gar nicht zu gefallen. Vielleicht doch ein Dieb über den Dächern von Berlin (statt Nizza)? Aber welcher Dieb verlor seine Schuhe und setzte sich anschließend auf eine Parkbank? Oder war er das Opfer eines Überfalls geworden und traumatisiert? Unwahrscheinlich. Wer klaute Schuhe und ließ einen so teuer aussehenden Aktenkoffer unberührt? Nein. Da steckte etwas anderes dahinter.

»Sind Sie ein Verbrecher?«

Manchmal war eine direkte Frage der einfachste Weg. Und vielleicht würde ihn das endlich dazu bringen, den Mund aufzumachen. Doch die einzige Reaktion des Gentlemans bestand aus einem kurzen Blinzeln, als wäre ihm etwas in die Augen geraten. Oh, waren etwa seine Wangen feucht?

In diesem Moment klatschte ein Regentropfen auf Franzis Nase. Sie blickte nach oben. Graue Wolken hatten sich am Himmel aufgetürmt und drohten noch mehr Tropfen an. Kühler Wind schlich sich unter Franzis Sweatshirt und den Mann neben ihr durchfuhr ein leichtes Zittern. Er schien wirklich nicht zu wissen, wohin. Er hatte niemanden, war ganz allein auf der Welt. Der nächste Regentropfen fiel. Popcorn bellte einmal kurz und auffordernd. Er mochte Regen überhaupt nicht. Franzi traf eine Entscheidung.

»Kommen Sie mit zu mir. Ist nicht weit, ich wohne gleich um die Ecke. Ich mache Ihnen einen Kaffee und dann ein ordentliches Frühstück. Wenn Sie erst mal was im Magen haben, sieht die Welt gleich ganz anders aus.«

Der Gentleman richtete sich auf, zog die Schultern zurück und hob den Kopf. Franzi konnte nachfühlen, wie viel Kraft ihn das kosten musste. Und dann sah sie es: ein resigniertes Schulterzucken. Das genügte Franzi schon.

»Prima«, sagte Franzi und stand auf.

Popcorn bellte kurz und freudig. Der Gentleman erhob sich unsicher. Er roch nach den Resten eines teuren Aftershaves und nach Hoffnungslosigkeit. Zu Hause würde sie ihn erst mal unter die Dusche schicken. Viktor konnte ihm seinen Rasierer leihen, und Franzi hoffte, dass noch ein sauberes Handtuch im Wäscheschrank war.

»Hier«, sagte sie und drückte ihrem neuesten Fundstück die Hundeleine in die Hand. Popcorn zog augenblicklich vorwärts, nach Hause. Jetzt konnte der Gentleman nicht mehr entwischen.

Kapitel 3

Eine bezahlbare Wohnung in Berlin war mittlerweile so schwer zu finden wie ein treuer Mann. Umso glücklicher war Franzi, dass der Makler, den sie vor einigen Jahren nach seiner Scheidung wieder aufgepäppelt hatte, ihr zum Dank diese hier vermittelt hatte (bevor er mit einer anderen Frau nach Mallorca gezogen war). Renovierter Altbau, drei Zimmer mit abgezogenen Dielen, und sogar ein kleiner Balkon, auf dem Küchenkräuter und Blumen in bunten Töpfen gediehen. Und das in unmittelbarer Nähe von Schloss Charlottenburg.

»Kommen Sie rein«, sagte Franzi, die schon im Wohnungsflur stand, zu ihrer zögerlichen Neuerwerbung. Popcorn war schon längst in die Küche geflitzt, doch der Gentleman verharrte trotz ihrer Aufforderung immer noch auf der Türschwelle. War es das Chaos im Flur, das ihn abhielt? Die ausgedehnte Schuhsammlung (Viktors), die links an der Wand aus dem Regal quoll, und die diversen Mäntel und Jacken (gehörten beiden), die es nicht mehr in die übervolle Garderobe geschafft hatten? Oder die schwarzen Strümpfe, die vom Kronleuchter herabbaumelten? Ach, Cary. Hier war nicht das Ritz in Nizza, und ein Hausmädchen zum Saubermachen gab es auch nicht. Auch wenn sich der Gentleman nicht reintraute: Franzi mochte ihre Wohnung. Die Wände im Flur hatte sie selbst burgunderrot gestrichen. Der Kronleuchter, der in der Mitte prangte, funkelte den alten Spiegel in pseudobarockem Goldrahmen an, der an der hinteren Wand hing. Beides Schnäppchen vom Flohmarkt. Auch der Rest der Einrichtung war ertrödelt. Alt, aber gemütlich.

Doch der Gentleman bewegte sich immer noch nicht. Wie ein ängstliches Gespenst stand er da. Neben dem Gespenst tauchte plötzlich eine zweite Gestalt auf, klein, kompakt, ordentlich. Frau Küppenbusch von gegenüber. Franzi unterdrückte einen Seufzer. Die hatte ihr gerade noch gefehlt.

»Frau Engel? Gestern Nacht ist Herr Seidel wieder gegen drei Uhr laut singend durch den Hausflur getanzt. So geht das aber nicht!«

Frau Küppenbusch trug ein taubenblaues Twinset, eine kleine Perlenkette und jedes ihrer grauen Löckchen war mit einer dicken Schicht Haarspray an seinem Platz fixiert. Die Rentnerin legte großen Wert auf Ruhe, Ordnung und Sauberkeit und duftete stärker nach Lavendel als ein Mottenkissen.

»Davon abgesehen: Häufiger Herrenbesuch ist hier nicht erwünscht, Frau Engel.«

Dann fiel ihr Blick auf die nackten, mittlerweile ziemlich dreckigen Füße des Gentlemans. Sie sog scharf die Luft ein.

»Dass der gute Ruf eines Hauses mit seinen Bewohnern steht und fällt, müsste Ihnen doch klar sein.«

Franzi seufzte leise.

»Außerdem ist der Herr Seidel gestern wieder an der Schule gesehen worden. Sagen Sie ihm, dass die Eltern das gar nicht gerne haben, wenn da immer ein Mann rumlungert!«

Was Viktor bei der Schule wollte, das hätte Franzi auch gerne gewusst. Sie würde das später klären. Jetzt packte sie erst mal Cary Grant am Ärmel und zerrte ihn über die Türschwelle.

»Ich kümmere mich darum.«

Franzi wartete Frau Küppenbuschs Antwort nicht ab. Sie schloss einfach die Tür. Das Letzte, was sie von draußen noch hörte, war ein halb entrüstetes, halb hilflos klingendes »Also wirklich!«.

»Meine Nachbarin neigt zu Übertreibungen«, erklärte sie ihrem reglos im Flur stehenden Besucher. Man hätte ihn für ein Standbild halten können, wären da nicht die sanften Atembewegungen seiner grauen Anzugjacke gewesen. Franzi bückte sich und fischte ein paar Pantoffeln mit pinkfarbenen Pompons aus dem Schuhhaufen. Viktor hatte Größe 45.

»Hier, ziehen Sie die an. Die Wohnung ist ein bisschen fußkalt.«

Franzi hielt ihm die Schuhe hin. Augenblicklich kam Leben in die Statue. Er tat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. Franzi betrachtete die Pompons. So was würde sie auch nicht gern anziehen. Aber immer noch besser als kalte Füße.

»Was anderes habe ich nicht. Außer vielleicht ein paar dicke Socken?«

Nachdrückliches Kopfschütteln. Franzi ließ die Pantoffeln wieder auf den Schuhhaufen fallen.

»Na gut. Dann gibt’s jetzt erst mal Kaffee.«

Franzi folgte Popcorn in die Küche, ihr Besucher kam zögernd hinterher und ließ seinen Blick über die alten Schränke schweifen, die vollgestopft waren mit Töpfen, Tellern, Tassen. Franzi bemerkte, dass er die Stirn in Falten legte. Na gut, alles war ziemlich alt und teilweise nicht mehr ganz in Ordnung. Doch Pfannen und Töpfe blitzten frisch gescheuert, und es duftete nach Orangen, der Minze auf dem Fensterbrett und frischem Brot. Das war Franzis Refugium, hier war sie glücklich. Popcorn strich um Franzis Beine, dann trollte er sich unter den Tisch, wo sein Körbchen stand. Ein Stuhl wurde herangezogen und quietschte leise, als sich Cary Grant setzte. Franzi öffnet die Kaffeebüchse und löffelte schwarzes Pulver in den Filter. Dann griff sie in das Gewürzregal, das die halbe Wand über der Arbeitsfläche einnahm.

»Eine Prise Kardamom. Beruhigend, stärkend und stimmungshebend. Ein bisschen Pfeffer. Durchblutungsfördernd, kurbelt die Endorphine an.«

Sie ließ die Gewürze in den Kaffee regnen. Dann öffnete sie die Kühlschranktür. Popcorn winselte leise, doch er rührte sich nicht von der Stelle.

»Schinken und Rühreier, Toastbrot und Orangenmarmelade«, verkündete Franzi.

Der Gentleman saß sehr still und sehr aufrecht auf einem löchrigen Korbgeflechtstuhl. Neben ihm lag auf einem Stuhl die schwarze Aktentasche, und über der Stuhllehne hing die graue Anzugjacke. Der Kühlschrank summte leise. Franzi schnitt den Schinken in Streifen, schlug ein paar Eier auf und vermischte sie mit einem Schuss Sahne. Gab Salz und etwas Pfeffer dazu. Zerließ Butter in einer Pfanne, rührte den Schinken ein, ließ ihn kurz anbraten. Dann kamen die Eier dazu. Das Geheimnis bestand darin, die Mischung an allen Stellen fest werden zu lassen, ohne sie austrocknen zu lassen.

»Schneid uns mal zwei Scheiben Brot ab, bitte.«

Franzi hatte beschlossen, auf die förmliche Anrede zu verzichten. Vielleicht taute ihr Gast schneller auf, wenn es familiärer zuging? Franzi deutete mit dem Kopf zum anderen Ende der Arbeitsfläche, wo ein Messer auf einem großen Holzbrett vor dem Brottopf lag. Cary Grant erhob sich langsam. Er tapste zum Messer hinüber, hob es auf und wog es prüfend in seiner Hand.

»Im Brottopf ist ein halbes Weißbrot. Nicht zu dünn schneiden.«

Er hob den Deckel ab, nahm das Brot heraus und säbelte zwei Scheiben ab. Franzi holte Teller, butterte das Brot und ließ die appetitlich duftende Masse aus der Pfanne darüberlaufen. Cary trat ans Fenster.

»Da ist ein Topf mit Schnittlauch«, sagte Franzi. »Magst du ein paar Röllchen drübergestreut?«

Er streckte die Hand aus, und sofort kam Bewegung in einen schmutzig braunen, wolligen Klumpen neben den Töpfen. Der Klumpen reckte sich, fauchte laut und blitzte Cary aus einem grünen Auge misstrauisch an. An der Stelle, wo das andere Auge hätte sein sollen, befand sich nur eine leere Höhle.

»Ganz ruhig, John Wayne. Das ist ein Freund.«

Der Kater entfaltete sich zu seiner vollen stattlichen Größe und musterte den Mann in Grau prüfend. Franzi stellte die Teller auf den Tisch, goss Kaffee in einen angeschlagenen Porzellanbecher und setzte sich.

»Lass den Schnittlauch. John Wayne hat schlechte Laune, da kommt man ihm besser nicht in die Quere.«

Cary Grant tappte zum Tisch zurück, setzte sich wieder auf seinen Stuhl und starrte ins Leere.

»Der Kater lag eines Morgens unten neben der Tür. Sah aus, als hätte ihn ein Hund in der Mangel gehabt. Aber er ist ein alter Kämpfer und hat sich schnell wieder berappelt«, erklärte Franzi. »Er lässt sich nicht von allen anfassen.«

Sie schob Cary seinen Teller näher ran.

»Guten Appetit.«

Ihr Besucher nahm eine Gabel in die Hand und drehte sie hin und her, als überlege er, was genau er damit anstellen sollte. Franzi attackierte ihre Portion mit Genuss. Sport machte eben hungrig. Sie konnte die Kalorien später wieder einsparen. Cary legte die Gabel wieder hin. Seine Schultern sackten nach vorne. Unter dem Tisch jaulte Popcorn leise, aber hoffnungsvoll vor sich hin.

»Man soll dem Leib etwas Gutes bieten, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen. Hat Winston Churchill mal gesagt«, zitierte Franzi.

Nicht dass sie sich mit Churchill auskannte. Aber es war eines der Lieblingszitate ihrer Oma gewesen. Doch es beeindruckte Cary Grant nicht die Bohne. Franzi aß und spürte, wie es ihr mit jedem Bissen wohler zumute wurde. Ein warmes, sonniges Gefühl breitete sich in ihrem Bauch aus. Unmöglich, mit gefülltem Magen schlechte Laune zu haben. Wie konnte sie ihren Gentleman nur dazu bringen, es wenigstens mal zu versuchen?

»Sieh an, sieh an«, dröhnte plötzlich eine tiefe Stimme von der Tür her. »Was hast du denn da schon wieder angeschleppt?«

Verflixt. Franzi hatte gehofft, Viktor würde noch tief und fest schlafen. Vielleicht ließ er sich ablenken.

»Ich habe frischen Kaffee gemacht.«

Viktor verschränkte die Arme vor der breiten Brust und schüttelte den Kopf.

»Nein, danke. Kann ich bis hierher riechen, dass du wieder einen halben Kräutergarten in die unschuldigen Eier gerührt hast. Lenk nicht ab, Engelchen. Sag mir lieber, was für ein Ding das da ist?«

Viktor nickte in Carys Richtung. Franzi fragte sich, wie wohl ein fast zwei Meter großer, breitschultriger Transvestit im schwarz

seidenen Morgenmantel auf ihn wirken mochte, der ihn als Ding bezeichnete. Carys Gesichtsausdruck nach zu urteilen, nicht besonders gut.

»Das ist ein Freund, der sich in einer vorübergehenden Notlage befindet. Möchtest du nicht vielleicht doch einen Kaffee haben?«

»Das Ding ist kein Freund. Das Ding ist Ärger.« Viktor verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere. Die Türschwelle knirschte vernehmlich. »Lass mich raten. Du hast es auf dem U-Bahnsteig entdeckt. Es wollte gerade vor einem einfahrenden Zug auf die Gleise springen, weil seine Frau es verlassen hat. Oder saß es in einer Kneipe, starrte ganz allein in sein Bier und blies Trübsal, weil die Welt es so schlecht behandelt? Vielleicht ist es ja auch ein Künstler, ein verkanntes Genie, das dringend einen Mäzen sucht.«

Viktor betrachtete den Gentleman genauer.

»Nein, ich nehme den Künstler zurück. Die sind nie so gut angezogen. Das da sieht aus, als würde es Armani tragen. Also dann ist es vielleicht ein Spieler? Roulette, Baccara, einarmige Banditen? Oder trinkt es einfach nur zu viel?«

»Er ist ein Mensch, und er braucht Hilfe. Das reicht.«

Viktor knotete seinen schwarzseidenen Morgenmantel fest zusammen, tänzelte mit kleinen Schritten in die Küche hinein und sang inbrünstig die erste Strophe des alten Schlagers Hier ist ein Mensch. Dann verstummte er abrupt und verbeugte sich. Franzi versuchte, ihr Grinsen zu unterdrücken. Kein Wunder, dass Viktor auf der Bühne so beliebt war. Der geborene Entertainer. Popcorn bellte leise. John Wayne schnaufte verächtlich und rollte sich wieder zu einer Kugel zusammen.

»Gestatten, Viktoria. Autogramme am Bühneneingang.«

»Das ist nicht komisch.«

»Nein, das ist Peter Alexander. Und er muss an dich gedacht haben, als er es geschrieben hat.«

Viktor fischte aus einer Büchse einen Teebeutel heraus, schmiss ihn schwungvoll in einen Becher und setzte Wasser auf.

»Earl Grey. Das einzig erträgliche Heißgetränk«, sagte Viktor.

Franzi hoffte inbrünstig, er würde mit dem Tee wieder in sein Zimmer verschwinden. Schließlich war er sonst nie vor ein oder zwei Uhr nachmittags auf den Beinen. Doch Viktor tat ihr diesen Gefallen nicht. Er wartete leise vor sich hin summend ab, bis das Wasser kochte, dann füllte er seinen Becher und kam herüber zum Esstisch, setzte sich zu den beiden und lächelte. High Noon. Fremder, einer von uns beiden ist zu viel in dieser Stadt. Franzi kannte dieses Lächeln. Vielleicht bekam sie Cary Grant noch rechtzeitig aus der Schusslinie.

»Willst du duschen gehen?«, bot sie dem Gentleman an.

Die erkalteten Eier glänzten glibberig gelb, hier und da lugte ein Schinkenstückchen aus der breiigen Masse wie die Finger eines Ertrinkenden.

»Du fühlst dich bestimmt besser, wenn du dich erst mal frisch gemacht hast.«

In der Zwischenzeit konnte sie Viktor alles in Ruhe erklären. Doch Cary Grant bewegte sich nicht.

»Es hat dein Essen nicht angerührt«, sagte Viktor. »Bist du sicher, dass es noch lebt?«

Cary Grant sah kurz zu ihr hinüber. Dann streckte er zögernd die Hand nach seinem Kaffeebecher aus.

»Es lebt und es will Kaffee. So weit, so schlecht.«

Der Mann in Grau hob den Becher an die Lippen, schnupperte und verzog das Gesicht. Dann nahm er einen kleinen Schluck, den er höchst ungentlemanlike sofort wieder in den Becher spuckte.

»Oh«, sagte Viktor, »es hat Geschmack. Das gefällt mir.«

Franzi stand auf und nahm Cary Grant den Kaffeebecher aus der Hand. Sie leerte ihn in das Abwaschbecken und ließ Wasser hinterherlaufen.

»Mach ihm einen Tee. Das stimuliert die kleinen grauen Zellen. Vielleicht macht es dann mal den Mund auf und sagt was? Oder ist es stumm?«

Der Mann in Grau zuckte verloren mit den Achseln.

»Nicht stumm, nur stur. Das gefällt mir immer besser. Jedenfalls ist es ein Fortschritt. Wenn ich da an diesen verkrachten Philosophen denke, den du in der Kneipe aufgelesen hast.«

Viktor beugte sich vertraulich zu Cary:

»Der hatte eine Praxis für Lebenshilfe eröffnet und ist umgehend pleitegegangen. Er hat seine Klientinnen gevögelt. Das ist zwar die Sorte Philosophie, mit der ich was anfangen kann. Aber seiner Frau hat’s gar nicht gefallen.«

»Georg ist ein guter Mann. Er kann nur nicht Nein sagen«, ließ Franzi verlauten.

Viktor ignorierte sie.

»In dieser Welt musst du entweder sehr schlau sein oder sehr freundlich. Das ist eine Erkenntnis von Elwood P. Dowt. Sie wissen schon, der Mann, der mit einem weißen Riesenkaninchen befreundet war, das Harvey hieß«, sagte Viktor. »Ich bin übrigens nicht freundlich«, fügte er im Konversationston hinzu.

Der Mann in Grau rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Viktor rückte ihm noch ein bisschen weiter auf die Pelle.

»Die gute Franziska hier hat ein Faible für die Opfer der Gesellschaft. Sie ist der Engel der Armen und Getretenen, der Missverstandenen und Beladenen. Franzi schleppt sie an, füttert sie, kuriert sie aus, nimmt sie mit in ihr Bettchen und wird von den Genesenen anschließend wieder verlassen. Mit schöner Regelmäßigkeit. Jedenfalls bevor ich kam.«

Das Letzte wurde in deutlich drohendem Tonfall ausgesprochen.

»Ja, genau. Bevor ich dich im vergangenen November auf der Brücke daran gehindert habe, ins Wasser zu springen«, sagte Franzi. »Vielleicht solltest du ihm deine Geschichte erzählen?«

Viktor setzte sich wieder gerade hin.

»Da gibt es nichts zu erzählen. Ich wäre selbstverständlich nie gesprungen. Viel zu kalt, das Wasser um diese Jahreszeit. Ich habe nur dagestanden und nachgedacht.«

»Im Unterrock, um vier Uhr morgens. Im Regen. Bei knapp drei Grad über null!«

»Kälte macht den Kopf frei. Und ich liebe die Stadt im Regen.«

Franzi öffnete den Mund. Sie wollte von der Kopfwunde erzählen, dem Blut auf seinen Wangen und dem verlaufenen Make-up. Doch dann sah sie Viktor an. Vom Fenster her fiel graues Tageslicht auf sein zerknittertes Gesicht. Er hatte tiefe Ringe unter den Augen und zwei steil nach unten verlaufende Falten neben den Nasenflügeln, die Franzi früher nie aufgefallen waren. Sie klappte den Mund wieder zu. Unter dem Tisch seufzte Popcorn leise. Cary Grant rutschte erneut auf seinem Sitz herum.

»Ich glaube, es muss mal«, sagte Victor.

»Draußen im Flur, gleich rechts die nächste Tür«, sagte Franzi.

Cary Grant stand auf, nahm seine Aktentasche und schlich sich aus der Küche. Franzi und Viktor sahen schweigend seinen nackten Füßen hinterher. Nebenan schnappte die Verriegelung zu.

»Ich hoffe, er hat kein Gift in seinem Köfferchen«, sagte Viktor.

»Oder einen Strick?«, mutmaßte Franzi.

»Wo soll er sich denn im Badezimmer aufhängen? An dem dünnen Wasserrohr?«

Viktor drehte sich zu Franzi um und sah sie an.

»Also los, Engelchen, raus mit der Sprache. Wer ist er, woher kommt er, was soll das Ganze?«

»Ich war joggen im Park. Er saß auf einer Bank am Teich und hat sich nicht gerührt. Und, na ja, du hast ja gesehen, er hat keine Schuhe an.«

»Joggen? Du?« Viktor grinste breit. »Wieder einer deiner Diätanfälle? Hat aber nicht lange angehalten.«

Die letzte Bemerkung wurde begleitet von einem vielsagenden Blick auf Franzis leeren Teller.

»Wer hat denn neulich gejammert, als er sein paillettenbesticktes Abendkleid nicht mehr zubekam?«, konterte Franzi.

»Papperlapapp«, sagte Viktor. »Kümmern wir uns um dich. Du hast also einen stummen fremden Kerl mitgenommen, weil dir seine nackten Füße leidgetan haben?«

»Hör mal, Viktor …«

Aber der ließ sich nicht bremsen.

»Gib’s zu. Du hast ihn nur deshalb angeschleppt, weil er aussieht wie Cary Grant!«

»Und wenn schon. Das ist deine Schuld. Wer sitzt denn hier in jeder freien Minute vor dem Fernseher und sieht sich diese alten Schwarz-Weiß-Schinken an? Du hast mich angesteckt!«

Plötzlich sprang Viktor auf, bewegte seinen massigen Körper wendig um den Tisch herum und schnappte sich die graue Jacke, die immer noch über der Stuhllehne hing.

»Was tust du?«

Viktor wühlte mit flinken Fingern in den Jackentaschen.

»Das kannst du doch nicht machen, hör sofort auf damit!«

»Schnickschnack«, sagte Viktor sehr bestimmt. »Erinnerst du dich an den angeblichen Theologiestudenten, der erst deine Speisekammer leer gefressen und dann dein Portemonnaie geklaut hat?«

»Er hieß Conrad, und er hatte psychische Probleme!«

»Wer hat die nicht.« Viktor zog einen offenen Briefumschlag aus der rechten Jackentasche: »Heureka!«

Franzi versuchte, ihm das Kuvert aus der Hand zu reißen: »Du kannst doch nicht einfach so seine Post lesen!«

»Aber du kannst ihn einfach so in deine Wohnung einladen? Einen völlig Fremden? Wer weiß, vielleicht ist er ein verkappter Hannibal Lecter. Du kennst noch nicht einmal seinen Namen!«

»Das würde mir auch nichts nützen, wenn er wirklich darauf aus ist, meine Leber zu entfernen, sie zu braten und zu essen.«

»Mensch, Franzi. Dein Herz fressen sie auf. So wie dieser Steve, der sich für das größte Geschenk Gottes an die Frauen hält. Nur weil er auf seiner Gitarre in dunklen Schuppen ein paar Noten schrammelt!«

»Steve ist ein toller Musiker! Und Künstler sind eben sensibel.«

»Er ist ein arrogantes Arschloch. Komm schon, Schätzchen. Lass mich einen Blick hier reinwerfen. Wenn es uninteressant ist, dann schwöre ich beim großen Howard Hawkes, werde ich kein weiteres Wort darüber verlieren.«

Franzi stellte ihre Bemühungen ein. Sie wusste, gegen Viktor kam sie nicht an.

»Aber mach schnell«, sagte sie und sah zur Tür hinüber. »Wer ist Howard Hawkes?«

Viktor nestelte ein arg zerknittertes Stück Papier aus dem Umschlag und faltete es auseinander.

»Der Regisseur von Leoparden küsst man nicht, Blondinen bevorzugt und … vermaledeit!«

»Vermaledeit kenne ich nicht.«

»Das ist kein Film. Das ist ein Fluch. Und das hier ist eine Kündigung. Für einen gewissen Herrn Felix Klein.«

Der Gentleman hieß also nicht Cary Grant. Natürlich nicht. Er war ein Felix, und bedeutete das nicht: der Glückliche? Im Moment jedenfalls bestimmt nicht.

»Er hat seinen Job verloren?«

Viktor las vor: »Die Kündigung ist aus betriebsbedingten Gründen notwendig. Starke Auftragsrückgänge in den vergangenen Monaten … Bla, bla, bla. Hier ist auch ein Datum angegeben. Sieht so aus, als wäre er schon zehn Jahre dabei gewesen. Hoffentlich haben sie ihm wenigstens eine goldene Armbanduhr geschenkt.«

»Zehn Jahre …«, sagte Franzi nachdenklich.

Sie hatte es noch in keinem Job länger als zehn Monate ausgehalten. Wenn mit dem Wee Dram nicht bald etwas Entscheidendes passierte, würde sie auch diese Stelle wieder verlieren, und damit ihre Lebensgrundlage.

»Geregelte Arbeit taugt nicht für kreative Menschen«, beschied Viktor.

Franzi dachte daran, wie es für Felix gewesen sein musste. Wahrscheinlich hatte es ihn ganz unvorbereitet erwischt. Dann war er herumgelaufen und schließlich irgendwann im Park gelandet. Ob seine Familie Bescheid wusste? Ob Freunde ihn vermissten? Eine Ehefrau schien es jedenfalls nicht zu geben. Franzi hatte keinen Ring an seinem Finger gesehen.

»So eine Kündigung kann einem schon mal die Sprache verschlagen«, meinte Franzi.

»Und gleichzeitig auch die Schuhe ausziehen?«

Viktor faltete den Brief sorgsam zusammen und steckte ihn zurück in das Kuvert. Plötzlich ertönte an der Tür ein Geräusch. Es war ein Mittelding zwischen Schluchzen und Husten. Franzi fuhr herum. Felix Klein stand in der Tür, hielt seinen Aktenkoffer umklammert und sein Adamsapfel arbeitete heftig. Franzi spürte ihr Herz schneller schlagen, und eine warme Schamesröte stieg in ihre Wangen. Viktor sah auf den Brief in seiner Hand und zuckte mit den Schultern.

»Heutzutage kann eine Frau nicht vorsichtig genug sein.« Er steckte das Kuvert in die Jackentasche zurück, stand auf, ging zur Spüle hinüber und füllte den Teekessel. »Jetzt brauche ich dringend noch einen Tee.«

Felix stand immer noch auf der Schwelle.

»Entschuldigung«, sagte Franzi. »Viktor möchte mich beschützen, aber manchmal übertreibt er es ein bisschen. Bitte setz dich wieder.«

Felix bewegte sich nicht.

»Viktor!«, zischte Franzi wütend.

Viktor räusperte sich, drehte sich um und schritt energisch mit ausgestrecktem Arm auf den Mann in Grau zu. Der hob abwehrend eine Hand und wich zurück in den Flur.

»Tut mir leid, Felix. Nichts für ungut«, sagte Viktor.

Der Gentleman zuckte zusammen und duckte sich. Viktor ergriff seine Linke und schüttelte sie kräftig.

»Ich bin Viktor. Willkommen in Franzis Himmelreich. Ah, mein Kessel pfeift!«

Felix Klein sah so bleich aus wie seine Füße. Die er übrigens gewaschen haben musste, wie Franzi bemerkte. Aber die Pantoffeln hatte er immer noch nicht angezogen.

»Dumme Sache, so eine Kündigung. Das kann einem schon die Sprache verschlagen«, sagte Viktor. »Aber kein Grund, Blödsinn zu machen. Morgen ist ein neuer Tag, das hat schon Scarlett in Vom Winde verweht erkannt.«

Zögernd trat Felix in die Küche, ging zum Tisch hinüber und setzte sich schließlich wieder hin.

»Wie wäre es, wenn du ihm ein Schlückchen Hochprozentiges anbietest? Das kann er jetzt bestimmt gut gebrauchen«, sagte Viktor.

»Jetzt? Am Vormittag?«, sagte Franzi.

»Irgendwo auf der Welt ist es gerade fünf Uhr nachmittags«, sagte Viktor. »Und dein Gast hat eine kleine Aufmunterung nach seinem Schrecken bitter nötig. Vielleicht lockert ihm das ja die Zunge.«

Franzi sah zu Felix hinüber, der wieder zusammengesunken auf die zerkratzte Holzplatte des Esstisches starrte. Vielleicht hatte Viktor ja recht. Franzi öffnete die Tür zur Speisekammer. Der kleine eckige Raum mit seinem winzigen Fenster hatte für sie den Ausschlag gegeben, hier einzuziehen. Damals war er zugemüllt gewesen mit alten Zeitungen, leeren Flaschen und Dosen, doch Franzi hatte sofort sein Potenzial begriffen. Sie hatte ihn entrümpelt, gesäubert, weiß gestrichen und die hellbraunen Fliesen auf dem Boden gründlich gewischt. Nun waren drei Wände bis unter die Decke mit wohl gefüllten Holzregalen bedeckt. Es gab Pasta in verschiedenen Formen und Farben, Reis, Hülsenfrüchte und Couscous in bauchigen Gläsern. Flaschen mit Sesam-, Oliven- und Sonnenblumenöl und selbst eingelegtem Chili- und Kräuteröl standen neben Sojasoße und Essig. Auf den Regalen darüber stritten sich getrocknete Früchte und Nüsse, Kürbissamen und verschiedene Honigsorten um die Vorherrschaft. Büchsen mit Kokosnussmilch, Anchovis und Tomaten standen auf der anderen Seite, und auf dem Boden hockte ein großer Weidenkorb mit Kartoffeln. Franzis Blick glitt liebevoll über die Einmachgläser mit Gurken, Marmelade und Birnen. Alles selbst gemacht. Von der Decke hingen duftende Büschel getrockneter Kräuter. Die Speisekammer war das pochende, duftende, atmende Herz der Wohnung. Auf dem Regal links neben der Tür standen vier Flaschen Whisky. Franzi zögerte unschlüssig, dann nahm sie eine heraus.

Felix saß immer noch am Tisch und meditierte über den Rissen im Holz. Viktor stand gegenüber am Regal und drückte leise fluchend auf die Knöpfe der kleinen Stereoanlage, die zwischen Pfannen und Töpfen hervorlugte. Hinter ihrem Rücken hatte John Wayne die Gelegenheit genutzt und sich über den Teller mit der erkalteten Schinken-Ei-Mischung hergemacht. Als Franzi die Flasche auf der Arbeitsfläche abstellte, verdrückte er den letzten Krümel und putzte mit seiner Zunge das geblümte Porzellan. Unten saß Popcorn und winselte.

»Runter mit dir, Cowboy!«

Franzi hasste Verschwendung von Lebensmitteln, und die Eier hätten so oder so ihren Weg in diverse Tiermägen gefunden. Aber auf ihrer Arbeitsplatte hatte nichts mit vier Pfoten was zu suchen. Jedenfalls nicht, wenn es noch lebte. John Wayne drehte sich gemächlich um und stolzierte breitbeinig zum Fensterbrett hinüber, wo er es sich wieder bequem machte und begann, seine Vorderpfoten zu lecken. Dann dröhnten plötzlich die Lautsprecherboxen los, die oben auf dem Küchenregal thronten:

»Que sera, sera«, fragte Doris Day lautstark.

»Geht doch«, sagte Viktor stolz und drehte sich um. »Ich liebe Doris. Tolle Frau. War mit 92 Jahren die älteste lebende Sängerin der Top 10! Zeig mal, was du uns da Schönes ausgesucht hast.«

»Uns?«

»Ich trinke einen mit. Zur Gesellschaft.«

Viktor hatte zwei dampfende Becher auf den Tisch gestellt. Franzi schraubte die Johnny-Walker-Flasche auf.

»Was denn, keiner von deinen echten schottischen Single-Malt-Whiskys? Und wirklich nichts für dich?«

»Du weißt doch, dass ich das Zeug nicht ausstehen kann.«

»Hat einen Whiskyladen und trinkt keinen Whisky«, sagte Viktor zu Felix. »Man stelle sich das vor.«

»Lass gut sein«, sagte Franzi und kippte Whisky in die Teebecher. Felix griff zögernd nach seinem und nippte daran. Dann noch einmal.

»Siehst du, es schmeckt ihm«, sagte Viktor stolz.

Franzi nahm sich noch einen Kaffee und setzte sich zu ihnen an den Tisch. Felix schlürfte seinen Tee mit Rekordgeschwindigkeit hinunter. Dann hielt er ihr den leeren Becher entgegen.

»Bist du Alkoholiker, Freundchen?«, wollte Viktor wissen.

Felix schüttelte heftig den Kopf.

»Mit der Sorte haben wir nämlich sehr schlechte Erfahrungen gemacht«, sagte Viktor nachdrücklich. »Vor allem Franzi. Und jetzt sitzt sie da mit einem Schnapsladen voller Schulden.«

Franzi ignorierte ihn.

»Einen kleinen Schluck noch«, sagte sie zu Felix. »Aber dann ist Schluss.«

»Sieh da, du hast doch nicht etwa was gelernt?«, zog Viktor Franzi auf. »Nie wieder einen Säufer, zum Beispiel?«

»Das war Christian nicht an der Nasenspitze anzusehen!«, sagte Franzi. »Er war so enthusiastisch, so voller Leben und Zukunftspläne. Und er liebte Whisky.«

»Du hast dein ganzes Geld in den Wee Dram gesteckt. Christian hat den Laden ausgesoffen und ist einfach abgehauen.«

»Alkoholismus ist eine Krankheit.«

»Gutgläubigkeit auch«, beharrte Viktor.

Felix nickte.

»Jetzt fang du nicht auch noch an!«, sagte Franzi.

Doris Day sang Can't help falling in love with you. Von der Fensterbank her ertönte John Waynes Schnarchen und unter dem Tisch fiepte Popcorn vor sich hin. Viktor sang leise im Duett mit Doris: »Some things are meant to be.«

Felix leerte seinen Becher, stellte ihn auf den Tisch. Warf einen merkwürdig flehenden Blick auf Franzi, schloss die Augen und klappte dann langsam und leise zusammen. Er war im Sitzen eingeschlafen. Franzi fragte sich, ob er in der Nacht zuvor überhaupt Ruhe gefunden hatte. Armer Kerl.

»Ganz reizend, deine Neuerwerbung«, sagte Viktor. »An deiner Stelle würde ich ihn so schnell wie möglich seiner Wege schicken.«

»Er kann so lange bleiben, bis es ihm besser geht.«

Viktor schraubte die Whisky-Flasche auf, schenkte sich nach und seufzte.

»Ach, Engelchen …«

»Du bist doch heute tagsüber hier, oder?«

»Ja. Ich muss erst um acht auf die Bühne. Solange kann ich auf unseren Besucher aufpassen.«

Felix’ Nase zuckte. Aus seinem Mund kam ein dumpfer Laut, eine Art stöhnendes Entsetzen.

»Er träumt«, sagte Franzi.

»Ich würde zu gerne wissen, was«, erwiderte Viktor.

Er fällt immer tiefer in eine dunkle Röhre hinein und hat Angst davor, unten aufzuschlagen, aber er hat auch Angst davor, immer weiter zu fallen und nie mehr irgendwo anzukommen. Weiße Papierfetzen tanzen um ihn herum. Schriftzeichen. Kündigung. Die Buchstaben lösen sich vom Papier, Johnnie Walker lüpft den Hut, tritt zu und lacht. Dabei ist er sein Freund. Aber hat man in seiner Position überhaupt noch Freunde? In seiner Position, ganz unten … aber nein, er ist nicht ganz unten, er ist ganz oben, so hoch oben auf dem Berg, da ist die Luft dünn, es ist kalt und man ist allein, aber das haben sie ihm ja schon vorher gesagt. Vater ist auch auf dem Berg, und er brüllt:

»Regeln werden nicht diskutiert! Sondern reflexartig befolgt!« Spucketröpfchen fliegen durch die Luft. Aus ihnen werden kleine fette Maden, sie fallen neben ihm zu Boden, winden sich ekelhaft.

 Der Junge weicht aus, er duckt sich, rennt weg … wächst, ist ein großer Junge, rennt durch den Wald, er ist stark, kann alles, hat keine Angst, er ist Sieger, er ist erfolgreich, da ist der Herr Müller von der Buchhaltung, er rennt mit, und da ist der Motivationstrainer, er sieht aus wie ein Wildschwein und grunzt »Fit werden für die Zukunft«, und der Müller aus der Buchhaltung fängt an zu humpeln, er hat einen Klumpfuß, er kann nicht mehr mithalten, jetzt muss man über Hürden springen, mit Anlauf, hoch die Beine, Müller kann nicht, das Wildschwein blökt »Minderleister!«. Müller heult und hüpft, warum gibt er nicht auf … den Letzten beißen die Hunde, nein, den beißen die Wildschweine. Da sind sie auch schon, eine ganze Rotte bricht aus dem Dickicht hervor, grunzend, stinkend, mit spitzen, gelblichen Hauern, aber er hat keine Angst, er ist unbesiegbar, er fliegt nur so über die Hürden, er ist ein Leistungsträger, er hat Potenzial, dann stoßen die Wildschweine ihre Hauer in Müllers Knie, er fällt, sie sind über ihm, jetzt nur nicht umdrehen, immer weiterlaufen, das Schmatzen, das Grunzen, die Schreie ignorieren, die immer leiser werden. Dann kommt ein Fluss, sie sollen ein Floß bauen, das fördert den Teamgeist, alle müssen zusammenarbeiten, um erfolgreich zu sein, aber er kann nicht, er hat Angst, er kann nicht schwimmen, und das ist eine Schande, das können doch alle, zum Beispiel der Krüger aus dem Einkauf, der ist sonnenstudiobraun und sein strahlend weißes Grinsen verdankt er einem teuren Zahnarzt, der Krüger ist aber kein Mensch, er hat diese Hauer, die wachsen ihm aus dem Mundwinkel. »Die Cosy-Verhältnisse sind vorbei«, sagt er und lässt seine Hauer blitzen. Karin ist da, nimmt sein Gesicht zwischen ihre kühlen Hände, streicht ihm über die Stirn, er möchte endlich ausruhen, er ist doch angekommen, bei ihr, aber Karin lacht und schiebt ihn von sich, er soll weitermachen, er ist noch lange nicht fertig, und er soll sich vorsehen, denn … der Wald brennt und er läuft schon wieder, stolpert keuchend zwischen Tannen und Fichten weiter, und dann beginnt sein Knie zu schmerzen, er hinkt in einen Nebel hinein, er wird langsamer, sein Atem geht rasselnd, und aus dem Nebel ragen Steine, hohl und eckig wie abgebrochene Zähne, und dann sieht er, dass er auf einem Friedhof ist, die Steine sind Grabsteine aus dicken, vergilbten Bündeln Papier: Beurteilung, Mitarbeitergespräch, Zielvorgabe … Aus einem Grabhügel erhebt sich ein Zombie, der ganze Friedhof ist voller Zombies, sie liegen in ihren Gräbern und können nicht schlafen, denn er hat den Schlaf gemordet, und da vorne winkt eine knochige weiße Hand, komm her zu mir, und er spürt, wie die Knochenhand nach seinem Herzen greift, wie sie es zusammenpresst, er kriegt keine Luft mehr, dabei hat er alles so gemacht, wie man es ihm gesagt hatte, wer hart arbeitet, dem sind nach oben hin keine Grenzen gesetzt, aber das stimmt nicht, die Ausgangsbedingungen sind eben nicht für alle gleich, es ist gelogen, alles gelogen, das hat er jetzt begriffen … keine Luft mehr, er bekommt keine Luft mehr …

Kapitel 4

Franzi holte ihr altes Hollandrad aus dem Fahrradkeller. Bewegung war gut, und wenn sie kräftig in die Pedale trat, würde das Beine und Po straffen. Es dauerte nicht mal zwanzig Minuten bis zum Laden. Wee dram war schottisch und bedeutete winziges Tröpfchen. Eine freundliche Untertreibung für ein anständiges Glas Whisky, hatte Christian erklärt und beschlossen, seinen Laden so zu nennen. Franzi hatte einfach allem zugestimmt, was Christian sagte oder machte. Seine Begeisterung hatte sie mitgerissen. Er schien zu wissen, was er tat, und er kannte sich mit Whisky tatsächlich sehr gut aus. Zu gut. Franzi schloss auf. Die Türklingel spielte Whisky in the Jar, als sie den Laden betrat. Ein leichter Torfgeruch hing in der Luft. In den Holzregalen standen die Flaschen aufgereiht. Dickbäuchig und schmal, gefüllt mit honigfarbenem Inhalt, schienen sie durch eine feine Staubschicht hindurch vorwurfsvoll auf Franzi herunterzusehen. Kein Wunder. Auchentoshan, Knockando, Drumguish … die meisten Markennamen konnte sie noch nicht mal aussprechen. Auch wenn ihr manche der verschnörkelten Etiketten gut gefielen. Sie drehte das Closed-Schild in der Tür um. Am Samstag verirrte sich öfter mal ein Tourist hierher. Nur ein paar Meter weiter war die Einkaufsstraße mit vielen anderen Läden, Restaurants und Laufkundschaft. Aber die Mieten waren dort einfach unerschwinglich. Hinter der Kassentheke hing das Bild einer wildromantischen schottischen Landschaft mit Burgruine, grünen Wiesen, Schafen und dem Meer im Hintergrund. Franzi war noch nie in Schottland gewesen. Christian hatte versprochen, mit ihr hinzufahren. Er hatte vieles versprochen. Franzi ging nach hinten in das kleine Büro und holte das Wechselgeld aus dem Tresor. Vorne ertönte die Türklingel.

»Post!«, rief der Briefträger und war auch schon wieder weg.

Franzi schob die Wechselgeldschublade in die Kasse und nahm sich den Briefstapel auf der Theke vor. Werbung, ein Whiskymagazin, das Christian abonniert hatte, die üblichen Rechnungen und Mahnungen. Sie nahm die Briefe mit ins Büro, wo sie auf einem Stapel landeten, der jeden Tag höher wurde.

»Franzi? Guten Morgen!«, rief Nils, ihr Mitarbeiter. Klein, nervös, bebrillt und zu spät, wie immer.

»Ich habe uns Kaffee mitgebracht«, sagte er, als er ins Büro kam.

Sein Lächeln verflüchtigte sich, als er Franzis Gesicht sah.

»Oh weh. Die Rechnungen?«

»Ja, die auch. Danke.«

Franzi nahm den weißen Styroporbecher entgegen.

»Das ist die Wirtschaftslage«, sagte Nils wichtig. »Die Leute haben einfach kein Geld. Und für richtig gute Qualität will sowieso keiner mehr was ausgeben!«

»Wir müssen uns dringend was einfallen lassen. Sonst muss ich den Laden dichtmachen«, sagte Franzi.

Nils wurde blass. Er lehnte sich gegen die Bürowand.

»Das wäre furchtbar. Wo soll ich denn hin?«

»Beruhige dich«, sagte Franzi schnell. »Mir wird schon was einfallen.«

Das musste es auch. Denn eigentlich konnte sie sich gar keinen Angestellten leisten. Aber Nils hatte dringend Hilfe gebraucht. Und Franzi jemanden, der sich mit Whisky auskannte und die Kunden beraten konnte.

»Das ist ja das Wunderbare an dir«, sagte Nils. »Irgendwie fällt dir immer was ein. Sogar für die hoffnungslosen Fälle.«

»Du bist kein hoffnungsloser Fall.«

Er grinste schwach. »Ich war ein Spieler. Wenn du mir damals nicht geholfen hättest, dann würde ich immer noch rumzocken.«

»Aber das tust du nicht mehr.«