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»Der Höller hat sein letztes Glas Wein gehabt. So viel steht jedenfalls fest. Nur, warum er hat sterben müssen, sollte wer rausfinden. Wenn möglich, schnell.« Lorenz Lovis wächst wieder einmal die Arbeit über den Kopf. Zwischen Weinlese und Törggelebetrieb bleibt ihm kaum Zeit zum Luftholen, da wendet sich ausgerechnet sein Erzfeind von Stadler hilfesuchend an ihn. In seiner preisgekrönten Kellerei wurde Kellermeister Manfred Höller tot aufgefunden. So einiges deutet darauf hin, dass von Stadler selbst seine Finger im Spiel hat. Wollte er mit seiner Tat verhindern, dass Höller ihn verlässt und das ein oder andere Geheimnis mitnimmt? Oder steckt ein verbitterter Angestellter hinter der Tat? Lorenz Lovis ermittelt. Zwischen Rebstöcken und dunklen Kellergewölben steht nicht nur ein edler Tropfen auf dem Spiel, sondern es kommen auch düstere Geheimnisse ans Tageslicht. Dies ist der 5. Band der Krimireihe um Lorenz Lovis. Band 1: Feuertaufe. Lorenz Lovis ermittelt Band 2: Bewährungsprobe. Lorenz Lovis ermittelt Band 3: Gefährliche Treue. Lorenz Lovis ermittelt Band 4: Maulwurf. Lorenz Lovis ermittelt
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Veröffentlichungsjahr: 2025
LORENZ LOVIS ERMITTELT
BUCH 5
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© Januar 2024 Heidi Troi
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Dies ist eine fiktive Geschichte. Orte, Events, Markennamen und Organisationen werden in fiktivem Zusammenhang verwendet. Alle Handlungen und Personen sind frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
1. Samstag – Auf der Pirsch
2. Mittwoch – Ein neuer Mord im Ort
3. Donnerstag – Ein unerwarteter Auftrag
4. Freitag – Verdächtigungen und Verdächtige
5. Samstag – Rache und verletzter Stolz
6. Sonntag – Ungeschminkt
7. Montag – Und wieder ein Fall gelöst
8. Donnerstag – Nicht böse
9. Ein paar Tage später
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Über die Autorin
»Der Höller hat sein letztes Glas Wein gehabt. So viel steht jedenfalls fest. Nur, warum er hat sterben müssen, sollte wer rausfinden. Wenn möglich, schnell.«
Lorenz Lovis wächst wieder einmal die Arbeit über den Kopf. Zwischen Weinlese und Törggelebetrieb bleibt ihm kaum Zeit zum Luftholen, da wendet sich ausgerechnet sein Erzfeind von Stadler hilfesuchend an ihn. In seiner preisgekrönten Kellerei wurde Kellermeister Manfred Höller tot aufgefunden.
So einiges deutet darauf hin, dass von Stadler selbst seine Finger im Spiel hat. Wollte er mit seiner Tat verhindern, dass Höller ihn verlässt und das ein oder andere Geheimnis mitnimmt? Oder steckt ein verbitterter Angestellter hinter der Tat?
Lorenz Lovis ermittelt. Zwischen Rebstöcken und dunklen Kellergewölben steht nicht nur ein edler Tropfen auf dem Spiel, sondern es kommen auch düstere Geheimnisse ans Tageslicht.
Ein Wummern an seiner Zimmertür ließ Lorenz Lovis aus dem Schlaf schrecken.
»Aufstehen, Chef. Sonst musst ohne Frühstück in die Pergln.« Die »Pergln« waren die Holzgerüste in seinem Weinberg, an denen sich der Wein emporrankte und die Stimme kam von Paul, Lovis’ Knecht, der vermutlich gerade aus dem Stall zurückgekommen und wie immer am Morgen voller Energie war.
Lovis seufzte. Er hatte in seiner Jugend oft genug bei der Weinlese geholfen, um zu wissen, was das bedeutete. Wie so manches Mal in den letzten Monaten verfluchte er die Entscheidung, seinen Job bei der italienischen Staatspolizei zu kündigen und dafür als Vollzeitbauer den Messner Hof zu übernehmen. Andernfalls könnte er jetzt gemütlich auf dem durchgesessenen Drehstuhl in der Portiersloge des Brixner Polizeikommandos sitzen und den Parteienverkehr regeln. Genau das war nämlich sein Job gewesen – deutlich weniger anstrengend als so ziemlich alles, was auf einem Bauernhof in bester Tallage in der Nähe der Stadt Brixen in Südtirol zu tun war. Wieder seufzte Lovis.
»So viele Stoßseufzer, so früh am Morgen?«
Eine verschlafene Stimme erklang neben ihm und im ersten Moment erstarrte Lovis. Dann erinnerte er sich, wer da mit ihm im Bett lag – endlich. Er drehte sich auf die Seite, schob die Bettdecke ein Stückchen nach unten und blickte direkt in Angelikas grüne Augen.
»Guten Morgen, Lollo.« Sie lächelte und in ihrer Wange zeichnete sich ein Grübchen ab. Lovis wurde ganz warm ums Herz. Nach Monaten, in denen er Angelika aus der Ferne angehimmelt hatte, in denen er nach der richtigen Bezeichnung für sie gesucht hatte – die Auswahl hatte von Pferdeunterstellerin bis Haushälterin gereicht –, war sie nun bei ihm eingezogen. Es fühlte sich richtig an.
»Guten Morgen.« Er küsste sie auf die Nasenspitze.
Ein neuerliches Wummern an der Tür zerstörte die romantische Stimmung. »Lovis, wenn du nicht bald ein Lebenszeichen von dir gibst, komme ich rein.«
Lovis schloss verzweifelt die Augen. »Ich bin wach«, brüllte er Richtung Tür.
»Warum nicht gleich so? Ich setze Kaffee auf.« Auf den Holzstufen polterten Schritte Richtung Erdgeschoss. Lovis stieß frustriert den Atem aus.
»Frühstück also.« Angelika lächelte ihn an.
»Tut mir leid.«
Sie schüttelte den Kopf. »Höchste Zeit aufzustehen. Nachmittags hab ich Dienst. Wenn ich vor dem Mittagessen noch eine Runde mit Diablo machen will, sollte ich in die Gänge kommen.« Diablo war Angelikas Friesenhengst, den sie schon seit ihrer Jugend auf dem Messner Hof untergestellt hatte. Da ihre Eltern gestorben waren, als sie vierzehn Jahre alt gewesen war, hätte sie ihr Pferd wohl verkaufen müssen, hätte nicht Lovis’ Onkel Sebastian es gegen ihre Mithilfe auf dem Messner Hof aufgenommen. Mittlerweile arbeitete Angelika als Krankenschwester im Krankenhaus in Brixen und hätte sich die Standmiete vielleicht leisten können, aber Lovis hatte das Arrangement beibehalten – und das nicht nur, weil Angelika seinem Onkel am Sterbebett versprochen hatte, ihn zu unterstützen, falls er sein Erbe als Bauer antreten sollte.
Wieder stöhnte er, woraufhin sie lachte und ihn kitzelte. »Raus aus den Federn, Bauer Lovis. Und zwar schnell, bevor Paul auf die Idee kommt, sich zu uns ins Bett zu legen.«
Die Vorstellung war so furchtbar, dass Lovis sofort hellwach wurde. Er schwang seine Beine aus dem Bett und Angelika tat es ihm gleich. Wenige Augenblicke später stand sie angezogen vor ihm – in Reiterhose und einem T-Shirt auf dem stand:
Sprich mich nicht an. Ich bin völlig pfertig.
Darunter war ein Pferd abgebildet, das alle viere von sich streckte.
Lovis betrachtete kopfschüttelnd den Aufdruck, der sich über Angelikas Brust spannte. »Weißt du, dass ich früher immer den Verdacht hatte, dass du mir mit den Sprüchen auf deinen T-Shirts geheime Botschaften sendest?«
Angelika hatte eine schier unendliche Sammlung solcher T-Shirts und nach beinahe einem halben Jahr, das Lovis jetzt auf dem Messner Hof verbracht hatte, überraschte sie ihn immer noch mit neuen.
Sie kicherte. »Kann sein, dass das manchmal der Fall war. Aber – keine Angst – heute bin ich nicht völlig pfertig, auch wenn du mir einiges abverlangt hast in der Nacht.« Sie zwinkerte ihm anzüglich zu, wartete seine Reaktion aber nicht ab, sondern ging ihm voraus aus dem Zimmer. Lächelnd folgte er ihr in die Küche, wo seine beiden Knechte Paul und Toni bereits über dampfenden Tassen saßen und sich leise unterhielten.
»Wenn das mal kein Zufall ist, dass ihr beide gleichzeitig hier aufschlagt«, bemerkte Paul süffisant.
Angelikas Wangen wurden rot und sie tat so, als sei sie völlig in das Befüllen der Mokkamaschine vertieft.
Lovis versetzte seinem scharfzüngigen Knecht einen Schlag auf den Oberarm, was jedoch bloß ein spöttisches Grinsen bei ihm auslöste. Um das Thema zu wechseln, fragte Lovis: »Was steht heute an?«
»Na, wimmen, was sonst«, gab der Knecht in einem Tonfall zur Antwort, der klar machte, dass er die Frage für überflüssig hielt. Wimmen war der Südtiroler Ausdruck für die Weinlese.
»Nur wir drei?«
Paul nickte. »Nur wir drei. So groß ist dein Weinberg nicht, Chef. Das kriegen wir hin.«
Lovis schnitt eine Grimasse. Natürlich würden sie das hinkriegen. In den letzten Jahren war Onkel Sebastian sogar mit Paul allein gewesen und sie hatten die Ernte immer geschafft. Nun waren sie wenigstens zu dritt.
»Mittagessen um eins?«, fragte Angelika.
»Passt.« Paul erhob sich. »Können wir?«
»Ich hab noch gar keinen Kaffee gehabt«, protestierte Lovis und wies auf die Mokkamaschine, die auf dem Herd stand.
»Tja, dann musst früher aufstehen das nächste Mal. Schläft der Bauer in den Tag hinein, wird’s nichts mit dem neuen Wein.«
»Das hast du gerade erfunden.«
Paul grinste. »Ob gerade erfunden oder seit Generationen überliefert: Den Spruch kannst dir hinter die Ohren schreiben, Chef. Also. Auf die Beine. Beim Wimmen wirst du schon aufwachen.«
Stöhnend gehorchte Lovis seinem Knecht.
* * *
Lorenz Lovis saß mit hochgelegten Beinen auf dem Söller vor dem Messner Hof und genoss die letzten Sonnenstrahlen. Für Mitte September war es selbst jetzt am Abend noch ungewöhnlich warm, wofür er dankbar war, denn Kälte war nicht sein Ding.
Eine der guten Seiten am Leben als Bauer wider Willen und selbst ernannter Privatdetektiv war, dass man abends sah und fühlte, was man getan hatte und wusste, dass man sich den Feierabend redlich verdient hatte. Den ganzen Tag über waren sie im Weinberg gewesen und eine Traktorladung nach der anderen war mit den vollen, süßen Früchten Richtung Kellerei gefahren.
In den letzten Wochen war er immer wieder mit einem zufriedenen Grinsen auf dem Gesicht durch die terrassenförmig angelegten Reihen des Weinbergs gewandert, hatte liebevoll eine der dicken Trauben in die Hand genommen und Stoßgebete nach weiteren schönen Tagen Richtung Himmel gesandt, denn dann gäbe es heuer einen Jahrhundertwein. Paul träumte wahrscheinlich schon von einem Geldregen.
Schmunzelnd ließ Lovis seine Finger durch das Fell von Barnabas gleiten, seinem Bernhardiner, den er zusammen mit dem Messner Hof von seinem Onkel Sebastian geerbt hatte. Ein Stückchen entfernt krakeelten die Hühner glücklich vor sich hin und das Bächlein, das eine natürliche Grenze zwischen den Liegenschaften des Messner Hofs und der Schmiedhofer Wiese bildete, gluckerte fröhlich. Oben auf dem Radlseeberg und der Plose, den beiden Hausbergen von Brixen, verfärbten sich schon die Lärchen und bildeten gelbe Tupfer in dem satten Grün der Nadelbäume, darüber spannte sich ein tiefblauer Herbsthimmel.
Lovis war rundum zufrieden und … gelangweilt. Schon seit einigen Wochen hatte er keinen neuen Fall. Sein Frust vergrößerte sich noch, als ihm einfiel, dass Angelika heute Nachtdienst hatte und er auf sich gestellt war, und er fragte sich, wie er das in den Jahren bis heute geschafft hatte. Schließlich hatte er zeit seines Lebens allein gelebt und nie das Gefühl gehabt, irgendwas zu vermissen.
Die Sonne verschwand hinter dem Bergrücken des Radlseebergs und sofort wurde es merklich kühler. Lovis zog sich seine Jacke über. Er war rastlos.
»Lust auf einen Spaziergang?«, fragte er Barnabas.
Der Bernhardiner sprang sofort auf und tanzte schwanzwedelnd um ihn herum. Seltsam eigentlich. Barnabas war kein Kettenhund und konnte sich frei auf den Ländereien des Messner Hofs bewegen. Doch das tat er nie. Dafür lag er stunden- und tagelang an seinem angestammten Platz neben dem Eingang zum Wohnhaus auf dem Söller und ließ sich die Sonne auf den Pelz scheinen. Wenn Lovis ihn aber zu einem Spaziergang aufforderte, benahm er sich, als würden Weihnachten und Ostern zusammenfallen.
»Wohin wollen wir denn?«
Barnabas sah Lovis an, dann lief er los. Den Kiesweg hinunter in den Vorhof, wo man an den Geräuschen aus dem Stall hören konnte, dass Paul gerade dabei war, die Kühe zu füttern, dann bog er in die Reihen der Apfelbäume ein und lief beschwingt vor und zurück, immer die Nase am Boden und sichtlich aufgeregt.
Währenddessen überlegte Lovis, was er mit diesem Samstagabend machen sollte. Die Jungs fielen ihm ein. Seine drei jungen Assistenten Matthias, Erik und Iwan, drei Mittelschüler mit einer Unmenge an Flausen im Kopf, hatten ihn bei der Auflösung seiner bisherigen Fälle immer unterstützt. Eigentlich hatte er ihnen dafür schon lang eine Pizza versprochen, nur war es nie dazu gekommen. Bis vor Kurzem waren alle seine Abende mit Theateraufführungen besetzt gewesen. Um seinen letzten Fall zu lösen, hatte er sich als Schauspieler bei einer Theatergruppe eingeschleust und nach Auflösung des Falls hatte er das Ensemble natürlich nicht im Stich lassen können – und das, obwohl er vorher nie darüber nachgedacht hatte, die Bretter, die die Welt bedeuten, zu betreten.
Nun hatte die Schule wieder begonnen und die Jungs waren vollkommen ausgebucht. Aber er konnte zumindest nachhören, ob sie Zeit und Lust auf einen ›Männer‹abend hatten. Lovis zog das Telefon heraus und wählte Iwans Nummer. Die automatische Abwesenheitsansage sprang an. Seltsam. Normalerweise hatten die Jungs ihre Mobiltelefone ständig eingeschaltet – sogar nachts. Auch Matthias war nicht erreichbar. Erst bei Erik ertönte das Freizeichen. Einmal, zweimal, dann kam ein beinahe panisches Flüstern aus dem Hörer.
»Lovis, ich kann jetzt nicht.« Im Hintergrund ertönte unterdrücktes Gelächter.
»Wieso? Was …?«
Doch das Gespräch war unterbrochen.
»Was war denn das?«, fragte Lovis seinen Hund. Bisher waren die Jungs für ihn immer erreichbar gewesen – außer … Er stutzte. Lösten sie gerade einen Fall ohne ihn? Genau so hatte Iwan geklungen, als die Jungs sich damals auf von Stadlers Balkon eingesperrt hatten. Machten sie Dummheiten? Sie hatten die Angewohnheit, sich in ihrem jugendlichen Leichtsinn in gefährliche Situationen zu bringen. Argwöhnisch betrachtete er sein Mobiltelefon, als könne es ihm mehr über die Machenschaften seiner drei jungen Assistenten verraten.
Doch es blieb stumm und so blieb Lovis nichts anderes übrig, als seinen Spaziergang fortzusetzen und sich zu überlegen, was er mit dem Abend anfangen sollte.
Er kehrte auf den Hof zurück, briet sich ein Spiegelei, ging in die Stube und nahm einen der Krimis zur Hand, die sein Urlaubsgast – und seine zeitweilige Assistentin – Hanne Wiedenhof bei ihrer überstürzten Abreise hiergelassen hatte. Kurz darauf legte er ihn wieder zur Seite und ging stattdessen nach draußen in den Stall, wo ihn die freundlichen Blicke seiner zwölf Kühe – alles Grauvieh – und deren beruhigendes Kauen empfingen. Doch auch hier hielt er es nicht lange aus und so wanderte Lovis hoch in den Heustadel. Der Geruch des duftenden Almgrases würde ihn beruhigen – hoffte er.
Er kletterte an seinen angestammten Platz ins Heu und legte sich neben sein Lieblingshuhn Alma, eine Araucanahenne, die ihm bei seinen bisherigen Fällen immer ihr geduldiges Ohr geliehen hatte. Durch das kleine Loch in der Stadelwand in Form eines Enzians konnte er in den Himmel hinaussehen. Die ersten Sterne erschienen am Himmelszelt, bald würde die Dunkelheit sich über den Brixner Talkessel legen.
Er schloss seine Augen und atmete tief ein und wieder aus. In diesem Moment gab sein Telefon das Geräusch eines Uhus von sich – der Klingelton, den ihm die Jungs nach Aufklärung seines ersten Falls eingestellt hatten. Alma schüttelte verächtlich ihre Federn aus.
»Sorry«, sagte er und verrenkte sich, um das Gerät aus seiner Gesäßtasche zu fischen. Nach dem dritten »Schuhu!« hatte er es in der Hand. Es war Iwan.
»Was gibt’s?«, fragte ihn der Junge statt einer Begrüßung. »Einen neuen Fall? Was können wir tun?«
Lovis lächelte. »Kein Fall. Leider.« Er hörte enttäuschtes Raunen. Wahrscheinlich hatte Iwan das Telefon auf laut gestellt und die anderen beiden Jungs hörten mit. »Eigentlich wollte ich euch zum Pizzaessen einladen, aber ihr wart ja alle miteinander nicht erreichbar.«
»Ja, sorry. Wir waren auf der Pirsch.«
»Es war so geil. Wir haben einen Hirsch mit mindestens tausend Enden gesehen«, schwärmte Matthias.
»Zwölf. Es war ein Zwölfender«, korrigierte ihn Iwan. »Matthias’ Opa hat uns mitgenommen. Und wir haben wirklich einem Hirsch beim Äsen zuschauen können, bis Eriks Telefon geläutet hat.«
»Ja, sorry. Ich hab gedacht, ich hätt ausgeschaltet.«
»Jetzt, wo wir das geklärt haben: Wie ist es mit der Pizza?« Die Frage kam natürlich von Matthias, der zwar der kleinste der drei war, aber auch der mit dem größten Hunger.
Lovis sah auf die Uhr. »Es ist beinahe neun.«
»Für Pizza ist es nie zu spät«, erklärte Matthias im Brustton der Überzeugung.
»Nie«, bekräftigten auch die anderen und Lovis war überstimmt.
»Dann kommt auf den Hof, wir fahren.«
»Wir sind schon da«, sagte Iwan und im Hintergrund erklang Gelächter. »Aber hier ist alles dunkel.«
»Er ist im Heustadel. Wetten?«, fragte Matthias.
»Die Wette hast du gewonnen. Ich komme gleich zu euch runter.« Lovis lächelte. Sie kannten ihn gut, die drei Jungs.
Beim Pizzaessen war die Pirsch das Hauptthema. Es musste ein richtiges Abenteuer gewesen sein und Lovis beneidete Matthias’ Opa beinahe darum, dass er mit dieser Aktion einen so bleibenden Eindruck bei seinen drei jungen Freunden hinterlassen hatte.
»Der Opa war anfangs gar nicht begeistert, weil wir zu viele waren, hat er gesagt.«
»Wie viele wart ihr denn?«
»Na, wir drei, mein Bruder Valentin und mein Bruder Kassian und von dem die Freundin – Claudi – und Claudis bester Kumpel Dominik. Sieben Leute und dann noch mein Opa. Er geht doch nicht mit einem schnatternden Hühnerhaufen auf die Pirsch, hat er gesagt. Aber wir haben versprochen, ganz leise zu sein.«
»Waren wir auch«, sagte Iwan.
Matthias riss die Erzählung wieder an sich. »Alles war still, wir haben nicht einmal geflüstert, nur in Zeichensprache miteinander geredet. Dann ist der Hirsch auf die Wiese getreten. Ein Riesenvieh, mit ungefähr tausend Enden.«
»Zwölf«, korrigierte ihn Iwan.
»Von mir aus auch das. Und dann …« Matthias machte eine Spannungspause, in die hinein Iwan die Titelmelodie von James Bond nachahmte, die Erik auf seinem Handy als Klingelton eingestellt hatte.
Beide Jungs lachten, dann nahm Iwan den Faden wieder auf. »Der Hirsch war weg und Matthias’ Opa stinkwütend.«
»Na, dann sollte ich mich vielleicht bei ihm entschuldigen dafür, dass ich Erik angerufen habe.«
Doch der winkte ab. »Hättest du’s nicht getan, dann hätte sicher meine Mutter angerufen. Ich hab vergessen, ihr zu sagen, wo ich mich rumtreibe. Ups, das sollte ich jetzt vielleicht tun, sonst macht sie sich Sorgen.«
Er holte sein Telefon aus der Tasche und ging damit nach draußen. Lovis hatte Eriks Mutter seinen ersten Fall zu verdanken. Sie war das, was man gemeinhin als Helikoptermutter bezeichnete und hatte ihn vor etwa einem halben Jahr gebeten, ihren Jungen im Auge zu behalten, der – so dachte sie – von Halbstarken drangsaliert worden war. Diesem Auftrag hatte Lovis seine drei Assistenten zu verdanken und er war Frau Leitner immer noch dankbar dafür.
Das Gespräch über die Pirsch ging weiter, bis die Pizza kam und sich gefräßiges Schweigen über die Gruppe legte.
Als sie alle satt und zufrieden vor leeren Tellern saßen, sprach Iwan das aus, was Lovis die ganze Zeit schon gedacht hatte.
»Höchste Zeit für einen neuen Fall, oder Lovis?«
Damit hatte er recht.
Mies gelaunt wachte Lovis auf. Noch bevor er die Augen aufschlug, wusste er, dass es ein beschissener Tag werden würde. Angelika war seit dem gestrigen Abend bei der Arbeit und er selbst hatte nichts als Knochenarbeit im Weinberg vor sich. Am liebsten hätte er sich unter seiner Decke vergraben und wäre bis zum Abend auf Tauchstation gegangen, doch er wusste, dass das nicht ging. Er war der Bauer, es war in seinem eigenen Interesse, dass der Weinberg abgeerntet wurde. Auch wenn das noch so anstrengend war.
»Also raus aus den Federn und rein in den Tag«, dachte er widerwillig, schlüpfte in seine Kleider und machte sich auf Richtung Küche. Schon unten an der Treppe schallten ihm die fröhlichen Stimmen von Paul und Toni entgegen, die bereits frühstückten.
Er verzog das Gesicht. Unerträglich. Statt nach rechts Richtung Küche abzubiegen, wendete er sich nach links und verließ das Haus. Seine Schritte führten ihn zu seinem Freund Schorsch in dessen Dorfkneipe, die bereits um sieben Uhr morgens öffnete.
»Oh, der Carabinieri! Kennst du den …« Schorsch wollte mit einem neuen Witz aufwarten, doch Lovis winkte ab.
»Spar ihn dir für später auf. Bin noch im Schlafmodus.«
Schorsch grinste. »Wann bist du das nicht? Kaffee?«
Lovis nickte. Während er am Tresen auf seine Bestellung wartete, sah er sich um. Er war trotz der frühen Stunde nicht der einzige Gast. In einer Ecke saß der Tschierer, ihm gegenüber rührte Goggo in einem Kaffee. Keiner von ihnen sagte ein Wort.
»Um die Zeit hab ich manchmal das Gefühl, von Zombies umgeben zu sein«, sagte Schorsch und stellte Lovis eine große Schale voller Kaffee hin.
»Ein Macchiato hätte mir gereicht.«
»Dann hättest du ihn geext und gleich einen zweiten bestellt. Trink und komm in die Gänge. Für große Diskussionen bist du noch nicht wach genug.«
Lovis wusste, dass Schorsch recht hatte und konzentrierte sich auf seinen Kaffee. Schorsch werkelte hinter dem Tresen herum, irgendwann stellte er mit den Worten »Liebe Grüße von Maria« ein belegtes Brot vor Lovis hin. Eine zweite Schale Kaffee folgte und langsam fühlte sich Lovis wie ein Mensch.
Genau in diesem Augenblick, gab sein Telefon ein leises »Schuhu!« von sich. Lovis stöhnte.
»Paul?«, fragte Schorsch.
»Wer sonst? Er hat wahrscheinlich mein leeres Bett entdeckt. Dann muss ich wohl.«
»So ist der Lauf der Welt.« Der Wirt grinste. »Jetzt geh schon und ernte deinen Wein. Bald kommen die Mütter und glaub mir, die packst du so früh am Morgen ganz sicher nicht.«
Wie auf ein Zeichen öffnete sich die Tür und eine junge Frau mit Kinderwagen betrat den Raum. Durchs Fenster sah Lovis eine zweite auf die Kneipe zusteuern. Sie hatten ihre Kinder abgeliefert und gönnten sich jetzt eine kleine ›Ruhe‹pause in der Kneipe, in der sie vor allem eines taten: über die Lehrpersonen herzuziehen, denen sie gerade ihre Sprösslinge übergeben hatten. Ja, Schorsch hatte recht. Dafür war er definitiv noch nicht wach genug.
* * *
»Höchste Zeit für einen neuen Fall.« Die Worte seines jungen Assistenten gingen Lovis wohl zum hundertsten Mal in den letzten Tagen im Kopf herum, in denen er nichts anderes gemacht hatte, als seine Trauben zu ernten.
Er richtete sich auf und drückte die Hand an den schmerzenden Rücken. Es war noch nicht einmal neun Uhr und ihm tat schon alles weh. Ein Fall wäre tatsächlich eine willkommene Abwechslung.
Traube packen, Schnitt, in die Box legen. Traube packen, Schnitt, in die Box legen. Die Weinlese – oder das Wimmen – hörte sich einfach an, aber es war eine schweißtreibende Angelegenheit, die Muskelpartien beanspruchte, von denen Lovis nicht gewusst hatte, dass es sie überhaupt gab. Allein die Schnitte mit der Rebschere … Es war nur eine kleine Bewegung mit der Hand, Lovis musste kaum Kraft dafür aufwenden, aber viele kleine Schnitte lösten einen Schmerz aus, der von seinem Handgelenk über den Unterarm bis in die Schulter zog und sich den ganzen Rücken hinab fortsetzte. Dazu hatte die ungewohnte Haltung mit dem Blick, der schräg nach oben gerichtet war, mittlerweile dafür gesorgt, dass sein Nacken steinhart und verkrampft war.
Auch wenn der Weinberg, den er von seinem Onkel Sebastian geerbt hatte, wirklich nicht groß war, war es doch viel Arbeit für drei Personen.
Sehnsüchtig starrte Lovis zur anderen Hälfte des Weinbergs, die seinem Lieblingsfeind Friedrich von Stadler gehörte, auf der eine Unmenge an Arbeitern die Ernte einbrachte. Wenn nur zwei von denen bei ihnen geholfen hätten, wäre das eine enorme Erleichterung gewesen. Doch von Stadler lag nichts ferner, als seinem ärgsten Konkurrenten Lovis bei der Ernte unter die Arme zu greifen. Er selbst ließ sich dort natürlich den ganzen Tag nicht sehen. Seine Erntehelfer wuselten zwischen den terrassenförmig angelegten Reihen herum und verfrachteten eine um die andere Ladung der weißen Trauben auf einen Traktor. Der wiederum brachte sie – wie Lovis wusste – in von Stadlers Kellerei, wo sein Kellermeister die Früchte zu preisgekröntem Kerner keltern würde. Lovis’ Trauben hingegen wanderten in die Eisacktaler Kellereigenossenschaft, das Keltern übernahm der dortige Kellermeister und Lovis würde ein Entgelt bekommen, das ihm hoffentlich half, den Schuldenberg zu verkleinern, den er mitsamt dem Messner Hof von seinem Onkel geerbt hatte.
»Harte Arbeit, nicht wahr?«
Lovis erkannte die Stimme in seinem Rücken mühelos als von Stadlers – wenn man an den Teufel dachte, kam er gerannt. Langsam ließ er die Hände sinken und wandte sich um.
»Es ist noch nicht neun Uhr und Sie sind schon aus dem Bett gefallen, von Stadler? Darf ich Sie dran erinnern, dass es Ihnen immer noch verboten ist, sich in meinem Teil des Weinbergs aufzuhalten?«
Nachdem von Stadler mehrmals dabei erwischt worden war, wie er versucht hatte, Lovis zu sabotieren, war dies durch einen richterlichen Beschluss festgelegt worden. Von Stadler hob beide Hände und trat einen Schritt zurück auf seine Seite.
»So grantig heute, Lovis? Dabei dürfte Ihnen doch das Herz lachen beim Anblick der Ernte. Mein Kellermeister ist überzeugt davon, dass das ein sagenhafter Jahrgang wird.«
Lovis verkniff sich den Kommentar, der ihm auf den Lippen lag. Nämlich, dass er von Glück reden konnte, dass er nicht auf von Stadlers Angebot eingegangen war, ihm die Ernte dieses Jahres für einen Spottpreis abzukaufen. Hätte Toni, der damals noch für von Stadler gearbeitet hatte, ihn nicht gewarnt, wäre Lovis wohl auf das Angebot eingegangen.
»Wenn Sie wollen, schicke ich meine Arbeiter zu Ihnen, wenn sie bei mir abgeschlossen haben.«
Misstrauisch beäugte Lovis ihn. Sein Lieblingsfeind half nicht ohne Hintergedanken. Was für eine Teufelei steckte also hinter diesem Angebot?
Von Stadler lachte bei Lovis’ skeptischem Gesichtsausdruck. »Kommen Sie, Sie können doch nicht hinter jeder Geste der Versöhnung ein Attentat vermuten. Das ist krankhaft.«
Das wäre es tatsächlich gewesen, wenn nicht von Stadler in den vergangenen Monaten immer wieder bewiesen hätte, dass ihm nicht über den Weg zu trauen war.
Lovis wollte eben zu einer Erwiderung ansetzen, als Paul ihm zur Hilfe kam.
»Lassen Sie stecken, von Stadler. Wir schaffen das auch ohne Ihre Hilfe.« Lovis’ Knecht verschränkte seine Arme vor der Brust und betrachtete den Eigentümer der anderen Weinberghälfte, als wäre der ein Schädling.
»Genau das wollte ich eben auch sagen.« Lovis wandte sich wieder den Trauben zu und versuchte, den Schmerz zu ignorieren, der ihm beim Heben der Arme in die Schultern schoss. »Auf Wiedersehen, von Stadler.«
Ihm war, als höre er ein verärgertes Schnauben, doch dann entfernten sich die Schritte seines Konkurrenten.
»Er ist und bleibt ein arrogantes Arschloch«, stellte Paul neben ihm fest. »Der verdient seinen Wein doch gar nicht.«
Lovis brummte zustimmend.
»Rührt nicht einmal den kleinen Finger. Solche ›Weinbauern‹ sind mir die liebsten, die zu Hause im Ohrensessel versinken, während andere sich für sie den Rücken krumm machen. Dafür stehen sie in der ersten Reihe, wenn es was zu gewinnen gibt. Bin ich froh, dass mein Chef nicht so ist.«
Besagter ›Chef‹ errötete, denn er dachte daran, wie Paul ihn morgens oft vehement aus dem Bett klopfen musste. Er brummte eine unverständliche Antwort und tat so, als sei er völlig in die Traubenernte vertieft.
Paul lachte leise. »Noch zwei Stunden, dann ist Zeit für die Vormaß und du brauchst deine Arme nur, um die Kaffeetasse zu stemmen. Ich frag mich, was du im Sportstudio machst. Yoga? Sonst müssten doch mittlerweile ein paar Muckis statt Wackelpudding da sein.«
Paul spielte auf Lovis’ kurzen Auftritt in einem Sportstudio an, wo dieser sich zu Ermittlungszwecken eingeschrieben hatte.
»Man könnte meinen, dass du eine Ausrede brauchst, um selbst nicht arbeiten zu müssen«, knurrte Lovis, woraufhin sich Paul lachend verzog und ein paar Meter weiter mit einer Geschwindigkeit Trauben abknipste, bei der Lovis nur vor Neid erblassen konnte.
Gegen halb elf befand Paul, dass es an der Zeit für eine Pause war, und sie ließen alles liegen und stehen, um auf dem Hof die Vormaß – das zweite Frühstück – einzunehmen. Doch kaum betrat Lovis den Söller seines Hofes, ließ ihn eine hohe Stimme zusammenzucken:
»Herr Loooohooovis!«
Paul grinste und stieß Lovis mit dem Ellenbogen in die Seite. »Dein Auftritt, Herr Looohooovis. Der Kaffee wird wohl wieder warten müssen.«
›Herr‹ Lovis unterdrückte ein Seufzen und zwang sich ein – so hoffte er – freundliches Lächeln aufs Gesicht. »Gertrude?«
Sein neuer Urlaubsgast, eine Seniorin, schüttelte den Kopf, sodass ihre weißen Locken durch die Luft flogen. »Gut, dass ich Sie hier antreffe, Herr Lovis. Was ich fragen wollte …«
Lovis mahnte sich innerlich zur Ruhe. Als Gertrude Welfenstein angekommen war, hatte er sich noch darüber gefreut, dass nach einem streitbaren Pärchen und den trinkfreudigen Mitgliedern eines Trentiner Männerchors endlich einmal Ruhe einkehrte auf dem Messner Hof. Gertrude Welfenstein war beinahe achtzig Jahre alt, und er hatte gehofft, sie würde ausgedehnte Spaziergänge unternehmen und keine hohen Ansprüche stellen … Weit gefehlt. Es verging keine Stunde, in der Gertrude nicht irgendetwas von ihm brauchte.
Gleich bei ihrer Ankunft hatte sie die angeblich unzureichende Sauberkeit des Bades moniert und darauf bestanden, dass Lovis es mit Desinfektionsmittel und Spiritus putzte. Dabei hatte sie hinter ihm gestanden und ihn freundlich auf jede Stelle hingewiesen, die er ›vergessen‹ hatte. So hatte Lovis gefühlte Stunden damit zugebracht, jede Fuge in der Dusche zu wienern, bis sein Hirn von den Spiritusdämpfen vernebelt war und das Bad glänzte und blinkte, als käme es frisch aus dem Einrichtungshaus.
Wann immer das Gespräch darauf kam, zog Angelika ihn auf. »Die wollte dir nur auf den Hintern schauen.«
Die Vorstellung machte die Situation für Lovis im Nachhinein noch unangenehmer.
»Alles in Ordnung, Gertrude?«, fragte er, als die Dame ihn erreichte.
»O ja, Herr Lovis, alles bestens. Beinahe. Haben Sie gesehen, dass es auf den Bergen geschneit hat?«
Obwohl Lovis wusste, dass der Radlseeberg wie mit Puderzucker bestäubt aussah, blickte er hoch und fühlte das Sehnen in seiner Brust. Der weiße Gipfel sah einfach wunderschön aus vor dem blauen Herbsthimmel. »Schön, nicht wahr?«
Die Seniorin nickte ungeduldig. »Ja. Schön. Und kalt. Ich habe die ganze Nacht gefroren.«
»Das tut mir leid.«
»Die Ferienwohnung hat doch sicher eine Heizung?«
Lovis unterdrückte ein Seufzen. »Hat sie. Allerdings dürfen wir vor November nicht heizen, weil …«
»Aber für mich können Sie doch eine Ausnahme machen?«
Lovis wusste, dass es keinen Zweck hatte, der Seniorin zu erklären, dass laut Heizverordnung aus Rom das Heizen in diesem Jahr erst ab dem 1. November gestattet war. »Ich werde dafür sorgen, dass die Heizung angeschaltet wird.«
»Das wäre bezaubernd.« Gertrude Welfenstein lächelte Lovis zuckersüß an. »Wissen Sie, früher war ich nicht so verfroren, aber jetzt … Das Alter, wissen Sie.«
Lovis wusste, dass er nun beteuern sollte, dass Gertrude doch gar nicht alt war, dass sie sich gut gehalten habe und was auch immer Menschen zu solchen Anlässen sagten. Nur, es wollte ihm nicht über die Lippen. »Heute Abend haben Sie’s sicher warm in Ihrer Wohnung, Gertrude. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen. Die Weinlese geht gleich weiter und vorher wollte ich …«
»Aber sicher, aber sicher. Ich wollte soeben eine Wanderung unternehmen. Sagen Sie: Ist der Keschtnweg empfehlenswert?«
Lovis dachte sehnsüchtig an seinen Kaffee. Aber Gertrude würde jetzt gewiss das kleinste Detail zu diesem Themenweg, der sich der Edelkastanie widmete, wissen wollen. »Ja. Dazu müssen Sie hoch nach Tils. Das ist das Dorf dort oben.« Er zeigte hoch zu dem Dörfchen, das auf halber Höhe des Radlseebergs lag. »Von dort aus geht es recht eben nach Feldthurns. Wenn Sie Glück haben, können Sie auf der Strecke schon ein paar heiße Kastanien kriegen – oder Törggelen.«
Im selben Moment, in dem das Wort seinen Mund verließ, wusste Lovis, dass er einen Fehler gemacht hatte. Und tatsächlich leuchteten Gertrudes Augen auf.
»Oh! Törggelen! Davon hab ich schon gehört. Das hat doch mit Torkeln zu tun, nicht wahr?«
»Nicht direkt mit Torkeln, aber ja. Die Bezeichnung leitet sich von der Torkel her, von der Weinpresse. Aber es ist eigentlich ein alter Eisacktaler Brauch, der daher kommt, dass die Weinbauern nach eingebrachter Ernte von Hof zu Hof gegangen sind, um den Wein ihrer Nachbarn zu verkosten.«
»Klingt nach etwas, das mir gefallen würde.«
Damit war Gertrude nicht die Einzige. Über die Jahre hatte sich das Törggelen zu einem festen Bestandteil im Jahresablauf entwickelt, das natürlich touristisch ausgeschlachtet wurde und sich auf ein pures Fressgelage reduziert hatte. Busweise wurden Touristen angekarrt, ebenso das Schweinefleisch für die Schlachterplatten vom ›Südtiroler Schwein‹, das meistens aus den Niederlanden importiert wurde. Auch die Esskastanien, die ein fixer Bestandteil des Menüs waren, kamen längst nicht mehr aus Südtirol.
Mit Grauen dachte Lovis daran, dass der Törggelebetrieb in den nächsten Wochen auch den Messner Hof in Atem halten würde. Angelika hatte in den vergangenen Wochen und Monaten nicht lockergelassen und ihn von den vielen Vorteilen eines Törggelebetriebs überzeugt. Vor allem die Aussicht auf zusätzliches Einkommen hatte ihn schließlich Ja sagen lassen. Als Buschenschank galten für ihn viele steuerliche Erleichterungen, und viele Bauernhöfe, die in den Monaten zwischen September und November das Törggelen anboten, konnten sich finanziell sanieren. Darauf hoffte auch er. Mit dem kommenden Wochenende würden sie auch auf dem Messner Hof einen Törggelebetrieb haben. Er hatte ein ungutes Gefühl dabei, und das lag nicht nur daran, dass er eigentlich nichts als seine Ruhe haben wollte …
»Herr Looohooovis! Hören Sie mir überhaupt zu?« Gertrude tippte ihm mit dem Zeigefinger an die Brust und riss ihn damit aus seinen Gedanken.
»Entschuldigen Sie.«
»Ob ich da muss, habe ich gefragt. Und ob Sie mir einen Betrieb besonders empfehlen können.«
Lovis suchte gedanklich fieberhaft nach einem Hof, den er empfehlen konnte. Schließlich fiel ihm der Perwanger ein, für den er vor ein paar Monaten einen Fall gelöst hatte, und er nannte der alten Dame nicht nur den Namen des Hofes, sondern zückte auch sein Telefon, um ihr die Nummer des Bauern zu geben.
»Könnten nicht Sie für mich dort anrufen? Ich hab doch kein Mobiltelefon. Meine Enkel versuchen zwar ständig, mich für so ein Ding zu erwärmen, aber ich kann mich einfach nicht dazu durchringen.«
»Natürlich.« Lovis wählte den Perwanger Rudi an und sorgte dafür, dass Gertrude in etwa zwei Stunden etwas Warmes in den Magen bekommen würde. Dann musste er ihr auf ihrer Wanderkarte einzeichnen, wo sie ihr Auto abstellen konnte, wo der Anfang des Keschtnwegs war und wie sie von dort am besten zum Perwanger Hof kam und als das alles erledigt war, öffnete sich die Tür des Wohnhauses und Paul trat gefolgt von Toni ins Freie. Beim Anblick seines Chefs, der immer noch die Karte in der Hand hielt, grinste er spöttisch.
»Tut mir ja leid, dass ich Ihnen jetzt Ihren Charmeur entführen muss, Frau Welfenstein, aber der Bauer hat Dienst.«
Damit fasste er Lovis am Arm und zog ihn Richtung Weinberg.
»Ich hab nicht einmal meinen Kaffee gehabt.«
»Den hab ich für dich getrunken.« Paul grinste. »Ich soll dir von Angelika ausrichten, dass sie dir nach dem Mittagessen einen Extra-Kaffee macht. Und dass es Zwetschgenknödel gibt, soll ich dir auch sagen.«
Mit der Aussicht auf eines seiner Lieblingsessen folgte Lovis seinen beiden Facharbeitern etwas versöhnter und nahm seine Arbeit wieder auf. Traube packen, Schnitt, in die Box legen.
Nach einer Weile hörte er das Geräusch eines sich nähernden Motors. Er warf einen Blick zum Feldweg, der von seinem Hof zum Weinberg führte, und staunte nicht schlecht, als er das unverkennbare Blau eines Einsatzwagens der italienischen Staatspolizei sah.
Blitzartig zogen sich seine Eingeweide zusammen. Was hatte die Polizei in seinem Weinberg zu suchen? Er wechselte einen Blick mit seinem Knecht, der an seine Seite getreten war und in dessen Gesicht sich das gleiche Unbehagen widerspiegelte, das auch von Lovis Besitz ergriffen hatte.
Der Wagen hielt und Ispettore Giovanni Scatolins Kopf erschien. Sein Freund und ehemaliger Kollege bei der italienischen Staatspolizei sah wie immer aus wie aus dem Ei gepellt. Sein Haar hatte die vorgeschriebene Länge, seine Uniform saß perfekt und Lovis wusste, dass sich darunter – im Gegensatz zu ihm – jede Menge Muskeln befanden.
Bei Scatolins Anblick breitete sich irrationale Erleichterung in Lovis aus. Irrational deshalb, weil Scatolin bereits einige Male der Überbringer schlechter Nachrichten gewesen war. Trotzdem tat es ihm seltsam gut, seinen Freund zu sehen und in diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass das letzte Mal bereits ein paar Wochen her war. »Scatolo!«
Sein Freund und ehemaliger Kollege sah mit ernster Miene zu ihm herüber. »Amico?«
»Habe ich einen Strafzettel wegen Falschparkens nicht bezahlt?«
Scatolin hob die Augenbrauen. »Wo ist dein Nachbar?«
