Im Schnee lauert der Tod - Heidi Troi - E-Book

Im Schnee lauert der Tod E-Book

Heidi Troi

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Beschreibung

»Lawinen nennt man nicht umsonst den weißen Tod. Wer von dieser Lawine auf ihrem Weg ins Tal mitgenommen hat, lebt nicht mehr. Selbst, wenn er Ferdinand Prantl heißt und eine Skifahrerlegende ist.« Lorenz Lovis hasst den Winter und eigentlich würden ihn keine zehn Pferde auf die schneebedeckten Südtiroler Gipfel bringen, denn da oben sind seine Eltern verunglückt. Doch sein nächster Auftrag führt ihn ausgerechnet in die weiße Hölle. Ferdinand Prantl, Influencer und Skifahrerlegende aus dem Dorf, ist bei einer Schneetour verunglückt. Das Dorf ist in Schockstarre und ein Gerücht macht die Runde: Ein Unbekannter soll die Lawine mutwillig ausgelöst haben. Lorenz Lovis ermittelt und deckt dabei Geheimnisse auf, die bis in seine eigene Kindheit zurückreichen und den Tod seiner Eltern in ein völlig neues Licht rücken.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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IM SCHNEE LAUERT DER TOD

LORENZ LOVIS ERMITTELT

BUCH 6

HEIDI TROI

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Mai 2024 Heidi Troi

c/o Theaterpädagogisches Zentrum Brixen, Köstlaner Straße 28, 39042 Brixen (BZ), ITALY

www.heiditroi.me

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden.

Redaktion: Bianca Kober

Covergestaltung: Buchcoverdesign.de / Chris Gilcher – https://buchcoverdesign.de

Dies ist eine fiktive Geschichte. Orte, Events, Markennamen und Organisationen werden in fiktivem Zusammenhang verwendet. Alle Handlungen und Personen sind frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

INHALT

1. Schnee

2. Ein neuer Fall

3. Ein Unglück

4. Dumme Fragen

5. Theorien

6. Angst

7. Winter Wunderland

8. Bierselige Theorien

9. Kaffee

10. Eins nach dem anderen

11. Die Ehefrau

12. Und nun?

13. Botta

14. Zwei Spuren im Schnee

15. Alle Fälle gelöst?

Epilog

Nachwort

Rezept für Buchteln

Weitere Krimis mit Lorenz Lovis

Alle Fälle von Lorenz Lovis auf einen Blick

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Über die Autorin

KLAPPENTEXT

»Lawinen nennt man nicht umsonst den weißen Tod. Wer von dieser Lawine auf ihrem Weg ins Tal mitgenommen wird, lebt nicht mehr. Selbst, wenn man Ferdinand Prantl heißt und eine Skifahrerlegende ist.«

Lorenz Lovis hasst den Winter und eigentlich würden ihn keine zehn Pferde auf die schneebedeckten Südtiroler Gipfel bringen, denn da oben sind seine Eltern verunglückt. Doch sein nächster Auftrag führt ihn ausgerechnet in die weiße Hölle. Ferdinand Prantl, Influencer und Skifahrerlegende aus dem Dorf, ist bei einer Schneetour verunglückt. Das Dorf ist in Schockstarre. Bis ein Gerücht die Runde macht: Ein Unbekannter soll die Lawine mutwillig ausgelöst haben.

Lorenz Lovis ermittelt und deckt dabei Geheimnisse auf, die bis in seine eigene Kindheit zurückreichen und den Tod seiner Eltern in ein völlig neues Licht rücken.

1

SCHNEE

Lorenz Lovis saß am Fenster seiner Stube und starrte hinaus in das Schneetreiben. Es war ein trüber Januar-Tag. Brixen versank im Schnee und man sprach von einem Jahrhundertwinter. Nicht alle freuten sich darüber. Lovis am allerwenigsten. Bei dem Wetter hätte er sich am liebsten in seinem Bett vergraben, doch seine Freundin Angelika und sein Knecht Paul sorgten dafür, dass er diesen Plan nicht in die Tat umsetzte und hielten ihn mit kleinen und großen Arbeiten ständig auf Trab. Nur jetzt gerade hatte er etwas Zeit für sich.  Der Bauernofen war eingeheizt und Barnabas, der alte Bernhardiner, lag auf seinem Stammplatz direkt davor, während er hin und wieder ein wohliges Seufzen von sich gab.

Wenigstens einer ist mit der Welt zufrieden, dachte Lovis. Von sich selbst konnte er das nicht behaupten. Er hasste dieses Wetter. Er hasste Schnee und er hasste, was das nasse Weiß, das alle in Begeisterungsstürme versetzte, für Gefühle und Erinnerungen in ihm auslöste. Automatisch wanderten seine Gedanken zurück zu einem Tag vor über dreißig Jahren. Strahlendes Wetter nach einer Woche, in der es gestürmt und der Neuschnee das normale Leben im Tal zum Erliegen gebracht hatte. Seine Eltern in Skianzügen, erwartungsvolles Lachen auf ihren Gesichtern. Ihre Frage, ob er nicht auch mal mit auf den Berg wolle. Er hatte abgelehnt. Teenager, der er war, hatte er einen Tag im Bett bevorzugt. Er hatte geschlafen, gelesen, wieder geschlafen und dann …

Das Läuten an der Wohnungstür war ihm damals schon unheilvoll erschienen. An der Tür standen zwei Polizisten. Er sah sie vor sich, als wäre es gestern gewesen. Seine Angst, dass er etwas angestellt hatte. In Gedanken war er seine Verfehlungen der letzten Tage durchgegangen. War er mit Schorschs Fifty in eine Radarfalle geraten? Hatten sie ihn dabei erwischt, wie er der Straßenlaterne einen Tritt verpasst und sie so zum Erlöschen gebracht hatte? Hatte die alte Dame in der Gasse, in der sie wohnten, ihn wegen der Klingelscherze angeschwärzt?

Jede dieser Lösungen wäre ihm lieber gewesen als das, was folgte.

»Du musst jetzt stark sein«, hatte der eine Polizist gesagt. Ein Bärtiger mit warmen braunen Augen, in denen Mitleid stand. Mehr war nicht notwendig, denn allein der Blick hatte Lorenz alles verraten, was nun kommen würde. Unfähig, sich zu bewegen, hatte er gehört, was der Beamte sagte. Dass seine Eltern einer Schneelawine zum Opfer gefallen waren.

»Hast du Angehörige, die sich um dich kümmern können?« Die Stimme des Bärtigen war wie durch dicke Watte in das Bewusstsein seines Teenager-Ichs gedrungen.

»Sebastian«, hatte er gesagt. Erst beim zweiten Anlauf hatte seine Stimme funktioniert. »Onkel Sebastian.«

Zu ihm hatten ihn die Polizisten gebracht.

Am Abend hatte es wieder geschneit.

Lovis wischte sich mit beiden Händen über das Gesicht. Mit seinen Gedanken konnte er seine Eltern nicht wieder lebendig machen. Trotzdem dachte er letzthin immer häufiger an sie. An sie und an ihren Unfall.

Das passierte nicht von ungefähr. Vor einiger Zeit hatte er beim Ausräumen von Onkel Sebastians Zimmer diese Mappe gefunden. Eine gelbe Mappe mit Gummizug, auf der ›Elsa‹ stand. Der Name seiner Mutter. Darin hatte Sebastian alle möglichen Unterlagen zum Unfall von Lovis’ Eltern gesammelt. Zeitungsberichte, eine Wanderkarte und jede Menge Zettel.

Lovis hatte noch nicht den Mut gefunden, sich dem Inhalt dieser Mappe zu stellen. Zu groß war seine Angst, dass alte Wunden aufbrechen würden, und so lag das Ding nun seit über zwei Monaten in dem Zimmer, das Angelika und er zusammen bezogen hatten; versteckt in einer der Ablagen des Sekretärs. Nicht einmal ihr hatte er davon erzählt.

Und doch kreisten seine Gedanken ständig darum. Besonders bei so einem Wetter.

Wieder starrte er hinaus. Verrückt, was da vom Himmel kam. Und es wollte und wollte kein Ende nehmen. Die Meteorologen hatten diesen Winter als Jahrhundertwinter bezeichnet, die Niederschläge verzeichneten Rekordhöhen. Normalerweise schneite es zwei- oder maximal dreimal bis ins Tal herunter. In den letzten Monaten hatte es so oft geschneit, dass Lovis schon nicht mehr mitzählen konnte. Die Betreiber der Skipisten klagten ausnahmsweise nicht über Schneemangel, sondern darüber, dass sie mit dem Präparieren der Pisten nicht hinterherkamen und die Skifahrer bei diesem Wetter lieber zu Hause in der Stube hockten.

Auch in der Stadt hatte der Winter seine Spuren hinterlassen. Schneewälle säumten die Straßen, und der Schneeräumungsdienst von Brixen hatte die weiße Masse zu kleinen Hügeln zusammengeschoben, von denen die Kinder auf dem Hintern herunterrutschten.

Das größte Problem waren aber die Temperaturschwankungen in diesem Winter. Zwischen den Schneefällen setzte immer wieder Tauwetter ein, dann kühlte es bis unter den Gefrierpunkt ab und so war der Boden spiegelglatt und die Orthopädie im Krankenhaus feierte Hochkonjunktur. Allerdings weniger aufgrund der Skiunfälle auf der Plose, dem Brixner Skiparadies, sondern der Glätte auf den Straßen wegen.

»Starrst du schon wieder in den Schnee hinaus?«, fragte Angelika, die in diesem Augenblick die Stube betrat. Ihre Wangen waren gerötet und ihre Augen glänzten. Sie steckte in einem dicken Wollpullover mit Norwegermuster, der das T-Shirt mit dem Pferdespruch verdeckte, das sie wie immer trug.

Lovis wusste, welches es war, denn er hatte zugesehen, wie sie es angezogen hatte. Auf der Vorderseite war eine idyllische Schneelandschaft abgebildet, über die Santa mit seinem Rentierschlitten fuhr. »Was normale Menschen denken, wenn es schneit«, stand darunter. Auf dem Rücken des T-Shirts war das Bild eines Pferdes, das einer Klobürste ähnelte. »Was ich denke, wenn es schneit«, war der Untertitel dazu.

Angelikas Beine steckten wie üblich in einer Reiterhose. Vermutlich hatte sie eben ihrem Pferd Diablo einen Besuch abgestattet.

»Mhm.« Lovis schaute wieder nach draußen in den hypnotisierenden Tanz der Flocken, die vom Wind wild durcheinandergewirbelt wurden.

»Nur gut, dass unsere Vorratskammer gut gefüllt ist. Bei dem Wetter möchte ich nicht in die Stadt fahren.«

Wieder stimmte Lovis ihr brummend zu.

»Ist heute Spartag?«

Er sah sie an. »Wie meinst du das?«

»Na, hast du heute nur ein bestimmtes Kontingent an Wörtern zur Verfügung? Oder warum bekomme ich nur ein Brummen als Antwort?« Sie kam grinsend auf ihn zu und setzte sich auf seinen Schoß. »Komm schon, setz ein Lächeln auf, Bauer Lovis. Mir reicht das schlechte Wetter draußen, da brauche ich nicht auch noch Regenwetter in der Stube. Und du bist so hübsch, wenn du lächelst.«

»Hübsch«, brummte er. Welcher Mann wollte schon als ›hübsch‹ bezeichnet werden? Aber er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, legte seine Arme um Angelika und küsste sie auf die Nase. »Was steht heute an?«

Halb hoffte er, dass sie vorschlug, diesen Tag einfach im Bett zu verbringen, aber natürlich blieb es bei dem frommen Wunsch.

»Yoga?«

Lovis stöhnte. Angelikas Neujahrsvorsatz war, jeden Tag eine Yoga-Einheit zu absolvieren. Bisher hielt sie sich eisern daran und sie versuchte auch immer wieder, ihn zum Mitmachen anzuregen  – mit mäßigem Erfolg, um nicht zu sagen erfolglos.

»Was? Yoga ist gesund!«

»Yoga ist völliger Quatsch. Wenn du dich wie eine Brezel verknoten willst, dann mach ruhig, aber ich hab keine Lust auf den herabschauenden Gaul und den Morgen grüße ich am liebsten im Bett.«

»Du meinst den herabschauenden Hund und was das Grüßen angeht, wäre es für mich auch in Ordnung, wenn du den Morgen im Bett grüßen würdest, aber nicht mit dieser Leichenbittermiene, mein lieber Lollo.«

»Ich werde mich bessern.« Irgendwann, dachte er. Nur nicht heute. Heute wollte er einfach grantig sein.

Angelika legte die Arme um seinen Hals. »Ich nehm dich beim Wort.«

»Hm.«

Sie schnaubte. »Da deine Laune ohnehin schon am Boden ist: Vorhin hat von Stadler angerufen.«

»Was will denn der schon wieder?« Friedrich von Stadler war Lovis’ Nachbar und, wenn man das so nennen wollte, sein Lieblingsfeind. Den beiden gehörte je eine Hälfte eines Weinbergs, und der adelige Unternehmer hatte in der Vergangenheit so einige Finten ersonnen, um Lovis seinen Teil abzugaunern. Bisher erfolglos.

Zudem war von Stadler ständig in zwielichtige Geschäfte verstrickt und dehnte die Grenzen des Gesetzes zu seinen Gunsten. Dass er etwas von Lovis brauchte, nahm dieser als schlechtes Omen.

»Er hat einen Fall für dich, sagt er.«

»Schon wieder?« Er verzog das Gesicht. »Es kommt am Ende doch nur wieder heraus, dass er selbst Dreck am Stecken hat.«

»Na ja, dann weißt du ja, wo du mit den Ermittlungen beginnen musst, nicht wahr?« Angelika zwinkerte ihm zu. »Außerdem soll ich dich lieb von Paul grüßen und dir ausrichten, dass du deinen Hintern in den Stall schwingen sollst. Wegen des Wetters gibt es zwar heute nicht viel zu tun, aber es geht ihm ums Prinzip, sagt er. Der Bauer soll beim Ausmisten Hand anlegen. Außerdem ist das Förderband …«

»… schon wieder im Arsch«, ergänzte Lovis. Es war beinahe wie ein Running Gag. Alle paar Wochen streikte das blöde Ding und zwang sie, den ganzen Mist aus dem Stall per Handkarren auf den Misthaufen zu befördern, was ewig dauerte und bei den Temperaturen eine Qual war. Bisher hatte Paul es immer geschafft, das Förderband zu reparieren, aber irgendwann würde Lovis um eine Neuanschaffung nicht herumkommen.

Sollte er nun von Stadler anrufen oder Paul helfen? Es war eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera. Schließlich entschied Lovis zugunsten seines Betriebs. »Ich gehe in den Stall.«

»Zu spät«, kam es in dem Augenblick von der Tür. »Inzwischen hat er es alleine geschafft.« Die Stimme kam von dem Knecht selbst, der in seinem blauen Arbeiteroverall in der Türöffnung stand. Eine Duftwolke, die keinen Zweifel daran ließ, von wo er kam, umgab ihn. »Gibt es Kaffee?«

»Kaffee und Mohnstrudel«, sagte Angelika und fügte schnell hinzu: »Aber in der Küche. Schau, dass du aus der Stube kommst, und zieh die Stallknospen aus. Du stinkst.«

Paul verschwand und draußen im Flur polterten die schweren Stallstiefel auf den Boden.

Angelika küsste Lovis auf die Nasenspitze, bevor sie sagte: »Komm auch in die Küche. Ich muss etwas mit euch besprechen.«

Eine Ahnung beschlich ihn. Dieser Satz »Ich muss etwas mit euch besprechen« bedeutete meistens, dass es eine Änderung auf dem Hof gab. Eine Änderung und Arbeit. Seufzend folgte er ihr in die Küche, wo Paul bereits damit beschäftigt war, die Mokkamaschine mit Kaffeemehl zu befüllen.

Auf der Bank am Küchentisch saß Toni, der zweite landwirtschaftliche Facharbeiter auf dem Messner Hof, und hatte den Blick auf das Display seines Mobiltelefons gerichtet.

Lovis seufzte wieder. Nach langer Zeit hatte er dem Drängen von Angelika nachgegeben und einen Router installieren lassen.

»Deine Gäste brauchen WLAN. Du kannst unmöglich Ferienwohnungen vermieten und von ihnen verlangen, dass sie auf den Söller vor dem Wohngebäude gehen müssen, um überhaupt Empfang zu haben. Da hagelt es irgendwann miese Rezensionen und das können wir wirklich nicht gebrauchen. Außerdem ist das eine minimale Investition.«

Sie hatte natürlich recht gehabt  – wie immer  – und nun gab es WLAN auf dem Messner Hof. Der Vorteil lag auf der Hand, denn man musste jetzt nicht mehr in die Kälte gehen, um zu telefonieren oder im Internet zu surfen. Gerade an einem Tag wie diesem war das eine klare Verbesserung.

Andererseits hatten sich auch ihre Gewohnheiten verändert. Zum Schlechten, wie Lovis fand. Statt hier in der Küche miteinander über Gott und die Welt zu sprechen, passierte es häufiger, dass sie alle vier auf ihre Mobiltelefone starrten und kaum ein Wort fiel. Und das nervte ihn.

»Und? Was gibt es Neues in der Welt?«, fragte er an Toni gerichtet.

»Der Prantl spinnt wie eine Glocke.«

»Der Prantl?« Lovis wusste nicht, von wem sein Facharbeiter sprach.

»Unser Influencer. Du weißt schon. Der Ferdl. Aus dem Dorf.«

»Wir haben einen Influencer im Dorf?«

»Weißt das nicht?« Toni schaute auf. »Der Ferdinand Prantl, der Ex-Profiskifahrer. Dann hatte er diesen Unfall und seine Karriere war zu Ende.«

Lovis erinnerte sich. Ferdinand Prantl hatte eine Zeitlang jeden Rekord gebrochen und unzählige Medaillen für das Land geholt. Bei den letzten Weltmeisterschaften hatten sie alle große Hoffnungen auf ihn gesetzt, doch nach seinem furchtbaren Unfall hörte man nichts mehr von ihm.

»Und der macht jetzt auf Influencer? Was influenct er denn?«, fragte er.

»Unsinn. Verbotenes Zeug. Gehört spazierengewatscht für das, was er tut.« Toni schüttelte ärgerlich den Kopf.

»Was tut er denn?«

Statt einer Antwort drehte er Lovis das Telefon so hin, dass er das Video auf dem Display sah. Ein Paar Tourenskier schoben sich auf einem schneebedeckten Grat entlang. Rechts und links davon ging es kerzengerade in die Tiefe, vorn lockte ein Gipfelkreuz aus Metall, das in der strahlenden Sonne des Wintertags verheißungsvoll funkelte. Prantl, der wohl der Protagonist dieses Videos war, tastete sich mit dem Ski vorsichtig voran, da brach ein kleines Schneebrett ab.

Eine kalte Faust umklammerte Lovis’ Herz, als er zusehen musste, wie der Schnee ins Tal donnerte, aber er konnte seinen Blick nicht davon abwenden. Genau so waren seine Eltern gestorben. Diese Bilder würden ihn nächtelang nicht schlafen lassen, das wusste er jetzt schon. Doch er ließ sich nichts anmerken.

»Verrückt«, sagte er nur und schob Toni das Mobiltelefon hin, der es an sich nahm und einen Kommentar darunterschrieb. Seinem verkniffenen Gesicht nach zu urteilen, war es nichts Freundliches, was er dem Influencer an den Kopf warf.

Lovis wünschte nur, er hätte sich das nicht angeschaut. Wenn einer solche Mutproben nötig hatte und das auch noch mit der ganzen Welt teilen musste, war er bei ihm sowieso schon unten durch.

Um das Bild aus seinem Kopf zu bekommen, stand er auf und holte Tassen für sie alle heraus, dann setzte er sich auf seinen Stuhl und sammelte sich.

Angelika stellte den Mohnstrudel in die Mitte des Küchentisches und während sie darauf warteten, dass die Mokkamaschine ihre Arbeit tat, schnitt sie das Gebäck in dünne Scheiben und legte jedem eine davon auf einen Kuchenteller.

»Also?«, fragte Lovis, als alle eine dampfende Kaffeetasse vor sich stehen hatten. »Was wolltest du mit uns besprechen?«

Angelika holte Luft. »Es ist witzig, dass ihr gerade die Videos vom Prantl anschaut. Das ist nämlich genau das, worüber ich mit euch sprechen wollte.«

»Über den Prantl?«, fragte Paul irritiert.

Sie verdrehte nur die Augen. »Wir … müssen auf Social Media aktiv werden.« Lovis runzelte die Stirn, doch bevor er etwas einwenden konnte, sprach sie schon weiter: »Das tun heutzutage alle. Und es ist ja auch nichts dabei. Wir machen hin und wieder einmal einen Beitrag  – ein Bild oder ein Reel  – und posten es. Das ist Gratiswerbung.«

Lovis wechselte einen Blick mit Paul und war froh, als er in dessen Gesicht dieselbe Ablehnung erkannte, die er selbst verspürte. »Und was für Bilder sollen wir posten?«, fragte er. »Wie wir den Mist im Handkarren aus dem Stall befördern?«

»Das lockt sicher jede Menge Leute auf den Messner Hof«, sagte Paul und grinste. »Wir können auch die Pferdeäpfel fotografieren. Pferdeäpfel im Schnee, Pferdeäpfel auf der Wiese … Ich sehe schon die Besucherströme.«

»Hashtag #allesscheiße.« Lovis kicherte.

Angelika schlug mit der Handfläche auf den Tisch. Das Geschirr klapperte leise. »Ihr seid echt dämlich. Alle beide. Ich meine das ernst. Jeder Gastbetrieb hat heutzutage einen oder mehrere Social-Media-Kanäle. Man postet hin und wieder einmal was, die Gäste sehen es, reposten es oder sie posten ihre eigenen Bilder und markieren uns dabei. Das sehen dann ihre Freunde und …«

»Wir wissen, wie Social Media funktioniert«, sagte Paul. »Aber ich fürchte, hier auf dem Hof gibt es nichts, was die Leute interessieren könnte.«

»Da irrst du dich.« Angelika holte ihr eigenes Mobiltelefon hervor, von dem aus sie die Buchungen der Ferienwohnungen verwaltete. Sie wischte ein paarmal darauf herum, dann las sie vor: »›Ich wüsste zu gern, wie es mit Nachwuchs bei Alma aussieht.‹ Das hat Frau Schmidt geschrieben. Hanne fragt, ob es einen neuen Fall gibt.« Angelika zwinkerte Lovis zu, der belustigt schnaubte. Hanne Wiedenhof war eine überaus neugierige Urlauberin, die nichts lieber tat, als ihre Nase in seine Ermittlungen zu stecken. »Und das hier kommt von der Famiglia Coppola, ihr erinnert euch?«

Angelika hielt Lovis das Handy hin, auf dem stand: »I bambini chiedono se il vitello sta bene?« Die Kinder fragen, ob das Kälbchen wohlauf ist.

Er verdrehte die Augen. Es war ja nett, dass sie sich nach den Tieren erkundigten. Vor allem, nachdem sie sich bei ihrem Aufenthalt auf dem Messner Hof eher angeekelt zu dem Stallgeruch geäußert hatten. »Sag ihnen, dass Prissy immer noch nach Kacke stinkt.«

»Du bist doof, Lollo.« Angelika versetzte ihm einen Klaps auf den Oberarm. »Was ich damit sagen wollte: Die Leute wollen wissen, was in ihrer Abwesenheit auf dem Hof abgeht. Sie interessieren sich. Wenn wir sie jeden Tag ein bisschen …«

»Jeden Tag willst du was posten?«, unterbrach Lovis sie entsetzt. »Was war mit hin und wieder einmal?«

»Es geht nicht darum, wie oft wir was posten, sondern dass wir überhaupt etwas machen. Sie wollen auf dem Laufenden gehalten werden. Verstehst du das denn nicht?«

»Nein.« Lovis verschränkte bockig die Hände.

»Sie fühlen sich hier eben wie zu Hause. Und man möchte wissen, was daheim passiert.«

Er wollte erwidern, dass ihm nichts daran lag, dass sich die Leute auf dem Messner Hof wie zu Hause fühlten, doch Angelika schnitt ihm das Wort im Mund ab. »Ich weiß genau, dass ihr tausend Argumente gegen so einen Account finden werdet, aber wisst ihr was? Ihr werdet nicht gefragt. Ich setze so ein Ding auf und bespiele es. Und ihr werdet mich unterstützen. Ist das klar?«

Lovis kannte den Blick. Wenn Angelika so schaute, war es sinnlos, ihr zu widersprechen. Sie hatte sich diesen Social-Media-Kanal in den Kopf gesetzt und sie würde ihn durchsetzen.

»Okay«, sagte er daher. »Aber ich will keine Interviews. Und ich will nicht vor laufender Kamera herumkaspern.«

»Abgemacht.« Angelika grinste triumphierend und stand auf. »Ich mache gleich mal ein paar Bilder von den Pferden in diesem Schneetreiben. Das kommt sicher gut an.«

Sie verließ die Küche, draußen klappte die Eingangstür.

Paul lachte leise.

»Was?«, fragte Lovis.

»Ich denke mal, eines der Hauptthemen auf diesem Social-Media-Kanal wird ›Lorenz Lovis, der Privatdetektiv‹ sein. Ich freue mich schon darauf, wie du mit Lupe und Sherlock-Holmes-Hut durch den Mist kriechst.«

»Das werde ich ganz bestimmt nicht tun.«

»Ganz bestimmt nicht.« Und wieder lachte Paul.

2

EIN NEUER FALL

»Ganz sicher nicht!«, wehrte sich Lovis etwa eine halbe Stunde später. Es ging auf Mittag zu.

»Doch!« Angelika stemmte die Hände in die Seiten. »Komm schon, Lollo! Da ist doch nichts dabei. Du sagst die paar Sätze, zwinkerst in die Kamera und das war’s. Den Rest mache ich.«

»Nein.«

»Doch.«

»Nein. Und schon gar nicht mit diesem Hut.« Lovis deutete auf den Hut, den Angelika in der Hand hielt. »Ich dachte, du wolltest dieses Social-Media-Zeug wegen der Ferienwohnungen machen? Was hat da Sherlock Holmes damit zu tun?«

»Der Bauer auf dem Messner Hof ist nun mal ein Privatdetektiv. Das ist ein Alleinstellungsmerkmal. Welcher Hof kann auch noch einen Privatdetektiv bieten?«

»Keiner. Und auch unser Hof bietet für die Gäste ausschließlich Ferien auf dem Bauernhof. Keine Kriminalfälle.«

»Aber Hanne …«

»Hanne ist eine Ausnahme«, beharrte Lovis. Sie war der einzige Gast, der sich in seine Ermittlungen mischen durfte, und das auch nur, weil sie schon einmal bewiesen hatte, dass sie es draufhatte. Er würde seine Detektivtätigkeit ganz sicher nicht ins Animationsprogramm für die Urlauber aufnehmen. Abgesehen davon sah es mit Fällen gerade sowieso düster aus, wenn er nicht den Auftrag seines Lieblingsnachbarn von Stadler annahm. Lovis schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf sein neues Problem.

»Ich bleibe dabei. Wenn du diesen Social-Media-Firlefanz aufziehen willst, dann darfst du das gern tun, aber ich hopse nicht vor der Kamera herum. Ich mag das nicht.«

Angelika machte einen Schritt auf ihn zu und legte ihre Arme um seinen Nacken. »Tu’s für mich, Lollo.« Sie drückte ihre Mitte an ihn und Lovis kam in Bedrängnis.

»Das ist Erpressung.«

»Ist es.« Sie lächelte ihn diabolisch an. »Aber es ist Erpressung für einen guten Zweck.«

»Ich möchte mal wissen, was an diesem Zweck gut ist.«

»Wir finden neue Gäste. Also kommt mehr Geld herein. Also kannst du ein Förderband für den Mist kaufen. Also ist Paul weniger grantig und ihr habt weniger Arbeit im Stall. Also hast du mehr Zeit, um bei Schorsch in der Kneipe herumzulungern und als Zielscheibe für seine Carabinieriwitze zu dienen. Also ist auch Schorsch besser aufgelegt und kann seine Gäste mit Späßen unterhalten. Also sind auch die glücklicher und …«

Bevor sie dazu kam, ihm den Weltfrieden als Grund für dieses bescheuerte Statement für den Social-Media-Kanal zu verkaufen, unterbrach er sie. »Okay, ich mach’s. Aber der Sherlock-Holmes-Hut ist gestrichen.«

»Bitte …«

»Nein. Und danach will ich meine Ruhe.«

»Versprochen.«

Doch Lovis wusste bereits jetzt, dass Angelika dieses Versprechen nicht halten würde. Er griff unwirsch nach dem Zettel, den sie für ihn vorbereitet hatte, und las sich seinen Text durch.

»Ich bin Lorenz Lovis und ich bin der Bauer auf dem Messner Hof. Habt ihr Lust auf ein bisschen Winterwonderland? Dann kommt mit auf eine Tour über unseren Hof, der gerade tief im Schnee versinkt. Und vielleicht decken wir ja auch ein Verbrechen auf.« Er schnaubte und sah stirnrunzelnd zu Angelika. »Wir decken ein Verbrechen auf?«

»Wir brauchen einen emotionalen Hook«, erklärte sie. »Wir werden solche Verbrechen aufdecken wie: Wo hat Alma ihre Eier versteckt? Das wäre ohnehin in Pauls Sinn.«

Lovis sagte ihr nicht, dass er es war, der seinem Lieblingshuhn dabei half, seine Eier zu verstecken. Stattdessen seufzte er ergeben. »Dann los.« Er stellte sich in Position.

»Einen Moment noch.« Angelika trat auf ihn zu und küsste ihn. Ihre Lippen waren weich und warm und als ihre Zunge über seine strich, begann sein ganzer Körper zu vibrieren. Trotzdem bemerkte er, dass das bloß ein Ablenkungsmanöver war, damit sie ihm den Hut aufsetzen konnte.

»Ich habe doch gesagt, ich verkleide mich nicht.«

»Aber der Hut steht dir doch so gut.« Sie drückte ihm einen letzten Kuss auf die Lippen, dann trat sie zurück und zückte die Kamera.

Und Lovis setzte ein gequältes Grinsen auf und ratterte den Text herunter. Es brauchte drei Anläufe, bis Angelika zufrieden war. Als sie das Telefon endlich wegsteckte, atmete er erleichtert auf.

»Und was geschieht jetzt damit?«

»Jetzt mache ich ein paar Schnappschüsse auf dem Hof. Dann bastle ich daraus ein Reel und dann … koche ich uns was Gutes. Als Wiedergutmachung.« Sie zwinkerte Lovis zu und verschwand.

Er blieb sich wieder selbst überlassen und in Ermangelung anderer Aufgaben holte er sein Telefon heraus und googelte Ferdinand Prantl. Seitdem Toni ihm dieses Video gezeigt hatte, geisterte ihm der im Kopf herum.

Kaum hatte er dessen Profil aufgerufen, betrat Paul die Stube. Am Gesichtsausdruck seines Knechts erkannte Lovis sofort, dass etwas vorgefallen sein musste.

»Was ist los?«

»Ich habe einen Einsatz.«

Lovis schaltete nicht. »Einen Einsatz?«

»Bergrettung. Ich bin angepiepst worden. Ich … Es ist mein erster Einsatz. Ich … muss gehen. Ich scheiße mir in die Hosen, Chef. Was, wenn ich was falsch mache?«

Paul hatte in den vergangenen zwei Jahren nebenher die Ausbildung zum Bergretter gemacht. Dazu gehörte ein intensiver Grundkurs in Notfallmedizin, mehrere Tests und Übungen im Fels, im Eis und mit dem Helikopter. Alles in allem eine anstrengende Sache und wichtig, da Ersthelfer am Berg bei ihren Einsätzen oftmals von der Welt abgeschnitten handeln mussten und bei spontanen Entscheidungen ganz auf sich allein gestellt waren.

Heute wurde Paul also zum ersten Mal selbstständig losgeschickt.

»Ich gratuliere. Worum geht es denn?«

»Eine Lawine. Oben auf der Plose. Mehr weiß ich nicht. Ich … muss los.«

Lovis schaffte es nur mit Mühe, zu nicken. Beim Wort »Lawine« hatte sich in seinem Magen ein Kloß gebildet. In seinen Ohren hämmerte der Puls so laut, dass er beinahe Pauls Schritte übertönte, die sich Richtung Haustür entfernten.

Wie erstarrt saß er da. Erst als die Tür leise ins Schloss fiel, kam wieder Leben in ihn. »Pass bloß auf dich auf, alter Freund«, flüsterte er.

Um sich abzulenken, griff Lovis nach dem Telefon. Er rief den Kontakt seines Lieblingsfeindes auf und tippte auf das Wählsymbol. Das Freizeichen ertönte. Einmal, zweimal. Dann ging von Stadler ran.

»Endlich. Das hat aber gedauert.«

Lovis verzog das Gesicht. Das war eines der Probleme mit seinem Nachbarn. Dass er davon ausging, dass die Welt ihm gehörte, nur weil er Geld hatte. »Ich sitze eben nicht den ganzen Tag herum und drehe Däumchen«, erwiderte er, obwohl es streng genommen genau das getan hatte. »Was brauchen Sie?«

»Einen Privatdetektiv.«

Lovis atmete tief durch. »Was ist diesmal passiert?« Er hoffte inständig, dass es nicht wieder um Mord ging.

»Jemand sabotiert mich.« Von Stadlers Stimme hatte einen vorwurfsvollen Unterton, als trüge Lovis die Schuld an den Vorfällen und möglicherweise zog er das sogar in Betracht.

»Aha«, machte Lovis nur, ohne auf die stumme Anklage einzugehen. »Und ich soll jetzt …?«

»Dafür sorgen, dass es aufhört«, verlangte von Stadler.

»Was ist denn überhaupt passiert?«

»Das sehen Sie sich am besten selbst an. Ich bin jetzt direkt am Tatort beim Kreuzwirt. Wenn Sie in zehn Minuten hier sind, treffen Sie mich noch an.«

Lovis verdrehte die Augen himmelwärts. Von Stadler wollte etwas von ihm, nicht umgekehrt. Aber statt sich Zeit zu nehmen und zu fragen, wann der Privatdetektiv kommen könne, befahl er ihn einfach zu sich. Als hätte er sonst nichts zu tun.

Du hast sonst nichts zu tun, flüsterte die Stimme in seinem Kopf ihm zu.

Trotzdem wollte er von Stadler nicht das Gefühl geben, dass es reichte, zu schnipsen, um ihn springen zu lassen. »Ich werde sehen, was sich machen lässt.«

Dann beendet er das Gespräch und betrat die Küche, wo er Angelika umarmte, die beim Kochen war. Eben formte sie aus Teig kleine Kugeln, die sie mit Fett bepinselte und in eine Backform legte. »Was wird das?«, fragte er.

»Buchteln.« Sie drehte sich um. Ihre Wangen waren mit Mehl bestäubt und ein paar Strähnen hatten sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst.

Lovis strich sie ihr hinter die Ohren zurück und wischte mit dem Finger die Mehlspuren von Angelikas Wangen. »Pass auf, dass du nicht selbst im Ofen landest!«

»Wäre das so schlimm? Dann könntest du mich vernaschen.« Sie zwinkerte ihm zu und meinte: »Was willst du mit dieser Verzögerungstaktik erreichen?«

»Wieso Verzögerungstaktik?«

»Ich hab gehört, wie du mit von Stadler telefoniert hast.«

Lovis verzog das Gesicht. »Er denkt, wenn er pfeift, komme ich schwanzwedelnd angerannt.«

»Und?«

Er verdrehte die Augen. »Er hat natürlich recht. Aber ich will zumindest eine Minute zu spät kommen.«

Angelika lachte. »Männer …« Sie sah auf die Uhr. »Die Minute ist um. Du kannst dich auf den Weg machen.«

»Noch eine Minute. Wenn ich jetzt vor die Tür trete, rutsche ich auf dem Eis aus und auf dem Hintern bis zur Hauptstraße. Das geht viel zu schnell. Also kann ich mir noch etwas Zeit lassen.«

Wieder lachte Angelika. »Dann nimm den Weg übers Feld. Da rutscht nichts.«

»Toll. Tiefschneewandern.«

»Du alter Grantler«, sagte sie. »Raus jetzt. Die Buchteln müssen gehen. Da bleibt die Tür zu.« Und damit schob sie Lovis aus der Küche.

»Sie sind spät.« Von Stadler stand ungeduldig wartend vor dem Kreuzwirt, dem Luxushotel, das er vor nicht allzu langer Zeit übernommen hatte, und ließ den Autoschlüssel seines nagelneuen Porsche um seinen Zeigefinger kreisen.

Lovis verkniff sich nur mit Mühe eine Bemerkung. »Worum geht es?«

»Um das hier.« Von Stadler wies auf den Boden.

»Schnee?« Verlangte der Idiot, dass er den Parkplatz vor seinem Hotel räumte?

»Ja, Schnee. Der hier nicht hingehört.« Anklagend sah ihn sein Lieblingsfeind an.

»Na ja, dann müssen Sie eben dafür sorgen, dass er wegkommt, nicht? So wie wir alle.« Lovis sah das Problem nicht.

»Als hätte ich das nicht schon längst getan! Mein Hausmeister hat natürlich geschippt. Aber jetzt …« Er wies auf die schneebedeckte Fläche.

»Jetzt hat es eben wieder geschneit.«

»Verstehen Sie denn nicht? Das ist nicht Neuschnee! Das ist Schnee … von gestern, wenn man so sagen will.«

Lovis verkniff sich ein Grinsen. »Dann soll ich also ein Verbrechen aufklären, das Schnee von gestern ist?«

»Sie verstehen genau, was ich meine. Irgendwer schmeißt mir Schnee vor den Hoteleingang. Mein Hausmeister schippt den Platz frei, aber über Nacht landet wieder eine große Ladung Schnee direkt vor dem Eingang  – oder vor der Zufahrt zur Garage. Gestern mussten wir erst eine halbe Stunde mit vereinten Kräften schippen, damit meine Gäste die Garage verlassen konnten. Sie können sich die Bewertungen vorstellen, die wir damit bekommen haben. Da kann man sich eine Woche lang um die werten Herrschaften bemühen, wie man will. Wenn bei ihrer Abfahrt die Garagenzufahrt durch Schnee versperrt ist, hagelt es plötzlich Ein-Sterne-Bewertungen und …«

Lovis hörte schon längst nicht mehr zu. Von Stadlers Ein-Sterne-Bewertungen waren ihm völlig egal. Stattdessen ließ er den Blick über den Platz vor dem Hotel wandern. Der Schnee war von unzähligen Fußabdrücken platt gedrückt worden, nur an einer Stelle erahnte er Reifenspuren zu sehen. Reifenspuren mit einem tiefen Profil, wie von einem Traktor. Möglicherweise ein Zufall. Vielleicht aber auch nicht. Trotzdem …

»Haben Sie mit jemandem aus dem Dorf Streit?«, fragte er mitten in von Stadlers Jammerei hinein.

»Natürlich nicht«, war die entrüstete Antwort.

Lovis schüttelte belustigt den Kopf. »Also ja.«

»Na ja.« Der Hotelbesitzer zuckte mit den Schultern. »Die Dorfbewohner haben was gegen den Fortschritt. Aber das wissen Sie ja selbst.«

»Weiß ich das?«

»Na ja, als Privatdetektiv müssen Sie sich allerhand anhören, nicht?«

Lovis schnaubte. Natürlich musste er sich allerhand anhören. Die Menschen im Dorf liebten es, Späße auf seine Kosten zu machen, aber deswegen hielten sie doch zu ihm. Dass für von Stadler andere Regeln galten, konnte er sich blendend vorstellen.

»Mich interessieren Ihre Machenschaften nicht. Wenn ich hier ermittle, finde ich am Ende doch nur wieder heraus, dass Sie Dreck am Stecken haben. Das wollen Sie doch nicht, oder?«

»Also nehmen Sie meinen Auftrag nicht an? Ihr Antrag auf eine Privatermittler-Lizenz ist gerade eben auf den Stapel der Anträge mit wenig Priorität gerutscht …«

Lovis blieb die Spucke weg. Wollte er ihn erpressen? Er hatte auf Drängen von Angelika einen Antrag auf diese Lizenz gestellt, um seine Tätigkeit auf legale Füße zu stellen. Dass von Stadler derjenige war, der darüber entschied, hatte er allerdings nicht geahnt. Das war … nicht gut.

»Wollen Sie mich erpressen?«, fragte er.

»Nein, ich möchte Ihnen nur einen Anreiz geben, den Auftrag anzunehmen«, meinte von Stadler mit einem siegessicheren Lächeln.

Lovis wusste, wann er verloren hatte. »Stellen Sie mir eine Liste mit den Leuten zusammen, die … ›was gegen den Fortschritt haben‹«, sagte er und zitierte seinen Auftraggeber. »Inzwischen werde ich Ihnen einen Kostenvoranschlag zukommen lassen, damit Sie entscheiden können, ob Sie mir den Auftrag geben wollen.« Im Stillen nahm sich Lovis vor, ihm ein gesalzenes Angebot zu schicken  – Lizenz hin oder her. Und dann würde er gleich bei von Stadler selbst mit den Nachforschungen beginnen. Egal, wer das hier anrichtete, der Grund dafür lag unter Garantie bei von ihm …

»Hält ein Carabiniere einen Lastwagen auf und meint: ›Ich sage Ihnen jetzt schon zum dritten Mal, dass Sie Ladegut verlieren.‹ Sagt der Lastwagenfahrer: ›Und ich erkläre Ihnen jetzt das dritte Mal, dass das hier ein Streuwagen ist.‹ Ha ha ha.«

Schorsch, der Wirt der Dorfkneipe und Lovis’ Freund aus Jugendtagen lachte selbst am lautesten.

Lovis hob müde die Hand. »Deine Witze werden von Tag zu Tag schlechter.«

»Schlecht ist hier nur deine Laune, alter Freund.«

»Ich bin nicht schlecht gelaunt.«

»Wart mal.« Schorsch zog sein Telefon heraus und, bevor Lovis sich versah, hatte er ein Foto von ihm geknipst. »Das drucke ich jetzt aus. Ich bekomme nachts Heißhungerattacken und die Moidl hat mir ein Schild an die Kühlschranktür geklebt, auf dem steht: ›Der Kühlschrank bleibt nachts zu.‹ Aber ein Bild von dir ist da sicher noch viel wirksamer.«

»Ha ha.« Schorschs Stichelei entlockte Lovis nicht einmal ein Grinsen.

»Oder du machst ein Schild draus und stellst es bei deinem Parkplatz auf. Da hören die Kreuzwirtgäste ganz von allein auf, ihre Schlitten auf deinem Parkplatz zu parken«, schlug der alte Hans Eisendle vor, der mit seinem Glas Leps  – einem billigen Wein  – am Stammtisch saß und darauf wartete, dass seine Freunde zu ihm stießen.

»Weil wir grad vom Kreuzwirt reden …«, begann Lovis.

»Lass mich raten«, unterbrach ihn Schorsch. »Du sollst herausbekommen, wer ihm immer wieder Schnee vor den Hoteleingang kippt?«

»Du solltest Hellseher werden.«

Sein Freund schnaubte entrüstet. »Und da kommst du zu mir?«

»Wohin sonst?« Schorsch war in allen Dorfangelegenheiten seine erste Anlaufstelle. Seine Kneipe war der Umschlagplatz für die Gerüchte über die Bewohner des Dorfs  – wahre und erfundene.

Doch diesmal sah sein Freund nicht amüsiert aus. »Da drüben ist die Tür.«

»Bitte?« Lovis starrte ihn an.

»Wenn du jetzt auch noch anfängst, mich zu verdächtigen, dann schaust du besser, dass du rauskommst. Und setz nie wieder einen Fuß in meine Kneipe. Als ob's nicht reichen würde, dass der von Stadler fremde Leute gegen mich aufhetzt.«

»Spinnst du jetzt, oder was?« So erzürnt hatte Lovis seinen Freund noch nie gesehen. »Wer hat denn gesagt, dass ich dich verdächtige?«

»Das ist doch, was du als Nächstes sagen wirst, oder? Dass du grundsätzlich mal jeden verdächtigen musst, auch deinen Freund. Und ich weiß genau, dass der von Stadler dir diesen Floh ins Ohr gesetzt hat. Genau wie dem einen Kerl, der plötzlich in meiner Kneipe aufgetaucht ist und dumme Fragen gestellt hat. Den hat auch der von Stadler aufgehetzt! Ist doch klar, dass er mich lieber heute als morgen los wäre. Damit er der alleinige Herrscher über das Dorf ist. Und weißt du was? Auf diese Spielchen habe ich keine Lust. Geh und schau, dass du deinen Kaffee ab jetzt beim Kreuzwirt trinkst.« Wie um seine Worte zu unterstreichen, stürzte er den Macchiato, den er ungefragt für seinen Freund zubereitet hatte, selbst hinunter. Dann drehte er sich von ihm weg, bückte sich und machte sich an der Spülmaschine zu schaffen.

»Darf ich jetzt auch mal was sagen?«, fragte Lovis.

»Nein.«

»Ich verdächtige dich nicht.«

»Warum sitzt du dann hier?«

»Um einen Kaffee zu trinken?« Lovis wartete ab.

Endlich kam Schorsch hoch und drehte sich misstrauisch um. »Und du machst das auch nicht nur, um mich ganz nebenbei auszuhorchen, ob ich der Verbrecher bin, der von Stadler das Leben schwermacht?«

Lovis schüttelte den Kopf. »Ich wollte dich fragen, ob du weißt, wer dahintersteckt, aber wenn ich ehrlich bin, bin ich nicht einmal sicher, dass ich das überhaupt wissen will. Der von Stadler ist echt eine Plage.«

Schorsch nickte. »Das ist er.« Er machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. »Aber ich muss dich enttäuschen. Ich weiß nicht, wer die Idee hatte. Und wenn ich es wüsste, bin ich nicht sicher, dass ich dir verraten würde, um wen es sich handelt. Wenn ich ehrlich bin, würde ich demjenigen vielleicht sogar helfen.«

»So genervt bist du von unserem Freund?«

»Noch genervter.« Schorsch stellte Lovis die Kaffeetasse auf den Tresen. »Weißt du, dass er das Hygieneamt auf mich angesetzt hat?«

Lovis zog nur die Augenbrauen hoch.

»Die Dame meinte, jemand habe sich beschwert, dass meine Kneipe ›unhygienisch‹ sei.« Schorsch schnaubte empört. »Meine Kneipe.«

»Ich vermute, sie ist unverrichteter Dinge wieder abgezogen?«

»Die ziehen nie unverrichteter Dinge wieder ab.«

»Das heißt, sie haben was zu beanstanden gehabt?«

Schorsch knallte das Geschirrtuch, mit dem er eben die Theke abgewischt hatte, hin. »Ja, haben sie. Und zwar, dass meine belegten Brote nicht in einer zertifizierten Küche gemacht werden, sondern oben bei uns in der Wohnung. Und stell dir vor, meine Moidl trägt dabei kein Haarnetz.«

»Dabei verleihen die Locken von deiner Moidl den Pimsen erst den richtigen Geschmack.« Hans Eisendle kicherte.

»Und setzt sie jetzt ein Haarnetz auf, wenn sie die Wurstscheiben auf die Semmeln legt?«, fragte Lovis.

»Nein.« Schorsch warf ihm einen genervten Blick zu. »Es gibt keine Brote mehr. Wenn du was essen willst, musst du ab sofort zum Kreuzwirt rübergehen.«

»Als ob dem seine überteuerten Tramezzini jemand aus dem Dorf essen würde«, sagte der Hans verächtlich.

Schorsch hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Tatsache ist, dass immer diese hintertückischen Kerle gewinnen, wenn die Ämter im Spiel sind. Da zählt dann nicht mehr der gesunde Menschenverstand, sondern irgendwelche Regeln, die sich unterbeschäftigten Beamten in Brüssel ausgedacht haben. Und am Ende zahlen wir alle drauf.«

Lovis pflichtete ihm bei, dann meinte er: »Also hast du eine Rechnung offen mit dem von Stadler?«

»Ja. Aber keine Zeit für diese Späße mit dem Schnee.«

»Und wer hat Zeit dafür?«

Schorsch hob die Schultern. »Noch hat sich keiner bei mir damit gebrüstet, dass er das getan hat.«

»Keinen Verdacht?«

»Oh, doch.«

»Wer?«

»Das ganze Dorf.«

Vom Hans kam ein meckerndes Kichern. »Und das Nachbardorf dazu. Den von Stadler kann doch niemand so richtig leiden.«

»Und sonst?«

»Sonst würde ich diesen Spaßvogel in der Stadt suchen. Der Depp hat doch den Bauhof über, oder?«

Schorsch hatte recht. Von Stadler hatte bei den letzten Gemeindewahlen so gut abgeschnitten, dass er nun einen Posten im Stadtrat bekleidete. Jeder fragte sich, wie das möglich und ob nicht eine Art von Wahlbetrug im Spiel war, denn dass der Gutsbesitzer und Hotelier ein Schlitzohr war, sollte doch weit über die Grenzen des Dorfs hinaus bekannt sein.

Schorsch sprach schon weiter: »Also ist er für die Schneeräumung zuständig und was man so hört, klappt die in diesem Jahr nicht besonders gut.«

»Vielleicht überlegen sich die Wähler das nächste Mal zweimal, ob sie ihre Stimme wirklich so einem Windhund geben wollen«, meckerte Hans Eisendle von seinem Tisch herüber.

Lovis hoffte das auch. Doch damit löste sich sein Problem nicht, denn die Liste der Verdächtigen hatte sich gerade um ungefähr sechzehntausend Menschen erweitert. So viele Einwohner hatte die Stadt Brixen. Ein Fall ganz nach seinem Geschmack. Nicht.

Er seufzte. »Dann sollte ich wohl langsam anfangen, die Brixner zu vernehmen, nicht wahr?«

Schorsch grinste. »Viel Spaß dabei.«

»Danke.«

»Und wenn du nicht fündig wirst«, der Wirt der Dorfkneipe zwinkerte ihm zu, »komm noch mal her. Vielleicht bin doch ich der Täter.«

Lovis verdrehte die Augen, dann machte er, dass er zum Messner Hof kam. Schließlich warteten Buchteln mit Vanillesoße auf ihn.

3

EIN UNGLÜCK

Wohlige Wärme empfing Lovis in der Küche. Eine Wohltat nach dem kalten Wind, der immer noch über den Talkessel pfiff. Genießerisch sog er den Geruch des süßen Hefeteigs in sich auf. »Ich glaube, Buchteln sind meine Lieblingsspeise«, sagte er.

Angelika lachte leise. »Ich glaube, ich kann dir vorsetzen, was ich will. Alles ist deine Lieblingsspeise.«

»Alles, was du kochst.«

»Schleimer.«

»Ich meine es vollkommen ernst.« Und das tat Lovis. Er hatte die letzten fünfundzwanzig Jahre selbstständig gelebt und sich natürlich auch selbst verpflegt. Allerdings hatte er nur dank der vorgekochten Speisen in der Metzgerei unter seiner Wohnung überlebt. Lasagne zum Aufwärmen, Bologneser Sugo, Knödel, sogar Schlutzer gab es dort. An den Samstagen hatte er sich beim Bauernmarkt mit Tirtlan eingedeckt. Sein eigenes Repertoire umfasste genau zwei Mahlzeiten: Rührei und Nudeln … für alles Weitere brauchte er Hilfe.

»Hast du schon was von Paul gehört?«, fragte er, während Angelika ihm eine große Kelle voller dickflüssiger Vanillesoße über die Buchteln goss.

Sie schüttelte den Kopf, ihr Gesichtsausdruck war besorgt. »Ich hoffe, es ist alles okay.«

Lovis antwortete nicht. Stattdessen schaltete er das Radio ein.

Die Tür öffnete sich und Toni betrat die Küche. »Mit Paul alles in Ordnung?«, fragte auch er, bevor er sich an den Tisch setzte.

»Wissen wir nicht«, sagte Lovis und drehte das Radio lauter. Es war Zeit für die Mittagsnachrichten. Wie üblich war zuerst die Tagespolitik das Thema. Gerüchte, dass der amerikanische Präsident einen Europabesuch machen wollte, ein Erdbeben in Kleinasien, das alle Menschen aus ihren Häusern geschreckt, aber zum Glück keine größeren Schäden verursacht hatte, die Zusammenfassung eines Interviews mit einem Südtiroler Autor, der für einen Buchpreis nominiert worden war.

Dann horchten sie auf.

»Aus Brixen erreichen uns Nachrichten über den Abgang einer Lawine auf der Plose. Eine Gruppe von Wanderern wurde auf ihrer Skitour in der Nähe der Kälberalm von einer Schneelawine erfasst und mindestens drei Menschen wurden von den Schneemassen ins Tal gerissen. Die Bergrettung ist im Einsatz. Die Suche gestaltet sich als schwierig, da aufgrund der unsicheren Schneeverhältnisse weitere Lawinenabgänge befürchtet werden müssen.« Es folgte eine Lawinenwarnung und eine Statistik über die Anzahl der Lawinentoten, die ebenso wie die Niederschlagsmenge in diesem Winter einen Rekord erreichte.

Keiner der drei sagte ein Wort.

Die Küchenwände schienen auf Lovis zuzukommen und sich im Kreis um ihn zu drehen, als säße er in einem Karussell, und er hatte das Gefühl, dass zu wenig Sauerstoff in dem kleinen Raum war. Auch seine Eltern waren in dieser Gegend ums Leben gekommen. Sie waren auf dem Weg zum Kreuz gewesen, als die Lawine abgegangen war. Dass Paul jetzt ausgerechnet da oben seinen Einsatz hatte, schien ihm wie ein schlechtes Omen.

»Alles okay?«, fragte Angelika, die ihn besorgt musterte.

Lovis sah sie nur gehetzt an. »Wenn ihm etwas passiert …«

Sie schüttelte den Kopf. »Ihm wird nichts passieren. Wenn es jemanden gibt, der nichts Unüberlegtes tut, dann ist das unser Paul. Du wirst sehen, heute Abend sitzt er mit uns in der Küche und brüstet sich mit seinen Heldentaten.«

Zu gern hätte Lovis das geglaubt, doch er fürchtete, dass es nicht so sein würde.

Der Appetit war ihm vergangen. Niedergeschlagen schob er seinen Teller zurück. Auch die anderen beiden stocherten in ihrem Essen herum.

Irgendwann stand Angelika auf. »Ich muss los. Hab Dienst. Wenn ich was mitbekomme …« Sie sprach nicht zu Ende, doch alle wussten, was sie hatte sagen wollen. Sollte Paul eingeliefert werden, würde sie ihnen Bescheid geben.

So lange wollte Lovis nicht warten. Auch er stand auf. »Ich fahre rauf.«

»Zur Lawine?« Toni machte große Augen. »Jetzt?«

Angelika schüttelte den Kopf. »Du spinnst wohl. Sonst läufst du vor der kleinsten Schneeflocke davon und jetzt willst du da hinauf und dich selbst in Gefahr bringen? Hast du nicht zugehört? Das ganze Gebiet da oben ist unsicher. Bei den Schneemassen, die da heruntergekommen sind, und dem Wind kann sich praktisch überall eine Lawine lösen.«

»Vielleicht kann ich helfen?«

Sie schnitt eine ungeduldige Grimasse. »Lollo, du weißt genau, dass du den Männern da oben nur im Weg bist. Bleib, wo du bist. Mach die Arbeit, die heute liegenbleiben wird, weil Paul mit dem Einsatz beschäftigt bist. Das ist Hilfe genug.«

»Komm, Boss.« Toni stand ebenfalls auf. »Ich weiß auch schon, was zu machen ist. Das Förderband für den Mist …«

»Wenn ich mir jetzt noch einmal anhören muss, dass das Förderband für den Mist im Arsch ist, gehe ich in die Luft.«

»… ist im Eimer, wollte ich sagen«, beendete Toni seinen Satz. »Aber im Arsch trifft es auch. Lass es uns reparieren, Boss. Ich hab in der Remise einen Keilriemen gefunden, der passen könnte.«

Er klopfte Lovis beruhigend auf die Schulter und wartete, bis er einknickte.

»Du hast recht.« Und so verbrachte er den Nachmittag im Stall. Nicht der Keilriemen war das Problem. Die Zahnräder waren frei von Steinchen. Es blieb ein unlösbares Rätsel, warum das Ding den Geist aufgegeben hatte. Irgendwann gaben sie auf. Früher oder später würde er wohl ein paar Tausender in ein neues Gerät investieren müssen. So würde der Schuldenberg nie schrumpfen.

Nachdem sie das Förderband für irreparabel erklärt hatten, widmete sich Toni anderen Arbeiten und Lovis verdrückte sich in die warme Stube, wo er von Barnabas mit einem müden Schwanzwedeln empfangen wurde. Er setzte sich an seinen Lieblingsplatz am Fenster und schaute hinaus. Das Schneetreiben hatte wieder begonnen und die Wolken verhüllten den Gipfel des Radlseebergs. Sicher sah es auf der gegenüberliegenden Talseite auch nicht besser aus. Das bedeutete, dass die Bergretter nun im Nebel und bei dieser unseligen Witterung nach Verunglückten suchen mussten.

Lovis sah auf sein Mobiltelefon. Schon beim Mittagessen hatte er eine Nachricht an Paul geschickt. »Lass was hören«, hatte er geschrieben. Doch das Häkchen neben der Sprechblase war auch jetzt, drei Stunden danach, einsam und grau.

Um sich abzulenken, scrollte er durch die verschiedenen Netzwerke, bei denen er angemeldet war, stieß zufällig auf den neuen Account des Messner Hofs und schämte sich für seinen Auftritt mit Sherlock-Holmes-Hut in Grund und Boden. Es war ihm schleierhaft, wie der Algorithmus erraten hatte, dass ihn der Post interessieren könnte. Noch mehr wunderte er sich, als er auf einen Beitrag von diesem Ferdinand Prantl hingewiesen wurde. Als hätte das Internet mitangehört, wie er sich am Vormittag mit den anderen über diesen Idioten aus dem Dorf unterhalten hatte.

Es war ein Video. Zwei Skispitzen glitten mit einem leisen Zischen durch den Tiefschnee. Sonst hörte man nur den keuchenden Atem des Skitourengehers  – vermutlich Prantl selbst  – und seinen Kommentar in diesem dialektal gefärbten Standarddeutsch, das so typisch für die Südtiroler war, die versuchten, ›schön‹ zu reden.

»Heute steigen wir hoch hinauf auf den Berg. Durch die Wolken hindurch und bis ganz hinauf auf die Spitze. Oben sollte die Sonne scheinen. Da werden wir auf das Wolkenmeer hinunterschauen und uns ein Schnapsl gönnen und nach dem Schnapsl geaht’s bergab durch unberührte Schneelandschaft. Kommt’s mit und erlebt’s live mit, wie wir unsere Spuren in dem jungfräulichen Schnee hinterlassen.«

Prantl betonte immer die letzten Wörter des Satzes, was die Kommentare wirken ließ wie hingekotzt. Die Spitzen der Skier zischten weiter durch den Schnee. Es hatte beinahe etwas Hypnotisierendes, bis das Ganze im Schnellmodus weiterging. Dann gab es einen Schnitt und Prantl war von Nebel umgeben. Graues, düsteres Nichts, das undurchdringlich schien. Geisterhaft.

Wieder ein Schnitt. Strahlender Sonnenschein.

»Jetzt sind wir bald oben auf dem Gipfel. Wie ich euch prophezeit hab, ist das Wetter oben am Berg schön. Wer’s lieber grau und trüb haben will, kann gern im Tal bleiben. Mich hält nichts im Tal. Schaut’s amol, wie herrlich das hier ist.« Die Kamera schwenkte einmal rundherum. Prantl musste sich in Gipfelnähe befinden, denn zu allen Seiten breiteten sich die schneebedeckten Bergspitzen unter dem blauen Winterhimmel aus. Jetzt erkannte Lovis, dass es die Plose war, von wo der Influencer sein idiotisches Video schickte. In etwa der Gegend, in der die Lawine abgegangen war und wo Paul gerade nach Verschütteten suchte. Ärger stieg in ihm hoch. Dieser Prantl gehörte …

»Da vorn zum Kreuz wollen wir heut. Bei Lawinenwarnstufe drei. Fünf Stufen gibt’s. Also ist das Risiko mäßig«, sagte der Influencer jetzt.

Lovis hätte das Telefon am liebsten gegen die Wand geworfen. Genau das war der Grund, warum bei dieser Warnstufe die meisten tödlichen Unfälle passierten. Es herrschte erhöhte Lawinengefahr, was von Idioten wie diesem Prantl als »mäßiges Risiko« eingestuft wurde. Und dann wunderten sie sich, wenn sie unter den weißen Massen begraben wurden.

Obwohl er sich maßlos ärgerte, schaute er den Bericht weiter an. Prantl befand sich wieder an einem Grat. Rechts und links ging es steil bergab. Im Sommer kein Problem, jetzt im Winter in höchstem Maße gefährlich.

»Man kann den Wanderweg kaum erkennen, der da unten verläuft, aber da ist er. Seht ihr?« Die Spitze eines Skistocks zeichnete den Verlauf des Brixner Höhenwegs nach, auf dem man im Sommer gemütlich von der Bergstation der Kabinenbahn zur Kälberalm wandern konnte. »Wir müssen da rüber.« Der Skistock zeigte auf einen Berggipfel im Osten, auf dem ein Kreuz unter den Schneemassen zu erahnen war. »Aber zuerst probieren wir mal aus, ob der Schnee trägt, gell?«

Lovis blieb das Herz stehen. Der Idiot führte seinen Ski nach vorn und stampfte damit auf und dann … brach ein ganzes Stück der unberührten Schneedecke weg.

»Geil! Schaut mal, so entsteht eine Lawine«, erklärte Prantl und lachte aufgeregt, während er den Weg der Schneemassen ins Tal mit der Kamera verfolgte. Sein Lachen schrillte in Lovis’ Ohren und er sprang auf.

»Dieser Idiot! Dieser dreimal verdammte Idiot!«, brüllte er, sodass Barnabas fragend den Kopf hob. »Der gehört doch eingesperrt! So ein …« Ihm fehlten die Wörter für diesen Prantl. Skifahrerlegende hin oder her, egal, dass er Hunderttausende an Followern hatte, für ihn war der Möchtegern-Influencer einfach nur ein Riesenidiot. Verantwortungslos, fahrlässig … und sowas gehörte hinter Gitter.

Der Bernhardiner stemmte sich auf und kam schwanzwedelnd auf ihn zu, als wolle er sich vergewissern, dass es ihm gut ging. Lovis hockte sich neben ihn und tätschelte den Kopf des massigen Hundes. »Alles gut, du kannst nix dafür.«

---ENDE DER LESEPROBE---