Ein ordentlicher Ritt - Irvine Welsh - E-Book

Ein ordentlicher Ritt E-Book

Irvine Welsh

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Beschreibung

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Juice Terry Lawson ist der unangenehmste Taxifahrer von ganz Edinburgh. Seine männlichen Fahrgäste textet er gnadenlos zu, die Frauen versucht er flachzulegen. Es kann sich eigentlich nur um ein Versehen handeln, dass ausgerechnet der amerikanische Fernsehstar Ronald Checker ihn als seinen Stammfahrer engagiert. Als dann ein Hurrikan die Ostküste Schottlands heimsucht und die Stadt im Chaos versinkt, verschwindet Terrys gute Freundin Jinty. Zuletzt wurde sie im berüchtigten Pub Ohne Namen gesehen. Ronald Checker wird wohl oder übel einen Umweg in Kauf nehmen müssen …

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Das Buch

Juice Terry Lawson ist der unangenehmste Taxifahrer von ganz Edinburgh. Seine männlichen Fahrgäste textet er gnadenlos zu, die Frauen versucht er flachzulegen. Es kann sich eigentlich nur um ein Versehen handeln, dass ausgerechnet der amerikanische Fernsehstar Ronald Checker ihn als seinen Stammfahrer engagiert. Als dann ein Hurrikan die Ostküste Schottlands heimsucht und die Stadt im Chaos versinkt, verschwindet Terrys gute Freundin Jinty. Zuletzt wurde sie im berüchtigten Pub ohne Namen gesehen. Ronald Checker wird wohl oder übel einen Umweg in Kauf nehmen müssen …

Der Autor

Irvine Welsh, geboren 1958 in Leith bei Edinburgh, schreibt Romane und Kurzgeschichten und gilt als einer der wichtigsten Autoren Großbritanniens. Sein Debütroman Trainspotting machte ihn international bekannt und wurde mit Ewan McGregor in der Hauptrolle verfilmt. Welsh lebt in Chicago.

www.irvinewelsh.net

Lieferbare Titel

Trainspotting

Porno

Skagboys

Das Sexleben siamesischer Zwillinge

IRVINE WELSH

EINORDENTLICHERRITT

Aus dem schottischen Englischenvon Stephan Glietsch

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien 2015 bei Jonathan Cape, an imprint of Vintage Publishing, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Vollständige deutsche Erstausgabe

Copyright © 2015 by Irvine Welsh

Copyright © 2016 der deutschen Erstausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Thomas Brill

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München,unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock.com (Iwona Wawro)

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-18771-2V001

www.heyne-hardcore.de

für Robert Robertson– es war auf jeden Fall ein ordentlicher Ritt –

»Ein Intellektueller ist ein Mensch,der etwas Interessanteres als Sex entdeckt hat.«

– Aldous Huxley

TEIL EINS

VORDRECKSACKLICHE UNSCHULD

1   DIE TAXIZEIT

— Du glaubst nich, wen ich gestern in meinem Taxi hatte, protzt »Juice« Terry Lawson. Seinen muskulösen Körper hat er in einen neongrünen Trainingsanzug gehüllt. Der stürmische Wind peitscht durch seine üppigen Korkenzieherlocken und rüttelt an den Wänden der Plexiglasabsperrung, die sich von der Eingangshalle des Flughafens bis zu einer Reihe wartender Taxis schlängelt. Als Terry den Mund zu einem Gähnen aufreißt und sich dabei streckt, rutschen die Ärmel hoch und geben den Blick auf die Goldkettchen an seinen Handgelenken und die Tattoos auf seinen Unterarmen frei. Eines zeigt eine Harfe, die wie ein Eierschneider aussieht. Darüber der Schriftzug HIBERNIAN FC und darunter die Zahl 1875. Das zweite ist ein feuerspuckender Drache. Mit einem lüsternen Zwinkern fordert er: LET THE JUICE LOOSE.

Terrys Kumpel Doughheid, ein dürrer, asthmatisch aussehender Kerl, wirft ihm einen leeren Blick zu. Er steckt sich eine Kippe an und fragt sich, wie viel davon er wegziehen kann, bevor ihn die Lawine neu angekommener Passagiere erreicht, die gerade mit überladenen Gepäckwagen die Rampe herunter auf ihn zurollt.

—Diesen Pisser ausm Fernsehen, klärt Terry ihn auf und kratzt sich durch das Polyester den Schritt.

—Wen meinstn?, murmelt Doughheid und versucht das Gewicht der gestapelten Koffer einer asiatischen Großfamilie abzuschätzen. In Gedanken spornt er den etwas zerstreut wirkenden Passagier hinter ihnen an, sie zu überholen, um nicht so viel schweres Gepäck ins Taxi laden zu müssen. Soll doch Terry sich damit rumschlagen. Der Mann trägt einen langen Kaschmirmantel offen über einem dunklen Anzug, ein weißes Hemd mit Krawatte und eine Brille mit schwarzem Rahmen. Am bemerkenswertesten aber ist der Irokesenschnitt auf seinem Kopf.

Frohlockend beobachtet Doughheid, wie der Kerl einen Zahn zulegt und die anderen überholt. Doch dann hält er plötzlich an, um auf die Uhr zu sehen, während die asiatische Familie an ihm vorbeizieht, und ehe Doughheid weiß, wie ihm geschieht, fallen sie auch schon über ihn her. — Bitte, bitte, schnell, bitte, bitte, quengelt der Patriarch auf ihn ein. Zu allem Überfluss prasselt jetzt auch noch ein Regenguss gegen das Plexiglas.

Terry sieht zu, wie sein Freund sich mit den Koffern abmüht. — Dieser Komiker von Kanal 4. Der Typ, ders mit dieser Kleinen getrieben hat, wie heißt sie noch mal, die mit der Hammerfigur.

Er malt eine Sanduhr in die Luft, weicht einen Schritt zurück und drückt sich zum Schutz vor dem Regen gegen die Absperrung.

Während Doughheid sich keuchend mit den Koffern abmüht, wird Terry auf den Mann mit der Brille, dem langen Mantel und der unpassenden Frisur aufmerksam, der hektisch auf die Tastatur seines Handys eintippt. Terry kennt ihn von irgendwoher, vielleicht gehört er zu einer Band, doch dann fällt ihm auf, dass der Typ älter ist, als sein alberner Hahnenkamm vermuten lässt. Wie aus dem Nichts taucht ein kleinlauter Begleiter auf — kurz geschorenes blondes Haar über einem abgespannten Gesicht — und katzbuckelt sich an ihn heran. — Tut mir echt leid, Ron. Der bestellte Wagen hat eine Panne …

—Geh mir aus den Augen!, blafft ihn der Business-Punk (denn das sieht Terry in ihm) mit amerikanischem Akzent an. — Ich nehme ein Taxi! Lass mein Gepäck einfach ins Hotel bringen!

Hinter seinen rosa gefärbten Brillengläsern bemüht sich der Business-Punk nicht einmal um Blickkontakt, bevor er sich auf die Rückbank von Terrys Taxi schiebt und die Tür hinter sich zuknallt. Sein beschämter Begleiter bleibt schweigend zurück.

Terry steigt ein und startet den Wagen. — Gehtsen hin, Chef?

—Wie bitte? Der Business-Punk starrt über seine lichtempfindlichen Gläser hinweg in einen undurchdringlichen Lockendschungel.

Terry dreht sich zu ihm herum. — Wohin. Soll. Ich. Sie. Fahren.

Der Business-Punk ist sich durchaus bewusst, dass Goldlöckchen da vorne mit ihm spricht wie mit einem Kleinkind. Dieser dämliche Mortimer. Kann sich um nichts vernünftig kümmern. Ihm hab ich diese Scheiße zu verdanken. Seine Hände verkrampfen sich um den Sicherheitsgurt, und er muss trocken schlucken. — Ins Balmoral Hotel.

Das Hotel Amore! Gute Wahl, mein Freund, erwidert Terry, dessen Hirn sofort sämtliche Bräute abruft, die er im Balmoral gefickt hat, wofür sich jedes Jahr zwei besonders gute Gelegenheiten bieten: Das Edinburgh International Festival im August und die Zeit um Hogmanay herum sind durch nichts zu toppen, wenn es darum geht, seine übliche Diät aus Prollmuschis und abgestumpften Pornostars ein wenig aufzumotzen. — Also, was machste so beruflich?

Ronald Checker, seines Zeichens nicht nur einflussreicher Baumagnat, sondern dank der Reality-TV-Serie The Prodigal – Der verlorene Sohn auch bekannter Fernsehstar, ist es nicht gewohnt, unerkannt zu bleiben. Als Spross einer reichen Familie aus Atlanta ist der Harvard-Absolvent in die Fußstapfen seines Vaters getreten und ins Immobiliengeschäft eingestiegen. Ron Checker und sein Erzeuger standen sich nie sonderlich nahe – ein Umstand, der es ihm erleichterte, rücksichtslos die umfangreichen Kontakte des Alten zu nutzen, um möglichst viel Geld zu scheffeln. So überflügelte der Sohn den Vater, und als es ihm im sonnigen Süden der USA zu eng wurde, machte er sich auf, die weite Welt zu erobern. Ron beschloss, den großen Sendern eine TV-Show anzudrehen, in der er selbst als eine jugendlich punkige Südstaaten-Version von Donald Trump auftrat, der ja mit The Apprentice sehr erfolgreich war. Ein befreundeter Designer hatte die Idee mit dem Irokesenschnitt, und einer der Marketingfritzen beim Sender prägte den Slogan »Wer wagt, gewinnt«. Bereits in der dritten Staffel angelangt, ist The Prodigal längst eine weltweit vermarktete Show, und Checker ist sich sicher, dass sie auch im britischen Fernsehen läuft. Obwohl es ihm ein wenig unangenehm ist, fragt er den Fahrer: — Haben Sie schon mal The Prodigal gesehen?

—Nich live, aber kennen tu ich die natürlich, antwortet Terry und nickt. — Diese »Smack My Bitch Up«-Nummer war ja nich jedermanns Sache, aber es gibt Tussis, die stehen auf so n Zeug. Die harte Nummer, verstehste? Nich, dass ich Sexist wär oder so was. Ich richte mich da ganz nach den Damen. Deren Wunsch is mir Befehl. Genauso, wies sich fürn Gentleman gehört. Stimmts oder hab ich recht?

Checker hat Schwierigkeiten, diesen Taxifahrer zu verstehen. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als bestätigend zu grunzen. — Hmm.

—Biste verheiratet, mein Freund?

Derart aufdringliche Distanzlosigkeiten von einem Fremden, zumal von diesem vulgären schottischen Taxifahrer, ist Checker nicht gewohnt. Eben im Begriff, mit einem barschen »Kümmern Sie sich gefälligst um Ihren eigenen Dreck« zu antworten, erinnert er sich im letzten Moment daran, wie sehr ihn sein PR-Team nach dem Fiasko von Nairn bekniet hat, künftig ein wenig mehr auf die Menschen einzugehen und sie für sich zu gewinnen. Eine Charme-Offensive, die dringend nötig war, nachdem er bei einer Immobilienerschließung eine kleine Bucht sowie ein paar denkmalgeschützte Häuschen plattgemacht und einige seltene Enten von ihren Brutplätzen verscheucht hatte. Statt sich über den Golfplatz, die Wohnanlagen und die dadurch entstehenden Dienstleistungsjobs zu freuen, hatten sich die Einheimischen von dem Projekt eher wenig begeistert gezeigt.

Mühsam trotzt Checker seinem gekränkten Ego ein schmallippiges Lächeln ab und lässt sich dann zu einer Antwort herab: Geschieden, dreimal.

Mit einiger Verbitterung denkt er dabei erst an Sapphire, seine dritte Frau, dann — und diesmal verspürt er einen kurzen, stechenden Schmerz — an Margot, die erste Mrs. Checker. Er versucht sich an Monica zu erinnern, die diesen Titel in der Zeit zwischen den beiden anderen trug, kann sich aber kaum ihr Gesicht ins Gedächtnis rufen, was ihn erst erheitert, dann bestürzt. Vor seinem inneren Auge blitzen bloß das grinsende Gesicht eines Anwalts und eine fette achtstellige Summe auf. Für einen Mann, der noch keine vierzig ist, sind drei kaputte Ehen eine besorgniserregende Statistik.

—Autsch! Mein Beileid!, bekundet Terry sein Mitgefühl. — Weiber aufzureißen unds ihnen ordentlich zu besorgen hat mir noch nie Probleme gemacht, verkündet er triumphierend. — Mein treuer Kamerad hier, wie um sich zu vergewissern, greift er sich in den Schritt, — hatte noch nich viele freie Tage, das kannste mir glauben! Einer muss es ja machen. Stimmts oder hab ich recht? Während Terrys Grinsen breiter wird, registriert Checker zum eigenen Erstaunen, dass er den harten Sitz in seinem Rücken nach all den Luxusflugzeugen und Limousinen, in denen er sonst immer herumkutschiert wird, als echte Wohltat empfindet. — Aber sich an die Bräute zu binden, na ja … du weißt ja, wie so was ausgeht! Das Schlimmste, waste tun kannst, is dich zu verlieben. Du verarschst dich selber damit, dasste den Rest deines Lebens nur noch diese eine Tussi vögeln willst. Aber so sind wir nich gestrickt, mein Freund. Also kommt unser steifer Schwanz, der alte Rumtreiber, nach n paar Monaten wieder raus zum Spielen! Das is so sicher wie das Amen inner Kirche!

Checker merkt, wie ihm das Blut ins Gesicht schießt. In was für eine neumodische Inkarnation der Hölle hat ihn Mortimer diesmal geschickt? Erst hatte er wegen technischer Probleme beim Learjet die Schmach eines Linienfluges ertragen müssen, und nun auch noch das!

—Mir steckt keine mehr nen Ring an den Finger. Terry senkt die Stimme und wirft einen verschwörerischen Blick Richtung Rückbank. — Hör zu, mein Freund. Wennste mal einen wegstecken willst, gibste einfach Bescheid. Ich bin dein Mann! Kann dir in dieser Stadt fast alles besorgen. Wills nur gesagt haben!

Ron Checker kann höchstens raten, was der Kerl da »nur gesagt haben will«. Dieser Penner hat tatsächlich keinen Schimmer, wer ich bin! Doch durch die Welle seiner Verachtung für den Taxifahrer hindurch spürt Ronald Checker noch etwas anderes: ein aufgeregtes Phantomkribbeln darüber, vom Rest der Welt abgekoppelt, seinem Schicksal überlassen, wieder ein Reisender zu sein, kein verhätschelter Tourist, sondern eher so wie damals als Student. Und diese harten Sitze tun seinem Rücken richtig gut! Es scheint seltsam, aber Checker gesteht sich diese Gefühle zu, diesen dank seiner jüngsten Scheidung befreiten Teil seiner selbst, und er genießt es sogar! Warum auch nicht? Immerhin kommt er doch gerade ganz gut allein zurecht, ohne dass ein inkompetenter Arschkriecher wie Mortimer um ihn herumschleimt. Soll er sich etwa von der Vorstellung bremsen und einschränken lassen, die sich andere Menschen von Ronald Checker machen? Ist es etwa kein Spaß, mal eine Weile jemand anders zu sein? Und dieser Rücken! Vielleicht war die Zeit einfach reif. — Danke für das freundliche Angebot … ähm …

—Terry, Alter. Terry Lawson, aber man nennt mich Juice Terry.

—Juice Terry …, wiederholt Checker befremdet den Namen. — Erfreut, dich kennenzulernen, Juice Terry. Ich bin Ron. Ron Checker. Im Rückspiegel sucht er das Gesicht des Fahrers nach irgendwelchen Hinweisen ab, dass dieser ihn erkennt. Nichts. Dieser Witzbold weiß wirklich nicht, wer ich bin, so selbstbesoffen ist er von seinem eigenen unbedeutenden, trivialen Leben. Doch das hat er in Schottland schon einmal erlebt, damals während des Nairn-Debakels.

—Check die da aus!, geifert Juice Terry angesichts eines, wie Checker findet, ziemlich durchschnittlichen jungen Mädchens, das an einem Fußgängerüberweg wartet.

—Ganz … reizend, zwingt er sich, dem Taxifahrer beizupflichten.

—Bei dem Anblick geht mir doch glatt einer ab!

—Schon klar … Hör mal, Terry, hebt Checker an, dem plötzlich eine Idee kommt, — ich liebe diese Taxis. Die Sitze tun meinem Rücken richtig gut. Ich würde dich gerne für eine Woche mieten. Du fährst mich in der Gegend herum, zu ein paar Sehenswürdigkeiten und zu ein oder zwei Geschäftsterminen ein bisschen weiter im Norden. Ich muss ein paar Verhandlungsgespräche in einer Brennerei in Inverness führen und würde bei der Gelegenheit gern ein wenig meiner Begeisterung für den Golfsport frönen. Hin und wieder werden wir über Nacht bleiben – natürlich nur in den besten Hotels.

Terry horcht auf, schüttelt dann aber den Kopf. — Sorry, Alter, hab in den nächsten Tagen schon alle Schichten voll verplant.

Checker, der es nicht gewohnt ist, Absagen zu bekommen, blickt ihn ungläubig an. — Ich zahle dir das Doppelte von dem, was du in einer Woche verdienst!

Die Antwort besteht aus einem fetten Grinsen, gerahmt von einem dichten Lockenschopf, und den Worten: — Kann dir leider echt nich helfen, mein Freund!

—Was? Checkers Stimme überschlägt sich vor Fassungslosigkeit. — Fünfmal so viel! Sag mir, wie viel du in einer Woche verdienst, und ich zahle dir das Fünffache!

—Alter, so viel wie jetzt hab ich das ganze Jahr nich zu tun, in der Zeit vor Weihnachten und Hogmanay is es noch krasser als beim verdammten Festival. Ich mach grad zwei Riesen die Woche, lügt Terry. — Ich kann mir nich vorstellen, dasste mir zehn Riesen die Woche zahlst, nur damit ich dich in der Gegend rumkutschiere!

—Also gut, der Deal gilt!, juchzt Checker triumphierend, greift in seine Tasche und zieht ein Scheckbuch hervor. Während er damit Terrys Hinterkopf zuwedelt, ruft er: — Haben wir einen Deal?

—Hör mal, Alter, dabei gehts nich nur um die Knete. Ich hab Stammkunden, die sich auf mich verlassen. Und ich hab auch sonst noch was zu tun, wennste verstehst, was ich meine. Terry dreht sich zu ihm um und tippt sich an die Nase. — Ich formuliers mal businessmäßig: Für ne einmalige Sache kann ich nich mein Kerngeschäft aufs Spiel setzen. Ich hab nen Kundenstamm zu pflegen. Is meine Haupteinnahmequelle, da kann ich mich nich in irgendwelchen Nebenprojekten verheddern, so lukrativ die auf kurze Sicht auch sein mögen.

Terry kann im Rückspiegel sehen, dass seine Worte Checker zu denken geben. Er ist zufrieden mit sich, auch wenn er gerade bloß seinen Freund Sick Boy zitiert hat, der die Pornofilme dreht, in denen Terry gelegentlich mitspielt.

—Aber ich könnte dir anbieten …

—Sorry, keine Chance, Alter.

Checker ist baff. Doch im tiefsten Innern spürt er, dass an diesem Kerl irgendwas dran ist. Vielleicht sogar etwas, das er gebrauchen kann. Dieses Gefühl lockt Ronald Checker ein Wort über die Lippen, das er, soweit er sich erinnert, nicht mehr ausgesprochen hat, seit er in der Grundschule war. — Terry … bitte … Entsetzt schnappt er nach Luft, als ihm klar wird, was er da gerade gesagt hat.

—Also schön, mein Freund, sagt Terry und grinst in den Rückspiegel, — wir sind beide Geschäftsleute. Deshalb bin ich mir sicher, dass wir uns schon irgendwie einig werden. Nur eins möchte ich vorher klarstellen, Terrys Kopf wirbelt herum, — diese Übernachtungen im Hotel … da gibts keine Popopiraterie, nur dass wir uns verstehen!

—Was?! Selbstverständlich nicht, protestiert Checker, — ich bin doch keine verdammte Schwuchtel …

—Schon gut, is kein Problem für mich, wenn das dein Ding ist. Weißte, ich komm selber ganz gerne mal durch die Hintertür, aber n haariges Arschloch, unter dem n paar Dörrpflaumen baumeln, nee, dafür is unser Juice hier einfach nich zu haben. Terry schüttelt entschieden den Kopf.

—Nein … was das betrifft, hast du nun wirklich nichts zu befürchten, sagt Checker, zuckt ob des üblen Nachgeschmacks des Gesagten zusammen und würgt die bittere Pille des Machtverlusts hinunter.

Das Taxi hält vor dem Balmoral. Hotelpagen, die Ron Checkers Ankunft offensichtlich bereits erwarten, lassen im wahrsten Sinne des Wortes alles stehen und liegen — in einem Fall sogar das Gepäck eines anderen Gastes —, um auf das Taxi des Amerikaners zuzueilen, als dieser aus dem Wagen steigt. Der Wind hat aufgefrischt. Eine plötzliche Böe weht Checkers ölig glänzende, schwarz gefärbte Tolle gen Himmel und fächert sie pfauenartig auf. Er beugt sich noch einmal zum Fahrerfenster herab.

Terry Lawson, der sich der herbeieilenden Pagen sehr viel bewusster ist als Ronnie Checker, nimmt sich alle Zeit der Welt und genießt es, betont langsam auf sein Handy einzutippen, als die beiden Männer ihre Kontaktdaten austauschen. Beim Händeschütteln drückt Terry angriffslustig so fest wie möglich zu, um seinem Gegenüber jede Möglichkeit zu nehmen, ihm seinerseits die Finger zu quetschen. Denn er geht davon aus, dass Checker einer dieser Kerle ist, die ihren dominanten Händedruck ganz bewusst trainieren.

—Ich melde mich dann, sagt Ronald Checker und stellt ein komplett charmebefreites Lächeln zur Schau, wie es den meisten Menschen wohl höchstens als Reflex und unter Ausschluss der Öffentlichkeit entschlüpfen würde. Beispielsweise dann, wenn ein glücklicher Zufall sie Zeuge werden lässt, wie ein zutiefst verhasster Rivale vom Bus überfahren wird. Terry blickt dem Amerikaner nach, der beschwingten Schrittes davonmarschiert und sich vergeblich bemüht, sein Haar gegen die Zudringlichkeit der Windböen zu schützen, bis er schließlich sichtbar erleichtert einen unterwürfig grinsenden Portier passiert.

Verschnupft stellen die Pagen fest, dass es im Taxi kein Gepäck zu holen gibt, und starren den Fahrer misstrauisch an, als wäre Terry irgendwie dafür verantwortlich, dass sie leer ausgehen. Terry wirft sich drohend in Pose, aber er hat heute weiß Gott dringendere Dinge zu erledigen. Diesen Nachmittag wird nämlich sein alter Freund Alec beerdigt. Also fährt er nach Hause in die South Side, zieht sich um und ruft seinen Kumpel Doughheid an, damit dieser ihn zum Rosebank-Friedhof chauffiert.

Doughheid steht pünktlich vor der Tür, und Terry lässt sich dankbar auf die Rückbank des Taxis fallen. Es ist eine ältere, nicht mehr ganz so geleckte und in Schuss gehaltene Version seines geliebten TX4 der London Carriage Company, und in der spartanischen Fahrgastkabine beschleicht Terry das Gefühl, übertrieben aufgetakelt zu sein in seinem schwarzen Samtjackett, der grauen Flanellhose und dem gelben Hemd, das er zwar ohne Krawatte, aber bis obenhin zugeknöpft trägt. Einige seiner störrischen Korkenzieherlocken haben sich aus dem Haargummi befreit, mit dem er sie zurückgebunden hat. Sie fallen ihm immer wieder störend in die Augen, als er die wenigen Muschis mustert, die ihnen auf dem Weg nach Pilrig begegnen. In der Gegend um den Stadtpark und den Friedhof macht die Vorstadt einen frostigen und schäbigen Eindruck. Terry verabschiedet sich von Doughheid und steigt aus dem Taxi. Sofort bestürmt ihn der eiskalte Nieselregen. Dies ist seine erste Beerdigung, und es hatte ihn überrascht zu hören, dass Alecs Beisetzung nicht an einem der üblichen Orte wie Warriston oder dem Seafield-Krematorium stattfinden würde. Wie sich herausstellte, hat die Familie hier in Pilrig vor vielen Jahren ein Grab erworben, wo Alec nun neben seiner verstorbenen Frau Theresa beigesetzt wird, die auf tragische Weise bei einem Feuer ums Leben kam. Terry war zwar seit seinem sechzehnten Lebensjahr mit Alec befreundet gewesen, hatte Theresa aber nie kennengelernt. Da sein Freund allerdings gelegentlich von tränenreichen Anfällen alkoholinduzierten Selbstmitleids und wortreichen Wehklagens heimgesucht wurde, brachte Terry über die Jahre die ganze tragische Geschichte in Erfahrung: Das Feuer, das zum Tod seiner Frau führte, hatte Alec selbst gelegt, als er besoffen mit der Fritteuse hantierte.

Terry schlägt den Kragen des Jacketts hoch und schließt sich einer großen Gruppe von Trauergästen an. Ganz schön viel los. Ihm war immer schon klar gewesen, dass Alecs Dahinscheiden einmal Anlass für einen ausgewachsenen Alki-Kongress sein würde. Überrascht ist Terry lediglich darüber, dass die vielen bekannten Gesichter, deren Besitzer er entweder unter der Erde oder im Gefängnis vermutet hatte, offenbar bloß deshalb von der Bildfläche verschwunden waren, weil sie sich seit Einführung des Rauchverbots nur noch bis zu ihrem lokalen Supermarkt wagten.

Nicht alles hier riecht nach Sozialbau-Mief. Während die anderen Autos draußen an der Straße parken, rollt ein grüner Rolls-Royce wie selbstverständlich durch das Eingangstor. Sehr zum Verdruss der irritierten Friedhofsgärtner manövriert der Rolls auf dem knirschenden Schotter bis auf wenige Zentimeter an die Grabsteine heran, bevor ihm zwei Männer in teuren Anzügen und protzigen Mänteln entsteigen. Einer der beiden ist ein Gangster, den Terry als »Die Schwuchtel« kennt. Der andere ist jünger, hat ein schmales Gesicht, verschlagene Augen und ist nach Terrys Dafürhalten in körperlicher Hinsicht zu unscheinbar, um dessen Leibwächter zu sein.

Ihr großer Auftritt erregt die Aufmerksamkeit sämtlicher Trauergäste, nur Terry ist längst wieder auf Muschisuche. Die Erfahrung hat ihn gelehrt, dass jeder Mensch anders mit seiner Trauer umgeht. Beerdigungen sind deshalb, wie Hochzeiten und Feiertage, geradezu prädestiniert, um Weiber aufzureißen. Diesen Gedanken im Hinterkopf, erinnert er sich daran, dass die Stadtverordnete Maggie Orr neulich wieder ihren Mädchennamen angenommen und sich vom hinteren Teil des unhandlichen Orr-Montague verabschiedet hat, welches sie jenem Rechtsanwalt zu verdanken hatte, von dem sie erst kürzlich geschieden wurde. Terry ist mit zweierlei Informationen gewappnet: zum einen, dass sich Alecs Nichte sehr gut gehalten hat, zum anderen, dass eine Trennung und ein Trauerfall gleich doppelte Verwundbarkeit bedeuten. Eine Fügung, die ihm mit ein bisschen Glück die gute alte Maggie zurückbringen könnte: das unsichere Mädchen aus Broomhouse und nicht die gewiefte Karrierefrau, in die sie sich dank eines Selbstverwirklichungstrips verwandelt hat.

Er braucht nicht lange zu suchen. Sie steht in der Nähe eines großen Grabsteins in Form eines keltischen Kreuzes, trägt ein dunkles Kostüm, spricht mit einer Gruppe von Trauergästen und zieht zwischendurch sanft an einer Zigarette. Immer noch ganz proper, denkt Terry und leckt sich den Schweiß von der Oberlippe. Als sich ihre Blicke begegnen, erlaubt er sich, erst den Anflug eines Lächelns und dann ein trauriges Nicken mit ihr auszutauschen.

Stevie Connolly, Alecs Sohn, schlängelt sich durch die Menge zu ihm durch. Stevie ist ein drahtiger Bursche, der immer ein wenig wirkt, als würde er jeden Moment in die Luft gehen. Eine Ausstrahlung, die er von seinem Vater geerbt hat. — Du hast doch die Leiche meines Dads gefunden, stimmts?

—Stimmt. Sah so aus, als wenn er friedlich gestorben is.

—Du warst sein Freund, sagt Stevie, was wie ein Vorwurf klingt.

Terry ruft sich ins Gedächtnis, dass Vater und Sohn sich nie sonderlich nahestanden, und bis zu einem gewissen Grad kann er sich sogar in Stevie hineinfühlen. Immerhin ist das zerrüttete Verhältnis zu seinem eigenen Vater ebenfalls von Entfremdung geprägt. Dennoch ist er unsicher, wie er auf Stevies unterschwelligen Vorwurf reagieren soll. — Ja, wir haben zusammen den Fenster-Job gemacht, antwortet er bewusst vage und erinnert sich an ein weiteres ereignisreiches Kapitel seines Lebens. Die kaum verhohlene Skepsis in Stevies finsterem Blick scheint zu sagen: »Und die verdammten Einbrüche« — doch bevor er es laut aussprechen kann, läuten die Glocken, und die Trauernden scharen sich langsam um die Grabstelle. Als der Pastor zu reden beginnt, dankt Terry seinem Freund Alec im Stillen dafür, dass er, obwohl eigentlich Katholik, Anweisungen für eine möglichst kurze und säkulare Bestattung hinterlassen hat — mit anderen Worten: eine Zeremonie in der Tradition der Church of Scotland. Der Pastor macht ein paar unverfängliche Bemerkungen, die sich im Wesentlichen darum drehen, dass Alec ein geselliger Mensch war, der seine geliebte Theresa vermisst hat, die ihm auf grausame Weise genommen wurde. Nun seien sie wieder zusammen, nicht nur symbolisch, sondern für alle Zeit.

Einige Psalme werden gesungen, wobei sich der Pfaffe tapfer bemüht, etwas Enthusiasmus unter den Mitgliedern des vermutlich dünnsten und zaghaftesten Chors in der Geschichte der Christenheit zu schüren, der zudem nicht einmal auf die hilfreiche Akustik eines Kirchenschiffs bauen kann. Es folgt eine kurze Ansprache von Stevie, dem es mit Mühe und Not gelingt, seinen Groll auf Alec und dessen Rolle beim Tod seiner Mutter zu verbergen. Danach lädt er jeden, der sich bemüßigt fühlt, dazu ein, ans Mikrofon zu treten und ein paar Worte zu sagen, was bei den Anwesenden erst einmal zu nervöser Stille und intensivem Studium des nassen Rasens führt.

Schließlich lässt sich Terry von Stevie und Maggie beknien und steigt auf die Kiste hinter dem Mikro, um eine Rede zu halten. Sein Blick schweift über das Meer der Gesichter, und er präsentiert den Anwesenden das, was er für ein gewinnendes Lächeln hält. Dann klopft er gegen das Mikrofon, wie er es bei den Stand-up-Comedians auf dem Edinburgh Fringe Festival gesehen hat.

—Als Alec die Diagnose bekommen hat und ihm klar wurde, dass es keinen Weg zurück gibt, da hat er sich in ein gewaltiges Besäufnis gestürzt. Hat sich quer durch die Vorräte vom Lidl gesoffen! Denn so war Alec, johlt Terry und wartet auf den Ausbruch von Gelächter.

Doch um das Grab herum herrscht überwiegend Stille. Die wenigen Reaktionen, soweit sich überhaupt jemand dazu hinreißen lässt, bestehen entweder aus halb ersticktem Kichern oder entsetztem Keuchen. Maggie schüttelt den Kopf und blickt bedauernd zu Stevie, an dessen geballten Fäusten sich die Knöchel weiß färben. Durch die Zähne, so fest zusammengebissen, dass sie zu brechen drohen, zischt er die Worte: — Glaubt der Scheißkerl etwa, er wäre Trauzeuge auf ner Säuferhochzeit?

Terry, der davon nichts mitbekommt, entscheidet sich, den eingeschlagenen Pfad weiterzugehen, und erhebt erneut die Stimme über das allmählich aufkommende Murren. — Dann hat er beschlossen, seine Rübe in den Ofen zu stecken. Aber da Alec nun mal Alec is, schnauft Terry, — war der Arsch schon so blau, dass er den Kühlschrank für den beschissenen Ofen gehalten hat! Entschuldigt meine Ausdrucksweise, aber genauso wars. Also macht er den unteren Gefrierschrank auf, kriegt aber den Kopf nich ins Eisfach, wegen dem Drahtkorb und den McCain-Ofenpommes. Dann hat er seine Birne in die Plastikschublade darunter gesteckt und sie vollgekotzt! Terrys Gelächter schallt über den kalten, nassen Friedhof. — Bei jedem andren würde mans wohl auf die Medikamente schieben, aber Leute, mal unter uns, wir sprechen hier von Alec!

Stevies Gesicht legt sich in Falten der Empörung, als er das hört, und er beginnt zu hyperventilieren. Flehend sieht er Maggie und die anderen Verwandten an. — Was erzählt der Typ denn da! Hä? Was soll das alles?

Doch Terry, die Locken vom Wind zerzaust, hat nun einmal das Wort, und er ist jetzt so in Fahrt, dass ihm die Reaktion der Trauergemeinde völlig entgeht. — Die Kühlschranktür war zwar offen, aber nachts wurds so kalt, dass sein Kopf, als sie ihn am Morgen gefunden ham, in nem massiven Block gefrorener Kotze gesteckt hat, vom Kinn bis zum Nackenansatz. Aus irgend nem Grund war in der Kotze n Apfel eingefroren. Als wenn der Arsch versucht hätte, danach zu tauchen, bevor er abgetreten is! Aber so war er halt, unser Alec, stimmts? Terry legt eine rhetorische Pause ein. Ein paar Beifallsrufe ertönen, ein paar Köpfe werden geschüttelt. Terrys Blick sucht Stevie, der von Maggie mit festem Griff zurückgehalten wird. — War immer fürn Drink zu haben, unser Alec! Is aber toll zu sehen, dass er neben seiner geliebten Theresa begraben wird …, sagt Terry und weist auf das Grab neben dem, um das sie sich gerade scharen. Dann deutet er auf ein Stück Rasen zwischen den beiden Grabstellen. — Da hamse die olle Fritteuse verscharrt, genau zwischen den beiden, sagt er mit unbewegter Miene. Manchen stockt vor Entsetzen der Atem, während andere das Gelächter kaum noch unterdrücken können. — Wie auch immer, das wars von mir. Wir sehen uns dann gleich in der Kneipe, um einen auf den Jungen zu heben, beendet Terry seinen Vortrag und hüpft von der Kiste in den Pulk der Trauernden hinein, die vor ihm zurückweichen, als hätte er eine ansteckende Krankheit.

Der Rest der Feier vergeht ohne weitere Zwischenfälle, auch wenn einigen Trauergästen das Wasser in die Augen steigt, als das unvermeidliche »Sunshine on Leith« aus der klapprigen Lautsprecheranlage scheppert, während der Sarg ins Grab gelassen wird. Terry friert zu sehr, um so lange auszuharren, und schlurft davon. Das Guilty Lily, wo der Leichenschmaus stattfindet, ist nur ein paar Meter die Straße runter. Er ist der Erste im Pub und erleichtert, an diesem schäbigen, feuchtkalten Tag endlich im Warmen zu sein. Obwohl nicht einmal vier Uhr, ist es draußen bereits stockdunkel. Eine trübsinnige Bardame deutet stumm auf einen weiß gedeckten Tisch voller Gläser mit Bier, Whisky und Wein, und einen anderen, auf dem ein Büfett aus traditionellen Beerdigungs-Snacks wie Miniwürstchen im Schlafrock und Schinken-Käse-Sandwiches angerichtet ist. Terry eilt aufs Klo und macht sich mit einem Näschen Koks frisch, bevor er an die Bar zurückkehrt, um sich eine Flasche Bier zu holen. Gerade als er es sich am Tresen bequem macht, trudeln die Trauergäste ein. Terry, der bei ihrem Eintreten nur Augen für Maggie hat, entgeht Stevies gereizte Stimmung weiterhin völlig. Während sie mit elegantem Schritt zum Kamin am anderen Ende des Raums gleitet, fragt er sich, wie lange es wohl dauern wird, bis sie sich dazu überwindet, ihn anzusprechen.

Maggie tröstet und beschwichtigt den angespannten Stevie in der Hoffnung, dass sein Zorn wieder verraucht. Sie hat ihn möglichst weit weg von Terry gelotst, dessen Anblick sie an ihre ersten Techtelmechtel mit ihm erinnert. Daran, dass sie ihn damals (was ihr heute regelrecht pervers erscheint) dem süßen und erfolgreichen Carl Ewart vorgezogen hat, der hoffnungslos in sie verknallt war. Aber Terry hatte dieses bombastische Selbstvertrauen, und das scheint sich bis heute nicht geändert zu haben. So großkotzig, wie er sich da am Tresen auf dem Barhocker in Szene setzt, kommt sie einfach nicht umhin zu bemerken, dass er immer noch recht vorzeigbar aussieht. Offenbar achtet er auf seinen Körper, hält sich fit, und so unglaublich das auch scheint: Er hat immer noch diese nicht zu bändigende Lockenmähne. Sein Haar ist weder dünner noch grauer, obwohl sie vermutet, dass er — zumindest was Letzteres betrifft — mit einer Spülung nachhilft.

Maggie kann der Versuchung nicht widerstehen, in einem der bodentiefen Fenster einen verstohlenen Blick auf ihr eigenes Spiegelbild zu werfen, und tut dabei so, als würde sie in die Dunkelheit hinausschauen. In jüngeren Jahren hatte sie ihre geringe Körper- und Körbchengröße nicht gerade als Segen empfunden, doch jetzt, wo sie sich ihren Vierzigern nähert, ist sie zunehmend dankbar dafür. Beides macht sie unanfälliger für die gnadenlosen Verwüstungen der Schwerkraft, und jegliche Tendenz ihres Fleisches, dennoch gen Boden zu streben, wird von ihrer Manie für gesunde Ernährung, von diszipliniert eingehaltenen moderaten Essensportionen und rigidem Fitnesstraining durchkreuzt. Außerdem kann Maggie an keinem Spa vorbeigehen und verwöhnt sich allzu gern mit hochpreisigen Hautpflegeprodukten und Peelings. Dass sie häufig für die ältere Schwester ihrer Tochter gehalten wird, ist für diese elfenhafte Frau eine Quelle stiller Genugtuung.

Als sie den Blick von ihrem Spiegelbild löst, sieht sie sich von Terry auf frischer Tat ertappt: Ein dickes Grinsen huscht über sein Gesicht, und ihr wird ganz mulmig zumute. Mit warnend erhobenem Finger steht er auf und kommt auf sie zu. Hab ich dich erwischt! Hast dich selber im Fenster bewundert! Is kein Vorwurf, ich steh ja auch auf das, was ich da grad vor mir seh!

Maggie spürt, wie eine unsichtbare Hand ihre Mundwinkel zu einem Lächeln hochzieht. — Du hast dich auch ganz gut gehalten, Terry.

—Man tut, was man kann, erwidert er und zwinkert ihr zweideutig zu.

Er hat sich keinen Deut geändert, denkt Maggie. Der Typ ändert sich nie. Sie blickt zum Kamin. Stevie hat ein Glas mit Whisky in der Hand und bedankt sich gerade bei einem älteren Paar fürs Kommen.

—Wie läufts denn so?, fragt Terry, doch noch bevor sie ihn ins Bild setzen kann, beantwortet er sich die Frage selbst. — Is so einiges passiert, was? Die Scheidung. Und deine Kleine is weg, um irgendwo zu studieren. Hab ich zumindest läuten gehört.

—Deine Quellen scheinen gut unterrichtet zu sein. Maggie hebt ihr Whiskyglas an die Lippen.

—Und du bist solo, strahlt Terry sie an und lässt die Bemerkung so klingen, als wäre das eine Tatsache.

Maggie entscheidet sich, es als Frage zu verstehen und das Ganze mit einer Gegenfrage zu beantworten. — Wer sagt, dass ich solo bin?

—Du hast nen neuen Kerl? Der Typ darf sich glücklich schätzen! Das kannste mir aber glauben!

—Davon habe ich nichts gesagt.

—Ach so? Was isses dann?

—»Es« ist mein Privatleben, und das geht dich gar nichts an!

Terry breitet die Arme aus. — Ach, komm! Darf ich nich mal ne alte Freundin trösten, in ner Stunde der Not?

Maggie will gerade entgegnen, dass Terrys sozialer Status dank seines Massentröstungsversuchs bei der Beisetzung momentan in etwa dem eines Aussätzigen entspricht. Doch da kommt Stevie auf sie zu, und in seinen Augen funkelt die pure Mordlust. — Was sollte das eben? Diese Rede?, schnauzt er Terry an und starrt ihn nieder.

—War ne echte Gratwanderung, nickt Terry, dem offenbar immer noch nicht auffällt, dass Stevie vor Wut schäumt. — Ich wollte Alec so gut dastehen lassen, wies geht, aber der Familie auch ne Chance geben, ihren Frieden zu machen, erklärt er nicht ohne Stolz. — Ich find, ich habs ganz gut hingekriegt, wenn ich das mal so sagen darf. Er fischt sein Handy aus der Hosentasche und öffnet den Fotoordner. — Hab n paar Fotos mit meinem Handy geknipst. Sehen aus wie das Kunstzeug von diesem Damien Hirst. Schaus dir an, fordert er Stevie auf und hält ihm das Smartphone vors Gesicht.

Stevie hat Alec nie sonderlich nahegestanden, aber das Bild vom eingefrorenen Kopf seines Vaters, aus dessen Mund sich gelbes Erbrochenes schlängelt, ist zu viel für ihn. — Ich will das nicht sehen! Verpiss dich gefälligst!

—Komm schon, Alter! Mach deinen Frieden damit!

Stevie versucht, Terry das Handy aus der Hand zu reißen. Doch Terry stößt ihn vor die Brust, und er stolpert zurück. — Lass lieber gut sein, Jungchen, sonst machste dich noch vor versammelter Mannschaft zum Affen … heute is Alecs Tag …, warnt Terry ihn.

—SCHEISSE! FICK DICH DOCH, LAWSON!, stößt Stevie hervor, als zwei Verwandte herbeieilen, um ihn wegzuziehen. — Dieser Wichser ist völlig geisteskrank … seht doch, was er da für Fotos auf seinem Handy hat …, brüllt er, während er protestierend zur anderen Seite des Raums gezerrt wird.

—Da bemühste dich nach Kräften, sagt Terry zu Maggie, — diesen Leutchen, der Familie und so, die Chance auf nen friedlichen Abschied zu bieten, und so wirds dir gedankt!

—Du bist völlig verrückt, sagt Maggie auf wenig schmeichelhafte Weise. In ihren Augen steht die schiere Fassungslosigkeit. — Du hast dich wirklich kein bisschen geändert!

—Ich weiß halt, was ich an mir hab, erwidert Terry stolz, doch Maggie ist schon wutschnaubend davongestürmt, um ihren Cousin zu beruhigen. Die Kleine war immer schon ne hochnäsige Kuh, denkt er. Außerdem hat Stevie sich nie mit Alec verstanden, was soll also diese beschissene Heuchelei, hier einen auf trauernden Sohn zu machen?

Anscheinend hat Terry nun auch noch die Aufmerksamkeit von jemand anderem erregt, denn die Schwuchtel kommt gerade zielstrebig auf ihn zu. Trotz der teuren Designeranzüge und Button-down-Hemden wirkt die Schwuchtel irgendwie immer leicht knitterig. Der Kerl sieht ständig aus, als hätte er die ganze Nacht in seinen Klamotten geschlafen und wäre gerade aus den Federn gescheucht worden. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass die Schwuchtel nahezu blind ist und ihn die zusammengekniffenen Maulwurfsäuglein erst recht ziemlich verpennt wirken lassen. Für einen brutalen Sadisten ist die Schwuchtel verblüffend zimperlich, was die eigenen Augen betrifft. Laserchirurgie ist tabu, und auch vor Kontaktlinsen graut es ihm — wegen des Gefummels. Außerdem neigt er zu übermäßigen Schweißausbrüchen, weshalb alles, was er anzieht, in null Komma nichts schmuddelig aussieht. Er hat schon die besten Schneider Edinburghs (und einige der besten Schneider Londons) zur Verzweiflung getrieben. Ganz egal, wie sehr sich diese Zierden ihrer Zunft bemühen: Die Verwandlung vom Edelmann zum Bettler vollzieht die Schwuchtel in maximal vier Stunden.

Dessen jüngerer Begleiter steht derweil mit versteinertem Gesicht, einem Drink in der Hand, den Rücken gegen die Backsteinsäule gelehnt, in der Mitte des Schankraums und mustert verschlagen die wenigen jungen Frauen der Gesellschaft.

Terry richtet seinen Blick wieder auf die Schwuchtel. Er erinnert sich, dass in den Siebzigern so ziemlich jeder Schüler der Forrester High School mal »Schwuchtel« gerufen wurde. Die einzige ernst zu nehmende Konkurrenz im Kampf um den Titel des beliebtesten Schimpfworts war damals vermutlich »Wichser«. Aber die Schwuchtel war die Schwuchtel. Immerzu drangsaliert und schikaniert, hatte sich die Schwuchtel — statt den üblichen Weg der Rache einzuschlagen und Polizist zu werden, um es der Welt heimzuzahlen — zum obersten Gangster aufgeschwungen.

Natürlich weiß Terry, dass die Schwuchtel streng genommen gar nicht schwul ist und dass er selbst zu den wenigen Menschen gehört, die Victor Syme noch immer bei dessen altem Spitznamen nennen. Was nicht ganz ungefährlich ist, da die Schwuchtel ihren Aufstieg nach ganz oben vor allem der Tatsache zu verdanken hat, ein abartig grausamer Mistkerl zu sein. Doch Terry kann einfach nicht anders, als in Victor unbewusst immer noch den beknackten kleinen Arsch im braunen Dufflecoat zu sehen, dem er in der großen Pause vor dem Verkaufswagen des Bäckers immer das Schulbrot weggenommen hat.

Erst als die Schwuchtel aus heiterem Himmel Evan Barksdale mit einem Schraubenzieher attackierte, kam die Wende. Barksdale war ein mieser Schulhofschläger gewesen. Er und sein Zwillingsbruder hatten die Schwuchtel so lange mit systematischen Grausamkeiten gequält, bis Victor Syme schließlich in blinder Raserei jenes psychotische Blutbad anrichtete, das die Welt und auch Syme selbst dazu veranlasste, seinen Ruf und Status völlig neu zu definieren. Frei nach dem Frankenstein-Prinzip hatte Evan Barksdale unwissentlich ein Monster erschaffen, das erheblich gefährlicher war, als er oder sein Bruder es je sein würden. Natürlich hatte dieses Monster auf seiner ganz persönlichen, mit Gewalttaten gepflasterten Straße nach Damaskus einiges an Schmerz und Verlust zu bewältigen, doch dank Barksdales Schikanen war es bestens gewappnet: Verglichen mit dem Terror, den Victor Syme bereits durchlitten hatte, schien alles andere belanglos.

Als die Schwuchtel sich ihm nähert, spürt Terry, wie er unwillkürlich die Arschbacken zusammenkneift. Dieser Scheißkerl bedeutet Ärger. Terry hat schon früher mal Geschäfte mit der Schwuchtel gemacht, Kokain an die Matrosen der Marinebasis in Helensburgh geliefert, bis er von der dortigen Security erwischt und das Pflaster zu heiß für ihn wurde. — Terry … Ein vertrauter Geruch nach Kohlstrunk schlägt ihm entgegen.

—Sorry, Vic. Mir is jetzt klar, dass ich mich bei meiner Rede wohl n bisschen im Ton vergriffen hab, gesteht Terry zähneknirschend ein und versucht aus den Augenwinkeln zu ermitteln, wo der junge Handlanger der Schwuchtel gerade steckt.

—Scheiß doch drauf! Das war brillant! Diese Ärsche ham halt keinen Sinn für Humor. Die Schwuchtel schüttelt den Kopf. — Alec hätt sich den Arsch weggelacht. Das war sein Tag heute, nich deren Tag, sagt er und wirft der trauernden Familie einen tadelnden Blick zu.

Terry ist derart erleichtert, dass er alle Vorsicht fahren lässt und auf diese Weise noch empfänglicher für den nachfolgenden Vorstoß der Schwuchtel ist, als er es normalerweise wäre. — Hör zu, ich brauch nen klitzekleinen Gefallen von dir. Ich mach für ne kurze Zeit nach Spanien rüber, zwei oder drei Wochen vielleicht. Die Schwuchtel senkt die Stimme. — Nur zwischen uns zwei beiden: Mir wird der Boden hier grad ein wenig zu heiß. Du musst für mich ein Auge auf den Saunaclub haben. Das Liberty – der Laden unten am Leith Walk.

Terry spürt, wie ihm sein schlappes Nicken langsam verreckt. — Ähm, ich hab eigentlich nich so richtig Ahnung von diesen Saunaclubs …

—Klar haste die, wischt die Schwuchtel den Einwurf mit einem abschätzigen Winken seiner ringgeschmückten Hand beiseite. — Außerdem hab ich gehört, dass du immer noch im Pornogeschäft bist, mit diesem Kerl, wie heißt er noch, unten in London?

—Sick Boy. Ab und zu. Is n kleines Hobby. Fällt nich viel bei ab, aber …

Die Schwuchtel lupft zweifelnd eine Augenbraue. — Schau einfach ein paarmal pro Woche vorbei. Er wirft seinem jungen Begleiter, der gerade ein Sandwich und ein Würstchen auf einen Pappteller schiebt, einen verstohlenen Blick zu. — Mach meinem Schwager, dieser miesen kleinen Nervensäge Kelvin, und meinen emsigen Nutten ordentlich Beine … oder besser: Sorg dafür, dass sie die Beine breitmachen. Er bleckt die Zähne zu einem breiten Grinsen. — Und dafür, dass sie die Lippen da unten aufreißen und nicht die da oben!

Terry ist sehr wohl bewusst, dass er nun besser in das konspirative Kichern einstimmen sollte, aber er spürt, wie es seine Mundwinkel nach unten zieht. Das ist genau die Sorte Ärger, die er so gar nicht gebrauchen kann.

Die Schwuchtel ist viel zu clever, um nicht zu wissen, dass Drohungen nur ein letztes Mittel sind, um Fügsamkeit zu erzwingen, und dass es immer besser ist, die Menschen zunächst einmal für sich zu gewinnen. — Dass deine Nummern mit den Damen aufs Haus gehen, muss ich wohl nich extra erwähnen … Da sind n paar echte Prachtstücke bei!

—Wenn du das sagst, murmelt Terry, unfähig, die Worte zurückzuhalten, obwohl sich etwas in ihm gerade zutiefst entrüstet. Er hat in seinem Leben noch nie für Sex bezahlt. Und das sagt er der Schwuchtel auch.

—Auf die eine oder andere Art zahlen wir doch alle dafür, klärt die Schwuchtel ihn auf.

Mit Hinblick auf seine drei Scheidungen und die Schikanen der zuständigen Unterhaltsbehörde muss Terry ihm beipflichten. — Da is was dran. Na gut, ich schau mir den Laden mal an.

—Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann, mein Freund. Fröhlich und nicht zu sanft schlägt ihm die Schwuchtel auf die Schulter. — Kelvin!, ruft er seinen Schwager, der sofort auf dem Absatz kehrtmacht und wie vom Ton einer Hundepfeife dirigiert herbeieilt.

—Terry, das hier is Kelvin. Kelv, Terry wird dir im Liberty helfen, solang ich weg bin.

—Ich hab dir doch gesagt, ich brauch keinen …

—Die Sache ist längst eingetütet, schmettert die Schwuchtel Kelvins Einspruch ab und sagt dann warnend: — Sei gefälligst nett zu ihm.

Kelvin scheint erst einmal darüber nachdenken zu müssen, bevor er sich gegenüber Terry zu einem angedeuteten Nicken in Revolverhelden-Manier durchringt. Terrys Erwiderung fällt genauso minimalistisch aus. Angesichts der frostigen Atmosphäre versucht die Schwuchtel nun mit ein paar platten Fußballweisheiten die Stimmung aufzulockern. Wenn Terry vorher schon den Wunsch verspürt hat, sich aus dem Staub zu machen, so ist er nun erst recht fest dazu entschlossen. Er mag Fußball, sieht sich die Spiele im Fernsehen an und geht immer noch ab und an zu Hibernian ins Stadion, hält den Sport aber als Gesprächsthema für vollkommen überflüssig. Er entschuldigt sich, um nach Maggie zu sehen und einen Versöhnungsversuch zu starten. Terry findet sie mutterseelenallein an der Bar, mit einem Glas Whisky und offenbar in Gedanken versunken. Er schnappt sich eines der Gläser auf dem Tisch und hält es ihr entgegen. — Auf Alec?

Widerstrebend stößt sie mit ihm an.

—Tut mir leid wegen der Rede. Ich dachte halt, dass Alec es so gewollt hätte.

—Und was mein Cousin will, is wohl scheißegal?!

Terry ist begeistert, dass der Alkohol Maggies Berufssnobismus weggespült hat und sie wieder wie ein Mädchen aus Broomhouse klingt. Ich geb ja zu, das war n Fehler. Ich hab einfach nich drüber nachgedacht, sagt er. Dabei hat die Rede in Wahrheit zumindest teilweise dem Zweck gedient, Stevie zu provozieren. Alec war ein Säufer, keine Frage, aber immerhin hatte er im Gegensatz zu Terrys eigenem Vater ein gutes Herz. Stevie wusste das nie zu schätzen.

—Ihr beiden habt euch nahegestanden, sagt Maggie.

—Er war n Spitzentyp, und wir waren jahrelang dicke Kumpels, bestätigt Terry ihre Einschätzung, dann blickt er sie plötzlich nassforsch an. — Weißte noch, wie er und ich uns kennengelernt haben? Durch dich!

Trotz ihrer vom Whisky glühenden Wangen ist deutlich zu erkennen, wie Maggie errötet. — Oh ja …, sagt sie und erinnert Terry dabei so sehr an ihr früheres, jüngeres Ich, dass dieser sich zu einem Flirtversuch ermutigt sieht.

Nach ein paar weiteren Drinks wagen sie es schließlich und verlassen gemeinsam den Pub. Es folgt ein schüchterner Spaziergang über die Newhaven Road. Die Nacht ist kalt und feucht, nirgendwo ist ein Taxi zu sehen. Also riskieren sie es, bis zur Ferry Road zu laufen, doch die einzigen Fahrzeuge, die ihnen unterwegs begegnen, sind die schweren Lastwagen, die auf ihrem Weg zu den Leith Docks bedrohlich nahe an ihnen vorbeirauschen. Terry befürchtet schon, dass sich die aufwallende Leidenschaft, die er vorhin bei Maggie zu spüren geglaubt hat, jeden Augenblick verflüchtigen könnte, da nähert sich Gott sei Dank ein Taxi. Hinterm Steuer sitzt Cliff Blades, einer von Terrys Trinkkumpanen aus dem Taxiclub in Powderhall. — Immer rein mit euch zwei Hübschen!, schallt ihnen Blades’ englischer Akzent fröhlich entgegen, bevor er sich einen Reim auf ihr Auftreten, ihren Aufzug und die Örtlichkeit macht. — Oh … ihr wart beim Krematorium … mein Beileid. Jemand, der euch nahestand?

—Nee, aufm Friedhof. Ja, ihr Onkel, antwortet Terry mit einem traurigen Nicken Richtung Maggie. — War n echt guter Freund von mir. Maggie, das is mein Kumpel Bladesey. Betont ungezwungen fügt er hinzu: — Sprich ihn um Himmels willen nie auf den schottischen Nationalismus an.

—Die schottische Unabhängigkeit, wenn ich bitten darf, korrigiert ihn Bladesey sofort.

—Den Teufel werd ich tun, erwidert Maggie spitz.

Obwohl Engländer, ist Cliff Blades ein beflissener Fürsprecher der schottischen Unabhängigkeit, während Maggie, auch wenn sie privat seine Meinung teilt, in den Räumen des Stadtrats weiterhin die Fahne der Labour Party hochhält.

Bladesey, als äußerst diskret bekannt, setzt die beiden vor Maggies Wohnung in Craigleith ab. Terry ist überrascht von ihrer Schamlosigkeit. Sie lotst ihn schnurstracks ins Schlafzimmer, ohne sich weiter mit Höflichkeiten aufzuhalten. Hatte er etwa ernsthaft den keuschen, sittsamen Teenager von vor so vielen Jahren erwartet? Es scheint, als wäre Maggie einfach nur dankbar, einen Schwanz zwischen den Beinen zu spüren, ohne dafür Rechenschaft ablegen zu müssen. Wie ihm zu Ohren gekommen war, hatte sich die Trennung von diesem Colin ewig hingezogen. Jetzt, wo ihre Tochter auf die Uni geht, kann sie es wohl endlich wieder krachen lassen.

Und genau das tun die beiden, als gäbe es kein Morgen.

Als sie später im Bett liegen, blickt Terry auf seine Uhr und fragt sich, wie lange er, nachdem er gerade gekommen ist, wohl bis zur nächsten Erektion braucht (er schätzt, irgendwas zwischen drei und vier Minuten), da hören sie von unten das Geräusch eines Schlüssels im Schloss.

—Was …, aus einem zufriedenen postkoitalen Halbschlaf gerissen, setzt Maggie sich auf, — was ist das …?

—Irgend so n Arsch macht sich an der Haustür zu schaffen, sagt Terry. — Erwartest du wen?

—Nö … Maggie springt aus dem Bett und zieht ihren Bademantel über, Terry zwängt sich in seine graue Flanellhose. Da er sonst meistens im Trainingsanzug rumläuft, fühlt sich der Stoff ungewohnt fremd an.

Im Erdgeschoss folgt Maggie den Geräuschen in die offene Küche, wo sie prompt auf ihre Tochter Amber stößt, die sich gerade ein Sandwich schmiert. — Was … ich dachte, du wärst in Glasgow an der Uni?

—Ich bin hier, weil Lacey dieses Wochenende ihren Einundzwanzigsten feiert, erwidert Amber und hebt nur kurz den Blick.

—Ich war bei der Beerdigung von Onkel Alec und bin grade eben ins Bett gehüpft …

—Offensichtlich, schnaubt Amber, als ein barbrüstiger Terry hinter ihrer Mutter in der Tür erscheint.

Maggie ist innerlich zerrissen. Ein Teil von ihr will einfach nicht, dass ihre Tochter sie so sieht, während ein anderer Teil vergeblich versucht, sich selbst davon zu überzeugen, dass es keine große Sache ist. — Ich … wir …

—Mum, was du mit deinem Leben anstellst, ist allein deine Sache. Wirklich. Sie mustert Terry.

—Terry. Ich … bin ein alter Freund deiner Mutter.

—Ist kaum zu übersehen, sagt Amber. Es liegt eine gewisse Gereiztheit in ihrer Stimme, die Maggie nicht genau einordnen kann. — Ich übernachte bei Kim und lass euch beide in Frieden.

—Keine Panik, ich bin eh aufm Sprung. Meine Taxischicht fängt gleich an. Nett, dich mal wieder zu sehen, Scarlett.

—Ich heiße Amber.

—Uuups, sagt Terry grinsend und huscht wieder die Treppe rauf.

Nach kurzer Zeit folgt Maggie ihm ins Schlafzimmer, wo er gerade sein Hemd zuknöpft. — So ein Mist!

—Is n schmuckes junges Ding. Haste gut gemacht, sagt Terry, während er sein Jackett überzieht.

Maggie sieht das Funkeln in seinen Augen. — Denk nicht mal dran!

—Für wen hältst du mich! Das wär mir gar nich in den Sinn gekommen, beteuert Terry, der immer dann am überzeugendsten klingt, wenn er unverhohlen lügt. Und obwohl sie ihr halbes Leben im Rathaus verbracht hat, kauft Maggie es ihm einfach ab.

Terry ruft Bladesey an, um zu erfahren, ob er noch in der Gegend ist, doch sein Kumpel hat eine Tour zum Flughafen angenommen. Allerdings ist Doughheid nicht weit weg. Fünf Minuten später sammelt er Terry auf und setzt ihn kurz danach vor dessen Bude in der South Side ab.

Zu Hause zieht sich Terry rasch um und macht sich dann in seinem eigenen Taxi wieder auf die Socken, da er noch ein bisschen was ausliefern muss. Hauptsächlich in die Sozialbausiedlungen: Broomhouse, Wester Hailes, Sighthill und Saughton Mains. Nachdem das erledigt ist, spielt er kurz mit dem Gedanken, runter zum Liberty Leisure, dem Laden der Schwuchtel zu fahren, entscheidet sich dann aber für einen Abstecher zur Gallery of Modern Art im Dean Village, in der Hoffnung, dort vielleicht ein paar piekfeine Muschis aufzulesen. Er ist hocherfreut, als ihn tatsächlich zwei junge Frauen heranwinken und zu ihm ins Taxi steigen. — Wo solls denn hingehen, Mädels?

—Ins Minto Hotel, antwortet eine der beiden mit amerikanischem Akzent.

—Geht klar. Wo kommt ihr denn her?

—Aus den USA.

—Klar, das hab ich auch schon gemerkt, erwidert Terry. — Aber wo genau?

—Texas.

—Texas? Ich verrat euch jetzt mal was, sagt Terry und dreht sich augenzwinkernd um, — wenn da alle so aussehen wie ihr zwei Hübschen, dann müsste es Sexas heißen!

2   KANNSTE EINEN DRAUF LASSEN

Ich wohn gern in der Oxford Street, denn hier in der South Side gibts alles, was ich zum Leben brauch. Is ne ruhige Straße, trotzdem nah anner Innenstadt, falls mir mal nach ner Büromuschi is. Nich weit vonner Uni, wenn ich geil auf ne Studentenbraut bin. Nich zu schick, bloß n nettes Zimmer nach vorn raus mit nem großen L-förmigen Sofa, n Schlafzimmer mit nem Kingsize-Bett, ne kleine Küche für die Proteinshakes. So bin ich: Ich leb für die Muschis. Ich hab nich viele Möbel inner Bude: Das Designkonzept nenn ich gerne minimalistisch. Ich hab n Bücherregal mit n paar von meinem Kumpel Rab Birrell geborgten Büchern drin, die ich nie gelesen hab, aber trotzdem behalte, um damit die Studentenbräute zu beeindrucken. Moby Dick, Schuld und Sühne, so nen Scheiß halt. Diesen Dostojewski, oder wie der Spinner heißt, hab ich tatsächlich mal versucht zu lesen, aber in dem Schinken hat jeder Penner fünf verschiedene Namen, dabei bin ich genau wegen so was aus der Sozialbausiedlung weg! Scheiße, is doch wahr!

Gebrauchte Musik und Filme gibts bei Hog’s Head, freies WLAN in der Southern Bar. Das städtische Schwimmbad is gleich ums Eck. Schwimmen und pumpen, das hält Terry Lawson in Form. Oh ja, hier in der South Side gibts nix, was es nich gibt. Nich wie in Leith, wos nich mal n Starbucks hat. Okay, vielleicht unten bei der Landesverwaltung an den Docks, aber nich in Leith selber! Haufenweise kleine Cafés ham wir hier auch, und kaum Probleme mit den Alkis, nur im Southern wegen dem WLAN.

Und Taxifahren is der beste Job, den ich je hatte. Kannste einen drauf lassen. Besser hats Juice Terry noch nie getroffen, da kann sogar der Job als Sprudelwasserverkäufer aufm Saftlaster nich gegen anstinken. Diese olle Nachteule hier steht total drauf, in seinem TX4 zu sitzen und nach herumstreunenden Muschis Ausschau zu halten! Und dafür werd ich auch noch bezahlt! Alles geht aufs Taxameter, und das Taxameter lügt nie! Am besten läufts im August, wenn die ganzen versnobten Touristen die Stadt stürmen, aber jetzt is auch ne krass gute Zeit, denn die Feiertage stehen vor der Tür, und an jeder Ecke warten betrunkene Muschis. In Schottland gibts nur ein Problem: Wir ham zwar Hammermuschis, aber für meinen persönlichen Geschmack sind die alle n bisschen zu mono-ethnisch, wenn ihr wisst, was ich meine. Haufenweise dunkelhaarige Mädels, n paar Blonde und Rothaarige, aber fast alle weiß. Ich beneide die Taxifahrer in London. Die Kerle da unten können ihre Pinsel auch mal in ne andre Farbe tunken.

Ich persönlich mach mir nix aus der Lothian Road, aber da gibts das Filmhouse, die Usher Hall und das Traverse Theater, alles prima Orte, um Edelmuschis aufzugabeln. Doch jetzt grad is tote Hose: Offenbar laufen die Vorstellungen bereits. Plötzlich fängts an zu regnen, richtig zu schütten, und ein Rudel Typen stürmt an den Straßenrand. Sie winken, um mich anzuhalten, aber ich drück auf die Tube und schau zu, wie sie zur Seite springen, lach mich schlapp, wie diese Vollpfosten schimpfend hinter mir her brüllen. Diese Penner gehen mir am Arsch vorbei: Ich bin nur auf die Girls scharf. Aber ich halt trotzdem noch mal an, nur so zum Spaß, um einen kurzen Blick auf die erleichterten Gesichter zu werfen. Ich lass sie ganz nah rankommen, dann ruf ich: — LECKT MICH, IHR OPFER! Und weg bin ich! Ich tret aufs Gas und freu mich über den dämlichen Ausdruck auf ihren blöden Fressen im Rückspiegel!

Ob vor den Loungebars oder den Bingo-Hallen, ob knackige Partygören (natürlich nich unter achtzehn) oder reifes Fallobst, dick oder dünn, reich oder arm — keine Muschi is vor mir sicher: Ich warte in meinem schnurrenden schwarzen Flitzer, allzeit bereit, es ihnen gründlich zu besorgen!

Diese Texas-Chicks gestern, die wussten gar nich, wie ihnen geschieht: Yankee Doodle für Terrys Nudel! Das war n Fest! Klar jag ich an den Feiertagen Röcke. Wenn man Weiber aufreißen will, dann gibts keinen besseren Zeitpunkt. Mein Handy klingelt, und es is der nächste Ami dran, der was von mir will: Ronnie, dieser Penner von neulich, dessen Kopf wie der von so nem durchgeknallten Dinosaurier aussieht. Der Kopf von dem einen, der dem T-Rex sein Horn in den Bauch rammt, bevor er dann mit dem Wichser die Klippe runterstürzt.

—Ich brauche jemand, der mich in den nächsten Tagen nach East Lothian fährt. In einen Ort namens Haddington.

—Nix leichter als das. Kenn ich gut.

—Klasse, eigentlich wollte ich schon morgen los, aber wie ich höre, steht ein Hurrikan bevor.

—Stimmt, hab ich auch gehört, so n bekackter Wirbelsturm. Die Leute ham ihn Hurrikan »Drecksack« getauft.

—Damit ist nicht zu spaßen. »Katrina« hat New Orleans völlig plattgemacht, und ihr scheint hier nicht im Mindesten auf so was vorbereitet!

—Nee, Alter, hier gibts nix außer Wind und Regen, immer die gleiche Leier.

—Ich glaube, ihr begreift den Ernst der Lage einfach nicht.

—Kein Grund zur Sorge, du verkriechst dich einfach im Balmoral, bis alles vorbei is, und lässt dich vom Roomservice verhätscheln. Wenn du Gesellschaft willst, dann halt dich bloß nich an diesen Arsch von Concierge, der wird dir bloß so ne zickige Nutte besorgen, die dir den letzten Penny aus der Tasche zieht. Ich bring dir n paar Hammerbräute rum, die wissen, wie man feiert, und das wird dich nix weiter kosten als deine Minibarrechnung und vielleicht n paar Gramm. Ich kenn da ne Braut — habs n paarmal mit ihr getrieben —, die is das größte Groupie von Edinburgh: Hat jeden Sportler, Fernsehstar, Fußballer und Komiker gevögelt, der jemals seinen Fuß in diese Stadt gesetzt hat. Ihr Spitzname is »Venue 69«, weil sie beim Festival immer so viel zu tun hat. Sie wär begeistert, dich auf ihrer Trophäenliste führen zu können. Ich schwörs, Alter.

ENDE DER LESEPROBE