Kurzer Abstecher - Irvine Welsh - E-Book

Kurzer Abstecher E-Book

Irvine Welsh

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Beschreibung

Alte Messer schneiden gut

Jim Francis hat endlich seinen Frieden gefunden. Zusammen mit seiner Frau und den beiden Töchtern führt er ein beschauliches Leben unter der Sonne Kaliforniens. Nichts mehr deutet darauf hin, dass er einst ein berüchtigter Straftäter war. Doch dann wird sein Sohn aus erster Ehe ermordet. Um der Beerdigung beizuwohnen, reist Jim noch einmal in die Stadt, die er nie wieder betreten wollte. Und auf Edinburghs Straßen flüstern die Leute: Franco Begbie ist zurück ...

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Seitenzahl: 428

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Das Buch

Jim Francis führt ein gutes Leben. Als erfolgreicher Maler und Bildhauer lebt er mit seiner Frau Melanie und zwei hübschen Töchtern an der kalifornischen Küste.

Doch er hat eine dunkle Vergangenheit als Straftäter und Häftling. Als in Schottland sein Sohn aus erster Ehe ermordet wird, reist Jim umgehend dorthin, um dem Begräbnis beizuwohnen. Zwangsläufig begegnet er dabei den Freunden und Feinden von früher – und wird mit seinen Gewalttaten von einst konfrontiert. Doch das ist alles lange her …

Zur gleichen Zeit macht Melanie in Kalifornien eine grausame Entdeckung. Wie sicher kann sie wirklich sein, dass ihr Ehemann seine Vergangenheit im Griff hat?

Der Autor

Irvine Welsh, geboren 1958 in Leith bei Edinburgh, schreibt Romane und Kurzgeschichten und gilt als einer der wichtigsten Autoren der Underground-Literatur. Sein Debütroman Trainspotting und die gleichnamige Verfilmung mit Ewan McGregor machten ihn international bekannt. Welsh lebt in Chicago.

www.irvinewelsh.net

Lieferbare Titel

Trainspotting – Porno – Skagboys – Das Sexleben siamesischer Zwillinge – Ein ordentlicher Ritt

IRVINE WELSH

KURZERABSTECHER

Roman

Aus dem schottischen Englischvon Stephan Glietsch

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe THE BLADE ARTIST erschien 2016bei Jonathan Cape, London

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Copyright © 2016 by Irvine Welsh

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Thomas Brill

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel / punchdesign, München

Umschlagabbildung: © Johannes Wiebel,unter Verwendung eines Motivs von shutterstock.com

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-20359-7V001

www.heyne-hardcore.de

Für Don DeGrazia

»Der Mensch ist die einzige Kreatur,die sich weigert zu sein, was sie ist.«

Albert Camus

1   DER STRAND

Jim Francis hebt Eve dem Himmel entgegen. Der Anblick der strahlenden Sonne, die direkt hinter ihrem Köpfchen hervorzubrechen scheint, schenkt ihm einen kurzen Moment der Transzendenz, den er voll auskostet, bevor er das Kind wieder absetzt. Der heiße Sand wird ihm bald die nackten Fußsohlen verbrennen, denkt Jim, als er den Blick von der gleißenden Aura losreißt, und er muss aufpassen, dass sich Eve keinen Sonnenbrand holt. Momentan geht es ihr allerdings prächtig: Mit maschinengewehrartigem Gekicher feuert sie ihn an, das Spiel fortzusetzen.

Selbstständige Arbeit hat den wunderbaren Vorteil, dass man ganz nach Belieben über seine Zeit verfügt und sich freinehmen kann, wann immer man will. Jim weiß das zu schätzen. Während am Morgen des 5. Juli alle anderen ihren Nationalfeiertagskater ausschlafen, ist er mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Töchtern schon bei Sonnenaufgang am Strand. Abgesehen von ein paar kreischenden Seevögeln sind sie hier mutterseelenallein.

Die erste Zeit nach seinem Umzug hierher hatten sie in Melanies Zweizimmerwohnung im kalifornischen Universitätsstädtchen Isla Vista gelebt, unweit ihrer Arbeitsstelle auf dem Uni-Campus. Jim liebte die Nähe zum Meer und besonders den Küstenpfad von Goleta Point nach Devereux Slough, wo ihnen unterwegs manchmal nur ein einzelner Strandgutsammler oder Surfer begegnete. Als erst Grace und dann Eve geboren wurden, zogen sie in ein Haus nach Santa Barbara um, und an die Stelle der Küstenwanderungen traten kürzere Ausflüge.

Heute Morgen sind sie extra früh aufgestanden – zum Tiefstand der Ebbe – und haben ihren Grand Cherokee oben an der Lagoon Road geparkt. Von dort stapften sie los, mit alten Turnschuhen an den Füßen, denn der Strand ist mit Teerklumpen von den nahe gelegenen Ellwood-Ölfeldern übersät: Schauplatz des einzigen Bombenangriffs auf das amerikanische Festland während des Zweiten Weltkrieges. Vorbei an dem Sandsteinkliff, das den Campus von Santa Barbara vom Pazifik trennt, strebten sie dem ruhigen Tiefblau der Lagune entgegen. Die Gezeitentümpel und die darin gestrandeten Krebse faszinierten die Mädchen, und auch Jim konnte sich nur zögernd von ihnen lösen, so sehr steckte ihn die kindliche Begeisterung seiner Töchter an, die ihn an seine eigene Kindheit erinnerte. Doch später am Goleta Point würde es noch mehr Krebse zu sehen geben, also schlenderten sie weiter, um schließlich unterhalb der Klippen ihr Lager aufzuschlagen. Das Wochenende und die vorlesungsfreie Zeit hatten sich mit den nächtlichen Stürmen zusammengetan, um den Strand leerzufegen.

Zwar ist das für diese Zeit ungewöhnlich raue Wetter zuletzt etwas besser geworden, doch die unruhige See hat große Sandbänke aufgeworfen. Wer nicht warten will, bis die Flut einsetzt, muss sie erst überwinden, um ans Meer zu gelangen. Jim hat seine Schuhe abgestreift und sich in dem Wissen, dass seine Dreijährige genauso ungeduldig ist wie er selbst, die kleine Eve geschnappt, während Melanie die Strandtücher ausgebreitet und es sich mit der fünfjährigen Grace gemütlich gemacht hat.

Jetzt pflügt Jim durch die Wellen, stemmt seine Tochter in die Höhe und ergötzt sich erneut an ihrem glucksenden Gekicher. Die Sanddünen verdecken die Sicht auf Melanie und Grace, doch er weiß, dass Eve die beiden sehen kann. Jedes Mal wenn er sie mit ausgestreckten Armen über seinen Kopf hebt, hat sie ihre Mutter und ihre Schwester im Blick und zeigt freudig mit dem Finger in ihre Richtung.

Plötzlich ist etwas anders.

Als er seine Tochter wieder in die Luft hebt, lässt sie die Händchen sinken. Sie schaut in dieselbe Richtung wie zuvor – Jim folgt ihrem Blick bis zum Grat der Sandbank –, doch ihr Gesicht hat sich verändert. Sie wirkt verwirrt. Sein Herz klopft schneller. Er zieht sie an seine Brust und stapft den Hang hinauf. Im Sand bereitet ihm sein Bein erhebliche Probleme beim Laufen, doch kaum dass Melanie und Grace endlich in Sichtweite sind, legt er, anstatt langsamer zu werden, noch mal einen Schritt zu.

Beim Anblick von Jim und Eve, deren Silhouette sich im diesigen Licht über den Kamm der Düne schiebt, empfindet Melanie Erleichterung und Furcht zugleich. Vielleicht werden sie nun verschwinden, die beiden Männer, die plötzlich am Strand aufgetaucht waren, vermutlich über einen der Schotterpfade, die sich von den Klippen herabschlängelten. Melanie hatte die Männer aus den Augenwinkeln wahrgenommen, aber zunächst nicht weiter beachtet. Sie hatte die beiden für Studenten gehalten – bis sie sich direkt neben ihr und ihrer Tochter in den Sand setzten. Da hatte sie Grace gerade die Arme mit Sonnenmilch eingerieben und wollte eben damit beginnen, sich selbst einzucremen.

— Darf ich Ihnen dabei zur Hand gehen?, fragte einer der Männer mit schiefem Lächeln. Der Klang seiner Stimme ließ sie frösteln: Er war nicht mal lüstern, sondern kalt und sachlich. Der Kerl trug eine Sonnenbrille und ein schwarzes Achselhemd, das seine muskelbepackten Arme entblößte. Mit der Hand strich er sich über den kurz geschorenen Schädel. Sein Kumpan war kleiner. Das strähnige blonde Haar fiel ihm in die stechenden blauen Augen, und sein Grinsen war von abstoßender Bosheit.

Sie schwieg. Das waren keine Studenten. In ihrem früheren Job hatte sie oft in Gefängnissen gearbeitet, und diese beiden Kerle rochen selbst gegen den Wind noch nach Knast. Sie war hin- und hergerissen, schließlich hatte sie sich früher für solche Männer eingesetzt. Für Männer, die überzeugend den Eindruck vermittelten, sich gebessert zu haben. Doch wie viele von ihnen gerieten, nachdem die Gesellschaft sie wieder aufgenommen hatte, erneut auf die schiefe Bahn? Melanie war nicht leicht zu verängstigen, aber der Knoten in ihrem Bauch sagte ihr, dass die beiden keine harmlosen Störenfriede waren. Grace drängte ihre Mutter mit flehendem Blick, etwas zu tun oder zu sagen. Melanie hätte ihrer Tochter gerne irgendwie vermittelt, dass es in diesem Moment das Beste war, Ruhe zu bewahren und einfach gar nichts zu tun. Suchend blickte sie zu den Klippen hinauf und den Strand entlang, doch es war keine Menschenseele zu sehen. Dieser sonst so belebte Ort wirkte gespenstisch verlassen.

Dann stapft Jim durch den Sand auf sie zu. Eve klammert sich an ihm fest und zeigt mit ihrem pummeligen Finger auf Melanie.

— Hast du deine Zunge verschluckt, Schlampe?, keift der Kerl in Schwarz. Sein Name ist Marcello Santiago, und er ist es gewohnt, eine Antwort zu erhalten, wenn er Frauen eine Frage stellt.

Jim hat sie beinahe erreicht, doch Melanie gerät allmählich in Panik. O Gott, Jim. — Hören Sie, bitte gehen Sie jetzt, da kommt mein Mann, sagt sie mit ruhiger Stimme. — Sie haben doch den ganzen Strand für sich, wir machen nur einen Ausflug mit den Kindern.

Marcello Santiago steht auf und blickt Jim entgegen, der Eve auf dem Arm behält, als er dem Fremden endlich gegenübersteht. — Uns gefiel die Idee, bei eurem kleinen Picknick mitzumachen, begrüßt Santiago ihn mit einem Grinsen.

Der blonde Mann, der sich Damien Coover nennt, hat sich ebenfalls erhoben, bewegt sich aber keinen Zentimeter von Melanie und Grace weg.

— Was ist los, Daddy?, fragt Grace und sieht ihren Vater verunsichert an.

Ohne einen Anflug von Nervosität sagt Jim zu Melanie: — Nimm die Mädchen, und geh mit ihnen zum Auto.

— Jim …, fleht Melanie und starrt erst ihn, dann Damien Coover und schließlich ihre Töchter an, bevor sie Grace auf die Füße zieht.

Jim legt ihr Eve in die Arme, wobei er Santiago und Coover keinen Moment aus den Augen lässt. — Geh zurück zum Auto, sagt er noch einmal.

Melanie zieht die Mädchen näher an sich heran und läuft zögernd in Richtung des kleinen Parkplatzes oben an der Uferböschung. Als sie kurz zurückblickt, bemerkt sie, dass ihre Tasche noch auf dem Strandtuch liegt. Darin befinden sich Jims und ihr Handy. Die Tasche steht offen. Melanie sieht, dass Coover es sieht. Jim bemerkt es ebenfalls. — Nun geh schon, drängt er sie noch einmal.

Coover starrt Melanie hinterher, als sie mit ihren Kindern über den Strand davoneilt. Der Bikini entblößt ihren straffen, gebräunten Körper, aber Angst und Panik verleihen ihren sonst so graziösen Bewegungen etwas Unschönes, Gequältes und Gebrochenes. Das hält ihn nicht davon ab, ein lüsternes Grinsen aufzusetzen. — Da hast du dir ja mal ne heiße Muschi aufgerissen, sagt er zu Jim Francis, und sein Kumpel Santiago, der bis eben damit beschäftigt war, seine Fäuste abwechselnd zu ballen und wieder zu öffnen, lacht mit.

Jims Reaktion beschränkt sich auf einen kalten, abschätzenden Blick.

Santiago und Coover bleibt nichts anderes übrig, als den schweigenden Mann in der olivgrünen Badehose ebenfalls zu mustern. Mit seinem braungebrannten, muskulösen, aber ungewöhnlich vernarbten Körper wirkt er in dieser Familie, die sonst nur aus blonden kalifornischen Frauen besteht, eigenartig deplatziert. Sein Alter ist nur schwer zu schätzen: mindestens vierzig, vielleicht sogar fünfzig, womit er gute zwanzig Jahre älter wäre als die Frau in seiner Begleitung. Was, fragt sich Santiago, hat dieser Typ zu bieten, dass er so ein geiles Stück Arsch abkriegt? Kohle? Schwer zu sagen, aber irgendwas an diesem Kerl ist schräg. Er starrt ihn und Coover an, als würde er sie von irgendwoher kennen.

In Gedanken geht Santiago eine Liste von Hinterzimmer- und Knastbegegnungen durch – ohne fündig zu werden. Nichts. Aber dieser Blick … — Wo kommst du her, Alter?

Jim bleibt stumm. Sein Blick wandert von Santiagos dunklen Brillengläsern zu Coovers blauen Augen.

— Glotz nicht so blöd, sagt Coover und verrät durch die in die Höhe schießende Stimmlage seine Nervosität. Er greift in den Stoffbeutel zu seinen Füßen und zieht ein großes Jagdmesser hervor, mit dem er vor Jim Francis herumwedelt. — Ist es das, was du willst? Verpiss dich von hier, solange du noch kannst!

Jim fixiert für einige Sekunden fasziniert das Messer. Dann bückt er sich, ohne Coover dabei aus den Augen zu lassen, nach der Tasche und dem Strandtuch, dreht sich langsam um und folgt Frau und Kindern. Den beiden Männern fällt auf, dass er leicht humpelt.

— Scheißkrüppel, brüllt Coover und schiebt das Messer zurück in den Beutel. Jim bleibt kurz stehen, atmet tief durch und geht weiter. Im Hohngelächter der beiden Typen schwingt Erleichterung darüber mit, dass er statt der Konfrontation lieber das Weite sucht. Was sie beunruhigt, ist nicht nur seine kräftige Gestalt und ein Auftreten, das vermittelt, er würde notfalls bis zum Tod kämpfen, um seine Familie zu verteidigen. Da ist noch mehr: die vernarbte Haut an Körper und Händen, als hätte er umfangreiche Tätowierungen entfernen lassen. Die feinen, aber zahlreichen Narbenkonstellationen im Gesicht. Aber ganz besonders seine Augen. Ja, denkt Santiago, sie deuten darauf hin, dass er in eine andere Welt gehört als die, in der diese Frau und ihre Kinder leben.

Jim erreicht den Grand Cherokee, der auf dem Schotterplatz hinter dem Strand parkt, fünfzig Meter von der asphaltierten Straße entfernt. Daneben steht noch ein weiteres Fahrzeug: ein runtergekommener Pick-up. Für einen Moment macht sich Panik in ihm breit, da er weder Melanie noch die Mädchen entdecken kann. Doch das liegt nur an der aufsteigenden Sonne, die hinter den Wolken hervortritt und sich in den Autofenstern spiegelt. Seine Familie sitzt sicher im Wagen, und als Jim ebenfalls einsteigt, löchert ihn Grace sofort mit Fragen. Wer waren diese Männer? Was wollten sie? Waren sie böse? Er schnallt sie und Eve auf der Rückbank an und klettert auf den Beifahrersitz. Melanie lässt den Motor an. — Wir sollten zur Polizei gehen, flüstert sie, als sie an dem Silverado der beiden Männer vorbeifahren, und nachdem sie sich vergewissert hat, dass Grace schon mit einem Spielzeug beschäftigt ist, fügt sie hinzu: Ich hatte solche Angst. Diese Typen führten nichts Gutes im Schilde. Ich musste sofort an Paula denken. Keine Ahnung, was ich getan hätte, wenn du nicht gekommen wärst.

— Lass uns erst mal die Mädchen nach Hause bringen, sagt Jim sanft, legt die Hand auf ihr Knie und spürt, dass sie immer noch zittert. — Zur Polizei kann ich auch danach noch gehen.

Nach einer kurzen Fahrt über den Highway 101 ist es nur noch eine Meile bis zu ihrem Zuhause in Santa Barbara. Die kleine Villa im spanischen Kolonialstil steht nur wenige Blocks vom Meer entfernt. Melanie setzt den Grand Cherokee in die Auffahrt. Jim wartet, bis sie und die Kinder ausgestiegen sind, bevor er in der zweiten Garage verschwindet, die er zur Werkstatt umgebaut hat. Sekunden später taucht er wieder auf und steigt zurück ins Auto. Melanie sagt kein Wort, aber als sie dem Wagen nachsieht, überkommt sie erneut ein mulmiges Gefühl.

2   DER LIEFERJUNGE 1

Das Blut sickerte aus dem eingeschlagenen Schädel des Mannes. Endlich war es still, nichts rührte sich mehr. Ich trat vom Leichnam zurück und blickte hinauf zu den massiven, abweisenden Mauern. Am schwarzen Nachthimmel über mir schimmerte der Vollmond durch die aufgeblähten, malvenfarbenen Wolken und tauchte die in den Stein eingelassenen Metallringe in sein fahles Licht. Nach dem vorangegangenen Horror war ich völlig erledigt und hatte keinerlei Kraft mehr in meinen schwachen, kleinen Beinen. Wie zum Teufel soll ich da je wieder raufkommen?, fragte ich mich.

3   ÜBERLEGUNGEN

Als Jim einige Stunden später zurückkommt, spielt Melanie mit den Kindern hinten im Garten, abseits der hölzernen Terrasse unter einer Gruppe alter Obstbäume. Sie hat sich ein ausgeklügeltes Spiel ausgedacht, rund um das große, rot gestrichene Puppenhaus, an dem er fast ein ganzes Jahr gewerkelt hat. Die Mädchen lieben es, vor allem weil Jim darin eine ganze Reihe verzwickter Seilzüge, Rampen und Kugellager verbaut hat, die diverse verhängnisvolle Überraschungen für die darin lebenden Puppen in Gang setzen. Auf dem Rasen liegen Unmengen von Bonbonpapieren und Spielzeugen verstreut: Zeugnisse von Melanies Versuch, den Tag nach dem abgebrochenen Strandausflug noch irgendwie zu retten.

Sie steht auf und geht zu ihm. — Hast du mit der Polizei gesprochen?

Jim antwortet nicht.

— Hast du nicht, oder?

— Nein. Ich konnte es nicht. Die Polizei zu rufen liegt mir einfach nicht in den Genen, entgegnet Jim schnaubend.

— Wenn Psychopathen Frauen und Kinder bedrohen, melden normale Bürger das der Polizei, blafft Melanie. — Heilige Scheiße, du weißt doch, was Paula zugestoßen ist.

Jim runzelt die Stirn. Bei Paula waren die Umstände – zwei Kerle, noch dazu Studenten, die sie kannte – völlig anders gewesen. Aber er wird sich über solche Details nicht streiten.

Als Melanie merkt, dass sie bevormundender auftritt als beabsichtigt und dass dieses Verhalten bei Jim gar nicht gut ankommt, reibt sie beruhigend seinen Arm und haucht flehend seinen Namen: — Jim …

Jim blinzelt ins Sonnenlicht, das über ihnen durchs Blätterdach der großen Eiche fällt, und atmet tief ein. Melanie sieht, wie seine Brust sich weitet. Dann atmet er wieder aus. — Ich weiß … das war dumm von mir. Ich habe es einfach nicht über mich gebracht. Also bin ich zurückgefahren, um zu sehen, ob die Kerle dort immer noch ihr Unwesen treiben.

— Du bist was?, keucht Melanie. — Das ist doch wohl nicht dein Ernst?

— Sie waren schon weg, der Strand war verlassen. Ich hatte wirklich nicht vor, mich mit ihnen anzulegen, erklärt Jim schmallippig. — Ich wollte nur sichergehen, dass sie keine anderen Leute belästigen. Wenn sie das nämlich getan hätten, ich meine, sich auf dem Campus rumtreiben und für Ärger sorgen, dann hätte ich …

— Dann hättest du was?

— Ich hätte den Sicherheitsdienst der Uni gerufen.

— Genau das werde ich jetzt tun, kündigt Melanie an und geht in die Küche, um ihr Handy zu holen, das auf der Frühstückstheke liegt.

Jim folgt ihr ins Haus. — Mach das lieber nicht …

— Was …

— Ich hab doch was angestellt, gesteht er und beobachtet, wie ihre Gesichtszüge entgleiten. — Nicht mit den beiden Kerlen. Aber mit ihrem Auto. Ich hab einen brennenden Lappen in den Tank gesteckt und die Karre in die Luft gejagt. Es wäre vermutlich besser, wenn die Bullen und der Sicherheitsdienst nicht erfahren, dass wir dort waren.

— Du … du hast was …?

Als er seine Erklärung wiederholt, denkt Melanie an diese Arschlöcher und ihre herablassenden, unterschwelligen Drohungen. Sie fragt sich, wie diese Typen wohl reagieren, wenn sie ihr zerstörtes Auto sehen. Sie schaut ihren Mann an, fängt an zu lachen und schlingt ihre Arme um seinen Hals. Jim lächelt und blickt über ihre Schulter aus dem Fenster. Im Garten macht Grace ihrer Schwester gerade eine Gänseblümchenkette.

4   DIE WERKSTATT

Aus den Boxen dröhnt Chinese Democracy von Guns N’ Roses. So laut, dass es Martin Crosby beim Betreten des Studios fast zurück durch die schwere, metallbeschlagene Schiebetür drückt. Eine mehrteilige Stereoanlage und zwei alles dominierende Riesenlautsprecher sind in einen von Fenstern und Oberlichtern erhellten Raum gequetscht, der kaum genug Platz für Brennofen, Staffelei und die auf dem Fußboden gestapelten Farben und Materialien bietet. Auch die Werkbank ist vollgestellt, von Jim Francis fehlt jedoch jede Spur. Dafür sieht Martin auf den Regalen die Köpfe von Hollywood-Schauspielern und Popstars, die er sogar zuordnen kann – trotz der grotesken, kreativen Verstümmelungen, die der Künstler ihnen zugefügt hat. Einem Filmstar wurde das Gesicht zerschnitten und mit groben Stichen wieder zusammengenäht. Ein Serienheld ist von einem riesigen Tumor verunstaltet, der ihm aus der Wange wuchert. Einem Popsternchen wurde auf grausame Weise ein Auge geraubt.

Plötzlich setzt die Musik aus, und wie aus dem Nichts steht Francis mit der Fernbedienung in der Hand neben ihm. Martin zuckt vor Schreck zusammen. Wie es seine Art ist, hält der Künstler es offenbar nicht für nötig, seinen Agenten zu begrüßen. Martin Crosby, selbst ein ruhiger, wortkarger Mann, der statt zu viele Worte zu verlieren lieber zuhört, während er über die silbernen Ränder seiner Brille lugt, hat viele undankbare Klienten. Einige von ihnen betrachten seine Tätigkeit bestenfalls als notwendiges Übel. Und doch ist bislang noch nie einer darunter gewesen, der sich so – ablehnend ist nicht das richtige Wort, denn das wäre noch zu positiv ausgedrückt –, so feindselig verhält wie Francis. Martin hat sich gerade zweieinhalb Stunden über die verstopfte Schnellstraße hierhergequält, um dem Künstler seine Unterstützung bei dessen anstehender Ausstellung anzubieten. Doch alles, was er von ihm zu hören bekommt, ist ein mürrisches: — Was willst du denn hier?

Als Martin ihm den Grund seines Besuchs darlegt, streicht sich Jim Francis über den Bart, der auf die gleiche Länge gestutzt ist wie die Stoppeln auf seinem Kopf. — Läuft alles bestens. Nimm dir ein Wasser, sagt er nur und deutet auf einen kleinen Kühlschrank, bevor er auf die Fernbedienung drückt und Martins Gehör abermals von reizloser, überproduzierter Rockmusik attackiert wird. Er will noch etwas erwidern, sieht aber ein, wie fruchtlos das ist, denn Francis hat sich schon wieder einer seiner Skulpturen gewidmet. Über die Büste gebeugt, knetet er sie mit seinen großen schwieligen Händen brutal durch, um anschließend mit diversen Messern an ihr herumzusäbeln.

Ein Anblick, den man nicht so schnell vergisst. Jim Francis bei der Arbeit zu sehen war die strapaziöse Fahrt beinahe wert. Natürlich arbeiten die meisten Bildhauer mit großem körperlichem Einsatz, aber in Martins Augen hat es den Anschein, als würde Francis’ kontrollierte Wut vom hackenden, schneidenden Gitarrenlärm und dem heiseren Gesang der Musik dirigiert – und zwar so sehr, dass diese beim Modellieren offenbar seine Hand führt. Es ist, als würde die Band diesen Kopf gestalten, indem sie Jim Francis als ihr Werkzeug benutzt. An der Wand neben ihm hängen an Magnetstreifen alle möglichen Messer. Größtenteils die üblichen, schmalen Klingen aus rostfreiem Stahl, die auch andere von Martins Klienten für ihre Skulpturen verwenden. Doch es sind auch größere Messer darunter, die eher wie Jagdwaffen aussehen, während andere eine gewisse Ähnlichkeit mit Chirurgenbesteck haben. Er erinnert sich daran, wie Francis einmal in einem Interview sagte, dass er gern Werkzeuge benutzt, die man für gewöhnlich nicht mit der Bildhauerei in Verbindung bringt.

Jim Francis ist ein seltsamer Kauz, das steht für Martin außer Frage. Obwohl das bei seinem Kundenstamm kaum als Alleinstellungsmerkmal gilt. Künstler sind nun einmal Künstler. Martin würde gerne über die für nächsten Monat geplante Ausstellungseröffnung und die bestmögliche Präsentation der Kunstwerke sprechen. Und vor allem will er sich vergewissern, dass auch wirklich alle Stücke rechtzeitig fertig werden. Das ist gar nicht so einfach. Francis hat zwar einen E-Mail-Account, antwortet aber weder auf Martins Mails noch auf dessen Textnachrichten. Telefonate mit ihm sind – wenn er sich denn überhaupt dazu herablässt dranzugehen – Übungen in schroffem Minimalismus. Bei ihrem letzten Gespräch kam Jim Francis gerade mal ein Satz über die Lippen. Denk dran, Rod Stewart zur Vernissage einzuladen, forderte er in seinem harschen Akzent, bevor er auflegte.

Also ist Martin von Los Angeles hierhergefahren, und bisher sieht es ganz danach aus, als hätte er sich auch das sparen können. Dieses Verhalten ist einfach nicht akzeptabel. In seiner wachsenden Frustration schreit Martin den Künstler von hinten an, doch die Musik ist zu laut. Und irgendetwas warnt ihn davor, Jim Francis anzufassen, lässt ihn selbst vor der kleinsten Berührung zurückschrecken, die seinem Klienten signalisieren könnte, dass er gern mit ihm reden würde. Als das Gebrüll von Axl Rose zwischen zwei Songs einen kurzen Moment verstummt, sieht er seine Chance gekommen. —JIM!

Der Künstler wirbelt herum, greift nach der Fernbedienung und schaltet die Musik aus. Er blickt Martin ausdruckslos an.

— Ich verstehe ja, dass du viel zu tun hast, und ich bewundere deine Arbeitseinstellung sehr, aber wir haben einige wichtige Entscheidungen wegen der Ausstellung zu treffen. Ich bräuchte wirklich für einen Moment deine ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich bin deswegen extra von L. A. hergekommen …

— Schon gut, blafft Francis ihn an, wird dann aber ein wenig zugänglicher. — Gib mir eine Stunde. Wir können ja was essen. Geh durch ins Haus, und lass dir von Mel einen Kaffee oder ein Bier oder so geben, sagt er und stellt die Musik sofort wieder dermaßen laut, dass Martin Crosby seinen Worten umgehend Folge leistet. Während er die Tür hinter sich schließt, betritt er einen kleinen Vorraum, der ins Haupthaus führt. Das Atelier ist vermutlich eine ehemalige Garage. Auf gewisse Weise ist sie Teil des Ganzen, dann aber auch wieder nicht. Ein bisschen wie Francis selbst, sinniert er.

Martin hat Jim Francis’ Frau Melanie erst einmal bei einer Vernissage getroffen. Auch heute erweist sie sich wieder als so liebenswert und sympathisch, wie ihr Mann brüsk und distanziert ist. Sie hat ihr blondes Haar mit einem roten Band zurückgebunden, trägt eine graue Jogginghose und ein rotes Tanktop. Auf dem Boden vor einem riesigen Flachbildfernseher liegen auf einer Gymnastikmatte ein Paar Hanteln und Gymnastikbänder. Die dünne Schweißschicht auf ihrer Stirn kündet von ihren jüngsten Kraftanstrengungen.

Melanie bittet Martin, auf der Couch Platz zu nehmen, und holt ihnen zwei Flaschen kaltes Mineralwasser. Dann setzt sie sich in einen Polstersessel und verschränkt die Beine zum Lotussitz. — Jim kann bei der Arbeit ziemlich angespannt sein. Ich bewundere es, wie sehr er bei der Sache ist. Ich selbst lasse mich viel zu leicht ablenken. Manchmal ist er allerdings nicht unbedingt der Umgänglichste, sagt sie und schüttelt dabei liebevoll lächelnd den Kopf, um Martin wissen zu lassen, dass diese Beobachtung keinesfalls geringschätzig gegenüber ihrem Mann gemeint ist.

Als Jim Francis schließlich erscheint, sind eher anderthalb Stunden vergangen, und Martin verspürt mittlerweile gewaltigen Hunger, auch wenn ihn Melanies angenehme Gesellschaft zwischenzeitlich davon abgelenkt hat. — Wir sind nicht lange weg, sagt Jim zu Melanie und fordert Martin mit einem stummen Nicken auf, ihm zu folgen. Um bei einer Frau zu landen, die derart offen, lebhaft, gut aussehend und dazu auch noch deutlich jünger ist als er, muss Jim Francis zweifellos irgendeine Form von Charme besitzen. Martin Crosbys Suche danach wurde bislang allerdings nicht von Erfolg gekrönt.

Sie steigen in Francis’ Kombi und fahren schweigend nach Santa Barbara, wo sie vor einem Strandcafé namens Shoreline parken. Im Schatten der überdachten Terrasse mit Blick auf den Pazifik stellt Martin fest, dass Francis schon etwas entspannter wirkt. Als der Künstler ein ihm bekanntes Paar mit einem großen, faltigen, exotischen Hund entdeckt, schüttelt er dem Mann zur Begrüßung die Hand, haucht der Frau einen Kuss auf die Wange und liebkost dann mit aggressivem Enthusiasmus das begeisterte Tier. — Nachbarn, klärt er Martin auf, während sie an einem der Tische Platz nehmen. — Na, wie läufts, Candy?, fragt Francis die junge Kellnerin und schenkt ihr ein Lächeln.

— Alles super, Jim, flötet sie und strahlt schlagartig übers ganze Gesicht. Martin schließt sich der Bestellung seines Klienten an: Eiweißomelette mit Spinat, Feta-Käse und zum Dessert frische Früchte. Er öffnet sein MacBook und zeigt Francis die Ausstellungslayouts: Variationen zur Hängung der Bilder und der Aufstellung der Skulpturen. Er erläutert die Lichtsituation vor Ort, beschreibt, wie unterschiedlich sich Tageslicht und Kunstlicht auf die einzelnen Stücke auswirken. — Ich dachte, du könntest vielleicht einen halben Tag entbehren, um dir mal alles anzusehen, hebt er an, bevor Francis ihn mit einem entschiedenen Tippen auf das erste Ausstellungslayout verstummen lässt. — Das hier ist top, sagt er.

— Es hat tatsächlich Vorteile, stimmt ihm Martin zu. Es gibt allerdings das Problem, dass hier eine Ziegelwand ist und keine Fenster …

— Es ist top, wiederholt Francis und blickt zum Nachbartisch hinüber, wo eine Gruppe von Independence-Day-Zechern gegen ihren Kater antrinkt – in jedem ihrer riesigen Gläser mit Margaritas steckt außer einem Strohhalm noch eine umgedrehte Corona-Flasche.

— Also gut, Jim, es ist deine Entscheidung, antwortet Martin mit einem schmallippigen Lächeln. — Mir gefallen die schlichten klassischen Säulen als Podeste für die Kopfskulpturen besonders gut. Sie verleihen ihnen so einen Hauch von »Untergang des alten Roms« …

— Aye, geht klar. Hat sich das Management von Rod Stewart inzwischen bei dir gemeldet?, unterbricht ihn Francis, während die Kellnerin ihre Omeletts serviert.

— Noch nicht. Ich bitte Vanessa, da noch mal nachzuhaken, erwidert Martin und sieht mit wachsender Frustration dabei zu, wie Francis die aufdringlichen Möwen füttert, die sich vor der Terrasse herumdrücken. Es bereitet seinem Klienten ein, wie Martin findet, fast schon perverses Vergnügen, diese aggressiven Tiere zu füttern. Ein Vogel, der von der Thermik getragen in der Luft steht, hat es ihm offenbar besonders angetan. Immer wieder fliegen Brocken in seine Richtung, und ungeachtet des offensichtlichen Unbehagens der anderen Gäste im Café freut sich Francis über das aufgeregte Kreischen des Tieres.

Später, als Martin Crosby sich schon wieder auf dem Rückweg nach L. A. befindet, stellt seine Assistentin einen Anruf zu ihm durch. Es ist weder Rod Stewart noch dessen Manager. Es ist eine Frau mit dem gleichen Akzent wie Jim Francis, und sie behauptet, seine Schwester zu sein.

5   DER ANRUF

Er hatte Elspeths Stimme schon seit einigen Jahren nicht mehr gehört. Dennoch erkannte er sie am Telefon sofort und ohne Rufnummernerkennung. Nicht, dass die etwas angezeigt hätte: Es war viel zu lange her, dass sie den Kontakt verloren hatten. Ihre Mutter war vor Jahren verstorben, kurz nachdem Jim in die USA gezogen war. Er hatte zwar die Beerdigung besucht, war aber anschließend sofort nach L. A. zurückgekehrt. Später hatte er seine Telefonnummer gewechselt und keinen Gedanken daran verschwendet, Elspeth darüber zu informieren. Wo hatte sie die Nummer her? Seine Schwester war einfallsreich. Seine jüngere Schwester. Zehn Jahre und vier Monate trennten sie voneinander. Ihr gemeinsamer Bruder Joe war etwa ein Jahr älter als Jim. Warum suchte sie den Kontakt mit ihm? Vermutlich ging es um Joe. Er war ein starker Trinker. Das Saufen hatte sie den Vater gekostet. Es würde auch Joe umbringen. — Elspeth …

— Ich hab dich gegoogelt. Hab die Nummer von deinem Agenten gekriegt. Hat ne Weile gedauert, rauszufinden, ob du es wirklich bist … wegen dieser Jim-Nummer. Egal … ich hab keine guten Nachrichten. Tut mir echt leid, sagt sie. Ihre Stimme schwankt, und er kann ihr Zögern fast körperlich spüren. — Sean ist gestern gestorben. Er wurde tot in seiner Wohnung gefunden.

Sean … was zum Teufel …

— Genaueres weiß ich bisher auch nicht, erklärt sie mit trauriger Stimme. Die Nachricht versetzt Jim Francis zwar einen Schock, aber es ist der Klang ihrer Worte, der ihn wirklich berührt. Immerhin waren seine Schwester und er im Streit auseinandergegangen. — Es tut mir so leid …

Auf einen Schlag schießen Jim zahllose Fragen durch den Kopf, zermartern ihm das Hirn, kämpfen um seine Aufmerksamkeit. Er versucht sich zu konzentrieren, atmet tief durch die Nase ein, füllt seine Lungen mit Luft. Er denkt an June, die Frau, die ihm Sean geboren hat, und einen weiteren Jungen, Michael. Sie hatte ihm seinen Erstgeborenen mit einem geradezu trotzigen Stolz präsentiert: Sieh her! Siehst du, was ich kann? Er selbst hatte eigentlich nichts Besonderes empfunden, mal abgesehen von einem komischen Drang, sich zu rechtfertigen, ohne es ausdrücken zu können. Anschließend war er in den Pub gegangen, hatte Runden geschmissen und sich die Kante gegeben. Vor seinem inneren Auge tauchen plötzlich Gesichter auf, das von Sean als Baby, dann das von June und die der Jungs im Pub. Schließlich das von Elspeth, seiner Schwester, die jetzt schweigend am anderen Ende der Leitung verharrt. Wie stolz sie damals als junges Mädchen war, Tante geworden zu sein. All diese Gesichter scheinen heute zu einem anderen Leben zu gehören, dem Leben eines Fremden. Er blickt in sein sonnengebräuntes Antlitz im Wandspiegel. Im Spiegelbild taucht Melanie hinter ihm auf und schaut ihn sorgenvoll an. Als Grace und Eve zur Welt kamen, war alles so anders gewesen. Er hatte sich ganz klein und doch als Teil eines unendlichen Universums gefühlt. Umschwirrt von einem Kaleidoskop der Emotionen, hatte er weinend Melanies Hand gedrückt.

— Bist du noch dran?, durchbricht Elspeths Stimme die Stille.

— Hast du eine aktuelle Telefonnummer von June?

Elspeth nennt ihm langsam die Ziffern, die er mit der freien Hand in sein iPhone tippt.

— Selbstverständlich komm ich rüber. Rufst du mich bitte an, falls du mehr erfährst?

— Natürlich.

— Danke, schnauft er, dann stellt er den Hörer zurück in die Ladestation.

— Das war Elspeth. Es geht um Sean, sagt er zu Melanie. — Er ist tot.

— O mein Gott, keucht seine Frau und schlägt die Hand vor den Mund. — Was ist passiert?

— Ist tot zu Hause in Edinburgh gefunden worden, erwidert Jim mit flacher Stimme. — Ich muss da rüber. Zur Beerdigung und um rauszufinden, was passiert ist.

— Natürlich, sagt Melanie und schlingt ihre Arme um ihn. Er ist verkrampft: Sie fühlt sich wie ein um eine Bronzestatue gewickelter Pullover. — Was hat sie sonst noch gesagt?

— Er ist tot, mehr weiß ich nicht.

Melanie lockert ihre Umarmung, hält Jim aber weiter fest. Sie erinnert sich, wie sie ihn zum ersten Mal in den Arm nehmen wollte, als sie frisch verliebt waren, wie schrecklich steif und verkrampft sein Körper gewesen war. — Ich fühle mich so mies. Ich hab ihn ja nie kennengelernt, und Michael auch nicht.

Jim schweigt. Er ist so still und starr wie eine seiner Skulpturen. Melanie spürt, wie seine Anspannung auf sie überspringt. Sie gibt ihn frei, und ihre Arme fallen herab. — Du lässt dich da drüben aber in nichts hineinziehen, versprochen?

Jim schüttelt abweisend den Kopf. — In was soll ich mich denn reinziehen lassen? Ich will nur rausfinden, was passiert ist, und zu seiner Beerdigung gehen, sagt er. Nach kurzem Zögern fügt er mit veränderter Stimme hinzu: — Und sehen, wessen Tränen echt und wessen nur Krokodilstränen sind.

Er steht auf, geht in das kleine Büro hinüber und setzt sich an den Computer.

— Jim …

— Du sagst, dass du ihn nicht gekannt hast. Ich auch nicht, murmelt Jim, und seine dunkelbraunen Augen trüben sich. — Als er jünger war, war er mir bloß lästig. Eine nervige Nebensächlichkeit. Dann bin ich im Gefängnis gewesen. Ich hab bei ihm und seinem Bruder alles falsch gemacht, sagt er, und als er weiterspricht, klingt es zu Melanies Verwunderung eher wie ein Selbstgespräch. — Als ich damals Vater wurde, hab ich mir eingeredet, dass ich niemals so sein würde, wie mein Alter zu mir gewesen ist. Und ich hab mein Wort gehalten: Ich war schlimmer als er, gesteht er unverblümt, während er die Internetseite von American Airlines aufruft. Dann dreht er sich um, sieht ihr in die Augen und sagt: — Aber mit den Mädchen bin ich anders.

— Natürlich bist du das. Du bist ein großartiger Vater, erwidert Melanie, vielleicht ein bisschen zu eifrig. — Alles ist anders. Du warst damals noch zu jung, du …

— Ich war süchtig nach Gewalt, gesteht ihr Jim leidenschaftslos, gibt seine Reisedaten ein und zieht die Kreditkarte hervor. — Aber diesen Blödsinn hab ich jetzt unter Kontrolle, denn er führt zu nichts. Nur ins Gefängnis. Davon kann ich ein Lied singen.

— Ja, sagt Melanie und drückt seine Hand. Sie versucht ihn zu finden, diesen Mann, den sie geheiratet und mitgenommen hat, als sie in die Staaten zurückkehrte. Doch alles, was sie sieht, ist ein schottischer Häftling namens Francis Begbie, den sie Jahre zuvor getroffen hatte.

6   DER LIEFERJUNGE 2

Sie kamen freitagabends zu uns nach Hause, wenn meine Ma beim Bingo war. Die Runde bestand aus Grandad Jock, Carmie, Lozy und einem sehr viel jüngeren Kerl namens »Handsome« Johnnie Tweed. Er war der Einzige von ihnen, der mir jemals Geld gab. Er pflegte mich beiseitezunehmen, um mir hin und wieder eine Ein-Pfund-Note oder ein Zehn-Shilling-Stück in die Hand zu drücken. Dabei zwinkerte er mir immer verschwörerisch zu. Sie waren ein arroganter, anmaßender Haufen, der gerne in Crombie-Mänteln und Trilby-Hüten herumstolzierte. Ich war von ihnen fasziniert, genau wie mein Bruder Joe.

Mein Dad soff sich ständig zu, mit meinem Onkel Jimmy. Er war dauernd rattenvoll. Meine Ma setzte ihn vor die Tür, manchmal für Jahre. Wenn er zurückkehrte, blieb er eine Weile nüchtern, aber nie für lange. Dann war er ne Ewigkeit weg. Es hieß, dass er auf ner Bohrinsel schuftet, aber ich wusste, dass er im Knast war oder bei irgend so ner blöden Schlampe im Bett lag. Als er wiederkam, blieb er gerade lang genug, um Ma zu schwängern, mit meiner kleinen Schwester Elspeth.

Ich sehnte diese Freitagabende herbei, auch wenn sie etwas Schräges hatten. Grandad Jock nuckelte immer an nem Bier, das er nur selten austrank, und nippte zwischendurch mal an nem Whisky. Er trank immer nur einen. Er beobachtete seine Söhne, wie sie soffen, herumlümmelten, furzten und Sprüche klopften. Selbst als Kind konnte ich spüren, dass er innerlich vor Enttäuschung schäumte. Ich schätze, das hatten wir gemeinsam.

Meine Ma hasste ihn und seine drei Kumpels. Gangster, so nannte sie das Quartett. Damals, Ende der Siebziger, gehörten sie zu den letzten Arbeitern der schwächelnden Werft. Abgesehen von Johnnie, waren sie alle schon seit dem Krieg an den Docks beschäftigt und gingen nun auf die Rente zu. Den drei Älteren, wegen kriegswichtiger Tätigkeiten vom Wehrdienst freigestellt, war das Schlachtfeld erspart geblieben. Ich hab es immer als Ironie des Schicksals empfunden, dass ausgerechnet die Typen, die von allen für besonders harte Kerle gehalten wurden, ihren beruflichen Status nutzten, um sich davor zu drücken, gegen die Nazis zu kämpfen. Doch ihr wahres Motiv war persönliche Bereicherung. — Sie ham sich alles untern Nagel gerissen, was für die arbeitende Bevölkerung bestimmt war, habe ich meine Mutter mal sagen gehört. — Ham ihre eigenen Leute beklaut. Die Kriegshilfe war für alle gedacht, nich nur für dieses diebische Rattenpack.

Das war ein wenig scheinheilig. Ich sah ja zu Hause, was wir alles hatten, im Vergleich zu den Wohnungen der Leute, die nicht so gut dran waren. Wir hatten alles – zumindest, bis mein Alter es versoffen hat. Und uns war klar, wo das Zeug herkam. Ich hab meine Ma niemals sagen hören, dass sie irgendwas zurückgeben wollte.

Doch sie bemühte sich, mich von Grandad Jock und seinen Kumpels fernzuhalten. Ich war dreizehn und im ersten Jahr der Volksschule, als ihr Interesse für mich erwachte. Dass sie sich einen Dreck um meinen Bruder Joe scherten, der vierzehn Monate älter war als ich, fand ich gut. Dadurch kam ich mir wichtig vor.

Damals gab es nicht viel, was mir dieses Gefühl vermittelte.

Ich hatte die ganze Grundschule über Probleme mit dem Lesen, und in der Volksschule wurde ich in die Deppenklasse gesteckt. Buchstaben und Wörter waren für mich nur ein hingeschmierter Code, den ich nicht knacken konnte. Viele Jahre später wurde bei mir Legasthenie diagnostiziert. Doch damals machten sich die Schüler, die sich für was Besseres hielten, und sogar die Lehrer über mich lustig, weil ich so schwer von Begriff war. Innerlich kochte ich vor Wut, so sehr, dass es mich regelrecht krank machte. Ich saß an meinem Pult, atmete schwer und wurde vor Zorn fast ohnmächtig. Dann lernte ich, dass ich der Schikane ein Ende bereiten konnte, indem ich meine Wut einfach rausließ. Indem ich Hohn und Spott in Blut und Tränen verwandelte.

Deshalb fühlte es sich so gut an, dass Grandad Jock und seine Kumpels mich offenbar zu schätzen wussten. Diese unerschrockenen, ausgekochten Kerle, denen die Leute mit Furcht und Respekt begegneten. Johnnie Tweed hab ich allerdings nie so ganz durchschaut. Er war ungefähr so alt wie mein Vater, weshalb ich immer der Meinung war, dass er eigentlich eher sein Kumpel als der von Grandad Jock sein sollte. Handsome Johnnie war, wie schon sein Spitzname vermuten ließ, ein gut aussehender Kerl, mit strahlend weißen Zähnen und einem pechschwarzen Bürstenschnitt. Er roch nach Rasierwasser, Zigaretten und Alkohol, wie es alle Männer tun, wenn du ein Kind bist. Aber irgendwas an Johnnies Geruch sprach mich besonders an.

Ich hasste die Schule und arbeitete nebenher als Lieferjunge für R & T Gibson, einen Lebensmittelladen in Canonmills. In dem riesigen Korb, der vorne am massiven Metallrahmen des großen schwarzen Fahrrads befestigt war, fuhr ich kartonweise Lebensmittel herum. Ich lenkte das schwere Monstrum durch den dichten Straßenverkehr, und meine dürren Beinchen strampelten wie verrückt, um das Rad überhaupt aufrecht zu halten. Ich füllte auch die Regale im Laden auf. Der Besitzer hieß gar nicht Gibson, sondern Malcolmson: ein reizbarer Arsch mit Fistelstimme. Immerzu scheuchte Malcolmson mich und Gary Galbraith, den anderen Schuljungen, der dort aushalf, durch die Gegend.

Eines Samstagmorgens kamen Grandad Jock und Carmie in den Laden. Willie Carmichael war ein schweigsamer Koloss von einem Mann, mit Händen wie Schaufeln, und er wich nie von Jocks Seite. Grandad Jock hatte dieses für ihn typische schiefe Lächeln aufgesetzt, das ich inzwischen mit dem Wort »höhnisch« in Verbindung bringe. Er starrte Malcolmson durchdringend an, der nervös herumschlurfte, während sie miteinander sprachen. Malcolmsons Stimme wurde immer höher. — Die Werftarbeiter von Leith, aye. Aber klar, Jock, nur das Beste für die Werftarbeiter von Leith!

Das hinterfotzige Grinsen meines Großvaters machte keine Anstalten, sich zu verflüchtigen. Er und Carmie nahmen Malcolmson beiseite und flüsterten auf ihn ein. Ich hielt mich fern und stapelte Dosen mit Ananasstücken in die Regale, konnte aber sehen, wie Malcolmsons Augen sich weiteten und die von Jock und Carmie zu schmalen Schlitzen wurden. Anschließend sagte Jock zu mir: — Dasste mir auch schön hart arbeitest und dich gegenüber unserem Mr. Malcolmson hier immer gut benimmst, Jungchen, verstanden?

— Aye.

Dann verließen sie den Laden. Malcolmson redete eine Weile lang kein Wort, aber später sah er mich so komisch ehrfürchtig und verängstigt an. Er sagte uns, dass Gary Galbraith den Großteil der Lieferungen übernehmen und ich die Regale auffüllen würde – drinnen, im warmen Laden. Das waren gute Nachrichten für mich, allerdings nicht für Gary. Draußen auf dem Fahrrad war es scheißkalt. Ich hingegen war nur für eine Lieferung verantwortlich, und zwar dreimal die Woche: eine Kiste mit Obst für die Werftarbeiter in Leith. Ich hatte weder meinen Großvater noch einen seiner Freunde je auch nur ein einziges Stück Obst essen sehen – oder irgendein Gemüse, das keine Kartoffel war.

Am Tor zur Werft stand immer so ein Spinner namens John Strang – dicke Brille, an den Kopf geklatschte Haare. Er war als gewalttätiger Irrer bekannt, der sogar schon in Carstairs eingesessen hatte, einer Anstalt für kriminelle Geisteskranke. Die Docks waren gepflastert, was nicht weiter schlimm war, wenn ich reinfuhr. Aber wenn ich wieder rauskam, nachdem ich ihnen einen Besuch abgestattet hatte, war die Kiste voll mit schweren Schnapsflaschen, die lärmend gegeneinander schlugen. Natürlich ließ Strang mich dennoch kommentarlos passieren, da Jock und die anderen ihn offensichtlich in der Tasche hatten. Doch schon dem Blick seiner unnatürlich vergrößerten Glotzaugen ausgesetzt zu sein war beunruhigend genug. Danach fuhr ich zurück zum Laden und deponierte die Flaschen im Müllcontainer hinterm Haus. Später kam Johnnie mit einem Lieferwagen, um sie abzuholen. Das wusste ich, weil ich mich eines Abends hinter den Büschen versteckt hatte, unten am Wasser beim Leith Walkway, und da hatte ich ihn kommen sehen.

Doch ich fuhr gern runter zu den Docks, um meinen Großvater und seine Kumpels zu sehen. Man merkte sofort, dass sie ein eingeschworener Haufen waren und dass die anderen Werftarbeiter sie in Ruhe ließen. Sie hingen in diesem Backsteingebäude neben dem alten Trockendock ab, das sie zu ihrem Hauptquartier auserkoren hatten. Ganz am östlichen Ende der Werft gelegen, grenzte es an einen hohen Drahtzaun und ein paar Industriebetriebe, weit abseits von den anderen Arbeitern. Ich nehme an, dass beide Parteien diesen Umstand zu schätzen wussten. Ihre »Hütte«, wie sie es nannten, war eindeutig mal als Lager gedacht gewesen: Das einzige Möbelstück außer einem hölzernen Tisch und Stühlen war ein Regal mit Putzzeug. Es gab zwar eine Lampe, aber keine Fenster. Gelüftet wurde der Raum durch ein paar Luftziegel am oberen und unteren Ende der Außenwand und verschlossen mit einer großen Holztür, die nur angelehnt war, wenn mein Großvater und seine Freunde sich dort aufhielten.

Ich setzte mich zu ihnen, trank Tee aus einem Becher, wärmte mich an dem alten Gasofen, der im Winter immer befeuert wurde, und lauschte ihren Gesprächen. Für meine jungen Ohren klangen sie sonderbar. Oft schienen sie in Rätseln zu sprechen und benutzten Wörter und Ausdrücke, die mir nichts sagten. Es erschien mir wie eine andere Sprache, so eine Art Code. Sie waren wie Relikte aus einer anderen Ära.

Diese Kerle hatten vielleicht keinen Schimmer davon, dass The Jam gerade die Charts aufrollten, doch sie verstanden sich auf die Menschen. Und auf deren Schwächen. — Weißte, dein Bruder Joe, der hat Schiss vor dir, sagte Grandad Jock dort in ihrer Hütte eines Tages zu mir. — Er weiß, dass er schwächer is wie du.

Diese Enthüllung haute mich aus den Socken. Joe schikanierte mich ständig, verprügelte mich, machte mir das Leben zur Hölle. Doch ich erkannte eine befremdliche Wahrheit in der Aussage meines Großvaters. Da war so eine Panik in Joes Augen, wenn er mich schlug. Als ob er mit einer Vergeltung rechnen würde, die jedoch niemals kam. Gewappnet mit dieser Erkenntnis beschloss ich kurzerhand, dass die Zeit dafür nun gekommen war. Und er würde nicht damit rechnen. Dieser alte Drecksack Jock, der die Schwachstellen eines Menschen riechen konnte wie ein Hai das Blut im Wasser, sah alles. Und er durchschaute alles.

Als ich jünger war, habe ich jedem diese Geschichte von Joe und mir erzählt. Die Geschichte von der Einsicht, die zwischen uns beiden alles änderte. Allerdings erzählte ich sie so, als wäre es mein Vater gewesen, der mich beiseitegenommen und mir gesagt hatte, ich solle Joe mit einem Ziegelstein ins Gesicht schlagen, während er schlief. Denn mit diesem unbändigen Willen zur Macht hatte ich mir meinen Vater immer gewünscht. Doch es war nicht mein Vater gewesen, sondern mein Großvater. Der alte Jock.

Letzten Endes zählte nur eins: Es war Joes Gesicht und mein Ziegelstein. Joe weinte die ganze Nacht und blutete in sein Kissen. Ich war verängstigt, aber aufgekratzt, fast wie berauscht von meinem Gefühl der Macht. Von nun an war klar, wer das Sagen hatte.

7   DIE SCHWESTER

Die Flugreise war ein einziger turbulenter Wissensrausch, vor allem dank der Hörbücher. Neuerdings erfuhr die Stimme in seinen Ohren Unterstützung durch einen Kindle. Das Gerät stellte eine großartige Erleichterung dar. Es erlaubte ihm, den Text auf dem Bildschirm zu vergrößern, den Fokus auf einzelne Wörter zu richten, ohne sie mühsam aus der Masse herauspuzzeln zu müssen und dabei zwangsläufig vom Wesentlichen abgelenkt zu werden. Er hatte gelernt, die Schriftart zu ändern: Manche Schrifttypen waren für ihn einfacher zu lesen als andere. Und dieses Herumexperimentieren trug tatsächlich Früchte: Indem er die Wörter parallel zum Vortrag des Hörbuchsprechers las, hatte er gelernt, sie zu differenzieren und zuzuordnen. So wurde die nagende Frustration des Versagens langsam, aber sicher von der Begeisterung am Lernen abgelöst. Der Spott der Lehrer, das Kichern der Klassenkameraden, das beißende Schamgefühl und die sengende Wut gehörten längst zu einer anderen Person, in eine andere Zeit.

Doch der Name dieser Person stand immer noch in seinem Ausweis: Francis James Begbie. Und das, obwohl sein Künstlername inzwischen Jim Francis war und auch seine Frau ihn meistens Jim rief. Es war fast von allein passiert: Zufällig lautete Melanies Nachname genau wie sein Vorname, und von Collegefreunden wurde sie häufig »Frankie« genannt. Nichtsdestotrotz war sie geschmeichelt gewesen, als er ihr sagte, dass er künftig Jim genannt werden wollte, und nach Grace’ Geburt hatten sie den Nachnamen Francis als Familiennamen angenommen. — Ich will nicht, dass sie als Begbie aufwächst, hatte er mit Nachdruck erklärt.

Aber ganz gleich, wie er nun hieß, er hätte nicht gedacht, dass er je wieder nach Schottland zurückkehren würde. Es gehörte einfach nicht zu seinen Plänen: Er hatte sich geschworen, dass die Beerdigung seiner Mutter sein letzter Besuch gewesen sein würde. Er hatte weder zu seiner Schwester noch zu seinem Bruder ein sonderlich inniges Verhältnis, und schon gar nicht zu seinen Söhnen, die – so hatte er sich das zumindest zurechtgelegt – ohnehin ihr Ding machten. Allerdings hätte er bei dem, was sie so machten, niemals ans Sterben gedacht. Dass ihm Seans Tod naheging, hatte ihn nicht überrascht. Doch er war erschrocken, wie tief der Schmerz saß.

Was Freundschaften betraf, so konnten gerade die zwischen unverbesserlichen Gewalttätern gelegentlich zu echter Kameradschaft oder sogar aufrichtiger Zuneigung erblühen, solange sich alle dabei fest an die Hackordnung hielten. Wenn das nicht gelang, waren die Folgen allerdings so verheerend, dass nur die wenigsten Freundschaften sie überlebten, und gelegentlich nicht einmal die Freunde selbst. So oder so hatte das Leben, das seine alten Kameraden führten, für ihn nichts Verlockendes mehr.

Er hatte bereits mit June telefoniert und ihrem dumpfen, von Antidepressiva beduselten Schluchzen entnommen, dass es ihr in erster Linie darum ging, ihn die Beerdigungskosten zahlen zu lassen. Ein Wunsch, den er ihr bereitwillig erfüllte. Sie berichtete ihm das wenige, was über Seans Tod bekannt war: dass man ihn nach einem anonymen Hinweis aus mehreren Stichwunden blutend in einer Wohnung in Gorgie gefunden hatte. Die Polizei vermutete einen Überfall, doch außer ihm war niemand dort gewesen, und die Nachbarn hatten nichts gehört, was auf eine Auseinandersetzung hinwies. Der Besitzer hatte die Wohnung an einen bekannten Drogendealer vermietet, der gerade eine Gefängnisstrafe absaß. Allerdings waren keinerlei Indizien gefunden worden, die auf ein Drogengeschäft hindeuteten. Die Wohnung hatte vor Seans Einzug offenbar lange leer gestanden.

Je länger der Flug dauerte, desto mehr zehrte es an Jims Kräften, und in Heathrow musste er warten, weil der Anschlussflug Verspätung hatte.

Endlich in Edinburgh angekommen, ist er völlig erledigt und friert. Als er mit seinem roten Rollkoffer, in den er hauptsächlich T-Shirts, Socken und Unterhosen gestopft hat, und mit einer dünnen Lederjacke bekleidet aus dem Flughafengebäude tritt, bläst ihm der Nordseewind entgegen. Es war ein Fehler, keine angemessene Garderobe einzupacken. Er holt sein iPhone hervor und liest die Textnachrichten. Eine ist von der Telefongesellschaft und informiert ihn über die Wucherpreise, die er zahlt, solange er sich außer Landes aufhält. Darauf folgt eine deutlich angenehmere SMS von Melanie:

Ich liebe dich!! XXX

Er schreibt zurück:

Bin hail angekommen! Liebe dich auch!!! XX

Voller Bestürzung fällt ihm auf, dass er das Wort »heil« falsch geschrieben hat. Am Taxistand stellt er zu seiner Überraschung fest, dass der Fahrer des Wagens ein alter Bekannter ist, der anhand seiner markanten Lockenmähne nur schwer zu verwechseln ist und ihn ebenfalls sofort erkennt: — Alles klar, Alter? Bist doch Franco, oder? Der alte Kumpel von Sick Boy?

— Hi, Terry, erwidert Jim – beziehungsweise Franco, wie man ihn in Edinburgh wohl auf ewig nennen wird – mit einem verhaltenen Lächeln. Es tut gut, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Juice Terry ist das, was man euphemistisch ein »Original« nennt. Soweit Franco weiß, dreht er immer noch Pornos mit seinem alten Kumpel Sick Boy und fährt in seiner Freizeit Taxi.

— Hab alles über dich gelesen. Läuft ja wohl ganz gut bei dir, grinst Terry, doch dann legt sich sein Gesicht in Falten. — Hab von deinem Kurzen gehört. Tut mir echt leid, Alter. War ja noch voll jung.

— Danke, aber ich hatte kaum noch Kontakt zu ihm.

Terry grübelt kurz über diese Antwort nach. Er versucht zu ergründen, ob sie aufrichtig oder bloß eine stoische Trotzreaktion ist. — Bist wegen der Beerdigung hier, was?

— Aye.

Als er Franco an der gewünschten Adresse in Murrayfield in einer von wild durcheinandergewürfelten Einfamilien- und Reihenhäusern gesäumten Straße absetzt, gibt Terry ihm eine Visitenkarte. — Fallste mal ein Taxi brauchst, rufste einfach kurz durch. Mein Schild da oben is nich allzu oft beleuchtet, sagt Terry und zwinkert ihm zu. — Fallste verstehst, was ich mein.

Franco nimmt die Karte, steckt sie in die Innentasche seiner Jacke und steigt aus. Er verabschiedet sich und blickt Terry hinterher, als dieser in den gespenstischen Dunstschwaden des nachlassenden Morgennebels verschwindet, in dem sich nun allmählich der imposante Bau des Rugbystadions abzeichnet. Dann zieht er seinen Rollkoffer die kurze Einfahrt des Hauses mit der Waschbetonfassade hinauf, in dem seine Schwester mit ihrem Mann und den zwei Söhnen wohnt. Er klopft an die Tür, und Elspeth öffnet ihm. Die auf ihrem Kopf aufgetürmten Haare halten dort offensichtlich nur aufgrund eines widernatürlichen Konstrukts aus Nadeln und Klammern. Sie nimmt ihn sofort in den Arm und zieht ihn fest an sich. — Oh, Frank … es tut mir so leid … komm rein, du musst ja völlig erschöpft sein.