Ein tiefer Blick in die Seele - Andrea Camilleri - E-Book

Ein tiefer Blick in die Seele E-Book

Andrea Camilleri

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Beschreibung

Commissario Montalbanos Vize Mimì hat einen Toten entdeckt - unter mysteriösen Umständen. Kurz darauf geht im Kommissariat ein Anruf ein: Der vermögende Theaterliebhaber Carmelo Catalanotti wurde leblos aufgefunden - in der gleichen Position wie der andere Tote. Während die Ermittlungen im ersten Fall sich als besonders delikat erweisen, ahnt Montalbano im Fall Catalanotti bald, dass dieser als Leiter einer Schauspieltruppe mit ungewöhnlichen Auswahlkriterien Zorn auf sich gezogen hat. Montalbano sieht sich mit einer ganzen Schar Verdächtiger konfrontiert. Und muss überdies einer neuen ehrgeizigen Kollegin Paroli bieten - der schönen Gerichtsmedizinerin Antonia ...

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber den AutorTitelImpressumEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnAnmerkung des AutorsAnmerkung der Übersetzer

Über das Buch

Commissario Montalbanos Vize Mimì hat einen Toten entdeckt – unter mysteriösen Umständen. Kurz darauf geht im Kommissariat ein Anruf ein: Der vermögende Theaterliebhaber Carmelo Catalanotti wurde leblos aufgefunden – in der gleichen Position wie der andere Tote. Während die Ermittlungen im ersten Fall sich als besonders delikat erweisen, ahnt Montalbano im Fall Catalanotti bald, dass dieser als Leiter einer Schauspieltruppe mit ungewöhnlichen Auswahlkriterien Zorn auf sich gezogen hat. Montalbano sieht sich mit einer ganzen Schar Verdächtiger konfrontiert. Und muss überdies einer neuen ehrgeizigen Kollegin Paroli bieten – der schönen Gerichtsmedizinerin Antonia …

Über den Autor

Andrea Camilleri (1925–2019), in dem sizilianischen Küstenstädtchen Porto Empedocle (Provinz Agrigento) geboren, war Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur sowie langjähriger Dozent an der Accademia d’arte drammatica Silvio D’Amico in Rom. In seinem umfassenden literarischen Werk setzte er sich vornehmlich mit seiner Heimat Sizilien auseinander. Seine Romane um den beliebten Kommissar Salvo Montalbano wurden international zu Bestsellern, und seine Hauptfigur gilt weltweit als Inbegriff für sizilianische Lebensart, einfallsreiche Kriminalistik und südländischen Charme und Humor.

Andrea Camilleri

Ein tiefer Blick in die Seele

Commissario Montalbano geht den Dingen auf den Grund

Roman

Übersetzung aus dem Italienischen von Rita Seuß und Walter Kögler

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

  

Titel der italienischen Originalausgabe:

»Il metodo Catalanotti«

  

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2018 by Sellerio Editore, via Enzo ed Elvira

Sellerio, 50, Palermo

  

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG,

Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

  

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und

Data-Mining bleiben vorbehalten.

  

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau

Umschlagmotiv: © Nikiforov Alexander/Shutterstock

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

  

ISBN 978-3-7517-4777-6

luebbe.de

lesejury.de

Eins

Er befand sich auf der Lichtung eines Kastanienwäldchens, der Boden war mit roten und gelben Margeriten einer ihm unbekannten Art übersät, deren Duft wie Balsam in der Luft lag. Er bekam Lust, barfuß zu laufen, und als er in die Hocke ging, um seine Schnürsenkel zu lösen, vernahm er den hellen Klang feiner Glöckchen. Er hielt inne, um zu lauschen, und sah eine Herde weißer und brauner Ziegen aus dem Wäldchen kommen, von denen jede ein Glöckchen um den Hals trug. Als die Tiere näher kamen, schwoll das Gebimmel zu einem einzigen anhaltenden, nicht enden wollenden schrillen Klang an, so laut, dass es ihn in den Ohren schmerzte.

Davon wachte er schließlich auf, und nun dämmerte ihm, dass das Geräusch, das immer noch anhielt, nichts anderes war als das nervige Klingeln des Telefons. Er begriff, dass er aufstehen und den Hörer abnehmen musste, schaffte es aber nicht. Er war noch zu sehr vom Schlaf benommen und hatte ein pelziges Gefühl im Mund. Er streckte den Arm aus, knipste das Licht an und sah auf die Uhr: drei Uhr morgens. Wer rief denn um diese Zeit an?

Das Klingeln dauerte an, es wollte einfach nicht aufhören.

Er stand auf, ging ins Esszimmer und hob ab.

»Pronto, wersnda?«

So war es ihm herausgerutscht.

Nach einem Augenblick der Stille hörte er vom anderen Ende der Leitung die Rückfrage:

»Bin ich da bei Montalbano?«

»Ja.«

»Ich bin’s, Mimì!«

»Was zum Teufel …?«

»Bitte, bitte, Salvo. Mach auf, ich bin gleich da.«

»Was soll ich aufmachen?«

»Die Tür.«

»Warte«, sagte er.

Mit den ruckartigen Bewegungen einer Aufziehpuppe schlurfte er zur Haustür. Er schloss sie auf und schaute hinaus.

Niemand da.

»Mimì, wo steckst du denn, verdammt?«, rief er in die Nacht.

Stille.

Er schloss die Tür.

Hatte er etwa geträumt?

Er kehrte ins Schlafzimmer zurück und legte sich wieder ins Bett.

Kaum war er eingeschlafen, klingelte es an der Haustür.

Nein, er hatte nicht geträumt.

Er kroch aus dem Bett, ging hinaus und öffnete.

Mimì stieß die Tür mit einem so heftigen Schwung auf, dass der Commissario nicht rechtzeitig ausweichen konnte. Er wurde voll erwischt und gegen die Wand gedrückt.

Sein Schreck war so groß, dass er nicht einmal einen Fluch herausbrachte, und Mimì, der nicht verstand, wo er abgeblieben war, rief:

»Salvo, wo bist du denn?«

Mit einem Fußtritt warf Montalbano die Tür ins Schloss, sodass Mimì erneut draußen stand.

»Willst du aufmachen oder nicht?«, rief er.

Montalbano öffnete und drückte sich schnell an die Wand, während er den Besucher im Blick behielt, der eintrat und ihn böse anblitzte. Mimì, der sich im Haus gut auskannte, lief an ihm vorbei ins Esszimmer, öffnete die Vitrine und holte die Whiskyflasche und ein Glas heraus. Dann ließ er sich in einen Sessel fallen, goss sich ein und trank.

Bis zu diesem Augenblick hatte Montalbano kein Wort gesagt, und stumm ging er in die Küche und begann mit der Zubereitung der üblichen Tasse Kaffee. An Mimìs Gesicht hatte er abgelesen, dass die Sache, die er ihm zu berichten hatte, ein dickes Ding war.

Mimì kam herein und setzte sich auf einen Stuhl.

»Ich möchte dir sagen …«, begann er, hielt aber inne, als er bemerkte, dass der Commissario nichts anhatte.

Erst jetzt wurde Montalbano sich seiner Nacktheit bewusst und lief ins Schlafzimmer.

Während er eine Jeans anzog, überlegte er, ob er sich nicht auch ein Unterhemd überstreifen sollte, entschied aber, dass Mimì so viel Rücksichtnahme nicht verdiente.

Er kehrte in die Küche zurück.

»Ich möchte dir sagen …«, fing Mimì erneut an.

»Lass mich erst meinen Kaffee trinken.«

Der Commissario setzte sich Mimì gegenüber, zündete sich eine Zigarette an und forderte ihn auf:

»Jetzt kannst du reden.«

Mimì fing an zu erzählen, und Montalbano, immer noch etwas verschlafen, hatte das Gefühl, im Kino zu sitzen. Mimìs Worte ließen sofort Bilder in seinem Kopf entstehen.

Es war tiefe Nacht, auf der ziemlich breiten Straße schob sich der Wagen sachte und ohne Licht an den am Gehsteig parkenden Autos vorbei, er schien nicht zu fahren, sondern über Butter zu gleiten.

Plötzlich preschte der Wagen ein Stück vor, wendete und parkte zügig ein.

Die Fahrertür öffnete sich, ein Mann stieg vorsichtig aus und schloss sanft die Tür. Es war Mimì Augello.

Er schob den Kragen seiner Sportjacke bis zur Nase hoch, zog den Kopf ein, sah sich kurz um, setzte mit drei Sprüngen über die Fahrbahn und stand auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig.

Nach ein paar Schritten blieb er vor einer Haustür stehen, streckte die Hand aus und drückte eine Klingel, ohne einen Blick auf das Namensschild zu werfen.

Die Antwort kam prompt:

»Bist du’s?«

»Ja.«

Das Schloss schnappte auf. Mimì öffnete, schlüpfte durch die Tür, die er sofort wieder schloss, und ging auf Zehenspitzen die Treppe hoch. Er zog es vor, nicht den Lift zu nehmen, der zu viele Geräusche verursacht hätte.

Im dritten Stock sah er Licht durch eine angelehnte Wohnungstür. Er ging darauf zu, drückte sie auf und trat ein. Die Frau, die ihn gleich hinter der Schwelle erwartete, griff mit der linken Hand nach ihm, während sie mit der rechten den Schlüssel im oberen Schloss viermal und im unteren zweimal umdrehte, dann warf sie den Schlüssel auf ein Abstelltischchen. Mimì wollte die Frau in seine Arme nehmen, sie wich ihm jedoch aus, fasste seine Hand und flüsterte ihm zu:

»Lass uns rübergehen.«

Mimì gehorchte.

Sie waren im Schlafzimmer, die Frau umarmte ihn und presste ihre Lippen auf seinen Mund. Mimì zog sie fest an sich und erwiderte den leidenschaftlichen Kuss.

In diesem Moment erstarrten sie und sahen einander mit weit aufgerissenen Augen an.

Hatten sie tatsächlich das Geräusch eines Schlüssels gehört, der sich im Schloss drehte?

Den Bruchteil einer Sekunde später gab es keinen Zweifel mehr.

Jemand war dabei, die Tür aufzusperren.

Mit einem fulminanten Sprung hechtete Mimì zur Balkontür, riss sie auf, trat hinaus, und die Frau schloss schnell die Tür hinter seinem Rücken.

Er hörte noch ihre Frage:

»Martino, bist du’s?«

Und dann die Stimme eines Mannes, der nun in der Wohnung war und antwortete:

»Ja.«

Darauf sie:

»Was ist denn passiert?«

»Ich habe mich vertreten lassen, mir ist nicht gut.«

Mimì hörte nicht weiter hin. Er saß in der Falle. Wenn er nicht eine Nacht auf dem Balkon verbringen wollte, musste er sich etwas einfallen lassen, um sich aus dieser ungemütlichen und gefährlichen Lage zu befreien.

Er beugte sich vor und sah nach unten.

Eine Etage tiefer befand sich ein ebensolcher Balkon wie der, auf dem er stand: ein herkömmlicher Balkon mit Eisengeländer.

Wenn er über die Brüstung stieg, konnte er sich an den Stäben festhalten und sich nach und nach hinuntergleiten lassen.

Einen anderen Ausweg gab es nicht.

Er hielt nach rechts und nach links Ausschau, ob auch kein Auto kam, und da alles ruhig war, kletterte er über die Brüstung, setzte die Füße von außen zwischen die Stäbe und ging in die Hocke. Mit der ganzen Muskelkraft seiner Arme hielt er sich an den Stäben fest und ließ sich hinunter, bis seine Fußspitzen das Geländer des unteren Balkons erreichten.

Dann bog er den Rücken durch und schwang sich mit einem athletischen Sprung auf den Balkon der zweiten Etage.

Das war geschafft!

Schwer atmend drückte er sich mit dem Rücken gegen die Hauswand. Er war völlig durchgeschwitzt.

Sobald er sich für die nächste akrobatische Übung bereit fühlte, warf er einen Blick über die Brüstung, um die Lage zu prüfen.

Unter ihm befand sich wieder ein Balkon gleicher Bauart.

Er rechnete sich aus, dass er sich von der ersten Etage aus an einem großen Eisenrohr, das neben der Haustür nach unten führte, hinabgleiten lassen und so auf die Straße gelangen konnte.

Bevor er den Abstieg begann, wollte er kurz Atem schöpfen. Er trat einen Schritt zurück und stieß dabei mit der Schulter gegen den halb geöffneten Laden der Balkontür, und sogleich befiel ihn die Sorge, dass jemand im Zimmer ihn hören könnte. Langsam drehte er sich um. Er bemerkte, dass nicht nur der Laden, sondern auch die Glastür geöffnet war. Er überlegte kurz. War es nicht besser, den Versuch zu wagen, durch diese Wohnung möglichst geräuschlos ins Treppenhaus zu gelangen, statt erneut Kopf und Kragen zu riskieren? Er war schließlich Polizist, wenn man ihn entdeckte, würde ihm schon eine Ausrede einfallen. Vorsichtig schob er Laden und Glastür auf und streckte den Kopf in das stockdunkle Zimmer. Er hielt den Atem an und spitzte die Ohren, hörte aber nur absolute Stille. Jetzt fasste er sich ein Herz. Er machte die Tür weiter auf, beugte sich vor und horchte auf ein Rascheln oder ein Atemgeräusch. Nichts. In dem gedämpften Licht, das von der Straße hereindrang, erkannte er, dass er sich in einem Schlafzimmer befand, in dem sich aber offenbar niemand aufhielt.

Er rückte zwei Schritte vor, und da geschah das Missgeschick. Er stieß gegen einen Stuhl, den er vergeblich zu fassen versuchte, bevor er umfiel.

Der Lärm dröhnte ihm in den Ohren wie Kanonendonner.

Er erstarrte. Gleich würde jemand das Licht anknipsen, jemand würde anfangen zu schreien, vielleicht sogar … aber … wie war es möglich, dass nichts dergleichen geschah?

Die Stille war noch tiefer und eindringlicher als vorher.

Vielleicht hatte er ja unverschämtes Glück, und es war niemand zu Hause.

Er verharrte reglos und ließ den Blick durch den Raum gleiten, um Gewissheit zu erlangen.

Als seine Augen sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnten, war ihm, als würde er auf dem Bett eine große, schwarze Silhouette erkennen.

Er schärfte den Blick: ein menschlicher Körper!

Konnte jemand so tief schlafen, dass er von dem Krach, den er, der Eindringling, gemacht hatte, nicht aufwachte?

Mimì trat näher heran. Vorsichtig tastete er das Bett ab und erkannte, dass die Matratze zwar mit einem Laken bezogen war, es aber keine Decke gab. Er ließ seine Hand weiter in Richtung der schwarzen Silhouette gleiten und ertastete ein Paar Männerschuhe und den Saum einer Hose.

Warum hatte sich der Mann komplett angezogen ins Bett gelegt?

Er machte einen Schritt auf das Kopfende des Bettes zu, streckte die Hand aus, strich über die Silhouette des Mannes und das vollständig zugeknöpfte Jackett und beugte sich zum Gesicht hinunter, um den Atem wahrzunehmen.

Nichts.

Nun fasste er sich ein Herz, legte ihm entschlossen die Hand auf die Stirn – und zog sie sofort zurück.

Er hatte die Kälte des Todes gespürt.

Die Bilder verschwanden.

Mimìs Stimme verwandelte sich in das Geräusch einer im Projektor leer laufenden Filmrolle.

»Und was hast du dann gemacht?«

»Kurz stand ich wie erstarrt da, dann bin ich, immer noch im Dunkeln, zur Wohnungstür, hab sie aufgemacht, bin raus auf den Flur und die Treppe runter …«

»Ist dir irgendjemand begegnet?«

»Nein, niemand. Ich bin zum Auto und hierhergefahren.«

Trotz des Espressos fühlte sich Montalbano außerstande, Mimì die richtigen Fragen zu stellen.

»Entschuldige mich einen Augenblick«, sagte er, stand auf und verließ den Raum.

Im Bad drehte er den Hahn auf und hielt seinen Kopf unter das kalte Wasser. Eine Minute verharrte er so, und als sein Verstand langsam klarer wurde, trocknete er sich ab und kehrte in die Küche zurück.

»Entschuldige, Mimì, aber warum bist du hergekommen?«, fragte er.

Mimì Augello sah ihn erstaunt an.

»Was hätte ich deiner Ansicht nach tun sollen?«

»Du hättest tun sollen, was du unterlassen hast.«

»Und das wäre?«

»Da in der Wohnung, wie du mir gesagt hast, niemand war, hättest du das Licht anmachen müssen, statt abzuhauen.«

»Wozu denn?«

»Um weitere Details festzustellen. Du hast mir gesagt, dass da ein Toter auf dem Bett liegt. Aber wie ist dieser Tote deiner Meinung nach zu Tode gekommen?«

»Das weiß ich nicht, ich weiß nur, dass ich so erschrocken war, dass ich abgehauen bin.«

»Und das war falsch. Er könnte ja eines natürlichen Todes gestorben sein.«

»Worauf willst du hinaus?«

»Wer sagt dir denn, dass der Mann ermordet wurde? Wenn er vollständig bekleidet war, kann es doch sein, dass er nach Hause gegangen ist, weil er sich nicht wohlfühlte, sich gerade noch ins Bett legen konnte und an einem Herzinfarkt gestorben ist …«

»Ja, aber was ändert das?«

»Das ändert alles. Denn wenn der Mann eines natürlichen Todes gestorben ist, könnten wir so tun, als wüssten wir nichts davon. Wenn er aber einem Mord zum Opfer gefallen ist, sieht die Sache anders aus. Dann haben wir die Pflicht, uns darum zu kümmern. Denk gut nach, Mimì, bevor du antwortest. Konzentrier dich und sag mir, ob du auch nur den leisesten Verdacht hattest, dass der Mann ermordet wurde.«

Mimì richtete sich auf. Er legte die Stirn in Falten, stützte die Ellbogen auf den Tisch und nahm den Kopf zwischen die Hände.

»Aktivier deine ganze Erfahrung als Bulle«, empfahl ihm Montalbano.

»Ehrlich gesagt«, meinte Augello nach ein paar Sekunden, »habe ich schon etwas wahrgenommen, aber wirklich nur ganz schwach. Es könnte auch Einbildung sein, ich weiß es nicht …«

»Sag’s trotzdem.«

»Vielleicht täusche ich mich, aber als ich näher an den Mann rangegangen bin, um seine Stirn zu befühlen, habe ich einen merkwürdigen, süßlichen Geruch wahrgenommen.«

»Den Geruch von Blut?«

»Ja, vielleicht …«

»Das ist zu wenig«, entgegnete Montalbano und erhob sich.

Doch dann hielt er inne und sah Augello an, der immer noch den Kopf zwischen den Händen hielt.

Er beugte sich über den Tisch, packte Mimì am Handgelenk, drehte es herum, besah es einen Augenblick und stieß den Arm dann so zurück, dass Augello ihn ins Gesicht bekam.

Der sah den Commissario verwundert an.

»Was hast du denn?«

»Schau dir mal deinen rechten Ärmel an.«

Mimì gehorchte.

Am Ärmelsaum war ein schwacher roter Streifen zu erkennen.

»Siehst du, ich hatte recht mit meiner Vermutung«, fuhr Augello hoch. »Und damit ist auch deine Frage beantwortet: Er wurde umgebracht.«

»Bevor wir weitermachen, brauche ich ein paar Informationen«, sagte Montalbano.

»Nur zu.«

»Erstens: War es das erste Mal, dass du diese Frau in ihrer Wohnung besucht hast?«

»Nein«, sagte Augello.

»Wie oft also, mein Junge?«

»Minimum sechs Mal, davon vier Mal mit Abschluss.«

»Was soll das heißen: ›mit Abschluss‹?«

»Salvo, das heißt …«, erwiderte Augello ein wenig verschämt, »… ›mit Abschluss‹ heißt Schluss mit Genuss. Kannst du mir folgen?«

»Kann ich. Und die anderen beiden Male?«

»Sagen wir, nur partiell und erkundungshalber. Pardon, Salvo, aber was soll diese Fragerei, tut das etwas zur Sache?«

»Nein.«

»Wozu dann das Ganze?«

»Betrachte sie als die andere Möglichkeit.«

»Welche andere Möglichkeit?«

»Zu dieser nachtschlafenden Zeit habe ich zwei Optionen: Ich verarsche dich, wie ich es gerade getan habe, oder ich hau dir eine rein. Also antwortest du am besten, ohne zu protestieren.«

»Na gut.«

»Noch einmal: Bist du sicher, dass dich bei deinem Kommen und Gehen niemand gesehen hat?«

»Ganz sicher.«

»Wie heißt diese Signora?«

»Genoveffa Recchia.«

Montalbano konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

»Was gibt’s denn da zu lachen?«, fragte Mimì.

»Mir ging gerade durch den Kopf, dass Catarella aus ihr bestimmt Genoveffa la Racchia, die Schreckschraube, gemacht hätte.«

»Na dann.« Mimì Augello stand auf. »Ich wünsche dir eine gute Nacht.«

»Komm schon«, sagte Montalbano. »Reg dich ab. Setz dich, und dann reden wir weiter. Was macht diese Genoveffa?«

»Erstens gebe ich dir zur Kenntnis, dass sie Geneviève genannt werden will.«

Montalbano musste erneut lachen.

Mimì sah ihn schief an, sprach aber weiter:

»Zweitens tut Geneviève das, was sie zu tun hat: Sie ist Hausfrau.«

»Dann kommt die Ärmste, wenn sie sich tagsüber langweilt, wenigstens nachts auf ihre Kosten.«

Mimìs Miene verfinsterte sich zusehends.

»Da liegst du völlig falsch. Geneviève kümmert sich um viele Sachen, unter anderem leitet sie eine Theaterwerkstatt für Kinder.«

»Hat sie selbst keine?«

»Nein.«

»Und was macht ihr Mann?«

»Er ist Arzt im Krankenhaus von Montelusa und hat jeden Donnerstag Nachtdienst.«

»Dann habt ihr also einen Tag in der Woche, wo ihr euer Programm durchziehen könnt.«

Augello hob den Blick zur Decke, als wollte er den Himmel anflehen, ihn angesichts von Montalbanos Spöttelei nicht aus der Haut fahren zu lassen.

Sein Gebet wurde erhört, denn der Commissario fragte:

»Weißt du zufällig, wie der Tote hieß?«

»Ja, Aurisicchio. Ich habe mir den Namen auf dem Klingelschild angeschaut.«

»Weißt du sonst irgendetwas über ihn?«

»Leider nicht.«

Sie schwiegen.

»Was ist? Hat es dir die Sprache verschlagen?«, fragte Mimì nach einer Weile besorgt.

»Tatsache ist, dass du mir ein nicht unerhebliches Problem vor die Füße geworfen hast. Wie sollen wir vorgehen, um offiziell Kenntnis davon zu erlangen, dass sich in dieser Wohnung ein Mordopfer befindet?«

»Ich hätte da eine Idee«, rief Mimì.

»Und die wäre?«

»Was, wenn der Kerl sich selbst umgebracht hat?«

»Das wäre eine Möglichkeit. Aber in der Sache ändert sich damit nichts.«

»O doch! Wenn er sich umgebracht hat, kann das uns von der Polizei herzlich egal sein, solange keiner die Leiche entdeckt.«

»Mimì, abgesehen von deiner ausgeprägten Menschenliebe macht diese geniale Idee die Dinge noch komplizierter. Ich sehe nur einen Weg: Wir müssen einen Grund finden, der uns zu einer Überprüfung der Wohnung zwingt.«

»Das ist das Problem.«

»Wie auch immer«, fuhr Montalbano fort. »Eines ist wichtig: Der Erste, der diese Wohnung betritt, musst du sein, Mimì, und du solltest zusehen, dass du so viel wie möglich mit bloßen Händen berührst.«

»Warum?«

»Mein lieber Freund, du hast den Fensterladen aufgeschoben, um das Schlafzimmer zu betreten, du hast den Stuhl angefasst, damit er nicht umfällt, du hast den Türriegel geöffnet. Ist dir klar, wie viele Fingerabdrücke du in dieser Wohnung hinterlassen hast?«

Augello wurde blass.

»Himmel hilf! Wenn diese Geschichte rauskommt, stehen meine Ehe und meine Karriere auf dem Spiel. Was können wir tun?«

»Fürs Erste nur eines: Du ziehst Leine. Wir sehen uns nachher um acht im Kommissariat. Einverstanden?«

»Einverstanden!« Augello stand auf und ging zur Tür.

Montalbano begleitete ihn nicht, sondern kehrte ins Schlafzimmer zurück. Er sah auf die Uhr, fast vier. Was jetzt? Ihm war nicht danach, sich noch einmal hinzulegen, aber anziehen wollte er sich auch noch nicht.

Der Kaffee tat inzwischen seine Wirkung.

Ihm blieb nichts anderes übrig, als wach zu bleiben und in der Morgendämmerung am Strand spazieren zu gehen. Und um sich gegen die aufkommende Schläfrigkeit zu wappnen, setzte er eine zweite Kanne Espresso auf.

Zwei

Eine halbe Stunde lang lief er über den nassen Sand.

Da er weder Hemd noch Jackett angezogen hatte, fröstelte er in der leichten Brise.

Er ging weiter, doch dann drehte plötzlich der Wind, nahm an Stärke zu und wirbelte den trockenen, nicht vom Wasser benetzten Sand auf, der an seinen Füßen kleben blieb. Es war Zeit, zurückzugehen.

Kaum hatte er kehrtgemacht, flog ihm eine durch die Luft segelnde Zeitungsseite ins Gesicht.

Der Commissario griff nach ihr.

Es war das Titelblatt des Giornale dell’Isola vom Vortag.

Im gedämpften Morgenlicht las er die Schlagzeile: »Alarmierende Lage am Arbeitsmarkt.«

Der Untertitel lautete:

»Sizilien erneut die Region mit der niedrigsten Beschäftigungsrate in Europa: unter 40 Prozent.«

Die Spalte rechts war überschrieben mit:

»Was passiert bei einem Ausstieg aus dem Euro?«

In der Mitte der Seite die Ankündigung:

»Weitere Sicherheitsmaßnahmen gegen den Terrorismus.«

Der Commissario war drauf und dran, das Blatt zusammenzuknüllen, als ihm ganz unten eine Meldung ins Auge fiel, wonach auf dem Logo der Sternepartei in Zukunft nicht mehr der Name des Gründers und Komikers aufscheinen würde, sondern nur noch jener der Bewegung.

Wie man es auch dreht und wendet, eine Gurke bleibt eine Gurke, dachte er.

Sie würden weiter gegen alles sein, in der Hoffnung, auf diese Weise an die Macht zu kommen, um dann zu enden wie alle anderen.

Montalbano wünschte sich, diesen Tag nie erleben zu müssen.

Er knüllte das Papier zu einer Kugel zusammen und warf sie ins Wasser. Nach der Lektüre all dieser schlechten Nachrichten hatte er das Gefühl, sich beschmutzt zu haben.

Um sich davon zu befreien und obwohl ihm kleine Kälteschauer über den Rücken liefen, zog er sich, da weit und breit kein Mensch zu sehen war, aus und ging nackt ins Wasser. Die Kälte traf ihn bis ins Mark, aber er hielt stand, und als das Wasser ihm bis zur Brust reichte, fing er an zu schwimmen.

Als Montalbano und Augello sich um acht Uhr morgens ins Gesicht sahen, war ihnen klar, dass es so nicht gehen würde.

Ohne ein Wort zu sagen, steuerten sie Seite an Seite auf die kleine Küche zu, wo alles Nötige für einen Kaffee bereitstand.

Sie tranken jeder zwei Tassen und gingen, immer noch schweigend, wie zwei Carabinieri nebeneinander her zurück ins Büro.

Sie setzten sich einander gegenüber und sahen sich lange wortlos an.

Dann fragte Montalbano:

»Hast du irgendeine Idee, wie wir für die Entdeckung des Toten sorgen könnten?«

»Nein, hab ich nicht.«

»Wir können ihn aber schlecht dort liegen lassen, bis er zum Skelett geworden ist. Fragen wir Fazio, vielleicht fällt ihm was ein.«

»Moment mal«, fuhr Augello auf. »Ich halte es nicht für angebracht, Fazio in das einzuweihen, was mir heute Nacht passiert ist. Meine Ehre steht auf dem Spiel.«

»Mimì! Geh mir bitte nicht auf den Sack! Deine Ehre ist sowieso im Arsch.«

»Na gut«, gab Augello nach, »fragen wir ihn.«

Montalbano griff nach dem Hörer und wies Catarella an:

»Schick Fazio zu mir.«

»Er ist noch nicht vor Ort, Dottori, aber ich wollte Ihnen sagen, dass gerade eben eine Zitterfrau angerufen hat, die …«

»Das erzählst du mir später. Jetzt schaffst du mir Fazio her.«

»Sofortigstens, Dottori, aber schauen Sie, diese Zitterfrau sagt, dass sie …«

»Ich hab gesagt, du sollst Fazio holen!«

»Wie Sie wünschen.«

Ein paar Sekunden später klingelte das Telefon.

»Pronto, Dottore, Fazio hier.«

»Bist du auf dem Weg ins Büro?«

»Nein, Dottore, ich bin im Einsatz, auf der Kundgebung der Gewerkschaft gegen die Arbeitslosigkeit.«

Montalbano spulte das Register seiner Flüche ab.

»Und wann kommst du da wieder weg?«

»Dottore, das geht noch mindestens zwei Stunden.«

Der Commissario legte auf, mit Fazio war vorerst nicht zu rechnen.

Der Knall, mit dem die Tür aufflog und gegen die Wand donnerte, war heftig. Auf der Schwelle erschien Catarella mit hoch erhobenen Händen.

»Ich bitte um Vergebnis und Entschuldung, Dottori, aber ich habe gestern die Türangeln … weil die Tür gequietscht hat …«

»Was gibt’s, Catarella?«

»Dottori, ich wollte Ihnen sagen, dass jetzt schon zweimal diese haushälterische Zugeherin angerufen hat, diese Zitterfrau …«

»Catarè, warum Zitherfrau? Ist sie Musikerin?«

»Nein, Dottore, Zitterfrau, weil … damit meine ich, dass ihre Stimme so zittert.«

»Na gut, und weiter?«

»Diese Frau, Giusippina heißt sie, ich hab nicht richtig verstanden, ob Lo Voi oder Lo Vai. Sie sagt, sie ist zum Putzen in die Wohnung des Ragioniere gegangen, bei dem sie putzt, und hat ihn tot ausgestreckt und ohne Lebensgeister auf dem Bett vorgefunden, ganz und gar leblos …«

»Das reicht«, sagte Montalbano, »sag der Signora, wir kommen gleich. Danke, du kannst gehen.«

»So ein Glück!«, platzte es aus Augello heraus, kaum dass Catarella verschwunden war. »Die Lösung des Problems hat sich von selbst ergeben, unsere Leiche ist gefunden. Und jetzt?«

»Und jetzt, Mimì, setzen wir zwei uns ins Auto und fahren an den Ort deiner nächtlichen Heldentaten.«

Eine Viertelstunde später parkten sie in der Via Umberto Biancamano 20.

Mimì stieg als Erster aus und ging voran.

Vor der Haustür blieben sie stehen.

»Ich sag’s dir noch mal, du musst möglichst viel anfassen, wenn wir in der Wohnung sind, und du kannst direkt bei der Klingel anfangen: Drück du.«

Mimì drückte ausgiebig mit dem Zeigefinger auf den Klingelknopf mit dem Namen Filippo Aurisicchio.

Keine Reaktion.

Er versuchte es erneut und läutete länger.

Immer noch nichts.

»Aber die Haushälterin müsste doch in der Wohnung sein und auf uns warten«, meinte Mimì. »Warum macht sie nicht auf?«

»Vielleicht funktioniert die Gegensprechanlage nicht.«

Da ging die Haustür auf, und ein Mann um die vierzig erschien auf der Schwelle.

»Wollen Sie rein?«

»Ja, danke«, erwiderte Montalbano.

Der Mann hielt ihnen die Tür auf, dann trat er aus dem Haus, und die Tür fiel mit einem lauten Schlag ins Schloss.

»Diesmal nehmen wir den Lift«, sagte Montalbano.

Mimì, der seine Lektion gelernt hatte, öffnete die Aufzugstür und drückte auf den Knopf für die zweite Etage.

Oben angekommen, rollte er beim Läuten seinen ganzen Daumen auf der Klingel neben der Wohnungstür ab, um einen dicken fetten Abdruck zu hinterlassen.

Auch diesmal erhielten sie keine Antwort.

»Kann sein, dass die Zugehfrau mit irgendetwas beschäftigt ist und uns nicht hört.«

Kurz darauf drückte Mimì noch einmal, diesmal mit dem Mittelfinger, aber auch dieser Versuch blieb erfolglos.

Die beiden kamen zu dem Schluss, dass sich in der Wohnung vermutlich niemand außer der Leiche befand.

»Vielleicht hatte die Zugehfrau Angst, mit dem Toten allein in der Wohnung zu bleiben, und wartet woanders auf uns. Frag mal bei Catarella nach«, meinte der Commissario.

Mimì holte sein Handy hervor:

»Catarè, wo wollte die Zugehfrau warten?«

»Dort wo der Mord vonstatten gefunden hat. In der Via Almarmaro 38.«

»Was redest du denn da für einen Quatsch, Catarè? Der Mord war doch in der Via Biancamano.«

»Manobianca? Davon weiß ich nichts. Die Frau hat klar und deutlich Via Almarmaro 38 gesagt.«

»Aber in Vigàta gibt es doch gar keine Via Almarmaro.«

»Warten Sie, ich schau noch mal auf dem Zettel nach. Ich staiere es Ihnen.«

Schließlich wurde Mimì klar, dass es sich um die Via La Marmora handeln musste. Sein Gesicht wurde so fahl, dass Montalbano erschrak.

»Was ist denn? Was hat Catarella gesagt?«

»Und was machen wir jetzt?«

»Was soll das heißen, was machen wir jetzt? Red schon!«

»Salvo, Catarellas Toter ist nicht der unsrige. Es gibt einen zweiten, und der liegt in der Via La Marmora.«

»Verdammt!«, entfuhr es dem Commissario, der sich diesmal selbst ans Steuer setzte.

Unterwegs sagte Mimì:

»Damit haben wir immer noch das Problem, dass wir eine Idee brauchen, wie wir für die Entdeckung unseres Toten sorgen können.«

»Mimì, dein kriminalistisches Engagement ist wirklich beeindruckend! Da haben wir zwei Mordfälle auf einmal, und dir geht es einzig und allein darum, deinen Arsch zu retten. Im Augenblick brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Unser Toter ist tot, der haut schon nicht ab.«

Die Haustür in der Via La Marmora stand offen. In der Pförtnerloge saß eine unvorteilhaft gekleidete Frau um die sechzig, die, als sie die beiden Männer erblickte, aufsprang und auf sie zuging.

»Ihr seid von der Polizei, richtig?«

»Ja«, bestätigte Montalbano.

»Madonna, wie schrecklich! Madonna, wie furchtbar! Mich hätte fast der Schlag getroffen!«, rief die Frau.

Einige Passanten blieben neugierig stehen.

Mimì Augello packte die Frau geistesgegenwärtig am Arm und schob sie Richtung Treppenaufgang. Aber sie lamentierte weiter.

Montalbano holte tief Luft, näherte sich ihrem linken Ohr und brüllte hinein:

»Wievielter Stoooock?«

Das zeigte Wirkung. Die Frau beruhigte sich so weit, dass sie sagen konnte:

»Der zweite. Aber der Lift geht nicht.«

»Wie heißen Sie?«, fragte Augello noch, als sie die ersten Stufen nahmen.

»Giusippina Voloi.«

Auch auf der Treppe hörte die Frau nicht auf zu jammern.

»Heilige Maria, warum? Warum passieren immer mir diese fürchterlichen Sachen? Warum erlegt der Herrgott mir solche Prüfungen auf? Vorgestern ist mein Schwager ausgerutscht, vorige Woche hat meine Schwester sich den Arm gebrochen, und jetzt tut mir der Ragioniere Catalanotti an, dass er sich umbringen und dann von mir finden lässt …«

Montalbano näherte sich erneut dem Ohr der Frau und sagte:

»Machen Sie auf!«

Giusippina sah ihn an und schüttelte den Kopf.

»Sehen Sie, dass alles Unheil immer mir passiert? Ich hab die Schlüssel drinnen liegen lassen. Was machen wir jetzt? Ich Unglückselige!«

Montalbano fluchte.

Und die Frau verstummte.

»Mimì, schau dich mal nach dem Pförtner um, vielleicht hat er noch einen Schlüssel.«

»Freilich hat er einen! Bruno finden Sie in der Bar gleich nebenan.«

Mimì lief die Treppe hinunter, Montalbano setzte sich auf eine Stufe und bedeutete der Frau, neben ihm Platz zu nehmen.

Gemäß dem Handbuch des tüchtigen Kriminalisten wäre dies der richtige Moment gewesen, der Zugehfrau ein paar Fragen zu stellen. Aber die Lust dazu war ihm fürs Erste vergangen. Giusippinas wehleidige, schrille und zittrige Stimme war nicht auszuhalten.

Folglich blieb er stumm und rauchte eine Zigarette. Da die Frau aber weiter jammerte, sprang er auf, ging die Treppe hinunter und setzte sich einen Stock tiefer auf die gleiche Stufe.

Er hatte kaum dreimal an seinem Glimmstängel gezogen, als Mimì zurückkehrte und triumphierend den Schlüssel schwenkte. Endlich konnten sie die Wohnung betreten.

»Hier, hier, kommen Sie hierher«, sagte Giusippina, »er liegt im Schlafzimmer.«

Mimì Augello reichte ein Blick, und er musste sich an der Wand abstützen, so überrascht war er. Obwohl er die Leiche in der Nacht zuvor nur hatte erahnen können, hatte er nun das Gefühl, als läge eine identische Kopie vor ihm.

Der Tote war vollständig bekleidet, mit Jackett und Krawatte, auf Hochglanz polierten Schuhen und einem Einstecktuch in der Brusttasche.

Hätte nicht der Griff eines dolchartigen Brieföffners in Höhe des Herzens aus seiner Brust geragt, hätte man ihn für einen eleganten Herrn halten können, der sich nach der Teilnahme an einer Hochzeit oder einer Tauffeier nur kurz hingelegt hat.

Während Montalbano sich zu dem Toten hinunterbeugte und sein Gesicht betrachtete, kam Mimì näher und flüsterte ihm zu:

»Das sieht alles genauso aus wie bei unserer Leiche.«

Der Tote war ein glatt rasierter Fünfzigjähriger, seine Augen waren geschlossen, als würde er schlafen. Seine Miene war heiter und entspannt, man hätte meinen können, er träume gerade einen schönen Traum.

Montalbano fiel sofort auf, dass auf Hemd und Jackett kaum Blut zu sehen war. Wirklich ungewöhnlich.

Er drehte sich zu Augello um.

»Mimì, ruf Fazio an. Sag ihm, er soll diese bescheuerte Kundgebung sausen lassen und sofort herkommen. Und danach bestellst du den Wanderzirkus der Spurensicherung her.«

Während Mimì verschwand, fiel Montalbano auf, dass auch Giusippina den Raum verlassen hatte. Doch von irgendwo hörte er ihr Gejammer, ging ihm nach und fand sie im Badezimmer.

Dort empfing ihn eine Parfümwolke so süßlich und beißend, dass er niesen musste. Giusippina hatte sich mit Duftwasser eingesprüht und machte sich nun vor dem Spiegel zurecht, ohne ihr Lamento zu unterbrechen.

Bei Montalbanos Anblick versuchte sie sich zu rechtfertigen:

»Commissario mio, wenn jetzt gleich die Journalisten kommen und das Fernsehen … Da muss man sich doch präsentieren, wie sich’s gehört. Stellen Sie sich vor, meine Cousine war vor Kurzem mit einem Foto in der Zeitung, nach einem Autounfall mit zwei Toten. Die Arme, die zufällig vorbeigegangen ist, wurde mit abgeknipst und sah aus wie eine Putzfrau!«

»Verstehe«, sagte der Commissario. »Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen, wo können wir uns unterhalten?«

»Im Wohnzimmer. Kommen Sie mit.«

»Zunächst einmal«, fing Montalbano an, während er auf dem Sofa Platz nahm, »möchte ich den Vor- und Nachnamen, das Alter und den Beruf des Toten wissen.«

Bei dem Wort »Toter« verfiel Giusippina wieder in ihre Klagelitanei, die Montalbano sogleich unterbrach, auch weil der unerträgliche Geruch im Zimmer ihm fast den Atem raubte.

»Es ist genug!«, rief er.

Die Frau hielt augenblicklich inne und sagte dann in einem Zug:

»Carmelo Catalanotti aus Vigàta, fünfzig Jahre alt und von Beruf …«

An dieser Stelle verstummte die Frau.

»Von Beruf …?«, wiederholte Montalbano.

»Das ist ja der Haken, mein lieber Commissario. Es sah so aus, als hätte er gar keinen. Morgens gegen zehn ging er aus dem Haus und setzte sich ins Café Bonifacio. Dort blieb er bis halb eins, dann kam er wieder nach Hause, aß, was ich ihm gekocht hatte, zeigte sich sehr angetan, dann legte er sich ein paar Stunden hin, stand wieder auf, und mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Manchmal ist er ein paar Tage weggefahren.«

»Wissen Sie, wohin?«

»Nein, das weiß ich nicht, und außerdem bin ich kein Klatschweib.«

»Wovon hat er eigentlich gelebt?«, fragte Montalbano ratlos.

»Ich weiß, dass ihm Verschiedenes gehörte, und vielleicht … vielleicht hat er mit irgendwas gehandelt.«

»Was meinen Sie damit?«

»Na ja … was soll ich sagen. Wenn er im Café saß, immer am selben Platz, kam ab und zu jemand, setzte sich zu ihm und redete mit ihm, und nach einer Weile ist er wieder gegangen. Danach kam der Nächste, wieder redeten sie ganz eifrig, und dann ist auch der wieder gegangen.«

»Aber woher wissen Sie das, wenn Sie halbtags in seiner Wohnung beschäftigt waren? Sind Sie ihm ins Café gefolgt?«

»Nein, Commissario, das hat mir meine Cousine Amalia erzählt, die hat ihren Brotladen gegenüber vom Café Bonifacio.«

»War er verheiratet?«

»Nein. Seine Eltern sind tot, und er hatte keine Geschwister.«

»Eine feste Beziehung?«

»Auch nicht.«

»Damenbesuch?«

»Auf jeden Fall. Ich bin nie einer dieser Nutten begegnet, aber morgens lagen manchmal nasse Handtücher herum, mal ein vergessener Lippenstift, mal ein Slip …«

»Schon gut, schon gut«, fiel Montalbano ihr ins Wort. »Wie war er charakterlich?«

»Ein herzensguter Mensch. Aber manchmal, wenn er sich aufgeregt hat, mein lieber Commissario, dann war er wie der Teufel, zum Fürchten.«

Mimì Augello kam herein.

»Ich hab alle verständigt. Fazio ist schon unterwegs. Bist du mit der Signora fertig?«

»Ja«, sagte Montalbano.

»Dann lass uns einen Espresso trinken, während wir auf den Wanderzirkus warten.«

»Gute Idee«, sagte der Commissario. Und dann zu Giusippina:

»Aber Sie rühren sich nicht von der Stelle.«

»Wer wird sich denn von der Stelle rühren? Ich hab hier Wache zu halten«, sagte die Frau und rückte sich vor einem Spiegel die Frisur zurecht.

Während sie die Treppe hinuntergingen, hörten sie Stimmengewirr von unten.

»Was ist da los?«, fragte der Commissario.

»Warte. Ich seh mal nach«, sagte Mimì.

Er war sofort wieder zurück.

»Der Hausflur ist voller Leute. Der Pförtner hat die Sache wohl an die große Glocke gehängt. Besser, wir bleiben erst mal hier.«

Sie klopften erneut, und Giusippina öffnete ihnen.

»Was ist passiert, dass Sie schon wieder zurück sind?«

Ohne auf die Frage einzugehen, sagte Montalbano:

»Giusippì, könnten Sie uns einen Kaffee machen?«

»Aber selbstverständlich! Und was für einen! Ich mache einen ausgezeichneten Espresso! Setzen Sie sich!«