Ein tödlicher Schatz - Rebecca Michéle - E-Book

Ein tödlicher Schatz E-Book

Rebecca Michéle

4,6

Beschreibung

Bei Aufräumarbeiten entdeckt Mabel Clarence menschliche Knochen in den Mauern des Herrenhauses Higher Barton. Sofort flammt das alte Gerücht wieder auf, dass eine junge Frau als Gespenst umgehen soll. Bei dem Toten handelt es sich allerdings um einen Mann, der bereits vor zehn Jahren gestorben ist und dessen Leiche in dem Herrenhaus verborgen wurde. Abigail, die frühere Eigentümerin, muss als Zeugin anreisen und gerät schließlich ins Visier der Ermittler. Als ein Goldschatz aus dem 16. Jahrhundert gefunden wird, vermutet Mabel einen Zusammenhang. Doch ist das die richtige Spur? Mabels kriminalistischer Spürsinn ist erneut gefragt. Als sie schließlich die Wahrheit erkennt, gerät sie in tödliche Gefahr.

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Ein tödlicher Schatz

Ein Cornwall-Krimi von

Rebecca Michéle

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Weiterlesen

Personen- und Ortsverzeichnis

Impressum

Leseprobe

1. Kapitel

Dunkle Wolken ballten sich bedrohlich am Himmel und ließen den Tag zur Nacht werden. Der Wind verstärkte sich zum Sturm und wirbelte Laub und Zweige über die Straße. Die Rosenbüsche bogen sich bedenklich, Blütenblätter wirbelten umher. Mit angespannt gerunzelter Stirn stand Mabel Clarence am Fenster und beobachtete das Schauspiel.

„Da zieht ein heftiges Unwetter auf“, sagte sie.

Victor Daniels, ihr Arbeitgeber und zugleich guter Freund, trat neben sie und erwiderte: „Kein Wunder nach den letzten heißen Tagen. Das wird heute noch gewaltig krachen.“

„Eine Abkühlung können wir und die Natur gut gebrauchen“, antwortete Mabel und fuhr sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn. „Eine solche Hitze habe ich in Cornwall noch nie erlebt. Seit Tagen wässere ich täglich den Garten, trotzdem hat der Rasen braune Stellen. Wir brauchen dringend Regen!“

In Cornwall gab es oft schöne und auch warme Sommertage. In der letzten Augustwoche allerdings hatte das Thermometer die Neunzig-Grad-Fahrenheit-Marke deutlich überschritten. Wie die meisten älteren Leute rechnete Mabel immer noch in den alten Maßeinheiten, wusste aber, dass dies einer Temperatur von gut zweiunddreißig Grad Celsius entsprach. Noch am Vormittag hatte die Sonne erbarmungslos von einem wolkenlosen Himmel herabgebrannt, und durch die Medien wurden die Menschen ständig aufgefordert, die Mittagshitze zu meiden und ausreichend zu trinken. Der Wind, der vom Meer eine frische Brise brachte, war in den vergangenen zwei Tagen vollständig zum Erliegen gekommen, und es war so drückend schwül, dass jede Bewegung zur Qual wurde.

Victor beugte sich aus dem geöffneten Fenster, lauschte, dann sagte er: „Hören Sie das, Mabel?“

„Was sollte ich hören?“ Sie beugte sich ebenfalls hinaus und spitzte die Ohren.

„Na ja, man hört nichts“, antwortete Victor. „Die Vögel haben aufgehört zu singen. Das ist kein gutes Zeichen.“

Nun fiel es auch Mabel auf. Über ganz Lower Barton lag eine Ruhe, die nicht beschaulich, sondern ungewöhnlich, ja, beinahe bedrohlich war. Am Horizont bildete sich am Rand der schwarzen Wolken ein gelblicher Schimmer – ein eindeutiges Zeichen für Hagel. Mabel, die bis vor wenigen Jahren in London gelebt hatte, hatte inzwischen gelernt, die Zeichen der Natur zu deuten.

„Hoffentlich halten meine Rosensträucher dem Unwetter stand. Sir Lancelot hat in diesem Jahr zum ersten Mal geblüht, und Benjamin Britten trägt viele Knospen, die in den nächsten Tagen eigentlich aufgehen sollten.“

Mabel Clarence war auf ihren kleinen, aber feinen Rosengarten, den sie in den letzten Jahren geschaffen hatte, sehr stolz. Als sie das reetgedeckte Cottage in Lower Barton gekauft hatte, war der Garten eine Wildnis voller Dornengestrüpp und Brennnesseln gewesen. Mit viel Arbeit und Liebe zu den Pflanzen war es Mabel gelungen, ein Kleinod zu schaffen, in dem neben Rosen, Hortensien und Rhododendren auch Gemüse- und Kräuterbeete zu finden waren. Im Frühjahr hatte sie bei dem jährlich stattfindenden Wettbewerb Offener Garten sogar den dritten Platz belegt.

„Es wird schon nicht so schlimm werden“, versuchte Victor seine Haushälterin zu beruhigen. „Wenn Sie aber lieber nach Hause fahren möchten …“

Mabel wehrte ab. „Wenn das Unwetter losbricht, kann ich ohnehin nichts ausrichten, außerdem ist es Zeit für den Tee.“ Sie lächelte nun wieder. „Die Scones werden sonst kalt.“

Wie jeden Nachmittag hatte Mabel Scones gebacken, die Victor am liebsten noch lauwarm mit viel Erdbeermarmelade und einer ordentlichen Portion Clotted Cream aß. Dazu tranken sie Darjeeling, den Mabel nicht im Supermarkt kaufte, sondern von einem indischen Teehändler in Plymouth bezog. Es war Freitagnachmittag, und Victor hatte die Tierarztpraxis geschlossen, da keine Patienten mehr angemeldet waren. Bei dieser Hitze blieb jeder lieber zu Hause, außerdem hatte der Wetterdienst vor dem Unwetter gewarnt. Als sie wenig später in der Wohnküche zusammensaßen und sich den kräftigen Tee schmecken ließen, erzählte Victor von dem Orkan, der 1990 in Südwestengland schwere Schäden angerichtet hatte.

„Zwischen Polperro, Looe, Lostwithiel und Bodmin wurden rund siebzig Prozent aller Bäume entwurzelt. Sie kennen ja das Herrenhaus Lanhydrock. Wenn Sie heute über das Gelände gehen, ist es kaum zu glauben, dass damals so gut wie alle Bäume an der langen Einfahrt zerstört worden waren, auch der Park wurde völlig verwüstet. Der National Trust hat mit der Aufforstung gute Arbeit geleistet, an manchen Stellen ist die damalige Verwüstung aber noch zu erkennen.“

Mabel nickte zustimmend. Stürme, die durchaus Orkanstärke erreichen konnten, und leider auch Überschwemmungen waren in der westlichsten Grafschaft Englands keine Seltenheit. Meistens brachen sie im Frühjahr oder Herbst über das Land herein, Hagel war jedoch eher eine Ausnahme. Durch die ungewohnt hohen Temperaturen der letzten zwei Wochen hatte sich die Atmosphäre derart aufgeladen, dass Mabel das Schlimmste befürchtete, denn in der drückenden Luft lag eine Spannung, die schon fast greifbar war.

„Ihr Wagen steht im Carport?“, fragte Victor. „Nicht, dass er beschädigt wird, wenn es wirklich hageln sollte.“

Mabel nickte. „Und Ihr Jeep ist in der Garage.“

Inzwischen war es so dunkel geworden, dass Mabel das Licht einschalten musste. Plötzlich zuckten die ersten Blitze über den Himmel, und binnen weniger Minuten entlud sich das Unwetter mit all seiner Kraft. Blitz und Donner folgten im selben Moment, die Luft flimmerte orangefarben, der Sturm zerrte an den Fensterläden, und die Schieferplatten auf dem Dach klapperten bedrohlich.

„Keine Sorge, Mabel, mein Haus hat schon so manchen Sturm unbeschadet überstanden.“ Beruhigend nickte Victor ihr zu und griff nach einem weiteren Scone. So leicht ließ er sich nicht den Appetit verderben.

Das Dach von Mabels Cottage war reetgedeckt, und auch um ihre Katze machte sie sich keine Sorgen. Durch die Katzenklappe hatte sich Lucky, die Regen mehr als alles andere verabscheute, sicher längst in die Sicherheit des Hauses geflüchtet.

„Jetzt wird es aber richtig heftig“, sagte Victor und deutete nach draußen. Seine Stimme klang nun doch beunruhigt. „Du meine Güte! Das habe ich ja noch nie erlebt!“

Hagelkörner, so groß wie Golfbälle, einige sogar wie Tennisbälle, verwandelten die Straße in eine Eiswüste. Mabel beobachtete, wie der Hagel an einem schutzlos geparkten Auto nicht nur die Karosserie eindellte, sondern auch die Windschutzscheibe zertrümmerte. Auf das Dach des Hauses trommelte es so laut, dass Mabel dachte, jemand würde mit Hämmern darauf einschlagen. Der Orkan tobte mit einer Heftigkeit, als wären sämtliche Naturgewalten entfesselt worden. Bei jedem Blitz und Donner zuckte Mabel zusammen, doch Angst hatte sie keine. In den letzten Jahren hatte sie Situationen erleben müssen, in denen sie wirklich Todesangst gehabt hatte, ein Unwetter brachte sie daher nicht so leicht aus der Fassung.

Nach einer knappen halben Stunde ließ der Hagel nach, der Sturm tobte jedoch unvermindert weiter, und es regnete, als wären alle Himmelsschleusen gleichzeitig geöffnet worden. Plötzlich ging das Licht aus. Mabel betätigte den Schalter, es blieb dunkel. Die Digitalanzeige der Mikrowelle war – ebenso wie alle Straßenlaternen, die bei der Dunkelheit automatisch angegangen waren – erloschen.

„Stromausfall“, stellte Victor nüchtern fest. „Wahrscheinlich sind Strommasten umgeknickt.“ Er nahm das Telefon, drückte auf eine Taste und lauschte. „Die Leitung ist ebenfalls tot.“

Für die Einwohner Cornwalls waren Stromausfälle nichts Außergewöhnliches, bei starken Stürmen kam das regelmäßig vor. Mabel nahm ihr Mobiltelefon aus der Handtasche.

„Ich rufe mal auf Higher Barton an, ob dort alles in Ordnung ist.“

Sie hatte zwar Empfang, erhielt aber keine Verbindung.

„Das Netz ist wahrscheinlich überlastet“, sagte Victor. „Wenn das Festnetz ausfällt, versuchen natürlich alle, mit dem Handy zu telefonieren.“

Mabel sah auf das Display. „Mein Akku ist auch so gut wie leer“, stellte sie fest. „Ich habe vergessen, das Gerät rechtzeitig aufzuladen.“

„Sie sollten heute Nacht besser hierbleiben“, sagte Victor plötzlich zusammenhangslos.

„Wie bitte?“ Mabel glaubte, sich verhört zu haben.

„Tja, ich meine ja nur …“ Verlegen strich sich Victor über sein gelichtetes Haupthaar. „Es ist mir nicht geheuer, wenn Sie bei dem Sturm nach Hause fahren. Sehen Sie nur, wie das Wasser die Straße hinunterschießt.“

Die schmale, abschüssige Straße, in der Victor wohnte, führte zur Ortsmitte und hatte sich in einen reißenden Bach verwandelt. Mabel sah ein, dass sie nicht würde fahren können, solange der Regen anhielt. Aus den Gullideckeln sprudelte das Wasser, und Schlamm und Dreck drangen bis in Victors Vorgarten. In diesem Moment klirrte Glas. Mabel und Victor sprangen erschrocken auf und liefen ins Wohnzimmer. Ein vom Wind herumwirbelnder Ast hatte die Fensterscheibe eingeschlagen. Verstreute Glassplitter bedeckten den Teppich, und der Regen drang ungehindert herein.

„Ich hole Planen zum Abdecken“, rief Victor und lief, zwei Stufen auf einmal nehmend, zum Dachboden, während Mabel versuchte, die Kommode, die unmittelbar unter dem Fenster stand, zur Seite zu schieben. Es handelte sich um ein Möbel aus dem späten 18. Jahrhundert, ein Erbstück, das sich schon immer im Besitz von Victors Familie befunden hatte. Sie wollte verhindern, dass diese Kostbarkeit durch das eindringende Wasser beschädigt würde.

Binnen weniger Minuten war Mabel durchnässt. Der Wind zerrte an ihren kurzen Haaren, aber sie und Victor arbeiteten Hand in Hand und versuchten, um Schlimmeres zu verhindern, die Plane am Fenster zu befestigen. Worte waren dabei nicht nötig.

Inzwischen war es völlig dunkel geworden, den einzigen Lichtschimmer erzeugten die Blitze, auch wenn die Stärke des Gewitters nachgelassen hatte. Nachdem es ihnen gelungen war, die Fensteröffnung, so gut es ging, abzudichten, holte Victor einen Leuchter und Kerzen aus dem Schrank. Im flackernden Lichtschein bereitete Mabel frischen Tee zu. Glücklicherweise verfügte Victors Haus über einen Gasanschluss, denn einen starken Tee konnten sie jetzt beide gebrauchen. Victor kramte ein altmodisches Transistorradio hervor, schaltete es ein und suchte nach BBC Radio Cornwall.

„Man sollte nie etwas fortwerfen“, sagte er und grinste. „Das Gerät läuft mit Batterien.“

Gespannt lauschten Mabel und Victor dem Moderator.

„Schwere Unwetter fegen seit dem späten Nachmittag über Cornwall. Besonders betroffen ist der Restormel-Bezirk, die Bereiche zwischen Liskeard, Looe, Polperro und Bodmin. Orkanböen und Hagel rissen zahlreiche Bäume um, viele Straßen sind überflutet und nicht passierbar. Der Wetterdienst meldet, dass sich der Regen in den nächsten Stunden noch verstärken wird. Nach bisherigen Informationen wurden durch herabstürzende Äste und Hagelkörner mehrere Personen leicht verletzt, die Sachschäden werden wohl in die Millionen gehen. Da mit einer Abschwächung des Sturms vor den frühen Morgenstunden nicht zu rechnen ist, wird den Einwohnern dringend geraten, ihre Häuser nicht zu verlassen und auf jeden Fall die Klippen zu meiden. Es besteht eine erhöhte Gefahr von Felsabbrüchen.“

Mabel und Victor tauschten einen vielsagenden Blick, dann schaltete Victor das Radio aus.

„Ihrem Cottage ist bestimmt nichts geschehen.“ Manchmal las er in Mabels Gesicht wie in einem offenen Buch, obwohl Victor Daniels häufig den Eindruck eines wenig sensiblen Mannes machte. „Durch seine Lage in der Lane ist das Haus geschützt, daher lasse ich nicht zu, dass Sie bei dem Wetter nach Hause fahren.“

„Ich fürchte, ich muss Ihnen zustimmen, Victor.“

Mabel gab sich geschlagen. Ihre direkten Nachbarn hatten einen Schlüssel zu ihrem Cottage, und sollte eine Fensterscheibe zu Bruch gegangen oder sonst ein Schaden entstanden sein, würden Violet und Ben sich bestimmt darum kümmern.

„Sie können natürlich mein Bett haben, Sie müssen es nur frisch beziehen.“

„Wo werden Sie schlafen?“, fragte Mabel und sah sich um. „Das Wohnzimmer scheidet wegen der zerborstenen Fensterscheibe wohl aus.“

Victor zuckte mit den Schultern. „Wenn man wie ich schon viele Nächte in feuchten und zugigen Ställen verbracht hat, ist die Couch bequem genug.“ Er zwinkerte ihr zu. „Irgendwo muss ich auch noch eine neue Zahnbürste für Sie haben.“

Mabel sah ein, dass es vernünftiger war, bei Victor das Ende des Unwetters abzuwarten. Sie war jahrzehntelang Krankenschwester an einer Londoner Klinik gewesen und durch die Nachtdienste daran gewöhnt, auch in einer anderen Umgebung als im eigenen Bett zu schlafen. Wenn sie ehrlich war, war sie sogar froh, bei dem Orkan, der die Wände des Hauses erzittern ließ, nicht allein sein zu müssen.

„Bevor wir zu Bett gehen, trinken wir noch ein Glas Rotwein“, sagte Victor. „Kerzenschein und Rotwein – wenn wir vierzig Jahre jünger wären, könnte das direkt romantisch sein.“

Mabel lachte laut, ihre Anspannung schwand.

„Solche Worte aus Ihrem Mund, Victor? Es gelingt Ihnen immer wieder, mich zu überraschen. Sie haben aber recht, ein Glas Wein wäre jetzt genau das Richtige.“

Es war für Mabel dann doch ein ungewohntes Gefühl, mit Victor die Nacht unter einem Dach zu verbringen, was natürlich nichts mit romantischen Gefühlen zu tun hatte. Sie war vierundsechzig Jahre alt, Victor ein Jahr älter. Ihre erste Begegnung war alles andere als harmonisch verlaufen, und es hatte sogar eine Zeit gegeben, in der Mabel den oft mürrischen und wortkargen Tierarzt des Mordes verdächtigt hatte. Victor Daniels machte es anderen Menschen nicht leicht, ihn zu mögen. Als Tierarzt war er jedoch eine Koryphäe. Gleichgültig, ob eine afrikanische Rennmaus, eine ausgewachsene Kuh oder ein Pferd seine Hilfe benötigte – Victor widmete sich allen seinen Patienten mit der gleichen Hingabe. Er konnte es nicht ertragen, ein Tier leiden zu sehen. Wenn er sich um Tiere kümmerte, nahm sein Gesicht mit der vorspringenden Nase und dem kantigen Kinn einen weichen Zug an, und seine grauen Augen blickten so mitfühlend, wie man es bei Victor nur selten sah. In seinem Leben hatte es nie eine ernsthafte Beziehung gegeben. Er war ein Eigenbrötler, der sich nicht auf eine Frau einstellen konnte und auch nicht wollte. Victors Lebensaufgabe war sein Beruf, denn Tiere waren für ihn die besseren Menschen. Da er immer offen seine Meinung äußerte, gleichgültig, ob das seinem Gegenüber gefiel oder nicht, stieß er andere oft vor den Kopf. Mabel wäre nicht so weit gegangen, den Freund als taktlos zu bezeichnen, ein wenig mehr Feingefühl wäre jedoch manchmal nicht schlecht gewesen. Dass Victor dies durchaus besaß, hatte er ihr gegenüber in den letzten Jahren mehrmals bewiesen.

Mabel, die ebenfalls nie verheiratet gewesen war, und Victor waren sich in vielen Dingen ähnlich, denn auch Mabel war offen und ehrlich, und ihr Dickkopf stand dem Victors in mancherlei Hinsicht in nichts nach. Mabel blieb aber stets freundlich. Sie mochte die Menschen und suchte gern deren Gesellschaft. Nachdem sie vor rund vier Jahren in den Ruhestand gegangen war, hatte sie erst nicht gewusst, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. Von ein paar Zipperlein abgesehen, war sie gesund und unternehmungslustig und konnte sich nicht damit abfinden, die Hände in den Schoß zu legen. Dank einer Erbschaft war sie finanziell zwar unabhängig, trotzdem führte sie Victor den Haushalt, denn dem Tierarzt war das Wort Ordnung fremd – zumindest, was seine Wohnung betraf –, und vom Kochen oder gar Putzen verstand er rein gar nichts. Bevor sie sich begegnet waren, hatte Victor schon einige Haushälterinnen vergrault. Seine Sprechstundenhilfe, Diana Scott, kümmerte sich nur um die Praxis und würde sich hüten, sich in Victors Haushaltsführung einzumischen. So profitierten sie beide von dem Arrangement: Mabel hatte eine ihr gemäße Aufgabe und Victor eine saubere, aufgeräumte Wohnung und jeden Wochentag ein schmackhaftes Essen auf dem Tisch.

Na ja, dachte Mabel schmunzelnd, als sie im Bett lag und dem mit unverminderter Stärke tobenden Sturm lauschte, sie und Victor verband noch mehr miteinander. Aufgrund diverser Ereignisse hatten sie Gefallen daran gefunden, Verbrechen aufzuklären, denn Mabel besaß das zweifelhafte Talent, immer wieder über Leichen zu stolpern. Allerdings hätte sie darauf gern verzichtet, da sie dadurch schon mehrmals in Lebensgefahr geraten war. Trotzdem waren diese Vorkommnisse wie das Salz in der Suppe gewesen, und Mabel erfüllte es mit Befriedigung, wenn durch ihre Mithilfe der wahre Täter dingfest gemacht und hinter Schloss und Riegel gebracht werden konnte. Nach den dramatischen Geschehnissen im Frühjahr letzten Jahres, bei denen Mabel nur um Haaresbreite dem Tod von der Schippe gesprungen war, hatte sie Victor versprechen müssen, sich niemals wieder bei einem Verbrechen einzumischen. In Lower Barton, dem kleinen Ort ein paar Meilen nordwestlich des Fischerdorfes Polperro, war es seitdem ruhig geblieben, und Mabels Dienste waren nicht mehr vonnöten. Allerdings waren die vergangenen Monate ziemlich langweilig gewesen. Neben ihrer Tätigkeit in Victors Haushalt verwaltete sie das Herrenhaus Higher Barton, engagierte sich als Schneiderin bei der örtlichen Theatergruppe und half bei den Kirchenbasaren. Außerdem las sie gern und viel, und ihr Cottagegarten benötigte regelmäßige Pflege. Mabels Tage waren also mehr als ausgefüllt, dennoch verliefen sie ihr zu eintönig. So ab und zu ein wenig Nervenkitzel wünschte Mabel sich schon, das hielt sie geistig fit, und sie fühlte sich dann gleich ein paar Jahre jünger.

„Nein, einen weiteren Mord brauche ich trotzdem nicht!“, sagte sie laut zu sich selbst, drehte sich auf die Seite und war bald darauf eingeschlafen.

In der Morgendämmerung erwachte Mabel frisch und ausgeruht. Sie war eine Frühaufsteherin und mochte es, das Erwachen des Tages mitzuerleben. Die Natur präsentierte sich an diesem Morgen, als wäre nie ein Unwetter über das Land hinweggefegt. Der Himmel war wolkenlos, ein leichter Wind wehte, und die Luft war rein und klar. Mabel öffnete das Fenster und atmete tief durch. Die Schäden, die der Sturm hinterlassen hatte, waren jedoch unübersehbar. In Victors kleinem Garten hinter dem Haus waren viele Büsche und Sträucher zu Boden gedrückt worden, der Rasen war mit Laub und Zweigen übersät, und im Nachbarhaus erkannte sie zwei zerborstene Fensterscheiben. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war ein gläserner Wintergarten nahezu vollständig zerstört worden. Offenbar hatte Victor mit der einen kaputten Scheibe im Wohnzimmer noch großes Glück gehabt.

Leise, um Victor nicht zu wecken, ging Mabel ins Bad, machte sich frisch und putzte sich mit der von Victor bereitgelegten Zahnbürste die Zähne. Ihr kurzes, graues Haar war zerzaust, sie glättete es aber nur mit kaltem Wasser. Eitelkeit war Mabel fremd, sie dachte und handelte eher praktisch. Das rote Licht am Boiler war erloschen, und als Mabel den Schalter betätigte, flammte kein Licht auf.

„Immer noch kein Strom“, murmelte sie und ging in die Küche.

Als sie das Wohnzimmer passierte, warf sie einen Blick durch die geöffnete Tür und lächelte. Victor lag bäuchlings auf der Couch und schlief tief und fest. Obwohl auch der Kühlschrank ohne Strom war, konnte man die Eier und den Speck noch verwenden, und kurze Zeit später brutzelte alles in der Pfanne. Mabel hörte Victor im Nebenzimmer rumoren, dann klappte die Badezimmertür. Sie goss gerade den Tee auf, als es energisch an die Haustür klopfte.

„Hallo!“, hörte Mabel einen Mann rufen. „Doc, sind Sie da? Ist Miss Mabel bei Ihnen?“

Mabel ging die steile Treppe hinunter und öffnete.

„George Penrose!“, rief sie überrascht und mit einem unangenehmen Gefühl im Magen. „Ist etwas geschehen?“

Der Gesichtsausdruck des Verwalters von Higher Barton verhieß nichts Gutes.

„Wir konnten Sie telefonisch nicht erreichen, Miss Mabel, alle Leitungen sind tot. Da bin ich, sobald es möglich war, nach Lower Barton gefahren und hoffte, nachdem Sie nicht in Ihrem Cottage waren, Sie hier zu finden.“

„Ist dort alles in Ordnung?“

„Scheint so, aber …“ George kratzte sich am Kopf und seufzte. „Higher Barton hat es stark getroffen. Es wäre gut, wenn Sie gleich mitkommen würden.“

Mabel nickte. „Natürlich, ich hole nur meine Tasche.“

Victor, der das Gespräch vom Treppenabsatz aus verfolgt hatte, fragte sofort: „Brauchen Sie mich?“

„Nein danke, Victor“, antwortete Mabel. „Das Frühstück ist fertig, stärken Sie sich erst mal, dann sollten Sie sich um die kaputte Fensterscheibe kümmern, falls es wieder regnet.“

Während Mabel George zu seinem Wagen folgte, sagte der Verwalter: „Wir müssen die Straße über Pelynt und die Monrose Farm nehmen. Die Hauptzufahrt nach Higher Barton ist durch entwurzelte Bäume blockiert. Die Feuerwehr habe ich bereits informiert, bei den vielen Schäden wird es aber eine Weile dauern, bis die Straße geräumt werden kann.“

Das aus dem 16. Jahrhundert stammende Herrenhaus Higher Barton lag drei Meilen westlich von Lower Barton. Als Mabel jetzt an Georges Seite durch die Landschaft fuhr, waren die Ausmaße des Unwetters in erschreckender Deutlichkeit zu erkennen. George lenkte seinen Jeep durch ein Gewirr von schmalen, an beiden Seiten von meterhohen, bewachsenen Trockenmauern gesäumten Wegen, die kaum die Bezeichnung Straße verdienten. Auch nach all den Jahren, die sie in Cornwall lebte, kannte Mabel längst nicht alle Straßen und Pfade, und nur selten fand sich ein Wegweiser. Erst, als die südliche Mauer des Parks von Higher Barton in Sicht kam, kannte sie sich wieder aus. Sie erreichten das Cottage am Rande des Parks, in dem das Verwalterehepaar lebte.

„Ab hier müssen wir laufen“, sagte George.

„Ist es sehr schlimm?“, fragte Mabel beunruhigt.

George runzelte die Stirn und wirkte sehr besorgt.

„Noch schlimmer, Miss Mabel.“

Auf dem Weg durch den weitläufigen Landschaftspark von Higher Barton wurden Mabels Befürchtungen bestätigt. Ähnlich wie damals auf Lanhydrock House waren Dutzende von Bäumen umgeknickt oder entwurzelt, Äste lagen auf den Wegen, die hohen und meterlangen Rhododendren- und Hortensienhecken wiesen große Löcher auf, und gut und gern neunzig Prozent der Rosensträucher hatten ihre Blüten verloren. Angesichts dieser Verwüstungen schluckte Mabel. Sie liebte die Natur, und es tat ihr weh, zu sehen, wie alles binnen weniger Stunden zerstört worden war. Als das Herrenhaus in Sicht kam, blieb Mabel stehen und zog scharf die Luft ein.

„O Gott!“

George nickte und nahm ihren Arm.

„Wir konnten nichts machen, alles ging so schnell. Sobald der Hagel nachgelassen hatte, eilten Emma und ich zum Haus, aber da war das Schlimmste schon geschehen. Der Orkan und der heftige Regen in der Nacht haben dann den Rest erledigt.“

In Mabels Augen traten Tränen, als sie die Zerstörungen sah. Ein Teil des Dachs des Westflügels war abgedeckt, sie zählte neun Fenster, deren Scheiben zerborsten waren, und Teile der Fassade waren abgebrochen, als hätte ein großer Bagger an dem Mauerwerk gewütet.

„Emma hat bereits die Handwerker informiert“, fuhr George Penrose fort. „Die haben jetzt natürlich überall zu tun, versprachen aber trotzdem, so schnell wie möglich jemanden zu schicken, damit wir wenigstens verhindern können, dass bei weiterem Regen noch mehr Wasser ins Haus dringt.“

Mabel nickte geistesabwesend, ihre Beine fühlten sich plötzlich wie Pudding an. Sie liebte Higher Barton, als wäre es ihre Heimat, obwohl sie vierzig Jahre nicht mehr hier gewesen war und ihre Cousine, die inzwischen nicht mehr in Cornwall lebte, ihr das Anwesen erst vor kurzer Zeit übereignet hatte. Für die finanziellen Schäden würde zwar die Versicherung aufgekommen, trotzdem schmerzte es, zu sehen, was das Unwetter hier angerichtet hatte.

Das Kiesrondell vor dem Haupteingang war mit zersprungenen Dachziegeln übersät, und an einer Statue aus Serpentine – einem Stein, der auf der Lizard-Halbinsel abgebaut wurde – fehlte der Kopf. In diesem Moment trat Emma Penrose aus dem Haus. Sie ging gebückt und wirkte vollkommenen erschöpft. Die schlaflose Nacht stand der Mittvierzigerin deutlich ins Gesicht geschrieben.

„Ein paar Leute aus dem Ort helfen, das Wasser aus den Zimmern zu bekommen“, rief Emma anstelle einer Begrüßung. „Zum Glück konnte ich alle über Handy erreichen, denn wir haben keinen Strom, und die Telefonleitung ist tot.“

„In Lower Barton ebenfalls“, antwortete Mabel automatisch. „Welche Räume hat es denn am schlimmsten getroffen?“

Emma Penrose, die mit dieser Frage gerechnet hatte, gab einen kurzen Überblick über die Schäden.

„Im grünen Salon, dem Billardzimmer und dem angrenzenden Raucherzimmer sind alle Fensterscheiben eingeschlagen, das Parkett und die Teppiche sind durchnässt – das bekommen wir aber wieder trocken. Schlimmer hat es Lady Abigails Zimmer“, sie räusperte sich, „ich meine, die ehemaligen Räume von Mylady getroffen. Ein Teil des Daches ist eingestürzt, und die westliche Fassade wurde vom Sturm regelrecht weggerissen. Ich fürchte, die Möbel werden nicht mehr zu retten sein.“

Obwohl Abigail Tremaine die Räume seit drei Jahren nicht mehr bewohnte und diese nun als Gästezimmer dienten, war die Einrichtung unverändert geblieben. Die meisten Möbel stammten noch aus der Tudor-Zeit, als Higher Barton erbaut worden war. Nicht der materielle Schaden stimmte Mabel traurig, sondern vor allem ging es ihr um den ideellen Wert der Möbel, die eine bewegte Geschichte hinter sich hatten. Sie atmete tief ein und straffte die Schultern. Mit Jammern war niemandem geholfen, sie musste jetzt in die Hände spucken und sich an die Arbeit machen.

„Das ist furchtbar. Zuerst müssen wir so schnell wie möglich die Fenster abdichten.“ Besorgt sah sie zum Himmel, an dem erneut graue Wolken aufzogen. „Ich fürchte, es wird bald wieder regnen.“

In diesem Moment bog ein untersetzter, kräftiger Mann in Begleitung eines jüngeren Mannes, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten war, um die Ecke. Sie trugen eine Leiter und zwei Handwerkskoffer.

„William!“ Emma eilte den Männern entgegen. „Wie schön, dass du so schnell gekommen bist.“

„Wir haben alle Hände voll zu tun, das Telefon steht nicht mehr still“, sagte William Brown. „Aber schauen wir mal, was wir fürs Erste machen können. Das ist übrigens mein Sohn Frank.“

Mabel Clarence stellte sich ebenfalls vor. Die Browns führten ein Dachdecker- und Maurergeschäft in Lower Barton, und Mabel erfuhr, dass Emma und William Brown zusammen die Schulbank gedrückt hatten. Sie folgte den Handwerkern ins Haus. Im ersten Stock wies William Brown Mabel jedoch an, Abigails ehemaliges Zimmer nicht zu betreten.

„Frank und ich müssen erst prüfen, ob Einsturzgefahr besteht“, sagte er bestimmt, sah dann zu Emma und zwinkerte ihr zu. „Eine Tasse Tee oder ein starker Kaffee wäre jetzt nicht schlecht.“

„Ich helfe Ihnen“, bot Mabel an. „Tee und vielleicht auch eine warme Suppe für die Helfer wären wirklich angebracht.“

Der Herd in der großen Küche von Higher Barton wurde mit Gas betrieben, auch sonst war der Raum mit modernen technischen Geräten ausgestattet. Seit das Herrenhaus nicht mehr dauerhaft bewohnt wurde, wurden die Räumlichkeiten für Feste, Tagungen und Veranstaltungen vermietet, wobei einige Räume als Gästezimmer zur Verfügung standen. Besonders bei Brautpaaren war Abigails Zimmer im Westflügel äußerst beliebt und wurde gern gebucht.

Während Emma mit dem Wasserkessel hantierte und Mabel in der angrenzenden Speisekammer nachsah, aus welchen Zutaten sie auf die Schnelle ein Suppe zubereiten konnten, schien Emma ihre Gedanken zu erraten, denn sie sagte: „Die Hochzeit am übernächsten Wochenende werden wir wohl absagen müssen.“

„Es wird uns nichts anderes übrig bleiben“, stimmte Mabel zu. „Das erste Stockwerk ist nicht nutzbar, und solange die Handwerker hier ein- und ausgehen, machen Veranstaltungen keinen Sinn.“

„Ich kümmere mich darum“, versprach Emma.

Sie richtete gerade das Tablett mit dem Kaffee für die Handwerker her, als Frank Brown in die Küche trat. Sein Gesicht war wachsbleich, und er klammerte sich Halt suchend an den Türrahmen.

„Miss Clarence … Mrs Penrose …“ Sein Blick irrte flackernd zwischen den beiden Frauen hin und her. „Mein Vater meint, Sie sollten mal kommen.“

„Was gibt es denn?“, fragte Mabel erstaunt. Der junge Mann sah aus, als wäre er einem Geist begegnet. Frank gab keine Erklärung, also folgte Mabel ihm in den ersten Stock hinauf, wo sie von William Brown an der Tür erwartet wurde. Auch er war blass, und seine Augen waren unnatürlich geweitet.

„Ich glaube, wir brauchen die Polizei.“

„Die Polizei?“ Mabels Herz flatterte. „Was ist denn geschehen?“

William Brown winkte Mabel, ihm zu folgen. Vorsichtig stieg sie über die Trümmer. In der Nordwand klaffte ein etwa mannshohes Loch, und Mabel erkannte, dass sich dahinter eine Art Hohlraum befand. William Brown schaltete seine Taschenlampe an und leuchtete in das Loch. Als Mabel neben ihn trat und ihr Blick dem Lichtstrahl folgte, atmete sie scharf aus, denn in dem Hohlraum lagen die sterblichen Überreste eines Menschen. Die leeren Augenhöhlen des skelettierten Schädels schienen Mabel direkt anzustarren.

2. Kapitel

Chefinspektor Randolph Warden, Leiter des Polizeireviers Lower Barton, machte nicht den Fehler, Mabels Anruf auf die leichte Schulter zu nehmen oder gar zu ignorieren. Da für die Beseitigung der Sturmschäden die Feuerwehr und die Streifenpolizei zuständig waren, hatte er sich auf ein geruhsames Wochenende mit seiner Frau gefreut. Mabel Clarence hatte ihm am Telefon aber kurz und bestimmt erklärt:

„Chefinspektor, Sie müssen sofort nach Higher Barton kommen. Es ist dringend, und am besten bringen Sie gleich die Spurensicherung mit.“

„Ach, Miss Clarence, sind Sie etwa wieder über eine Leiche gestolpert?“, hatte Warden spöttisch bemerkt. „Passen Sie bloß auf, dass diese nicht verschwindet …“

„Mir ist nicht zum Scherzen zumute“, hatte Mabel ihn harsch unterbrochen. „Setzen Sie sich bitte unverzüglich in Ihren Wagen und kommen Sie auf dem schnellsten Weg hierher.“

Dann hatte sie das Telefonat beendet, und Warden starrte, die Stirn gerunzelt, auf den Hörer.

Seit Mabel Clarence nach Lower Barton gekommen war,hatte er die ältere Dame mehrfach unterschätzt, ja, sie auch oft nicht ernst genommen. Die Folgen seines Verhaltens waren für ihn peinlich, für andere Beteiligte sogar dramatisch gewesen. Inzwischen hatte der Chefinspektor eingesehen, dass Mabel Clarence keine senile alte Frau war, die unter Wahnvorstellungen litt, sondern dass er ihren Worten durchaus Glauben schenken musste. Obwohl er allein war, schüttelte Warden den Kopf und murmelte: „Na, dann wollen wir mal sehen, was die real gewordene Jane Marple heute auf dem Herzen hat.“

Das „wir“ schloss seinen Mitarbeiter Christopher Bourke ein, einen Sergeant, der trotz seiner jungen Jahre ein hervorragender und äußerst intelligenter Polizist war. Es traf sich gut, dass Bourke ohnehin Wochenenddienst hatte.

„Oje, in was ist Miss Clarence jetzt wieder geraten?“, fragte Bourke sofort, nachdem Warden ihm von dem Anruf berichtet hatte. „Sie wird doch nicht in Gefahr sein?“

„Das möge Gott verhüten!“ Randolph Warden gehörte der anglikanischen Kirche an, die er allerdings nur selten von innen sah. Doch jetzt hätte er sich am liebsten bekreuzigt. „Wahrscheinlich eine völlig harmlose Angelegenheit“, versuchte er, nicht nur den Sergeant, sondern in erster Linie sich selbst zu beruhigen. „Seit über einem Jahr ist in der Gegend nichts mehr geschehen, das unsere Hobbydetektivin auf den Plan hätte rufen können, und es wird auf Higher Barton wohl nicht plötzlich erneut eine Leiche aufgetaucht sein.“

„Miss Clarence wird Sie aber nicht ohne Grund derart dringlich bitten“, gab Bourke zu bedenken, während sie zu ihrem Dienstfahrzeug gingen. „Ich mache mir jedenfalls Sorgen.“

Warden warf seinem Mitarbeiter einen Seitenblick zu. Dessen Ohren waren ebenso rot wie sein Haar. Es war offensichtlich, dass Bourke nervös war. Der Sergeant hatte eine Schwäche für Mabel Clarence – eigentlich eine nette, ältere Dame, wenn sie sich nur nicht immer in seine Arbeit einmischen würde! Deutlich erinnerte sich Warden, wie Mabel Clarence ihm hoch und heilig versprochen hatte, sich künftig aus allen polizeilichen Ermittlungen herauszuhalten. Er seufzte und hoffte, dass ihre Bitte, nach Higher Barton zu kommen, einen weitaus trivialeren Grund hatte, als er befürchtete.

Eine halbe Stunde später war Randolph Warden eines Besseren belehrt worden. Fassungslos starrte er auf die Reste dessen, was einmal ein Mensch gewesen war.

„Bourke, informieren Sie die Spurensicherung und den Pathologen. Ich will das ganze Team unverzüglich hier haben.“

Mabel verkniff sich den Hinweis: „Das habe ich Ihnen doch gleich gesagt“, denn sie kannte den Chefinspektor gut genug, um zu wissen, dass eine solche Bemerkung seine Laune nicht gerade heben würde. Warden wandte sich ihr zu.

„Sie haben also wieder mal eine Leiche gefunden, Miss Clarence …“

„Falsch, Chefinspektor“, unterbrach Mabel, „nicht ich habe die furchtbare Entdeckung gemacht, sondern die Handwerker.“ Als sie Wardens fragenden Blick sah, fügte sie erklärend hinzu: „Brown und Brown, Vater und Sohn. Mrs Penrose hat die Herren gebeten, sich die Sturmschäden anzusehen, dabei stießen sie auf den Hohlraum mit dem grausigen Inhalt. Die Männer warten in der Bibliothek, Inspektor. Sie haben bestimmt Fragen an sie, obwohl ich nicht glaube, dass die Gentlemen hilfreich sein können, schließlich haben sie ja nur …“

„Miss Clarence!“ Scharf unterbrach Warden ihren Redefluss. „Wen ich wann, wie und warum befrage – das überlassen Sie ruhig mir. Ich dachte, Sie haben aus Ihren Fehlern gelernt?“

„Meinen Fehlern?“ Nun konnte Mabel sich nicht länger zurückhalten. Die Arme vor der Brust verschränkt, lehnte sie sich an den Türrahmen und runzelte die Stirn. „Nur ungern spiele ich auf vergangene Geschehnisse an, ich darf Sie aber daran erinnern, dass es eine Zeit gab, in der Sie mich sogar aufforderten, undercover, wie es so schön heißt, zu ermitteln, weil Sie allein nicht weiterkamen. Daher denke ich, dass ich jetzt durchaus ein paar Rückschlüsse ziehen darf.“

„Miss Clarence, ich glaube, eine Tasse Tee würde uns allen guttun.“ Mit einem beschwichtigenden Lächeln trat Christopher Bourke zwischen seinen Vorgesetzten und Mabel, die sich wie zwei Kampfhähne gegenüberstanden. „Das heißt, wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht. Wir müssen ohnehin auf die Spurensicherung warten. Ich sperre den Raum inzwischen ab.“

Verschwörerisch zwinkerte er Mabel zu, und sie verstand. Es hatte wirklich keinen Sinn, vergangene Ereignisse ins Spiel zu bringen. Das würde nur Unruhe stiften. Allerdings konnte sich Mabel eine Bemerkung in Richtung Warden dann doch nicht verkneifen.

„Es versteht sich von selbst, dass weder ich noch die Browns irgendetwas angerührt haben“, sagte sie bestimmt. „Wenn Sie mir bitte in die Bibliothek folgen wollen? Dieser Raum wurde vom Sturm nicht beschädigt, und Mrs Penrose serviert dort die Erfrischungen.“

Ein kurzes Gespräch Wardens mit William und Frank Brown ergab tatsächlich, dass die Handwerker nicht viel beitragen konnten.

„Ich erkannte sofort, dass die Wand einsturzgefährdet ist“, sagte Mr Brown, der Ältere. „Wie Sie selbst gesehen haben, ist das Mauerwerk löcherig wie ein Schweizer Käse, und Teile der Decke sind eingebrochen. Ich kenne Higher Barton zwar nicht gut, ging aber davon aus, dass es sich bei der nördlichen Wand um eine Außenmauer handelt. Dann bemerkte ich den Hohlraum und bat Frank um eine Taschenlampe. Tja, Chefinspektor, den Rest kennen Sie.“

Emma Penrose hatte Scones gebacken und stellte diese, zusammen mit einer Schale goldgelber, leicht gesalzener Butter und einer großen Kanne Tee, auf den Tisch. Dankbar griffen die Herren zu. Mabel begnügte sich mit einer Tasse Tee. Obwohl sie nicht gefrühstückt hatte, war sie nicht hungrig. Ihr Magen war wie zugeschnürt, und ihre Gedanken kreisten unablässig um den grausigen Fund. An den Knochen befanden sich noch Fetzen verrotteter Kleidung, ansonsten hatte die Verwesung ganze Arbeit geleistet. Die Leiche musste folglich seit längerer Zeit hinter der Wand verborgen gewesen sein.

„Das ist bestimmt die arme Evelyn“, flüsterte Emma Penrose. „Man hat sie also endlich gefunden.“

Warden zuckte so heftig zusammen, dass der Tee aus der Tasse schwappte und einen Fleck auf dem hellen Teppich hinterließ.

„Evelyn? Was für eine Evelyn?“, fragte er hastig und sah Emma Penrose eindringlich an. „Haben Sie eine Vermutung, um wen es sich bei der Leiche handeln könnte?“

Die Verwalterin nickte und machte ein Gesicht, als hätte sie anstelle von Tee Essig getrunken.

„Wer soll es sonst sein außer Evelyn Tremaine? Es war immer nur ein Gerücht, von allen als eine der zahlreichen Legenden Cornwalls angesehen, doch jetzt …“ Sie hob den Kopf und schaute in die Runde. Als ihr Blick den von Mabel kreuzte, dämmerte es Mabel, von wem Emma Penrose sprach.

„Ich glaube nicht, dass es sich um Evelyn handelt“, widersprach sie bestimmt. „Wie Sie eben sagten, Emma, ist das nur eine Legende. Sie selbst haben mir erklärt, dass Sie nicht an solche Sachen oder gar an Geister glauben.“

„Würde mir endlich mal jemand sagen, von wem hier die Rede ist?“ Warden erhob seine Stimme. Die buschigen Augenbrauen grimmig zusammengezogen, musterte er Mabel streng. „Miss Clarence, Sie verschweigen mir doch etwas! Wer ist diese Evelyn Tremaine, und warum gibt es einen Grund, anzunehmen, es könnte sich um deren sterbliche Überreste handeln?“

„Äh …“ William Brown räusperte sich und sagte zu Warden: „Wenn Sie keine weiteren Fragen haben … Wir würden gern gehen, andere Kunden warten auf uns.“

„Ja, sicher“, sagte Warden genervt. „Sie halten sich aber zu unserer Verfügung, Mr Brown, und verlassen Lower Barton vorerst nicht.“

„Ganz sicher nicht.“ Frank Brown brachte ein kleines Lächeln zustande. Offenbar hatte er den Schock, menschliche Knochen entdeckt zu haben, überwunden. „Wir wären schön dumm, gerade jetzt Urlaub zu machen. Die halbe Ortschaft ist durch das Unwetter beschädigt, da wird unser Geschäft auf längere Zeit brummen.“

„Apropos Geschäft …“ William Brown wandte sich an Mabel. „Ich nehme nicht an, dass wir in den nächsten Tagen hier etwas ausrichten können, nicht wahr? Das Zimmer ist jetzt ja so etwas wie ein Tatort, bei dem man nichts verändern darf. Das sieht man zumindest immer im Fernsehen.“

„Damit haben Sie recht.“ Warden nickte. „Solange nicht alle Spuren gesichert sind und wir keine weiteren Erkenntnisse haben, werden das Zimmer und die angrenzenden Räume versiegelt. Niemand, außer unseren Leuten, erhält Zutritt.“

Obwohl Mabel wusste, dass Wardens Anweisung nicht nur üblich, sondern auch notwendig war, gefiel es ihr ganz und gar nicht.

„Inspektor Warden, können wir wenigstens das beschädigte Dach und die zerborstenen Scheiben abdichten, damit keine weitere Feuchtigkeit eindringt? Die Schäden sind schon jetzt beträchtlich, nicht auszudenken, was geschieht, wenn es wieder regnet.“

Warden wusste, dass er sich dieser Bitte nicht verschließen konnte, daher brummte er unwillig: „Von mir aus, aber erst, wenn die Spurensicherung ihre Arbeit getan hat und die Knochen in die Pathologie geschafft worden sind. Ich werde dafür sorgen, dass das schnell geschieht.“

Nachdem die Browns die Bibliothek verlassen hatten, straffte sich Warden und sah Mabel auffordernd an.

„Jetzt möchte ich endlich wissen, von welcher Evelyn die ganze Zeit die Rede ist. Wenn Sie wissen, wer der oder die Tote sein könnte, dann dürfen Sie das nicht verschweigen, Miss Clarence!“

In knappen Sätzen berichtete Mabel dem Chefinspektor von der Legende, die sich seit Jahrzehnten um Higher Barton rankte. Sie selbst hatte erst vor knapp zwei Jahren davon erfahren, die Sache aber inzwischen wieder vergessen.

„Mitte des neunzehnten Jahrhunderts soll die junge Evelyn Tremaine von ihrem Bruder aus Neid und Missgunst ermordet und in den Wänden von Higher Barton eingemauert worden sein“, erklärte Mabel. „Um einen Skandal zu vermeiden, wurde keine Anklage erhoben. Das plötzliche Verschwinden von Evelyn Tremaine gab jedoch Anlass zu den wildesten Spekulationen.“

„Nicht zu vergessen, dass die arme Evelyn in dem Haus spukt“, ergänzte Emma Penrose, nachdem Mabel geendet hatte. „Mehrere Menschen sollen sie sogar gesehen haben. Evelyns arme Seele kann nämlich keine Ruhe finden. Nun, das wird jetzt vorbei sein, nachdem man ihre sterblichen Überreste gefunden hat. Wir werden selbstverständlich für ein anständiges Begräbnis bei den Gräbern ihrer Ahnen sorgen.“

Sergeant Bourke verschluckte sich an den Krümeln des Scones, den er sich gerade in den Mund geschoben hatte, und musste husten. Auch Warden hatte Mühe, den nötigen Ernst zu wahren.

„Noch ist nicht gesichert, ob es sich bei dem Skelett wirklich um diese Evelyn, ja, ob es sich überhaupt um eine Frau handelt“, sagte er mit zuckenden Mundwinkeln. „In ein paar Tagen werden wir mehr wissen. Mit den heutigen Untersuchungsmethoden kann das Alter einer Leiche ziemlich genau bestimmt werden, vielleicht ist auch noch feststellbar, woran die Person gestorben ist.“

„Es ist Evelyn Tremaine“, beharrte Emma Penrose nachdrücklich. „Wer sollte es sonst sein?“ Sie warf Mabel einen triumphierenden Blick zu. „Und Sie haben mich ausgelacht, als ich Ihnen die Geschichte erzählte.“

„Meine liebe Emma“, Mabel hob beschwichtigend die Hand, „ich habe nie infrage gestellt, dass vor über einhundertfünfzig Jahren tatsächlich ein solches Verbrechen geschehen sein könnte. Lediglich die Behauptung, dass seitdem ein Gespenst auf Higher Barton sein Unwesen treibt, ziehe ich in Zweifel.“

Bevor Emma die Diskussion fortsetzen konnte, trat George Penrose in die Bibliothek und meldete, dass das Team der Spurensicherung eingetroffen war. Warden stand auf und bat Bourke, ihm zu folgen.

„Sie fahren am besten nach Hause, Miss Clarence. Ich werde Sie informieren, sobald wir Näheres wissen. Und Sie“, er sah zu Emma, „bitte ich, keine wilden Gerüchte in die Welt zu setzen und sich in den nächsten Tagen vom Westflügel fernzuhalten. Haben wir uns verstanden?“

Beide Frauen nickten, und Mabel wusste, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als Wardens Anweisungen zu folgen. Als Eigentümerin von Higher Barton hatte sie aber das Recht, über weitere Erkenntnisse informiert zu werden. Sie würde sich tunlichst zurückhalten, instinktiv spürte Mabel aber, dass es sich bei den Knochen nicht um die sterblichen Überreste von Evelyn Tremaine handelte, sondern dass hier etwas ganz anderes dahintersteckte. Und bisher hatten ihre Gefühle sie selten getrogen. Eine ihr nur zu gut bekannte Anspannung bemächtigte sich ihrer, und in ihrem Magen schienen Grashüpfer ihr Unwesen zu treiben. Halte dich heraus!, sagte sich Mabel. Es wird eine plausible Erklärung für die Leiche geben, kein Grund, mehr dahinter zu vermuten. Der oder die Tote lag vermutlich seit vielen Jahren in dem verborgenen Hohlraum – schon lange, bevor sie nach Higher Barton gekommen war. Es ging sie also nichts an. Verstand und Gefühl waren bei Mabel aber immer schon zwei verschiedene Paar Schuhe gewesen.

Nachdem es für Mabel nichts mehr zu tun gab, bat sie George Penrose, sie zu ihrem Cottage nach Lower Barton zu bringen. Seit der Entdeckung der Leiche hatte Mabel nicht mehr an ihr Haus gedacht. Dort angekommen, stellte sie erleichtert fest, dass das Unwetter nur minimale Schäden verursacht hatte. Victor hatte recht gehabt: Da sich in der Short Lane ein Haus an das nächste reihte, hatten sich die Cottages gegenseitig geschützt, und das dicke Reetdach hatte dem Hagel standgehalten. Den Garten hatte es indes schlimm getroffen, hier wartete viel Arbeit auf sie. Als Mabel durch die niedrige Tür direkt in den Wohnraum trat, räkelte sich Lucky wohlig im Sessel. Beim Anblick ihres Frauchens sprang sie auf und strich maunzend um Mabels Beine.

„Du hast Hunger, meine Kleine.“ Sie streichelte die Katze. „Verzeih, dass ich dich so lange allein gelassen habe.“

In der Küche füllte Mabel den Fressnapf mit Futter, auf das Lucky sich sofort stürzte. Dann suchte Mabel ihre Nachbarn auf.

„Wir haben Glück gehabt“, bestätigte Violet. „Nur zwei Straßen weiter wurden Dächer abgedeckt, in unserer Lane jedoch ist kaum etwas kaputt. Na ja, außer dass unser Auto aussieht, als hätte jemand Golf darauf gespielt“, fügte sie mit einem schiefen Grinsen hinzu.

Mabel machte sich frisch, zog sich um und ging dann zu Fuß zu Victor. Unterwegs besorgte sie zwei Portionen Fish & Chips, obwohl sie nicht viel von Fast Food hielt und lieber mit frischen Zutaten kochte. Es war aber Zeit für den Lunch, und auch Mabel verspürte jetzt Hunger. Im Frühling hatte in der North Street eine Filiale von Rick Stein’s Fishfood eröffnet. Die Produkte von Rick Stein, ein in Großbritannien bekannter und beliebter Fernsehkoch und Autor, waren außergewöhnlich schmackhaft und von hoher Qualität, sodass Mabel hin und wieder gern diese Fish & Chips kaufte. Irgendwann würde sie sich einen Besuch in Rick Stein‘s Restaurant in Padstow gönnen und es sich dort gut gehen lassen. Im Internet hatte sie auf der entsprechenden Seite gelesen, dass das Restaurant Wochen im Voraus ausgebucht war. Daher wollte sie sich bald darum kümmern, schließlich lag das alte, romantische Fischerdorf Padstow nur knappe fünfunddreißig Meilen von Lower Barton entfernt.

Wie erwartet reagierte Victor Daniels fassungslos, als Mabel von dem Hohlraum und der darin befindlichen Leiche erzählte, nickte dann aber zustimmend, als Mabel meinte, Emma Penrose wäre der Überzeugung, Evelyn Tremaine sei gefunden worden.

„Das erscheint mir eine durchaus logische Erklärung zu sein, auch wenn ich von diesen Spukgeschichten natürlich nichts halte.“

„Ich auch nicht“, stimmte Mabel zu. „Sie wissen, dass ich an die Legende, die junge Frau wäre ermordet und in Higher Barton versteckt worden, nie geglaubt habe.“

„Warum nicht?“ Victor sah sie fragend an. „Es scheint doch jetzt alles dafür zu sprechen.“

Mabel schüttelte nachdrücklich den Kopf.

„Auch im neunzehnten Jahrhundert gab es in unserem schönen England ein funktionierendes Rechtssystem. Ich bin überzeugt, wenn tatsächlich eine junge Frau spurlos verschwunden wäre, dann wäre dem nachgegangen worden, besonders, wenn Verdachtsmomente vorlagen, dass diese ermordet worden war.“

„Sie vergessen eines, Mabel.“ Victor hob unterbrechend die Hand. „Das mag in London und anderen Großstädten so gewesen sein, hier auf dem Land galten jedoch andere Gesetze. Der Landadel war unantastbar, und gerade in der viktorianischen Zeit waren die einflussreichen Familien bemüht, jeden Skandal zu vermeiden. Eigentlich hat sich das bis heute nicht wesentlich geändert. Ihre Cousine ist ein gutes Beispiel dafür.“

In diesem Punkt musste Mabel dem Tierarzt zustimmen. Es war noch gar nicht so lange her, dass Abigail alles getan hatte, um den Namen Tremaine von jedem Makel freizuhalten. Als das nicht mehr möglich gewesen und die Wahrheit ans Licht gekommen war, hatte Abigail nicht nur Higher Barton, sondern gleich das Land verlassen und lebte seitdem in Südfrankreich.

„Apropos Lady Abigail“, fuhr Victor fort, „haben Sie Ihre Cousine schon über die grausige Entdeckung informiert?”