Mord vor Drehschluss - Rebecca Michéle - E-Book

Mord vor Drehschluss E-Book

Rebecca Michéle

4,5

Beschreibung

Das beschauliche Lower Barton steht Kopf, denn die Hollywood-Diva und Oscar-Preisträgerin Miranda Stanforth hat sich angesagt. Im Herrenhaus Higher Barton wird der Roman "Rebecca" von Daphne du Maurier mit Miranda in der Hauptrolle neu verfilmt, und selbst Mabel Clarence kann sich der Faszination der Schauspielerin nicht entziehen. Allerdings scheint der Star ein Geheimnis zu verbergen. Als Miranda plötzlich spurlos verschwindet, deutet alles auf ein schreckliches Verbrechen hin. Mabel Clarence Spürsinn ist erneut gefragt, denn die Schauspielerin hatte nicht nur Freunde, und Motive, Miranda aus dem Weg zu räumen, gibt es zahlreiche.

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Sammlungen



Mord vor Drehschluss

Ein Cornwall-Krimi von

Rebecca Michéle

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Impressum

Lesetipps

Eins

„Kinder, jetzt beruhigt euch bitte! Wenn alle durcheinanderreden, versteht ja niemand ein Wort.“ Resolut schob die zierliche Mabel Clarence den zwei Köpfe größeren, doppelt so breiten und dreißig Jahre jüngeren Alex Grant zur Seite. Die Hände in die Hüften gestemmt, sagte sie klar und deutlich: „Setzt euch endlich und trinkt eine Tasse Tee, dann sprechen wir in Ruhe darüber, aber einer nach dem anderen.“

Mabel Clarence, pensionierte Krankenschwester aus London und seit fünf Jahren in Cornwall lebend, wunderte sich nicht darüber, dass diese Nachricht die Mitglieder des Laientheaters der Historischen Gesellschaft Lower Barton in Aufregung versetzen würde. Sie hatte es ja selbst erst wirklich glauben können, als alle Verträge unterzeichnet waren. Deshalb hatte sie so lange geschwiegen. Nun stand es aber in allen Zeitungen, dem Fernsehsender ITV Westcountry war es gestern Abend sogar einen Bericht wert gewesen, und ganz Lower Barton sprach nur noch über ein Thema.

Zu der Theatergruppe, die regelmäßig ein Schauspiel aus der bewegten Historie Lower Bartons aufführte, gehörten Männer und Frauen jeglichen Alters und jeglicher Herkunft. Heute standen die Älteren, was die Aufregung betraf, den jungen Leuten jedoch in nichts nach.

Deidre Trekenna half Mabel, den Tee auszuschenken, und stellte frisch gebackene Rosinenbrötchen bereit. Der starke, aromatische Tee wurde allgemein begrüßt, Hunger verspürte jedoch keiner. Nach und nach kehrte im Kirchengemeindesaal Ruhe ein. Die rund zwei Dutzend Männer und Frauen nahmen sich Stühle und bildeten einen Halbkreis.

Alle blickten erwartungsvoll auf Mabel.

Alex Grant trat neben sie und raunte: „Danke, Mabel. Ich bin immer noch der Meinung, du wärst als Leiterin der Theatergruppe die bessere Wahl. Auf dich hören sie, denn du kannst hervorragend mit Menschen umgehen.“

Mabel schüttelte den Kopf.

„Du machst alles genau richtig und gut, Alex. Ich engagiere mich gern mit meinen Nähkünsten, darüber hinaus fehlt mir die Zeit, mich in den Verein einzubringen. Und du, Alex, stammst von hier und bist mit der örtlichen Historie bestens vertraut.“

„Ich bewundere deine Ruhe.“ Alex grinste. „Nun ja, nach allem, was du in den letzten Jahren erlebt hast, ist es kein Wunder, dass dich das, was jetzt in Higher Barton geschehen wird, nicht besonders aufregt.“

„Der Schein trügt“, antwortete Mabel lächelnd. „Ich verstehe die Aufregung der anderen sehr gut. Es ist aber niemandem damit gedient, wenn wir hier alle durcheinanderreden.“

Mabel Clarence, Mitte sechzig und erst seit wenigen Jahren Mitglied der Laienspielgruppe, brauchte ihre Stimme nie zu erheben. Sie hatte etwas Respektgebietendes an sich, ohne dabei zu dominant zu wirken. Es war ihre herzerfrischende Offenheit, die ihr eine allgemeine Beliebtheit bescherte. Außerdem hatte sich Mabel einen gewissen Ruf erworben, da sie das eine oder andere Verbrechen auf eigene Faust aufgeklärt hatte. Alle Einwohner des beschaulichen Ortes Lower Barton und darüber hinaus zollten der resoluten Rentnerin Hochachtung.

Lower Barton war eine kleine Stadt im Südosten Cornwalls. Wegen der sechs Meilen entfernten Küste kamen die Touristen in den Sommermonaten zwar schon auch hierher, die Ortschaft war aber nie so überlaufen wie deren unmittelbare Nachbarn Looe und Polperro an der Südküste. Ein Höhepunkt stellte das jährliche Festival im Mai dar, das in Erinnerung an die Vorfälle des Bürgerkrieges im 17. Jahrhundert stattfand. In dieser Woche, mehr ein Volksfest mit Rummelplatz und Verkaufsbuden als die würdige Darstellung eines historischen Ereignisses, wurde das Stück Verrat in Lower Barton aufgeführt. Üblicherweise probten die Mitglieder der Theatergruppe bereits Wochen vorher mit vollem Einsatz, in diesem Jahr wurde die Aufführung jedoch zur Nebensache. Andere, wichtigere Ereignisse spielten sich in der sonst ruhigen und beschaulichen Gegend ab. Aus diesem Grund hatte Mabel Alex gebeten, das Ensemble zusammenzurufen, um ein paar Fakten klarzustellen.

„Also, ich werde natürlich eine Rolle bekommen.“ Jennifer Crown, eine schlanke, hochgewachsene Brünette Mitte zwanzig, blickte selbstbewusst in die Runde. „Natür-lich nicht nur als Statistin, dafür wäre mein Talent verschwendet. Das werden die Produzenten schon feststellen.“

Demonstrativ zog sie die Schultern nach hinten, sodass sich ihre üppigen Brüste deutlich unter dem T-Shirt abzeichneten. Ihr hellgrauer Jeansrock war ohnehin nicht mehr als ein breiter Gürtel. Jennifer Crown hatte aber auch Beine, die sie nicht verstecken musste.

„Ganz klar, und morgen ruft dann Hollywood bei dir an“, bemerkte ein junger Mann spöttisch. „Wir können uns ja glücklich schätzen, dass du unsere kleine, primitive Gruppe überhaupt noch mit deiner Anwesenheit beehrst.“

„Ach, halt doch die Klappe“, zischte Jennifer und rutschte mit ihrem Stuhl so zur Seite, dass sie dem Mann demonstrativ den Rücken zuwandte. „Du bist ja bloß neidisch. Dich wird bestimmt keiner für eine Rolle auswählen.“

Jennifer und Michael hatten vor einigen Jahren eine On-Off-Beziehung geführt, und Jennifer konnte ihm nun nicht verzeihen, dass er sich schlussendlich gegen sie entschieden und sich vor vier Monaten mit der eher unscheinbaren Ellen verlobt hatte.

„Niemand wird hier eine Rolle erhalten.“ Mabel erhob wieder ihre Stimme. „Die Schauspieler stehen alle fest, und es handelt sich ausschließlich um Profis. Aus diesem Grund wollte ich euch heute sprechen, bevor sich jemand falsche Hoffnungen macht oder gar versucht, die Verantwortlichen zu kontaktieren.“

„Na ja, die werden doch wohl ein paar Statisten brauchen.“ Jennifer wollte das nicht so einfach hinnehmen. „Von mir aus spiele ich auch ein Hausmädchen oder etwas in der Art.“

„Und ein Gärtner kann doch auch mal durch den Park laufen“, rief Tom. Seine Worte wurden von einem kräftigen Nicken von Hugh Trekenna, Deidres Bruder, begleitet.

„Ganz richtig! Und was ist mit einem Chauffeur? So ein Film benötigt doch eine ganze Menge Komparsen.“

„Das glaube ich auch. Vielleicht, wenn irgendwo ein Regenfass benötigt werden sollte …“ Die Sprecherin sah vielsagend an sich herunter.

Alle lachten, denn die rundliche Bridget konnte nicht verhehlen, dass sie gern und oft aß. Besonders bei süßem Gebäck sagte sie nie nein, und von sportlicher Betätigung hielt sie auch nichts. Diesbezüglich glich sie Alex Grant, dem Leiter der Theatergruppe, dessen Ehefrau wunderbar kochte, was sich an seinem Leibesumfang bemerkbar machte. Alex und Bridget waren beide kerngesund und fühlten sich wohl in ihrer Haut. Sie hatten es längst aufgegeben, irgendwelchen Schönheitsidealen nachzujagen.

„Keith Landon, der Regisseur, hält sich weitgehend an die Romanvorlage“, erklärte Mabel. „Wenn ihr das Buch gelesen habt“ – sie sah in die Runde – „und ich gehe davon aus, dass wohl jeder der Anwesenden diesen großartigen Roman kennt, dann ist euch bekannt, dass in den Szenen auf Manderly nur wenige Personen in Erscheinung treten. Die Einstellungen, deren Handlungen in Monte Carlo spielen, sind längst abgedreht, die Szene der Anhörung vor dem Richter wird später in den Londoner Studios gedreht.“

„Das ist echt blöd.“ Schmollend zog Jennifer die Unterlippe zwischen die Zähne.

„Du kannst ja trotzdem bei diesem Landon vorstellig werden.“ Michael konnte es sich nicht verkneifen, erneut in die Kerbe zu hauen. „Vielleicht erliegt er ja deinem Charme und feuert seine Hauptdarstellerin.“

„Durchaus möglich“, giftete Jennifer und warf mit einer lasziven Bewegung ihre kastanienbraunen Locken zurück. „Wenn du hübsch brav bist, Michael, schicke ich dir vielleicht eine Einladung zur Oscarverleihung.“

„Michael, Jennifer, lasst es gut sein, das führt doch zu nichts!“ Nun mischte sich Alex Grant ein. „Mabel hat sich extra Zeit genommen, um euch diese tollen Nachrichten mitzuteilen.“

„Danke, Alex. In der Tat muss ich bald wieder gehen.“ Mabel räusperte sich und fuhr fort: „Wie ihr nun wisst, wurde Higher Barton als Kulisse für die Außen- und für verschiedene Innenaufnahmen des neuen Films von Keith Landon ausgewählt. In den nächsten Tagen beginnen die Dreharbeiten. Um ungestört arbeiten zu können, wird Higher Barton weiträumig abgesperrt werden. Die meisten Akteure, der Regisseur und der Produzent wohnen im Herrenhaus, während die Filmcrew im Three Feathers absteigt.“

„Bekommen wir von den Schauspielern dann überhaupt jemanden zu Gesicht? Da passiert hier mal etwas wirklich Aufregendes, und wir werden davon gar nichts mitkriegen.“

Nicht nur auf Bridgets Gesicht zeigte sich Enttäuschung, Mabel konnte sie aber beruhigen.

„Das ist es ja, was ich euch mitteilen wollte. Am kommenden Sonntag wird ein Empfang auf Higher Barton stattfinden, zu dem ihr herzlichst eingeladen seid. Dabei könnt ihr euch Autogramme von den Schauspielern geben lassen.“

„Klasse!“ Deidre klatschte begeistert in die Hände. „Ich will unbedingt ein Selfie von mir und Philipp Cooper.“

„Wann kommt eigentlich die Stanforth an?“, fragte Jennifer und zappelte ungeduldig mit den Beinen.

„Man erwartet Miranda Stanforth morgen Nachmittag“, antwortete Mabel. „Niemand, der nicht zur Crew gehört, darf das Gelände von Higher Barton betreten – außer am Sonntag“, wiederholte sie eindringlich. „Ein mehrköpfiges Security-Team bewacht alle Zugänge. Vorrangig gilt es, die Journalisten fernzuhalten, damit die Dreharbeiten ungestört vonstattengehen können. Besonders Miranda Stanforth möchte nicht ständig von den Reportern belästigt werden.“

„Na, das ist ja ein Aufwand, als wäre sie die Queen höchstpersönlich“, bemerkte Beatrice Hill, die Mundwinkel abfällig heruntergezogen. Sie war dafür bekannt, dass sie gern nach dem Haar in der Suppe suchte. „Dabei ist die Stanforth eine Frau wie jede andere auch. Kein Grund, so ein Aufhebens um sie zu machen.“

„Miranda Stanforth gewann zweimal den Oscar – jeweils für die beste weibliche Hauptrolle“, rief Michael aufgeregt. „Sie ist eine der letzten richtigen Hollywood-Diven und eine verdammt gute Schauspielerin. Ich gebe gern zu, dass ich hoffe, sie wenigstens ein Mal aus der Nähe sehen zu können.“

„Ja, ganz genau.“

„Ich ebenfalls.“

„Man stelle sich vor – die Stanforth hier in Lower Barton!“

„Ob man wohl auch von ihr ein Autogramm bekommen kann?“

Erneut redeten wieder alle durcheinander. Mabel und Alex zwinkerten sich zu und schmunzelten. Obwohl sich Mabel für die Yellow Press und allgemeinen Klatsch überhaupt nicht interessierte, hatte ihr Herz doch schneller geschlagen, als die Anfrage eintraf, Higher Barton als Kulisse für diesen Film zu mieten. Finanziell war es zwar nicht sonderlich lukrativ, es bedeutete eine Menge zusätzliche Arbeit für Mabel und für das Verwalterehepaar, und die Dreharbeiten würden alles gehörig durcheinanderwirbeln, trotzdem hatte sie nach nur kurzer Bedenkzeit zugestimmt. Wenn es irgendein Film gewesen wäre, hätte Mabel wohl abgelehnt, es handelte sich jedoch um eine Neuverfilmung des Klassikers Rebecca nach dem Roman von Daphne du Maurier – Mabels Lieblingsschriftstellerin. Bereits im jugendlichen Alter hatte Mabel das Buch gelesen und die Verfilmung unter der Regie des unvergleichlichen Alfred Hitchcock gesehen. Nun sollte Higher Barton – ihr Higher Barton! – das neue Manderly werden! Den Regisseur Keith Landon kannte Mabel nicht, da sie nur selten ins Kino ging. Sie hatte aber im Internet recherchiert und festgestellt, dass Keith Landon derzeit zu den angesagtesten Regisseuren Englands gehörte. Vor vier Jahren hatte er sogar den begehrten Oscar für ein opulentes Familiendrama erhalten. Die Figur der zwielichtigen Mrs Danvers in Rebecca wurde von Miranda Stanforth dargestellt. Seit Jahrzehnten gehörte die Mimin zur ersten Riege Hollywoods, in den letzten Jahren war es um die Schauspielerin jedoch still geworden. Mabel vermutete, dieser Film sollte Miranda Stanforth‘ Comeback auf der Kinoleinwand werden. Obwohl äußerlich ruhig, war Mabel nicht minder gespannt, die Diva kennenzulernen. Deswegen zeigte sie Verständnis für die allgemeine Aufregung, die nicht nur die Laienschauspieler, sondern ganz Lower Barton gepackt hatte.

„Ich denke, die Schauspieler werden gern Autogramme geben“, rief Mabel in die Runde, „jedoch nur, wenn ihr euch auch anständig benehmt.“

„Das tun wir doch immer“, erwiderte Bridget lachend.

Als später alle die Stühle in den Nebenraum räumten und sich dann verabschiedeten, drängte sich Jennifer Crown an Mabels Seite und flüsterte: „Sie können für mich sicherlich irgendwie ein Treffen mit Miranda Stanforth und Keith Landon arrangieren? Ich brauche nur fünf Minuten, um Landon von meinen Qualitäten zu überzeugen. Das müssen Sie einfach für mich tun, Mabel!“

„Ich schaue, was sich machen lässt“, antwortete Mabel kühl.

Sie mochte Jennifer Crown nicht besonders, obwohl die junge Frau ihr nie etwas getan hatte. Mabels Meinung nach war Jenny, wie sie genannt wurde, viel zu sehr von sich eingenommen und hielt sich für den Nabel der Welt. Sie arbeitete in einer Modeboutique in Plymouth, träumte aber seit Jahren von einer Karriere als Model oder als Schauspielerin beim Film. Allerdings war sie nicht bereit, eine entsprechende Ausbildung an einer Schauspielschule zu absolvieren, sondern war überzeugt davon, ein Naturtalent zu sein und nur darauf warten zu müssen, entdeckt zu werden. Jenny würde schon noch erkennen, dass gutes Aussehen und starkes Make-up nicht ausschlaggebend für Erfolg und Glück waren.

Nach der Versammlung kehrte Mabel nach Higher Barton zurück. Ein Großteil des Teams war bereits vor zwei Tagen eingetroffen, um die Vorarbeiten zu erledigen. Seitdem sah es im Park, in der großen Halle und den anderen Räumen, die als Kulisse dienen sollten, wie auf einem Schlachtfeld aus. In dem dreistöckigen Herrenhaus, dessen einzelne Gebäudeteile auf das 16. Jahrhundert zurückgingen, wurde Manderly zum Leben erweckt. Die Kameraleute, die Tontechniker und Assistenten logierten in dem einzigen Hotel Lower Bartons, dem Three Feathers, sowie in diversen Bed-&-Breakfast-Cottages. Für Miranda Stanforth war jedoch das beste Gästezimmer im Herrenhaus reserviert. Ebenfalls auf Higher Barton waren der Regisseur Keith Landon, der Produzent Ethan Seymour und die Schauspieler der anderen Hauptrollen untergebracht. Emma Penrose, die zusammen mit ihrem Mann George das Anwesen verwaltete, hatte mit tatkräftiger Hilfe aus dem Ort alles auf Hochglanz geputzt und poliert und das lichtdurchflutete Eckzimmer im ersten Stock des Westflügels bereits mit frischen Blumen geschmückt.

„Vielleicht kommt Mrs Stanforth früher“, erklärte sie Mabel. „Ach, ich bin ja so aufgeregt! Hoffentlich mache ich nichts falsch.“

„Seien Sie einfach Sie selbst, Emma“, erwiderte Mabel. „Ich bin sicher, Miranda Stanforth ist eine liebenswürdige Dame. Sie wurde schließlich in England geboren und erzogen, bevor sie nach Los Angeles ging.“

„Ach, man hört und liest so viel …“

Mabel sah die Verwalterin streng an.

„Sie wissen, was ich von solchen Klatschgeschichten halte. Gar nichts!“

Emma Penrose nickte, in ihren Augen war jedoch Skepsis zu lesen.

„Es heißt, die Stanforth wäre alkoholabhängig und tablettensüchtig gewesen. Aus diesem Grund hat sie so lange keinen Film mehr gedreht und sich auch in der Öffentlichkeit nicht mehr blicken lassen. Erst letzte Woche war in der Sun zu lesen, sie hätte mehrere Monate in der Betty-Ford-Klinik verbracht.“

Normalerweise hätte Mabel diese Unterhaltung unverzüglich abgebrochen und Emma gesagt, sie möge diesen Klatsch für sich behalten. Ihr waren solche Gerüchte ebenfalls zu Ohren gekommen, auch wenn diese gewisse Art von Zeitungen und Zeitschriften nicht zu Mabels täglicher Lektüre gehörte. Es stimmte in der Tat nachdenklich, dass Miranda Stanforth sich unmittelbar, nachdem sie den zweiten Oscar erhalten hatte, zurückzog und erst vor ein paar Monaten wieder in der Öffentlichkeit aufgetreten war. Über zwei Jahre war sie praktisch wie von der Bildfläche verschwunden gewesen, obwohl sie nach der Preisverleihung sicher viele Rollenangebote erhalten hatte.

„Wir werden uns ein eigenes Bild machen“, sagte Mabel bestimmt. „Geben Sie Mrs Stanforth eine Chance. Ich bin sicher, wenn sie in irgendeiner Art und Weise“ – Mabel zögerte – „krank wäre, hätte man sie nicht für diese Rolle engagiert.“

„Sie wurde für diesen Film verpflichtet, weil ihr Mann darauf bestanden hat.“

„Ihr Mann?“

Emma freute sich, bei Mabel nun doch Interesse geweckt zu haben.

„Keith Landon, der Regisseur. Nun ja, ihr geschiedener Mann, um genau zu sein. Die beiden haben sich vor rund drei Jahren getrennt, kurz darauf hörte man von Miranda Stanforth nichts mehr. Haben Sie das nicht gewusst, Miss Mabel?“

Das war Mabel tatsächlich nicht bekannt gewesen, und sie war Emma Penrose, die die einschlägigen Zeitungen las, für diese Information dankbar. Drei bis vier Wochen würden diese Menschen unter einem Dach zusammenleben, da konnte es durchaus von Vorteil sein, über die verschiedenen Charaktere und Beziehungen untereinander Bescheid zu wissen. Das war aber noch längst nicht alles, was Emma Penrose wusste, und da sie bemerkte, dass Mabel ihr interessiert zuhörte, plapperte sie munter weiter.

„Landon will seiner Frau mit diesem Film zum Comeback verhelfen. Zwischen ihm und dem Produzenten scheint es mächtig Ärger gegeben zu haben, denn Seymour hätte die Rolle lieber einer jüngeren Frau gegeben. Besonders pikant ist, dass Miss Bowers die neue Frau an Landons Seite ist. Es heißt, die Stanforth habe die Trennung von ihrem Mann nie überwunden und liebe ihn immer noch.“

„Wer ist Miss Bowers?“ Mabel hatte den Namen nicht auf der Besetzungsliste gelesen.

„Cloe Bowers ist eine aufstrebende Schauspielerin“, erklärte Emma bereitwillig. „Bisher hat sie aber nur kleine Rollen in Fernsehserien gespielt. In der Daily Mail stand, die Bowers habe gehofft, die Mrs Danvers spielen zu können. Sie hat in diesem Film aber gar keine Rolle, wohnt als Lebensgefährtin von Landon jedoch ebenfalls hier. Davon wird die Stanforth bestimmt nicht begeistert sein.“

Mabels Nase begann unwillkürlich zu jucken – ein untrügliches Zeichen, dass Schwierigkeiten vorprogrammiert waren. Solange es aber keinen Mord gab – und das war nun wirklich nicht zu erwarten –, wollte sie sich aus allen Intrigen und eventuellen Eifersüchteleien hübsch heraushalten.

„Warten wir ab, wie sich die Dinge entwickeln, Emma“, sagte Mabel. „Mit dem Catering geht alles in Ordnung?“

Emma nickte. „Meine Küche wurde bereits mit Beschlag belegt, da drin geht‘s drunter und drüber.“ Sie seufzte und verdrehte die Augen. „Ich freue mich schon auf das Aufräumen und Putzen, wenn alles vorbei ist.“

„Dafür holen Sie sich wieder Hilfe. Diese Kosten trägt die Produktionsfirma.“ Mabel warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Oh, schon so spät! Ich muss mich beeilen und noch ein paar Besorgungen erledigen. Derzeit sollten meine Tage achtundvierzig Stunden haben.“

Mabel liebte die Umtriebigkeit, Untätigkeit machte sie nervös. Über vierzig Jahre hatte sie als Krankenschwester in einem großen Londoner Hospital gearbeitet, Schicht- und Nachtdienste waren an der Tagesordnung gewesen. Als sie vor fünf Jahren pensioniert wurde, waren ihr die Tage lang geworden, denn es entsprach nicht ihrer Art, die Hände in den Schoß zu legen und sich im Müßiggang zu üben. Da war ihr die Einladung ihrer Cousine Lady Abigail Tremaine nach Higher Barton gerade recht gekommen. Aufgrund dramatischer und tragischer Ereignisse hatte Abigail kurz darauf Cornwall verlassen und ihren Besitz an Mabel überschrieben – ihre einzige noch lebende Verwandte. Mabel hatte nie in Betracht gezogen, in dem großen Haus zu leben, sondern ein gemütliches, strohgedecktes Cottage in einer ruhigen Seitenstraße in Lower Barton erworben. Damit der Landsitz aus dem 16. Jahrhundert jedoch nicht leer stand und allmählich verfiel, sondern die für die Erhaltung notwendigen finanziellen Mittel einbrachte, vermietete Mabel die Räumlichkeiten für Veranstaltungen. Besonders für Hochzeits- und Firmenfeiern wurde Higher Barton gern gebucht, da auch Gästezimmer zur Verfügung standen. Gemeinsam mit Emma Penrose kümmerte Mabel sich um das Organisatorische, während George Penrose als Hausmeister fungierte und kleinere Reparaturarbeiten durchführte. Mabel war mit der Verwaltung von Higher Barton jedoch noch lange nicht ausgelastet. Obwohl sie auch ihr eigenes Cottage in Ordnung halten musste, führte sie dem einzigen Tierarzt Lower Bartons den Haushalt. Victor Daniels, ein Jahr älter als Mabel, war das Musterbeispiel eines Eigenbrötlers. Für den alten Hagestolz waren Ordnung und Haushalt Fremdwörter, und er würde es fertigbringen, sogar Wasser anbrennen zu lassen. Als Tierarzt war er jedoch eine Koryphäe. Wenn er sich um verletzte oder kranke Tiere kümmerte, zeigte er seine weiche Seite, und Mabel hatte längst erkannt, dass unter Victors ruppiger Schale ein herzensguter Kerl steckte. Sie waren mehr als nur Arbeitergeber und Haushälterin – sie waren Freunde, wie man sie heute nur noch selten fand. Mabel wusste, sie konnte sich immer und bei jeder Gelegenheit vollkommen auf Victor Daniels verlassen, so wie auch sie ihn niemals im Stich lassen würde. Wären sie beide zwanzig Jahre jünger, dann hätte sich aus der Freundschaft vielleicht mehr entwickelt. Für Gefühlsduseleien fühlten sich aber beide zu alt, außerdem war eine gute Freundschaft nicht nur mehr wert, sondern auch unproblematischer. Darüber hinaus hatte Victor bisher mit keinem Wort oder keiner Geste angedeutet, dass sie, Mabel, für ihn mehr sein könnte als nur eine Freundin.

Wie von Mabel erwartet, drängten sich in der Fleischerei die Menschen bis auf den Gehsteig. Sie straffte die Schultern und atmete tief durch. Mrs Roberts, die Metzgersfrau, war dafür bekannt, über alles und jeden in Lower Barton Bescheid zu wissen, meistens sogar besser als der Betroffene selbst. Ihr Geschäft war jedoch der einzige Fleischfachhandel im Ort, und Mabel kaufte nur ungern im großen Supermarkt ein.

Als Mabel sich näherte, verstummten alle Gespräche, und erwartungsvolle Blicke richteten sich auf sie.

„Ah, Miss Clarence!“ Die korpulente Mrs Roberts watschelte hinter ihrer Theke vor, ihre ohnehin rosigen Bäckchen glühten heute noch mehr als sonst. „Ist die Stanforth schon da?“ Mrs Roberts hielt nichts davon, um den heißen Brei herumzureden.

„Mrs Stanforth wird morgen erwartet“, antwortete Mabel ruhig und sah in die Runde. „Und bevor Sie nun alle nachfragen: Am kommenden Sonntag steht Higher Barton für Sie alle offen. Wer und wen sie dort antreffen und wer bereit ist, Autogramme zu geben, liegt nicht in meinem Ermessen. Bei den Dreharbeiten sind allerdings keine Zuschauer zugelassen.“

„Die Schauspieler werden aber doch mal hier in den Ort kommen?“, fragte eine Dame erwartungsvoll. „Einige wohnen ja im Hotel, und im Pub wird sich der eine oder andere auch mal ein Pint schmecken lassen.“

„Die Stanforth wird das Herrenhaus wohl nicht verlassen“, warf Mrs Roberts ein. „Allein schon, um nicht der Versuchung des Alkohols zu erliegen, sofern sie überhaupt trocken ist.“

Drei Damen nickten zustimmend, Mabels Mimik blieb jedoch ausdruckslos. Obwohl Emma Penrose Ähnliches geäußert hatte, wollte Mabel sich ein eigenes Bild von der Schauspielerin machen. Jeder hatte eine zweite Chance verdient. Wenn es der Wahrheit entsprach, dass die Schauspielerin dem Alkohol mehr zugetan war, als es für sie gut gewesen war, dann würde sie, Mabel, alles tun, ihr unvoreingenommen zu begegnen.

„Es ist mir unverständlich, wie Sie derart gelassen sein können, Miss Clarence“, fuhr Mrs Roberts fort. „Selbst mein Mann, der seit Jahrzehnten kein Kino mehr von innen gesehen hat, ist aufgeregt. Es ist aber auch Wahnsinn, dass ausgerechnet in unserem kleinen Lower Barton ein Film gedreht wird. Das hat es nie zuvor gegeben.“

„Und dann noch mit solchen Stars“, ergänzte eine jüngere Frau schwärmerisch. „Philipp Cooper ist ja auch sehr berühmt. Haben Sie ihn als David in dem Fernsehmehrteiler Ridden Hill gesehen?“

Mabel zuckte lächelnd die Schultern. „Leider nicht, aber Schauspieler sind auch nur Menschen. Ich glaube, die meisten möchten gar nicht wie etwas Besonderes behandelt werden.“

„Na, die Stanforth schon“, warf Mrs Roberts sofort ein. „Sie soll ja schrecklich kapriziös sein.“ Sie beugte sich vor und sah Mabel gespannt an. „Hat sie nicht Dutzende von Sonderwünschen geäußert? Ich habe so einiges von solchen Stars gelesen …“

Mabels Lächeln blieb unverbindlich. Tatsächlich hatte Emma Penrose von der Produktionsfirma eine Liste über die Wünsche erhalten, die für Miranda Stanforth‘ Aufenthalt zu berücksichtigen waren. Zum Beispiel durfte die Bettwäsche nur mit einem ganz bestimmten Waschmittel gewaschen und das Bad nur mit einem speziellen Reinigungsmittel geputzt werden; jeden Tag erwartete Mrs Stanforth frisches Obst in ihrem Zimmer, aber keine Weintrauben und Bananen, weil diese zu viel Fruchtzucker enthielten; ihr Trinkwasser wünschte sie von einer ganz bestimmten Firma und ohne Kohlensäure. Mabel war froh, dass für die allgemeine Verpflegung eine Cateringfirma engagiert worden war, denn sie ahnte, dass auch an das Essen gewisse Ansprüche gestellt wurden.

Mrs Roberts bequemte sich endlich, die Kundschaft zu bedienen. Als Mabel die gehackte Lammschulter, den Frühstücksspeck und den Wurstaufschnitt in ihrem Korb verstaut hatte, musste sie sich beeilen. Das Fleisch war erst für den kommenden Tag gedacht, sie wollte es aber noch heute Abend in einen Sud aus Essig, Pfefferminze und Rotwein einlegen, damit es gut durchziehen konnte. So mochte Victor Daniels das Lamm am liebsten. Auf dem Weg zum Tierarzt, der seine Praxis etwas oberhalb des Ortes hatte, besorgte Mabel beim Bäcker noch schnell einen kleinen Rhabarberkuchen für die Teezeit. Oft buk Mabel frische Scones, heute fehlte ihr dafür jedoch die Zeit. Sie ahnte, die nächsten Wochen würden hektisch werden, und sie musste alles gut organisieren, um ihre Arbeit bei Victor nicht allzu sehr zu vernachlässigen.

Mabel hatte kaum die Haustür aufgeschlossen, als Victor auch schon aus der Praxis trat und sie missbilligend ansah.

„Sie sind zu spät, es ist bereits zwanzig Minuten nach fünf.“

Die grauen, buschigen Augenbrauen über der Nase zusammengezogen, wirkte Victor ärgerlich. Mabel war an sein Verhalten jedoch gewöhnt und konterte: „Ich hoffe doch sehr, Victor, dass in Ihrem Leben so viel Zeit ist, um ein Mal zwanzig Minuten auf Ihren Tee zu warten. Und jetzt gehen Sie mir aus dem Weg, damit ich anfangen kann, sonst dauert es noch länger. Sie können in zehn Minuten hochkommen.“

Victor drehte sich um und ging in die Praxisräume zurück, dabei hörte Mabel ihn murmeln: „Weiß wirklich nicht, warum ich mir das gefallen lasse.“

Sie lächelte in sich hinein und stieg die Treppe hinauf. Victors Wohnung befand sich im ersten Stock über der Praxis und war mit zwei Zimmern, dem Bad und der großen, gemütlichen Wohnküche überschaubar. Da Victor jedoch das Talent besaß, seinen Haushalt binnen kurzer Zeit in ein Chaos zu verwandeln, ging Mabel die Arbeit nie aus. Bevor sie zu ihm gekommen war, hatte er alle Haushälterinnen der Umgebung vergrault, denn keine hatte es dem Tierarzt recht machen können. An Mabel jedoch prallten seine Nörgeleien ab, da sie längst den Victor Daniels kennengelernt hatte, der anderen Menschen verborgen blieb.

Als sie später am Küchentisch saßen und sich den Tee schmecken ließen, unterhielten sie sich auch hier über die Dreharbeiten. Mabel berichtete, was im Ort erzählt wurde, Victor zuckte nur mit den Schultern.

„Ob diese Schauspielerin trinkt oder nicht, ist mir so egal, als ob in China ein Sack Reis umfällt. Mir geht dieser ganze Wirbel um die sogenannten Prominenten gehörig gegen den Strich. Die kochen auch alle nur mit Wasser.“

„Miranda Stanforth ist wirklich eine berühmte Persönlichkeit“, wandte Mabel ein. „Ich habe sie in mehreren Filmen gesehen und gebe zu, dass ich ihre Arbeit bewundere. Sie spielt nicht nur eine Rolle, nein, sie schlüpft in diese hinein und wird mit Haut und Haaren die Persönlichkeit, die sie darstellt. Ich bin auf Miranda Stanforth sehr gespannt und freue mich, sie kennenzulernen.“

„Sie werden furchtbar enttäuscht sein.“

„Warum?“

„Es ist doch meistens so, dass man sich von einer berühmten Person ein gewisses Bild macht.“ Skeptisch runzelte Victor die Stirn. „Ein Bild, das uns die Medien vorgaukeln, im positiven wie im negativen Sinn. Man neigt dazu, einen solchen Menschen auf einen Sockel zu stellen und ihn zu bewundern, die Realität sieht meist völlig anders aus, und man ist enttäuscht, wenn diese Person vom Sockel herabsteigt.“

Mabel sah Victor verwundert an. „Sie überraschen mich, Victor. Solche Überlegungen hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.“

„Tja, Sie kennen mich eben noch lange nicht.“ Er lächelte verschmitzt. „Auch wenn Sie meinen, es zu tun, glauben Sie mir, Mabel: Sie schätzen mich auch heute noch falsch ein.“

Darauf wusste Mabel nun wirklich nichts zu antworten, daher wechselte sie das Thema.

„Wenn Sie möchten, kann ich Sie zu den Dreharbeiten mitnehmen. Higher Barton ist für die Öffentlichkeit zwar Sperrzone, einen Freund werden sie aber sicher mal zuschauen lassen. Vielleicht ändern Sie dann Ihre Meinung?“

Abwehrend hob Victor die Hände.

„Verschonen Sie mich! Ich habe mich inzwischen damit abgefunden, in nächster Zeit mal wieder öfter auf Sie verzichten zu müssen. Das ist mehr als genug! Ich will mit dem ganzen Gedöns auf Higher Barton nichts zu tun haben. Noch eine Frage, Mabel: Spielen in dem Film eigentlich auch Tiere mit?“

„Tiere?“, wiederholte Mabel erstaunt. „Doch, ja, wenn streng nach der Romanvorlage gefilmt wird, dann spielt ein Hund in ein oder zwei Szenen eine Rolle. Warum fragen Sie?“

Victor stieß geräuschvoll die Luft aus und meinte: „Dann hoffe ich, dass dieser Hund nicht krank wird. Da ich der einzige Tierarzt in der Gegend bin, müsste ich mich ja wohl um ihn kümmern. Und für so etwas habe ich weder Zeit noch Lust. Der Terminkalender meiner Praxis ist auf Wochen hinaus voll, außerdem muss ich jeden Abend zu den Farmen, sogar an den Wochenenden. Da kann ich mich unmöglich auch noch um einen verwöhnten Köter mit Starallüren kümmern.“

Mabel verbarg ihre Erheiterung nicht. Obwohl Victors Formulierung ein wenig derb gewesen war, wusste sie genau: Wäre ein Tier wirklich in Not, würde Victor alles stehen und liegen lassen und auch mitten in der Nacht meilenweit fahren, um zu helfen. Dabei war es unerheblich, ob es sich um ein edles Rennpferd der vermögenden Familie Foster oder um einen herrenlosen Hund voller Flöhe handelte. Für Victor waren alle Tiere gleich, und oft half er, ohne ein Honorar zu verlangen, denn nicht alle Tierbesitzer konnten sich eine Behandlung ihrer Lieblinge leisten.

Victor schob die Tasse zur Seite, stand auf und griff nach seiner grünen Wachsjacke mit dem karierten Innenfutter.

„Muss jetzt nach Pelynt rüber. Rund ein Dutzend Schafe leiden an Pansenblähung. Der Farmer hat auf ein anderes Futter umgestellt, da scheint was drin zu sein, das die Tiere nicht vertragen.“

„Werden die Schafe wieder gesund?“, fragte Mabel, deren Herz nicht weniger als Victors für Tiere schlug.

Victor nickte. „Da habe ich keine Sorge, ich muss sie nur jeden Abend entsprechend spritzen, und sie bekommen jetzt auch wieder das übliche Futter.“ An der Tür drehte er sich noch mal zu Mabel um. „Müssen Sie heute Abend noch nach Higher Barton?“

Mabel verneinte. „Emma kommt allein zurecht. Morgen muss ich jedoch im Herrenhaus sein. Miranda Stanforth erwartet, von der Hausherrin persönlich begrüßt zu werden.“

Zwei

„When the saints … when the saints … when the saints go marching in …”

Victor Daniels brummte den Song vor sich hin, während er die Tür hinter sich schloss und in den Sonnenschein hinaustrat. Der Tierarzt hatte viele Talente – Singen gehörte zweifelsfrei nicht dazu, was ihn aber nicht davon abhielt, ab und zu ein Lied anzustimmen, vorzugsweise dann, wenn ihm niemand zuhören konnte. Die Mischlingshündin Debbie schienen die disharmonischen Töne nicht zu stören. Brav trottete sie neben ihrem Herrchen her, der buschige, lange Schwanz wedelte in freudiger Erwartung eines ausgedehnten Spazierganges.

„Na, meine Kleine, dann wollen wir mal eine Runde drehen.“ Victor kraulte Debbie am Kopf. „Mabel lässt uns ja mal wieder allein, wir beide machen es uns aber auch so schön. Bin nur froh, wenn das ganze Spektakel auf Higher Barton vorüber ist.“

„Miranda Stanforth wird um die Mittagszeit eintreffen“, hatte Mabel erklärt, nachdem sie Victor das Frühstück zubereitet hatte. „Sie verstehen, dass ich auf Higher Barton sein muss.“

„Wohl eher sein will“, hatte Victor gebrummelt. „Um nichts in der Welt würden Sie sich dieses Ereignis entgehen lassen. Geben Sie es ruhig zu.“

„Ihr Lunch steht im Kühlschrank.“ Mabel ignorierte seine spitze Bemerkung. „Sie brauchen den Auflauf nur in der Mikrowelle aufzuwärmen. Es wäre sehr freundlich, wenn Sie dabei die Küche nicht wieder verwüsten würden“, fügte sie, eine Augenbraue hochgezogen, hinzu. „Sie brauchen lediglich einen Teller und Besteck, kein Grund also, den halben Schrank auszuräumen und das Geschirr großzügig in allen Räumen zu verteilen.“

Victor erwiderte Mabels Blick ebenso ironisch und zuckte nur mit den Schultern. Frauen – er würde sie nie verstehen, daher hatte er auch nie eine in sein Leben hineingelassen. Wenn er jedoch ehrlich war, so war er gern in Mabels Gesellschaft, und es war angenehm, den Lunch nicht allein einzunehmen. Darüber hinaus war Mabel eine hervorragende Köchin. Seit dem Tod seiner Mutter hatte Victor nicht mehr so gut gegessen. Auch der heutige Nieren-Bohnen-Auflauf, den Mabel am Morgen gebacken hatte, war köstlich gewesen, und er hatte mehr gegessen, als nötig gewesen wäre, seinen Hunger zu stillen. Mit Debbie wollte er sich bis zum Beginn der Nachmittagssprechstunde nun die Beine vertreten.

Die Straße schlängelte sich steil nach oben, und nach etwa achthundert Yards ließ er die letzten Häuser Lower Bartons hinter sich. Herr und Hund bogen in eine schmale, an beiden Seiten mit übermannshohen Hecken gesäumte Straße ein. In dem Buschwerk raschelte und zwitscherte es, denn die Hecken waren Brutstätten zahlreicher Vögel und das Zuhause anderen Kleingetiers. Hinter dem Gebüsch befand sich jedoch eine massive Trockensteinmauer. Seit Jahrhunderten wurden diese Mauern von Hand errichtet, nicht nur, um die Felder und Wiesen abzugrenzen und das Vieh auf den Weiden zu halten, sondern auch als Windschutz, da es in Cornwall oft sehr stürmisch war. So mancher Autofahrer hatte schon unangenehme Bekanntschaft mit den Mauern gemacht, in der Annahme, bei dem Lenkmanöver lediglich auf eine Hecke zu treffen. Hier in Cornwall fuhr man eben langsam. Verließ man die Hauptstraßen, dann waren die Wege so schmal, dass nur ein einziges Auto sie passieren konnte. In regelmäßigen Abständen gab es Ausweichbuchten, und es war ein ungeschriebenes Gesetz, kurz die Hupe zu betätigen, bevor man um eine Kurve bog.

Auf dieser Straße war nur wenig Verkehr zu erwarten, denn sie schlängelte sich mit zahlreichen Kurven zwischen Lower Barton und Pelynt dahin. Früher war das die Hauptverbindung zwischen den Orten gewesen, die aber vor etwa fünfzehn Jahren durch eine breite und gerade Straße ersetzt worden war. Victor ließ Debbie von der Leine, denn die Nebenstraße wurde von Autofahrern heute kaum noch benutzt. Er schritt zügig aus, Debbie rannte mal vor ihm her, blieb dann wieder stehen und beschnüffelte ausgiebig einen Stein oder ein Gewächs am Straßenrand, um Victor dann erneut um die Beine zu streichen. Er bückte sich, hob einen unterarmlangen Ast auf und warf ihn in hohem Bogen nach vorn. Mit wehenden Schlappohren stob Debbie davon. Victor lächelte und atmete tief die frische Luft ein. Was für ein wunderschöner Frühlingstag! Es war angenehm warm, und der leichte Wind brachte eine Brise salziger Luft von der Küste mit sich. Trotz der vielen Arbeit war Victor mit seinem Leben rundherum zufrieden. Tierarzt zu sein, das war für ihn eher eine Berufung als ein Job, mit dem er seinen Lebensunterhalt verdiente. Unwillkürlich dachte er an seinen Vater, der bis in die Siebzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts die Bankfiliale in Lower Barton geleitet hatte. Seine Eltern hätten es begrüßt, wenn er ebenfalls ins Bankgeschäft eingetreten wäre, sie hatten ihm aber keine Steine in den Weg gelegt, als er sich entschloss, Veterinärmedizin zu studieren. Leider hatten sie es nicht mehr miterleben können, als Victor in seinem Elternhaus das Erdgeschoss umbaute und die Praxis eröffnete. Wie bei jedem Menschen gab es auch in Victors Leben Höhen und Tiefen. Er glaubte aber nie, etwas versäumt zu haben, auch wenn er Cornwall selten verlassen und nie geheiratet hatte. Während seiner Studienzeit und auch noch später war er mit ein paar Frauen zusammen gewesen, keine hatte jedoch sein Herz so berührt, dass er sich eine Ehe und ein Familienleben vorstellen konnte. Bereits als Kind war Victor lieber für sich gewesen und galt damals schon als Eigenbrötler. Mit Mabel Clarence war eine Veränderung in sein Leben getreten, über die er zuerst erschrocken, mittlerweile jedoch dankbar war. Mabel, eine patente Frau, konnte anpacken und legte nicht jedes Wort auf die Goldwaage. Es machte ihm Freude, sie zu necken, da sie selten um eine Antwort verlegen war. Nie zuvor hatte er eine Frau gekannt, mit der er sich intellektuell auf einer Ebene befand und die nicht versuchte, ihn zu verändern. Ihre kleinen, detektivischen Beschäftigungen waren zusätzlich wie das Salz in der Suppe, auch wenn die eine oder andere Situation gefährlich gewesen war.

Die Dreharbeiten auf Higher Barton sollten drei bis vier Wochen dauern. Eine überschaubare Zeit, die vorübergehen würde. Danach würde Lower Barton wieder zu seinem Normalzustand zurückkehren. Es folgte dann zwar noch die Festwoche zu Ehren von Mary Lerrick, diesem Trubel ging Victor aber ebenfalls aus dem Weg. Ja, das Leben war schön! Wenn in diesem Augenblick eine gute Fee erscheinen und Victor einen Wunsch erfüllen würde, dann würde er sich wünschen, dass alles genau so bliebe, wie es war.

„Debbie, komm, wir müssen zurück!“ In Gedanken versunken, hatte Victor nicht mehr auf seine Hündin geachtet, die seinem Blick entschwunden war. „Na komm, meine Kleine, wir wollen deine Artgenossen doch nicht unnötig warten lassen.“

Von Debbie war keine Spur zu entdecken, lediglich ein Kaninchen hoppelte von einer Seite des Weges zur anderen und verschwand in der Hecke. Victor hörte das Geräusch eines Motors und erfasste im Bruchteil einer Sekunde, dass sich ihm ein Wagen mit einer für die Straße viel zu hohen Geschwindigkeit näherte. Eine Ausweichstelle gab es hier nicht, und in dem Augenblick, als Victor sich in die Hecke drücken wollte, schoss der Wagen auch schon um die Kurve. Bevor Victor das Fabrikat oder gar den Fahrer erkennen konnte, wurde er von der Stoßstange erfasst und zur Seite in die Hecke geschleudert. Hart prallte er mit der Stirn gegen die dahinterliegende Mauer. Tausende von Sternen explodierten in seinem Kopf, und er fiel auf die Straße zurück, wo er bewegungslos liegen blieb. Schmerzen empfand er keine, und bevor er das Bewusstsein verlor registrierte er noch, dass der Wagen mit unverminderter Geschwindigkeit seinen Weg fortsetzte.

Grundsätzlich war Mabel Clarence nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Auch in hektischen Situationen behielt sie einen kühlen Kopf, da gerade bei Stress ein Problem nicht schneller oder gar leichter gelöst werden konnte, wenn man konfus reagierte. Doch das Verhalten des Produzenten übertrug sich allmählich auch auf sie, denn den ganzen Vormittag über rannte Ethan Seymour wie ein aufgescheuchtes Huhn durch das Haus.

„Seid ihr denn alle unfähig?“, brüllte er. „Hundertmal habe ich euch gesagt, dass die Scheinwerfer bis mittags aufgestellt sein müssen, damit wir heute noch drehen können. Wir müssen das gute Wetter für die Außenaufnahmen nutzen, wer weiß, wie es nächste Woche sein wird.“ Stöhnend griff er sich an den Kopf. „Was habe ich bloß verbrochen, um mit solchen Dilettanten gestraft zu sein?“

„Mr Seymour, solange Miranda nicht hier ist …“, sagte ein junger Techniker.

„Wir drehen heute Szene achtzehn, dafür brauchen wir Miranda nicht.“ Seymours graue Augen, kalt wie Stein, fixierten den jungen Mann verärgert. „Wenn du deinen Job behalten willst, dann beweg deinen Arsch. Ich will, dass in einer halben Stunde das Set steht.“

Der junge Mann errötete und zog den Kopf ein. Auch seine Kollegen verzichteten auf weitere Kommentare. Ethan Seymour war für seine schwierige Art – oft sogar cholerischen Anfälle – bekannt und gefürchtet. Es war aber auch eine Tatsache, dass er sein Handwerk bestens verstand und schon so manchem talentierten Sternchen am Filmhimmel zu Ruhm und Ehre verholfen hatte.

„Mary, du sorgst dafür, dass Audrey und Philipp fertig sind.“

Mary Orwell, die Produktionsassistentin, verdrehte die Augen und klemmte den Schreibblock unter den Arm. Gleichzeitig trat ein hochgewachsener, schlanker älterer Mann mit grau melierten Haaren aus der Tür.

„Mal wieder Dynamit pur, was?“ Er lächelte Mary zu, und sie seufzte.

„Ein Funken genügt, und unser guter Ethan geht in die Luft.“ Sie schob sich ihre randlose Brille auf den Kopf. „Sind Philipp und Audrey in der Maske?“

Der Mann machte eine vage Handbewegung.

„Irgendwo im ersten Stock. Ich kenne mich hier noch nicht so aus, verstehe auch nicht, warum Ethan ausgerechnet heute schon mit Drehen beginnen will. Er könnte uns ja erst mal ankommen lassen.“

„Es ist eigentlich dein Metier, das zu bestimmen“, erinnerte Mary Orwell den Mann. „Ich gebe dir den Rat, dir von Ethan nicht alles gefallen zu lassen.“

Er grinste und zwinkerte ihr zu.

„Du kennst mich, Mary, ich halte mich erst mal lieber zurück und verschwende keine Energie mit sinnlosen Streitgesprächen mit Ethan. Ganz nach dem Motto: Der Klügere gibt nach.“

Mary Orwell erwiderte sein Lächeln und eilte davon. Dann fiel sein Blick auf Mabel.

„Gehören Sie zu den Garderobieren? Was stehen Sie hier noch herum? Drinnen wird jede Hand gebraucht.“

„Verzeihung, Mr …“ Mabel sah ihn aufmerksam an. „Wie war noch mal Ihr Name?“

Sein Blick aus den braunen Augen war freundlich.

„Wie unhöflich von mir, mich nicht vorzustellen. Wenn man so lange in diesem Business ist, geht man wohl davon aus, dass einen jeder kennt. Keith Landon.“

Jetzt erkannte Mabel den Regisseur von den Aufnahmen wieder, die sie sich im Internet angesehen hatte. Das also war der Exmann von Miranda Stanforth, dachte sie und stellte fest, dass die beiden ein sehr attraktives Paar gewesen waren.

„Ich gehöre nicht zur Crew“, sagte sie.

„Nicht? Was machen Sie dann hier? Wenn Sie bei den Aufnahmen zuschauen möchten, muss ich Sie bitten zu gehen. Wir brauchen absolute Ruhe.“

„Mein Name ist Mabel Clarence. Ich bin die Eigentümerin von Higher Barton. Wir sind uns bisher noch nicht vorgestellt worden, Mr Landon.“

„Oh, verzeihen Sie bitte, das ist natürlich etwas anderes.“ Er nickte zufrieden und winkte Mabel, ihm in die Halle zu folgen. Dort deutete er auf die Wände. „Die Bilder hier müssen alle weg. Sie passen nicht in die Szene. Veranlassen Sie bitte, dass das so schnell wie möglich erledigt wird.“

Mabel kam nicht mehr dazu, ihn darauf hinzuweisen, dass sie dafür nicht zuständig war, denn Keith Landon wandte sich schon einem Mann mit einer Kabeltrommel in der Hand zu und wies ihn an, diese nach hinten auf die Terrasse zu bringen.

„Ich kümmere mich darum.“ George Penrose hatte das Gespräch verfolgt und trat neben Mabel. „In der nächsten Zeit werden wir unser schönes Higher Barton wohl nicht wiedererkennen.“

„Ein solches Chaos war zu erwarten.“

Die große Halle, der älteste Teil und das Prunkstück von Higher Barton, war tatsächlich nicht wiederzuerkennen. Scheinwerfer, Lautsprecher, Kameras und große, metallene Kisten standen wild durcheinander, Kabel lagen kreuz und quer auf dem Fußboden, und bei jedem Schritt musste Mabel aufpassen, nicht über irgendetwas zu stolpern. Trotzdem war die Aussicht, Higher Barton auf der großen Kinoleinwand zu sehen, verlockend.

Mary Orwell kam die Treppe wieder herunter und zielstrebig auf sie zu.

„Miss Clarence, Sie haben nicht zufällig irgendwo im Haus Nadel und Faden? Wir können den Koffer mit dem Nähzeug nicht finden, dabei schwört die Kostümbildnerin, sie hätte ihn in das kleine Zimmer im Ostflügel gestellt.“

„Das ist kein Problem, Miss Orwell“, antwortete Mabel. „Gehen Sie zu den Wirtschaftsräumen. Hinter der zweiten Tür auf der linken Seite finden Sie den Hauswirtschaftsraum. Im Schrank ist alles, was Sie benötigen.“

„Danke! Wenn Sie so freundlich wären, nach dem Koffer Ausschau zu halten? Die Kostümbildnerin bringt mich um, wenn ihre Sachen verschwunden sind.“

„Na, das wollen wir mal nicht hoffen“, erklärte George Penrose trocken. „Wir brauchen wirklich keine weiteren Morde mehr auf Higher Barton.“

„Weitere Morde?“ Mary Orwell sah erschrocken von Mabel zu George. „Was soll das bedeuten.“