Ein Zimmer im Haus des Krieges - Christoph Peters - E-Book

Ein Zimmer im Haus des Krieges E-Book

Christoph Peters

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Beschreibung

Verstehen, nicht verurteilen – eine Reise in das herz des Fundamentalismus

Ägypten, Luxor, 1993: Gemeinsam mit einigen arabischen Mitkämpfern plant der junge Deutsche Jochen Sawatzky einen Anschlag auf einen Tempel. Doch als die Attentäter den Nil überqueren, geraten sie in einen Hinterhalt von Polizei und Militär. Nur wenige überleben, darunter Sawatzky. Mit dem Fall betraut wird Claus Cismar, der deutsche Botschafter in Ägypten. In langen Gesprächen mit Sawatzky versucht er, die Motive seiner Tat zu ergründen und seine Auslieferung nach Deutschland zu erreichen …

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Buch

Ägypten 1993: Im Gefolge einer Serie fundamentalistischer Attentate, die seit Jahren das Land erschüttert, versucht eine Gruppe islamistischer Terroristen einen blutigen Anschlag auf den Tempel von Luxor zu verüben. Unter ihnen: der junge Deutsche Jochen Sawatzky, der zum Islam konvertiert ist und sich dem bewaffneten Kampf gegen die Ungläubigen angeschlossen hat. Doch als die Attentäter den Nil überqueren, geraten sie in einen Hinterhalt von Polizei und Militär. Nur wenige überleben, darunter Sawatzky. Mit dem Fall betraut wird Claus Cismar, der Deutsche Botschafter in Ägypten. In intensiven Gesprächen mit Sawatzky versucht er, hinter die Motive seiner Tat zu gelangen. Sein Ziel ist, die Auslieferung des Attentäters nach Deutschland zu erreichen. Und zu begreifen, wie Menschen »funktionieren«, die wie Sawatzky bereit sind, für ihren Glauben und ihre Ideale alles zu opfern: das Leben unschuldiger Menschen ebenso wie ihr eigenes.

 

»Was mich fasziniert, ist der Gedanke, dass etwas Geistiges eine derartige Kraft haben kann, dass man dafür sein Leben opfert – und gegebenenfalls auch dafür tötet.«

Christoph Peters

 

»Man muss dieser Sicht der Dinge auf den islamischen Terrorismus nicht zustimmen, um anzuerkennen, dass die Art und Weise, wie Peters uns in diese religiöse Innerlichkeit mitnimmt, schwindelerregend, großartig und überhaupt nur dank einzigartigen erzählerischen Könnens möglich ist.«

Die Zeit

Christoph Peters

Ein Zimmer im Haus des Krieges

Roman

btb

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Copyright © 2006 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Design Team München

Umschlagmotiv: Pete Turner / Getty Images

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

NB · Herstellung: BB

ISBN 978-3-641-11190-8V002

www.btb-verlag.de

Für Veronika. In Liebe.

»Um in den politischen Wissenschaften die Freiheit des Geistes zu bewahren, an die wir in der Mathematik gewöhnt sind, habe ich darauf geachtet, die menschlichen Verhältnisse nicht ins Lächerliche zu ziehen, sie weder zu bedauern noch zu verurteilen, sondern sie zu verstehen.«

 

SPINOZA

 

»Selbst mit weit geöffneten Augen sehe ich nicht das Geringste.«

 

TAKESHI KITANO

Erster Teil

Zwischen Gebeten der Traum: Arua hat mich angeschaut. Ein langer Blick für den Bruchteil einer Sekunde. Weder Ermutigung noch Abscheu. Zwei schwarze Löcher, in denen alles verschwand. Dann schloß sie die Augen und drehte sich weg. Das Haar fiel offen über die Schultern. Sie hätte es verhüllen müssen. Trauer, von der ich wach geworden bin. Das falsche Gefühl. Zumindest nicht Angst. Um mich herum war es finster. Die Glut in der Feuerstelle gab kein Licht an den Raum. Ich richtete mich auf. El Choli stand scharf umrissen im Eingang der Höhle. Sein Maschinengewehr teilte Himmel und Landschaft. Draußen schien die Nacht ungewohnt hell. Mond beleuchtete die Bergrücken, harte Schatten von Vorsprüngen auf den Hängen. Unter der Decke hing kalter Rauch. Er steckte in Kleidern, Laken, füllte bitter den Mund. Achmed phantasierte. Jamal rang mit einem Alp. Die Luft war schwer von Ausdünstungen.

Ich stand auf, tastete nach dem Teppich, schlich zum Eingang. El Choli fuhr erschrocken zusammen. Wortlos ging ich an ihm vorbei. Sein Mißtrauen folgte mir. Einen Moment lang dachte ich, er würde durchdrehen, schreien, schießen. Nichts geschah. Die Sterne leuchteten grell, ihre Anordnung ließ keine Gesetzmäßigkeit erkennen. Ich kniete nieder, legte die Hände auf den Sand, blies den Staub von den Flächen und reinigte mich. Dann breitete ich den Teppich aus und wandte mich nach Mekka.

Sprich: Er ist Gott, der Eine. / Gott, der Undurchdringliche. / Er zeugt nicht und ward nicht gezeugt / und da ist keiner, der Ihm gleicht.

Aruas Traumgesicht löste sich nicht auf. Ich wurde nicht still. Um mich herum arbeitete der Fels, Brocken stürzten ab, Kies rutschte nach.

Ich saß, ich sitze hier, versuche Kraft zu sammeln, die Gedanken zu ordnen. Sie schweifen, jagen Bilder einer Vergangenheit, die kaum noch meine ist: Mutter, fett und allein, Nüsse kauend beim Fernsehen; frühmorgens im grauen Hosenanzug, rechts die Kaffeetasse, links das Käsebrot; froh über ihre Unkündbarkeit als Finanzbeamtin im mittleren Dienst; eine Art Liebe. Der Blick von der Anhöhe auf das Rheintal, Dunst über dem Wasser, Haschischrauch im Mund, die Flasche in der Hand, Grillen, laut wie ein Güterzug. Im Rock-Café: Warten auf den Mann, der einen Zopf tragen und sich »Falko« nennen wird. Noch ehe er sich vorstellt, weiß ich, welchen Geschmack Verrat hat. Aruas schlanke Gestalt vor der Pizzeria. Ich möchte sie nach ihrem Namen fragen und wage es nicht.

Samirs Wecker klingelt. Fünf Uhr. Der Tag, auf den wir hingelebt haben, beginnt mit einem häßlichen, elektrisch erzeugten Ton, seiner siebenfachen Wiederholung, gefolgt von Echos, die sich überschneiden. Wenn alles nach Plan läuft, werden wir in acht Stunden beim Tempel sein. Gedämpfte Stimmen. Obwohl die nächsten Häuser weit entfernt liegen, wird nur das Nötigste gesprochen. El Choli beruhigt sich. Hinter ihm huschen Kegel von Taschenlampen über die Wände. Samir tritt neben ihn, prüft den Horizont. Noch herrscht Nacht. In wenigen Minuten wird das Dunkel aufbrechen. El Choli flüstert ihm etwas zu, deutet in meine Richtung. Er hält es für einen Fehler, mich mitzunehmen. Einer nach dem anderen kommen die Brüder heraus, gehen zu der Sandfläche, reiben sich den Schmutz des Schlafes vom Leib. Ich wechsle einige Sätze auf deutsch mit Karim. Er erzählt von seiner Schwester. Sie kellnert in einer Studentenkneipe. Seit dem Tod des Vaters trägt er die Verantwortung für sie und wird ihr nicht gerecht.

Schon daß El Choli manchmal nicht versteht, worüber wir sprechen, erbost ihn. Samir winkt mich heran: »Vor dem Kampf ist es wichtig, Ruhe zu finden«, sagt er. »Alle Ruhe liegt in Gott«, antworte ich. Erst jetzt spüre ich die Kälte der Wüste vor Tagesanbruch. Auf meiner Haut ein Film aus trockenem Schweiß, pulverisiertem Stein.

Es beginnt zu dämmern. Hinter den Bergen jenseits des Wadis verbreitert sich ein heller Streifen: die Zeit des Morgengebets. Vielleicht wird es unser letztes sein. Wir stellen uns in einer Reihe hinter Samir auf, der Heiligen Moschee zugewandt, Seite an Seite mit Abraham, Ismael, Jesus, Mohammed, mit allen, die gläubig waren und sind, vor und nach uns.

Bei der Morgenröte! / Und bei den zehn Nächten! / Und beim Geraden und Ungeraden! / Und bei der Nacht, wenn sie vergeht! / Ist das kein Beweis für den, der Verstand hat? / Hast du nicht gesehen, wie dein Herr mit den ‘Ad verfuhr, / mit Iram, ihrer säulenreichen Stadt, / der nichts im Land glich? / Und mit den Thamūd, die den Fels aushöhlten im Tal? / Und mit Pharao samt seinen Prachtzelten? / Die allerorten frevelten / und Verderben stifteten? / Dein Herr ließ die Geißel der Strafe auf sie niederfahren …

Während meine Stirn den Boden berührt, erlischt die sichtbare Welt. Die unsichtbare wird von Bildern verhüllt: Unsere – Mutters – Wohnung vollgestopft mit Teddybären; geblümte Schleifen raffen die Gardinen zusammen. Hochwasser; der Pfarrer bringt die Kommunion per Boot; wo er vorbeifährt, bekreuzigen sich die Leute. Meinen Arm in den Rücken gedreht, stößt mich der Zivilfahnder in den Wagen.

»Friede und Gottes Barmherzigkeit sei mit Euch.« Ich wende mich nach rechts, nach links, stehe auf, falte den Teppich zusammen. Ein Vogel gleitet über uns hinweg dem Nil zu. Der graue Streifen Licht hat sich in Gelb verwandelt, das weiter oben die Schwärze durchdringt. Die Kante der Sonne scheint orange über den Hügeln, bringt die Wüste zum Glühen. »Pack dein Zeug, Jochen«, brüllt El Choli. »Ich heiße Abdallah!« antworte ich. »Hört auf herumzuschreien«, zischt Mohammed. Ich gehe zu meinem Platz in der Höhle, rolle die Decke auf, räume Pullover, Konserven, Bücher, das Briefbündel aus dem Rucksack, lege alles auf einen Stapel, dazu die schriftliche Verfügung. Aruas winzigen, von Lippenstift beschmierten Qur’ān stecke ich in die Hosentasche.

Shukri hat den Gaskocher angezündet und Wasser aufgesetzt. Der Gestank von neun Männern, die am Vortag durch Gluthitze marschiert sind, ungewaschen eingeschlafen, stört ihn nicht. Er ist mit sechs Geschwistern aufgewachsen. Seine Familie haust in einem einzigen Raum aus Lehmziegeln. Kein eigenes Zimmer, abschließbar, mit Stereoanlage, Gitarre, justierbarem Schreibtischstuhl für eine orthopädisch korrekte Haltung beim Lernen. Ich öffne eine Dose Foul, schütte sie in den zweiten Topf, halte Shukri meinen Becher hin. Er gießt süßen Tee ein.

Die Sonne steht jetzt voll über den Bergen. Nach wie vor wird wenig gesprochen. Jeder hängt seinen Gedanken nach, bereitet sich vor, auf was man sich nicht vorbereiten kann.

Die unsinnige Frage, was andernfalls gewesen wäre: Es ist nicht der Fall.

Der Tee wärmt, schärft die Aufmerksamkeit. Klarheit und Konzentration als physische Reaktionen. Außerdem: Schlafmangel, Leere im Bauch.

Es wird viele Tote geben. So Gott will. Deutsche, Amerikaner. Ich hasse sie nicht. Nicht mehr. Sie haben keine Bedeutung. Jedem Menschen ist sein Ende bestimmt. Wenn er ausgelöscht wird, verblaßt kein Stern. Am Tag des Gerichts legt seine Haut Zeugnis über ihn ab. Dann wird er in Gärten geführt oder zum Abgrund. Und was läßt dich wissen, was der Abgrund ist? / Loderndes Feuer. Ich bin ein Werkzeug. Die Schalen mit Gottes Zorn sind voll. Seine letzte Gemeinschaft hat sich abgekehrt, ist in die Zeit der Unwissenheit zurückgefallen, bis auf wenige. Der Rest befindet sich im Krieg. Wir haben ihn nicht gewählt, er wurde uns aufgezwungen. Wir verteidigen das Haus des Islam, das der Präsident und seine Clique verkaufen, für Dollarmillionen. Sie verkaufen, was ihnen nicht gehört, was sie gestohlen haben, mit Hilfe von Waffen aus Amerika und Europa, wie die Bande Al Saud, die den Ungläubigen die Heiligen Stätten überlassen hat als Aufmarschgebiet für den jüngsten Kreuzzug im Namen des Ölgötzen. Vielleicht werden wir sterben. Wen kümmern ein paar Tage mehr oder weniger? Lächerlich, sich daran zu klammern.

Shukri kommt mit dem Topf. Die Bohnen schwimmen in Fett. Zunächst geht er zu Samir. Samir erwartet das nicht, im Gegenteil: Er wäre lieber der letzte. Mehr als Wissen und Erfahrung zeichnet ihn Bescheidenheit aus. Shukri besteht darauf, ihn als ersten zu bedienen. Er ist in der Furcht vor Höhergestellten aufgewachsen, gewohnt, daß Macht Privilegien bedeutet. Ich nehme eine halbe Kelle statt zwei. Mein Magen hat sich auch nach neun Monaten nicht auf das ägyptische Frühstück umgestellt. Jamal bringt eine Tüte dünnes Fladenbrot. Wir bilden einen offenen Kreis, essen schweigend. Ich hocke zwischen Karim und Achmed. El Choli hält größtmöglichen Abstand zu mir. Sein Maschinengewehr liegt griffbereit neben ihm und zeigt auf mich. Das kann Zufall sein. Er wird es zurücklassen. Wir haben gestritten, ob der Abstieg bewaffnet oder unbewaffnet erfolgen soll. Meine Argumente gegen Waffen haben die anderen überzeugt, bis auf El Choli. Die Niederlage ist Teil seiner Erbitterung, nicht ihre Ursache. Er hat mich von Anfang an verachtet, obwohl ich ihm gegenüber freundlich gewesen bin, seit wir uns kennengelernt haben, vor drei Monaten, nahe Assyût. Alle außer ihm sind mir mit Respekt begegnet, gerade weil ich nicht im Islam geboren wurde, weil ich danach gesucht habe, allein. Durch Gottes Rechtleitung wurde meine Suche beendet. Das ist eine besondere Gnade, sagt Karim. Die ich nicht verdiene.

Der Himmel hat jetzt die bleiche Farbe des Tages. Staub verwischt die Konturen der entfernteren Bergketten. Salah wirkt angespannt. Ihm fällt der Brei vom Brot in den Napf zurück. Er greift an sein stoppeliges Kinn, fährt sich übers Haar, als wollte er Fliegen verscheuchen, die es hier nicht gibt. Samir spürt seine Nervosität, legt ihm die Hand auf den Arm. In Salahs Augen leuchtet Dankbarkeit, dann hastet sein Blick über unsere Gesichter, besorgt, daß jemand seine Angst bemerkt. »Gott ist größer«, sagt er, »Er wird uns schützen. Ich bin sicher, wir werden siegen, wie der Prophet in der Schlacht von Badr gesiegt hat.«

Er muß reden, um zu hören, was er denkt, sonst glaubt er es nicht. »So Gott will«, sagt Samir. »So Gott will«, murmeln Mohammed und El Choli. Salah verstummt. Er ist jung. Zwanzig. Die ersten neunzehn Jahre hat er als Liebling seiner Mutter im feinen Zamalek verbracht, während der Vater am Golf Spezialeinheiten ausbildete und viel Geld verdiente. Karim schaut mich an, hebt ratlos die Schultern. Salahs Schwäche stellt ein Risiko dar. Karim sagt das nicht. Er sucht einen harmlosen Witz, um ihn zum Lachen zu bringen, hält inne. Es ist nicht der Zeitpunkt für Witze. Statt dessen rezitiert er: »Und haltet die auf Gottes Weg Gefallenen nicht für tot. Nein! Sie leben bei ihrem Herrn und werden versorgt.«

Salah nickt: »Gepriesen sei Gott.«

Das Licht blendet. Ich setze die Sonnenbrille auf. Meine blaue Iris reagiert empfindlicher als die dunkelbraunen der Brüder. Samir ißt noch. Er kaut jeden Bissen mit Bedacht, kratzt den Teller aus, ohne aufzuschauen, während wir einer nach dem anderen unseren Blick auf ihn richten. Acht Paar Augen sammeln sich erwartungsvoll auf einem Gesicht, das keinerlei Regung zeigt. Nachdem er sich die Finger abgeleckt hat, bringt er sein Geschirr in die Höhle. Keine seiner Bewegungen ist fahrig oder unnütz. Ich habe nie ein überflüssiges Wort aus seinem Mund gehört. In allem folgt er dem Beispiel des Propheten. Als er den Bart abgenommen hat, um nicht Gefahr zu laufen, in letzter Minute von übermotivierten Polizisten eingesperrt zu werden, bat er Gott um Vergebung.

Er kehrt aus dem Dunkel zurück, steht da, sehnig, mit scharfkantigem Profil, schaut über das Tal wie ein Feldherr, der weiß, daß die Truppen bedingungslos folgen. Er braucht keine Rede zu halten. Sein Anblick vertreibt jeden Zweifel. »Im Namen Gottes des Erbarmers, des Barmherzigen«,sagt er und schultert den Rucksack. Damit beginnt der Abstieg. Mohammed als erster, gefolgt von Samir.

Es braucht nicht viele Dinge für den Weg. Hauptsächlich Wasser, etwas Brot. Mohammed hat Karten, einen Kompaß. Achmed trägt das Satellitentelephon, Samir und Jamal Ferngläser. Das meiste bleibt zurück. Es wäre Ballast, der die Bewegungsfreiheit einschränken würde. Für den Fall, daß uns die Flucht gelingt, wir eine weitere Nacht hier verbringen müssen, werden wir froh sein, wenn es noch da ist.

Geübte Handgriffe, austauschbare Erinnerungen. Gleichgültigkeit. Ich habe mir abgewöhnt, auf große Gefühle zu warten. Glaube ist keine Sache des Gefühls. Gott antwortet, wann es Ihm gefällt. Nicht einmal die Hinwendung läßt sich erzwingen. Man kann sich bemühen. Wenn Er will, daß es vergeblich ist, wird es vergeblich sein. Die Worte bleiben eine Bewegung der Lippen, während das Herz sich selbst umkreist, nicht einmal Seinem Schweigen begegnet. Auch die Enttäuschung habe ich mir abgewöhnt. Manchmal sickert sie heimlich ein, ein Tropfen Gift. Jetzt, wo ich kurz davor bin, alles zu opfern. Ich habe mir etwas erhofft von diesem Moment. Es war in einem finsteren Winkel eingesperrt, so daß ich es während der Vorbereitungen fast vergessen hatte. Hoffnung auf etwas Unvergleichliches, das mich vollständig ausgefüllt hätte. Eine Ahnung davon. Es ist selbstsüchtig gewesen. Hochmut, der das Opfer entwertet. Ob ihr verbergt, was in euren Herzen ist, oder es kundtut, Gott weiß darum.

Zunächst müssen wir durch eine Wand. Mohammed und El Choli haben Ringe verankert, durch die ein Seil führt. Ringe und Seil waren meine Idee. Mutter hat sie zusammen mit einem Paar Bergstiefeln aus Deutschland geschickt, in der Annahme, ich würde Wandertouren zu antiken Stätten unternehmen.

Das Gehen ist mühsam, weniger anstrengend als der Gewaltmarsch gestern. Noch hält sich die Gefahr in Grenzen. Es sei denn, einer hätte sich verkauft. Das traue ich niemandem zu. Alle außer Salah, Karim und mir haben bewiesen, daß sie bereit sind, sich foltern zu lassen, zu sterben. Warum hätte einer abtrünnig werden sollen? Salah hat lediglich Angst. Für Karim würde ich meine Hand verwetten. Soweit ich weiß, kennen sonst nur drei Leute unseren Aufenthaltsort und einen vagen Zeitplan. Wenn wir verraten worden wären, hätte die Armee uns schon gestern angegriffen. Unsere Vernichtung im Vorfeld wäre propagandistisch besser auszuschlachten gewesen: Seht her, die Regierung kennt Pläne und Schlupfwinkel der Terroristen, keine Verschwörung bleibt verborgen, fürchtet euch nicht, herzukommen und das Erbe zu bestaunen, das Ägypten der Welt geschenkt hat. Seid Gäste im Land der Pharaonen! Laßt reichlich Devisen hier!

Die Piste, die zur Straße nach Luxor führt, befindet sich fünfundzwanzig Kilometer entfernt in östlicher Richtung. Es gibt keine befestigten Wege hinunter, nicht einmal Hirtenpfade. Man muß auf jeden Schritt achten. El Choli, Samir und Mohammed tragen Armeestiefel, die anderen Turnschuhe. Salahs sind von Nike, ein Mitbringsel des Vaters aus Abu Dhabi, für das er sich ständig entschuldigt. Wenn einer ausrutschen, sich den Fuß verstauchen würde, dürften die anderen keine Rücksicht nehmen. Er bliebe liegen mit dem, was er bei sich hat. So wurde es vereinbart. Die Wahrscheinlichkeit, daß ihn jemand findet oder daß er es allein bis zur nächsten Siedlung schafft, ist gering. Selbst wenn er hinkend oder kriechend vorwärtskäme, würde er die Orientierung verlieren, den Mut. Die Berge sind kaum voneinander zu unterscheiden. Dies Tal scheint eine Kopie des vorigen. Lagen zwei oder vier Stunden zwischen dem weißen Skelett des Dromedars und dem der Ziege, das von Fellresten überzogen war? Dünen wandern, entpuppen sich als Luftspiegelungen, sobald man sich nähert. Das Licht ist so grell, daß man sich unmöglich bestimmte Formationen einprägen kann. In der Hitze schmilzt das Hirn und verliert die Merkfähigkeit, wenn man kein Beduine ist, seit Jahrhunderten der Wüste angepaßt, mit Skalen und Begriffen für tausend Spielarten von Braungrau, Beigegrau, Rotgrau. Das Zeitgefühl zerbricht. Wir folgen den Steinhaufen, die Mohammed und El Choli während der vergangenen Monate errichtet haben, als sie das Gebiet erkundeten, immer neue Routen probierten, um die Schwierigkeiten der einen gegen die Umwege einer anderen abzuwägen. Mohammed ist studierter Geograph. Das Zeichnen von Karten im offenen Gelände hat er nicht an der Universität gelernt, sondern in Afghanistan. Er gehörte zur selben Einheit wie El Choli und Samir. Auch dort ist Samir zum Schluß Kommandeur gewesen, obwohl er aus einem fremden Land stammte. Sie finden sich in jeder Gegend zurecht, sind an allen Waffen ausgebildet, bis in den letzten Muskel trainiert. Oft mußten sie sich wochenlang durch Wildnis schlagen, ihre Ausrüstung auf den Rücken gepackt. Sie haben sich von dem ernährt, was das Land hergab, was die Leute in entlegenen Dörfern ihnen schenkten. Doch ihre Angriffe waren so effektiv, daß die zweitstärkste Streitmacht der Welt nach zehn Jahren Verlusten gedemütigt abzog. Wir haben viel von ihnen gelernt. Ohne ihre Kenntnisse und Kontakte wäre dieser Plan nicht zustande gekommen. Gelingt er, wird die Welt erschüttert.

Die Hubschrauberpatrouillen, die neuerdings von der Armee geflogen werden, sind in den nächsten Stunden die Hauptgefahr. Der Pilot würde uns bemerken, trotz der sandfarbenen Kleidung. Er würde uns einkreisen, Verstärkung rufen. Sollten wir versuchen zu fliehen, würde der Soldat an den Bordgeschützen uns niedermähen. Sonst nicht. Wir könnten ebensogut Touristen sein. Unser Tod würde diplomatische Verwicklungen nach sich ziehen, weitere Reiseveranstalter abschrecken. Ich habe ein gültiges Visum, Jamal einen englischen Paß. Er ist in London aufgewachsen. Karim lebt seit fünfzehn Jahren in Deutschland. Wir sind unbewaffnet, bis auf Messer. Die anderen hätten wir als Führer engagiert. Daß sie keine staatliche Lizenz haben, ist ein Bagatellverstoß.

Eine Eidechse rennt davon, verschwindet zwischen Felsen, hinterläßt eine weiche Spur, die bald verweht sein wird. Schwaden von Achmeds Schweißgeruch wehen mich an. Er riecht stärker als die anderen. Ich verlangsame mein Tempo, um ein paar Meter Luft zwischen uns zu bringen. »Jochen-Abdallah, schließ auf«, ruft El Choli, der zum Schluß geht, »wenn du nicht mehr kannst, bleib hier und behindere uns nicht.« Samir dreht sich um, schüttelt den Kopf. Er gibt die Befehle. El Choli braucht mich nicht zu kümmern. »Abdu, bleib ruhig«, sagt Karim hinter mir, »Streit ist das letzte, was uns hilft.« El Choli brüllt: »Was hast du gesagt?« überholt Jamal und Shukri, reißt Karim am Ärmel: »Ich will wissen, was du gesagt hast!« »Daß wir Brüder sind.« »Lüg mich nicht an.« »Wir sind Brüder.« »Er stammt von Ungläubigen. Du hast im Frieden mit den Ungläubigen gelebt, statt gegen sie zu kämpfen.« Karim lächelt, läßt sich zu keiner Unbedachtheit hinreißen. Die anderen sind stehengeblieben. Samir tritt zwischen uns, nimmt El Cholis Hand von Karims Arm: »Warum vergeudet ihr Kraft für nichts?« fragt er. »Der Deutsche ist zu schwach, er läßt eine Lücke.« »Bist du müde, Abdallah?« »Nein.« Ich kann unmöglich sagen: Achmed stinkt. »Sicher nicht?« »Nein.« »Paß auf, daß dein Abstand nicht zu groß wird.« Ich nicke. »Geh an deinen Platz, El Choli.« »Es ist ein Fehler, ihnen zu trauen.« »Sie wurden geprüft und haben keinen Anlaß gegeben, an ihrem Glauben zu zweifeln.« »Du verstehst diese Sprache so wenig wie ich. Sie können uns eine Falle stellen, ohne daß wir es merken.« »Sie schützen uns, falls die Armee auftaucht. Geh.«

Samir duldet keinen Widerspruch. Seine Augen sind Schlitze. El Choli fügt sich.

Ich bin aus dem Tritt, mein Atem hat seinen Rhythmus verloren. Mir zittern die Hände, meine Knie geben nach, nicht vor Erschöpfung. Wie sollen wir erfolgreich sein, wenn wir einander mißtrauen? Ich fürchte El Cholis Wut mehr als die Waffen der Feinde. Das darf ich nicht denken. Wie verhindert man falsche Gedanken? Sie sind Einflüsterungen. Er hat gefangenen Russen mit dem Messer die Kehle durchgeschnitten und ihnen dabei ins Gesicht geschaut. Das weiß ich von Mohammed. Und tötet sie, wo immer ihr auf sie stoßt, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben; denn Verführung ist schlimmer als Töten.

Samir bemüht sich, gerecht zu sein, doch El Choli kennt er seit einer Ewigkeit. Sechs Winter lang haben sie Körper an Körper geschlafen, um nicht zu erfrieren. Sie haben einander aus aussichtslosen Situationen befreit, den Tod in Schach gehalten, während ich kiffend und Bier trinkend vor dem Fernseher saß und zum ersten Mal das Wort »Mudschahedin« hörte, verwundert nachsprach. Auf den Bildern zogen Männer aus einer fernen Vergangenheit durch gelbe Schluchten, über verschneite Pässe, hockten zusammengepfercht auf klapprigen Pick-ups, feuerten Boden-Luft-Raketen von der Schulter ab, dann explodierte eine MiG im Sinkflug vor makellosem Blau. Sie postierten sich auf ausgebrannten Panzern, jagten Gewehrsalven in den Himmel. Die bärtigen Gesichter waren hart und klar, sie strahlten Entschlossenheit und Gleichmut aus. Obwohl sie vom CIA unterstützt wurden wie lateinamerikanische Faschisten, kämpften sie auf der richtigen Seite. Welche das war, wußte ich nicht, nur so viel: Sie lag nicht rechts und nicht links, weder im Westen noch im Osten. Die Kraft, aus der sie schöpften, stammte aus einer anderen Quelle, in der entsprang etwas, ich hatte keine Ahnung, was, für das es sich lohnte zu leben, zu sterben, zu töten. Wenn nötig mit bloßen Händen. Darum habe ich sie beneidet. Darauf fußt El Cholis Stolz. Ein Mann, der nicht im Krieg war, ist in seinen Augen ohne Wert. Niemand kann vorhersagen, welches Maß an Schrecken sein Herz aushält, ob es zerspringt. Wie soll man auf ihn zählen? Ich frage mich, auf wessen Seite Mohammed steht. Sie achten einander. Freunde sind sie nicht geworden. Wenn er über El Choli redet, mischt sich Abscheu mit Bewunderung. Was überwiegt, wechselt je nach Stimmungslage. Manchmal überfällt ihn Entsetzen, das sich tagelang festbeißt, dann meidet er seine Nähe. Anders als das von El Choli, ist sein Gedächtnis kein Schredder.

Der Impuls, ›Halt! Stop!‹ zu rufen, im zwingenden Ton eines Anführers, und: ›Wir müssen den Streit beilegen, sonst werden wir keinen Erfolg haben.‹ Es würde das Ende der Operation bedeuten. Sie wäre an mir gescheitert. Ich laufe stumm weiter, versuche, mich auf nichts als den nächsten Schritt zu konzentrieren, doch da ist El Cholis Blick, in dem geschrieben stand, daß er mir den Tod wünscht. Erst meine Leiche wird er mit Respekt behandeln.

Ich hätte die Auseinandersetzung im Camp führen, allmählich sein Vertrauen gewinnen müssen, statt zu hoffen, daß seine Verachtung sich von selbst auflöst. Meine Versuche, mit ihm zu reden, hat er barsch zurückgewiesen, so daß ich aufgab. Vielleicht war es seine Art, mich zu prüfen. Ich bin durchgefallen. Wenn es darauf ankommt, werde ich für ihn einstehen, ihm den Rücken decken, an seiner Stelle sterben. ›Vor dem Feind ist er der Beste‹, sagt Mohammed, ›ein Tier.‹

Lärm im Kopf. Stimmen wie aus Lautsprechern, automatengeneriert.

Es ist nicht leicht, auf Gott zu vertrauen, angesichts der Leere ringsum. Wo sonst soll man es lernen? Im Gewirr der Städte zeigt Er sich nie. Gott meidet die Besitzer gemauerter Häuser, eingerichtet mit käuflichen Illusionen. In den Wüsten offenbart Er sich, fernab des Handels, der Vergnügungen, fernab der Liebe. Die Ihm begegnet sind, hatten Angst vor Seinem Ruf und Angst vor Seinem Schweigen. Sprich: Ich nehme meine Zuflucht beim Herrn der Menschen, / dem König der Menschen, / dem Gott der Menschen, / vor dem Bösen des Wispernden, der hinein- und hinausschleicht, / der in der Brust der Menschen wispert; / vor Dschinn und Menschen.

Wind pfeift durch ein Tor aus Fels. Das Rascheln der Dornbüsche. Die Blätter sind vertrocknet, ihre Farbe unterscheidet sich kaum von der des Bodens, erst ihre Schatten machen sie sichtbar. Um die Brust ein Klammergriff, der die Atmung lähmt. Ich habe mich entschlossen, mein Leben zu opfern. So Gott will. Die Tempel sind bewacht wie nie. Der Staatsapparat setzt speziell für den Objektschutz trainierte Soldaten ein, die Befehl haben, ohne Vorwarnung zu schießen. Achtzig Prozent weniger Besucher, seit unsere Angriffe verstärkt wurden. Wenn die Touristen lange genug fortbleiben, bricht die Wirtschaft zusammen, dann wird sich das Volk erheben und die Regierung hinwegfegen, dann wird die Herrschaft Gottes wiederhergestellt. Wir haben das Überraschungsmoment auf unserer Seite und drei Männer, die die Sowjets geschlagen haben.

Wie ein Filter färbt der Tod die Landschaft.

Arua wird nicht stolz sein, wenn sie erfährt, daß ich gefallen bin. Sie wird laut fluchen und still weinen. Hätte sie es gewollt, wäre unsere Geschichte anders verlaufen. Die Trauer des Traums hallt nach. Wir hätten ein friedliches Leben geführt, mit Kindern, Erwerbstätigkeiten, hier oder in Deutschland. Im Zeitraffer des Abschieds erscheint das Vergangene schöner, als es war. Als es unter anderen Umständen gewesen wäre. So hätte es weitergehen können – hätte es nicht. Ich habe keinen Beruf gelernt, für eine Ausbildung bin ich zu alt. Hilfsarbeit, mehr oder weniger vierzig Stunden pro Woche: Supermarktregale füllen, Gemüse hacken, Bauschutt schleppen. Gelegentliche Überprüfungen durch die Polizei wegen zurückliegender Straftaten. Zunehmende Verfettung, damit einhergehend: Annäherung an die politischen Ansichten der Besitzstandswahrer, gefolgt von Klagen über die Jugend: Das wären die eigenen Söhne und Töchter. Zum Schluß Bitterkeit, weil die Zukunft hinter einem gelegen hätte. Wie das passiert wäre? Ich würde mich nicht erinnern. Wer seine Wunschvorstellungen dem Kampf auf Gottes Weg vorzieht, endet als Kleinbürger. »Jedes Haus ist ein Unglück für seinen Eigentümer«, hat der Prophet gesagt. Es bleibt der Glaube an ein neues Auto, das einen schneller bringt, wohin man nicht will; die Hoffnung auf das Land der Verheißung im Urlaub; irgendwann zerbricht die Liebe an ihrer eigenen Belanglosigkeit. Ich bilde mir nicht ein, daß Arua und ich eine Ausnahme dargestellt hätten.

Salah schaut nicht einfach auf seine Füße, er läßt den Kopf hängen. Wenn Gott seinen Geist nicht stark gemacht hat, kann keiner ihm helfen. Er soll sich von uns trennen, sobald das erste Dorf in Sichtweite ist, soll sagen, daß er sich verlaufen hat, und nach Hause fahren. Seine Eltern sind reich, er kann studieren, heiraten, die Bewegung mit deren Geld unterstützen. Sobald der Wechsel vollzogen ist, wird sie es ihm danken. Samir hätte seine Schwäche sehen müssen. Warum hat er ihn ausgewählt? Sonst trügt ihn sein Urteil nie. Ich sollte mit ihm reden, unter vier Augen. Es müßte abseits geschehen, flüsternd. Dann denken die anderen, ich hätte ein Problem.

Knirschende Schritte auf Sand. Hosenbeine, die aneinanderreiben. Ein Flugzeug bewegt sich als silberner Punkt Richtung Süden. Im Westen kreisen Aasfresser. Jamal spuckt aus. Karim dreht sich um, fragt: »Alles klar?« »Gepriesen sei Gott.«

Mir bleibt eine kurze Spanne. Bei dem Gedanken brach mir früher der Schweiß aus. Echter Schweiß über eine eingebildete Bedrohung. Der Tod war ein Gespenst unter der Schädeldecke. Jetzt ist er in greifbarer Nähe. Das besagt nichts. Er untersteht Gottes Befehl. Nichts geschieht gegen Seinen Willen. Sprich: Der Tod, vor dem ihr flieht, wird euch sicher ereilen, dann werdet ihr zu Dem zurückgebracht, Der das Verborgene kennt und das Offenbare, und Er wird euch verkünden, was ihr zu tun pflegtet.

Meine letzten Stunden verbringe ich stolpernd, mit schmerzenden Füßen trotz der guten Schuhe. Ich habe mehr Durst, als ich trinken kann, Sodbrennen von der Anstrengung, den fetten Bohnen. Ich denke an eine Frau, die nicht mitgegangen ist, nicht einmal im Traum, fürchte El Cholis Haß, wünsche Salah fort. Statt meine Gedanken zu sammeln, auf den Einsatz zu konzentrieren, einen Vers im Rhythmus der Schritte zu beten, bis er alle Fasern des Körpers durchdringt, wird mein Geist vom Durcheinander der Ungläubigen beherrscht. Sprich: Was meint ihr, wenn Gott mich und die, die mit mir sind, vernichten wollte oder wenn Er uns Barmherzigkeit erweisen wollte… Wie geht es weiter? Ein vollständiger Vers wäre besser als ein halber, ein halber besser als nichts. Die Beine verweigern sich dem Rhythmus der Worte.

Das Tal wird eine weite Ebene. Rechts und links schroffe Felswände. In der Ferne watet eine Karawane durch blauschwarzes Wasser. Samir bleibt stehen, setzt das Fernglas an, sucht den Horizont ab, geht weiter. Die verendeten Tiere, an denen wir vorbeilaufen, scheinen Zeichen – sie sind keine. Bustouristen, die durch die Wüste fahren, sehen halbverweste Schakale, Kadaver von Kälbern und fürchten sich nicht, obwohl sie Grund dazu hätten. Sie schlafen in klimatisierten Zimmern, träumen von Tut Anch Amun, Korallenfischen, von der magischen Kraft ihrer Kreditkarten. Wir werden ihnen den Schlaf rauben. Kommende Nacht werden sie zitternd zu Bett gehen, nicht wagen, das Licht zu löschen. Morgen früh werden sie darauf bestehen, daß man sie ausfliegt.

Wir erreichen einen aufgeschichteten Steinhaufen, höher als die vorherigen, im Schatten eines mächtigen Überhangs. Samir schaut auf die Uhr, hält an, legt den Rucksack ab: »Wir sind in der Zeit, sogar schneller, ruht euch aus«, sagt er und setzt sich mit einladender Geste. Wir räumen Geröll beiseite. Hier hat die Sonne den Boden noch nicht aufgeheizt. Achmed klappt den Koffer mit dem Telephon auf, peilt den Satelliten an, wählt eine Nummer, die nur er kennt, um den Brüdern, die uns zum Versteck am Fluß fahren werden, den verabredeten Satz zu übermitteln: »Wir haben die Ziegen zum Brunnen geführt, es ist ausreichend Wasser vorhanden.« Statt gleich aufzulegen, hört er eine Weile stumm zu, murmelt etwas, das ich nicht verstehe. Seine Miene wird ernst, er sagt: »Versucht es weiter. Ich melde mich in einer Stunde.« Trotz der Anspannung in den Gesichtern, verpackt er zunächst das Telephon, aus Furcht vor dem Wüstenstaub, der in jede Ritze dringt: »Rashid ist verschwunden«, sagt er, und ich spüre, wie mein Puls sich beschleunigt. »Seit wann?« fragt Samir. »Gestern abend war er noch da.« »Polizei?« »Khaled weiß es nicht.« »Hat er die Wohnung überprüft?« »Weder aufgebrochen noch Spuren einer Durchsuchung.« »Also keine Razzia.« »Gepriesen sei Gott.« »Rashid wird schweigen«, sagt Shukri, »egal, was sie ihm antun, er schweigt.« »Du kennst ihn am besten.« »Seit wir Kinder waren …« Samir überlegt. Er fragt El Choli: »Was denkst du?« »Wir können auf ihn verzichten.« »Und du?« Mohammed wiegt den Kopf hin und her: »Wenn Rashid redet, wird es eng.« »Er redet nicht«, versichert Shukri. Was bleibt ihm auch übrig? Rashid ist sein Freund. Er hat ihn für die Sache Gottes gewonnen: »Eher würde er Vater und Mutter verkaufen.« Ich bin nicht sicher, ob Shukri weiß oder hofft, daß Rashid sein Vertrauen nicht Lügen straft. »Ich teile deine Meinung«, sagt Samir, »und El Choli hat recht: Es geht ohne ihn.«

Keiner wagt, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, er könnte übergelaufen sein. Keiner außer mir. Ein Anfall von Panik. Nicht wegen des Endes, sondern weil die Operation dann mißlingt. Wir würden umsonst sterben, ohne den Krieg entscheidend vorangetrieben zu haben. Das Marionettenregime Mubarak würde triumphieren. Die anderen haben keine Ahnung von der Mechanik des Verrats. Sie sind nie zersplittert, nicht aus Scherben zusammengesetzt. Sie wissen nicht, daß Treulosigkeit als Haarriß beginnt, unbeachtet, an einer dunklen Stelle. Dann verbreitert sie sich, wird ein Spalt, in dem die Luft fault. Das geschieht unmerklich, weil man es nicht wahrhaben will. Eines Tages bricht das Herz in zwei Teile, die sich nicht wieder zusammenfügen lassen. Übrig bleibt das Gas, an dem man erstickt. Sie kennen seinen Geruch nicht. Sie sind nicht in der Ideologie des Zweifels aufgewachsen. Der Gedanke, daß Gott eine menschliche Erfindung sein könnte, liegt jenseits ihrer Vorstellungskraft. Die Gleichgültigkeit, die daraus folgt, begreifen sie nicht – daß es keine Rolle spielt, was einer tut.

Salah ist blaß, beißt sich die Fingernägel. Meine Augen brennen vom Salz. Ich trinke langsam, in kleinen Schlukken, gegen das Verlangen, alles auf einmal hinunterzuschütten, mir die zweite Flasche über den Kopf zu gießen. Das würde den Kreislauf kollabieren lassen. So war es während der ersten Tage im Camp. Die, die schon Wochen dort verbracht hatten, lachten bloß. Die Gier bleibt. Mein Mund ist so trocken, daß der Speichel kaum reicht, das Brot weichzukauen. Samir winkt Salah zu sich. Er weiß, daß er einen Fehler gemacht hat, mindestens einen, je nachdem, was mit Rashid ist, und versucht, die Folgen einzugrenzen. Ich werde nicht mit ihm reden. El Choli stiert finster in sich hinein. Karim sieht mich an, verzieht den Mund. Er denkt das gleiche wie ich. Unsere Einheit ist zerfallen. Jetzt, mit der Möglichkeit im Hinterkopf, daß etwas schiefgelaufen ist, lösen sich die Verbindungen. Jeder steht allein da. Keiner hat ausreichend Distanz, um Verantwortung für das Ganze zu übernehmen. Auch Samir nicht. Er ist mit seinen Fehlern beschäftigt.

Während der Planungsphase haben die Afghanen bestimmt. Ihre Überlegenheit in allen operativen Angelegenheiten war unstrittig. Der Sheikh vertraute ihnen, stellte das Geld bereit, beschaffte an Ausrüstung, was immer sie forderten. Niemand wagte zu fragen, ob ihre Strategien für den Krieg hier geeignet sind. Sie hatten Erfahrung als Guerillas in unwegsamem Gelände, haben Versorgungswege abgeschnitten, Hinterhalte gelegt, Truppentransporte auseinandergerissen, am Ende eine hochgerüstete Armee vertrieben. Aber es ist ihnen nie gelungen, eine größere Ortschaft einzunehmen, geschweige denn zu halten. Doch wir kämpfen in Städten gegen einheimische Soldaten, denen das Gebiet ebenso vertraut ist wie uns, nicht gegen eine ortsunkundige Besatzungsmacht, bestehend aus demoralisierten Jüngelchen, die möglichst schnell nach Hause wollen.

Ich schließe die Augen. Die Netzhaut bleibt erleuchtet, warmes, gelbliches Flimmern. Erst als ich mein Gesicht in die Hände grabe, wird es dunkel. Ich höre Bruchstücke von geflüsterten Sätzen: »Vielleicht ist …« »Es könnte sein…« »Was geschieht, wenn …« »… aus Rashid herauspressen?« Dazwischen Shukris Beteuerungen: »Rashid schweigt.« Spekulationen, die zu nichts führen. Wir müssen den nächsten Anruf abwarten.

Wenn Khaled keine neuen Nachrichten hat, werden wir den Treffpunkt aus sicherer Entfernung beobachten, feststellen, ob etwas ungewöhnlich erscheint, beraten, einen Beschluß fassen. Er wird vorwärts gerichtet sein. Unsere Wasservorräte würden nicht reichen, um zur Höhle zurückzukehren, eine weitere Nacht dort zu bleiben, uns wohin auch immer durchzuschlagen.

Mohammed und Jamal sitzen abseits. Sie haben sich entschieden, keine Gedanken zu verschwenden, diskutieren die Frage, ob der Khalif von allen Gläubigen gewählt oder von den Bewährtesten bestimmt werden soll. Sie klingen, als gehörten sie bereits der verfassungsgebenden Versammlung des künftigen Staates an: »Demokratie ist eine verbotene Neuerung, sie stammt von den Ungläubigen«, sagt Jamal. »Aber wer soll die aussuchen, die den Khalifen benennen?« fragt Mohammed. »Der Prophet, Gott segne ihn und schenke ihm Heil, hat keine Wahlen abhalten lassen.«

Ich staune, wieviel Zukunft sie sich geben, sage leise: »Das werden andere entscheiden.« Sie hören es nicht. In meiner Stimme ist keine Unsicherheit.

Das irdische Leben ist nur ein Spiel und ein Scherz. Wahrlich, die Wohnstatt im Jenseits ist besser für die Gottesfürchtigen. Wollt ihr denn nicht begreifen?

Salah ist der einzige, der noch etwas erwartet, das den Aufenthalt in dieser Welt lohnt. Er hat wenig erlebt in seinen zwanzig Jahren, die Liebe der Eltern und nächtliche Männergespräche, zu denen er nichts beitragen konnte. Jetzt schwankt er zwischen Hoffen und Angst. Wir anderen wissen: Der Tod ist die Heimkehr von einer beschwerlichen Reise durch unwirtliches Land.

Staubverkrustete Haut, das Hemd mit Salzkränzen, schmerzende Füße. Der Satz: ›Ich stehe nie wieder auf.‹ Unter anderen Umständen würde ich sagen: eine wunderbare Landschaft. Nur zu Fuß, an der Grenze der eigenen Kraft, erfährt man sie.

»Mutmaßung ist die Mutter der Schwäche«, sagt Samir und erhebt sich: »Die Entscheidungen werden getroffen, wenn sie anstehen.« Er fordert Salah auf, direkt hinter ihm zu laufen. Die Hälfte des Weges liegt noch vor uns. Der erste Schritt ist der schwerste. Samir beginnt, den Qur’ān zu rezitieren. Er kennt ihn ganz auswendig, weiß, daß die Worte Salah beruhigen, ihm die Furcht nehmen werden, besser als alles, was er oder sonst einer ihm sagen könnte. Jeder von uns hat das erfahren: zu Anfang den Schrecken. Man will das Buch zuschlagen, wegwerfen. Das ist keine Schande. Selbst dem Propheten erging es so, als ihm befohlen wurde: Lies! Im Namen deines Herrn, der erschaffen hat. / Den Menschen aus einem Gerinnsel erschaffen hat. Und ihm stand doch der Engel zur Seite. Man will flüchten, sich an einem geheimen Ort verbergen, für alle Zeit unauffindbar sein. Aber das Buch ist stärker. Es hält einen fest, bricht den Widerstand. Dann zwingt es dem, der Ohren hat zu hören, Verstand, um zu begreifen, seine eigene Bewegung auf, bis er sich unterwirft und ruhig wird. So ist es gewesen. Ich konnte es lange nicht glauben, damals vor sechs Jahren an dem brütendheißen Nachmittag Ende August. Ich lag halb angezogen auf dem Bett, hatte mich nicht gewaschen – nicht einmal die Hände –, bevor ich das Buch nahm, obwohl ich wußte, daß die Reinigung vorgeschrieben ist, wenn man es nur berührt. Ich habe auf meiner Unvoreingenommenheit beharrt, und doch ist passiert, wovon die Gläubigen rund um den Erdball berichten. Zugleich beteuern sie, daß ihnen die Worte fehlen. Ich dachte, günstige Umstände fallen zusammen, eine eingebildete Vorahnung, unmerklich im Unterbewußten gereift, die sich selbst erfüllt, um nicht enttäuscht zu werden. Ich redete mir ein: Es ist nur eine Übersetzung, sie kann keine Wirkung haben. Trotzdem: Zum ersten Mal, seit mein Gedächtnis etwas vermerkt, herrschte Ruhe. Und sie kehrte wieder, immer wenn ich las. Bis heute.

Vom Rand des Hochplateaus aus kann man jetzt die Straße sehen. Ein schmales graues Band, das sich einige Kilometer durch Geröll schlängelt, verschwindet. Unser Treffpunkt ist ein halbes Dutzend blauer Fässer, vom Rost zerfressen. Sie liegen da wie Relikte einer untergegangen Zivilisation. Wehe dem Lästerer, dem Verleumder, / der Vermögen zusammenrafft, es zählt und zählt. / Er glaubt, das Vermögen hätte ihn unsterblich gemacht / Nein! Er wird gewiß in das Mahlwerk gestürzt. Nachdem das Öl verbraucht war, zerfiel die Herrschaft des Westens, gegründet auf Gier und Zerstreuung. Übrig blieben digitale Zahlenkolonnen. Sie subtrahierten und dividierten sich gegenseitig, bis eine letzte Null blinkte. Dafür gab es Müllberge zu kaufen, die der Chamsin allmählich unter Sand begrub. Die Menschen vergingen aus Angst vor dem Nichts, an das sie so gerne geglaubt hatten.

Der Abstieg durch ein schmales Wadi wird noch einmal eine halbe Stunde dauern. Weit und breit kein Auto und keine Spur von Polizei oder Armee. Wir sind zu früh. Samir bleibt stehen, nickt Achmed zu, damit er Khaled anruft. Gespanntes Schweigen, in dem das Wehen des Windes Lärm wird. Salah tritt von einem Fuß auf den anderen. Shukri fühlt sich schuldig, obwohl ihm keiner einen Vorwurf macht. Karim sagt auf deutsch: »Scheiße.« Es dauert ungewöhnlich lange, bis Achmed den Satelliten gefunden hat, dann murmelt er vor sich hin, und ich weiß nicht, spricht er mit Khaled oder mehr zu sich selbst, er kratzt sich am Hinterkopf, sagt: »Ich melde mich wieder«, seufzt. Sonst nichts. »Was Neues?« fragt Samir. »Rashid ist unauffindbar. Es gibt keinen Hinweis, daß sie ihn verhaftet haben. Khaled vermutet einen Unfall. Hani ist alle möglichen Strecken abgefahren, ohne Ergebnis. Sie sind sehr vorsichtig gewesen.« Samir denkt nach. Solange er denkt, sagt keiner ein Wort. Er fragt noch einmal: »Sie haben nichts bemerkt, das auf Polizei schließen läßt?« »Nichts.« »Ohne Pause wären wir vierzig Minuten früher unten als geplant. Wenn jemand umkehren will… Von hier aus schafft er es allein.« Samir schaut jedem einzelnen lange ins Gesicht, Salah etwas länger. Ich frage mich, ob er tatsächlich einen von uns so ohne weiteres fortließe. Es wäre Fahnenflucht. Auf Deserteure wartet überall auf der Welt die gleiche Strafe. »Dann nutzen wir den Vorsprung. Sag ihnen, sie sollen losfahren.«

Achmed wählt erneut: »Wir werden in einer halben Stunde an der vereinbarten Stelle sein. So Gott will.« Ich bin erleichtert, trotz der Beklommenheit. Sie ist der Schatten einer Wolke. Dahinter der ungetrübte Himmel aus Licht. Dorthin sind wir unterwegs.

Das letzte Stück ist stark abschüssig, schwierig selbst für die Afghanen mit ihrer Hochgebirgserfahrung. Jeder Schritt verlangt Aufmerksamkeit. Wir rutschen mehr als wir gehen. Die Abstände werden größer, auch El Choli hat Mühe, den Anschluß zu halten. Sand- und Steinlawinen lösen sich, reißen Geröll mit, verschwinden in ihrem eigenen Staub, der weiter unten verweht. Jamal knickt um, fängt mit Mühe einen Sturz ab, läuft hinkend weiter, versucht, über den Schmerz zu lachen. Meine Schuhe geben den Knöcheln Halt. Das Profil greift, wo der Fels eben ist, das ist er fast nie, auf dem Schotter nützt es nichts. »Vorsicht!« ruft Mohammed, als dicke Kiesel an ihm vorbeispringen. Bei jedem Atemzug brennt die Luft in den Bronchien. Der Körper beginnt von innen zu glühen. Nirgends ein Überhang, der für eine Minute Schutz vor der Sonne böte. Die Zunge klebt am Gaumen wie gedörrt, obwohl ich eben erst getrunken habe. Ab wieviel Grad schmilzt Fleisch? Verflüssigt es sich? Im Westen, von wo die Wagen kommen, ist die Straße durch einen scharfen Grat verdeckt, im Osten, wohin wir fahren, biegt sie in ein Seitental. Armeefahrzeuge würden wir zu spät entdecken, ganz gleich aus welcher Richtung sie anrückten. Anhand des Steinschlags, der Staubfahnen wüßten die Soldaten, daß hier Menschen unterwegs sind: die, die gesucht werden. Wir. Sie könnten in Ruhe Stellung beziehen. Sobald sich unser Blickfeld öffnete, wären wir in Reichweite, ohne Deckung. Zielscheiben für Schießübungen mit scharfer Munition. Haben El Choli und Mohammed das nicht bedacht? Es muß ihnen aufgefallen sein. Oder haben sie vergessen, daß wir uns nicht in einer unbewohnten afghanischen Gebirgsregion befinden, sondern fünfzehn Kilometer Luftlinie vom Nil entfernt, in unmittelbarer Nähe zu den Lieblingsplätzen des Kulturtourismus, die wie ein Hochsicherheitstrakt geschützt werden. Wahrscheinlich wollte El Choli deshalb bewaffnet gehen. Von hier aus betrachtet, hatte er recht. Mein Eingeständnis hilft jetzt nicht mehr.

Der nächste Abschnitt stürzt noch steiler ab. Wir brauchen unsere Hände, hangeln uns durch die Wand, unter uns dreißig Meter Raum für freien Fall. Der Grund bröckelt, sobald man den Fuß aufsetzt. Schulwissen, Erdkunde: Wüstenklima, besonders die extremen Temperaturschwankungen zwischen Tag und Nacht bewirken starke Verwitterung. Es kommt zu Abschuppung und Kernsprüngen des Gesteins, das in Schutt zerfällt. Was Achmed getragen hat, kann unter mir wegbrechen, was mich trägt, unter Karim. Samir wird von faustgroßen Brocken am Oberschenkel getroffen, schützt seinen Kopf. Wir erreichen einen schmalen Vorsprung, der sich drei-, vierhundert Meter fast waagerecht den Abgrund entlangschiebt – in die falsche Richtung. Er endet auf einem flacher abfallenden Geröllfeld. Es bildet den Grund des Wadis, wo vor Jahrzehntausenden, als es hier Regenzeiten gab, das Wasser aus den Bergen hinuntergebrodelt ist, alles mitgerissen hat, was sich in den Weg stellte. Wenig später trieben Gräser aus, wurden satte Weiden für riesige Herden Wildtiere. Jetzt wachsen nicht einmal Dornbüsche. Aus südlicher Richtung trägt der Wind das Donnern einer Explosion herüber, seinen Widerhall. Wir halten an, horchen. Ein Moment des Durchatmens. Ich wische Schweißtropfen von der Stirn, ehe sie verdunstet sind. Weitere Detonationen, polternder Fels. »Bauarbeiten«, sagt Shukri, »oder Ausgrabungen.« Er stammt aus der Gegend, kennt sich aus. Keiner setzt sich. Er käme nicht wieder auf die Beine. Das Wadi mündet in eine riesige Sandfläche, die den Fluß verschlucken würde, gäbe es ihn. Sie steigt zu einer Düne an, hinter deren Kuppe die Fässer liegen müßten. Wir gehen wieder in Reihe. Ein Krähenschwarm fliegt niedrig und kreischend vorbei, unmittelbar gefolgt von seinem Schatten. Bei jedem Schritt versinkt der Fuß bis zum Knöchel, die übersäuerten Muskeln schmerzen. Der Gedanke, einfach zur Seite zu kippen und liegenzubleiben.