Wir in Kahlenbeck - Christoph Peters - E-Book

Wir in Kahlenbeck E-Book

Christoph Peters

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Beschreibung

Es ist eine Welt für sich: das Collegium Gregorianum Kahlenbeck, ein streng katholisches Jungeninternat irgendwo am Niederrhein. Hier wächst der knapp 15-jährige Carl Pacher Anfang der achtziger Jahre heran. Kahlenbeck, das ist eine spartanische Welt voller Regeln und Verbote, durchdrungen von elitärem Geist, Askese und Weltverachtung. Gleichwohl gärt unter der Oberfläche der Geist pubertärer Rebellion und herrscht unter den Jugendlichen eine gnadenlose Hackordnung, in der schwächere Schüler und Außenseiter ungeniert gedemütigt, schikaniert und ausgegrenzt werden.

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Christoph Peters

Wir in Kahlenbeck

Roman

Luchterhand

Buch

Es ist eine Welt für sich: das Jungeninternat Collegium Gregorianum Kahlenbeck, irgendwo am Niederrhein. Während Wettrüsten und Umweltzerstörung die Welt Anfang der achtziger Jahre an den Rand des Abgrunds zu bringen drohen, während ringsum mit neuen Beziehungsmustern und Lebensformen experimentiert wird und die fraglose Autorität von Religion, Kirche und tradierten Moralvorstellungen zu bröckeln beginnt, scheint hinter den Mauern von Kahlenbeck die Zeit sillzustehen. Hier herrschen katholische Sittenstrenge und christliche Weltverachtung, prägen tägliche Gottesdienste und Verbote den Alltag.

Gleichwohl sind die Umbrüche der Zeit auch in Kahlenbeck zu spüren. Im Aufflackern jugendlicher Rebellion etwa, vor dem der Präses des Collegiums nicht müde wird zu warnen. Oder in der Vehemenz, mit der liberale Erzieher von restaurativen Kräften bekämpft werden, wenn sie vermeintlich »moderne« Ideen verbreiten. Es ist, als ob der Konflikt zwischen Tradition und Moderne, zwischen Spiritualität und Weltlichkeit untergründig das gesamte Internatsleben durchdringt und es zu sprengen droht.

Einer, der diesen Konflikt am eigenen Körper und in der eigenen Seele erfährt, ist der Schüler Carl Pacher. Wie kaum ein anderer ist er hin- und hergerissen zwischen dem Heiligen und dem Profanen, ist zutiefst verunsichert, was gottgefällig und was des Teufels ist. Denn Carl will mit aller Macht glauben; er sucht inständig nach dem rechten Weg zu Gott. Aber zugleich sehnt er sich auch nach dem wirklichen Leben, und das verträgt sich häufig nicht mit dem, was die Frömmigkeit gebietet. Die Versuchungen der Pubertät, das Verlangen nach echter menschlicher Nähe und Liebe entfalten ihre eigene Kraft, gegen die Vorsätze und Gebete machtlos sind. Glück und Verzweiflung liegen so nahe beieinander, daß es manchmal zum Heulen ist. Oder vielleicht auch einfach nur zum Lachen.

Sowohl tiefgründig als auch provokant, sowohl komisch als auch radikal, ist »Wir in Kahlenbeck« ein Pubertäts- und Internatsroman, wie man ihn lange nicht gelesen hat: ein kompromissloses Buch über Religion und Spiritualität, über das Fegefeuer der Pubertät und die Fallgruben der Liebe. Wie Christoph Peters diese Themen und Motive miteinander verknüpft, das ist zuweilen betörend, zuweilen verstörend, immer aber höchste erzählerische Kunst.

Autor

Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar geboren. Er besuchte selbst ein katholisches Internat und ist Autor von bislang fünf Romanen sowie mehrerer Erzählungsbände. Für seine Bücher wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem aspekte-Literaturpreis. Christoph Peters lebt heute in Berlin.

»Christoph Peters ist ein eminent kluger und genauer Erzähler, ein ausgezeichneter Architekt lebensechter Atmosphäre, und die Klaviatur der Töne beherrscht er auch virtuos: Ironie, Leichtigkeit und Witz, Poesie, Lakonie und tiefen Ernst.«(Elmar Krekeler, Die Welt)

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Copyright © 2012 Luchterhand Literaturverlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.Satz: Uhl + Massopust, AalenUmschlaggestaltung: RME, Rosemarie Kreuzer / RuthBotzenhardt unter Verwendung eines Photos von © thomasmayerarchive.deISBN 978-3-641-09040-1V003

www.luchterhand-literaturverlag.de

Einige Altväter sagten: Wenn du einen Jüngling siehst, der mit seinem Eigenwillen zum Himmel hinaufsteigt, dann halte seinen Fuß und ziehe ihn auf die Erde, denn das andere nützt ihm nichts.

Apophthegmata Patrum

Das Schlimmste im Leben des Menschen ist die Pubertät.

Helge Schneider

Prolog. Advent in Henneward

»An jenem Tag wächst aus dem Baumstumpf Isaias ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.«

Das Winterdunkel draußen hat die Farben der Bleiglasfenster geschluckt. In den hoch aufragenden Spitzbögen grüngraue Felder, von flachen Wülsten eingefaßt. Schraffuren liegen schwarz auf, Liniennetze, die keine Szenen werden. Gerade noch zu erahnen, wenn man weiß, daß sie dort sind: Vater, Sohn, Heiliger Geist. Der allmächtige Weltenschöpfer krönt den Erlösersohn; der Erlösersohn hält sein Kreuz im Arm wie einen Freund; die Taube im Strahlenkranz. Unten Engelscharen, vielköpfig, geflügelt, singend, im Gebet. Das Reich, die Kraft, die Herrlichkeit. Keine Furcht soll über euch kommen.

So stellt es sich sonntags dar, über Weihrauch, der zum Thron des Höchsten emporsteigt, Glanz wie am ersten Morgen eines neuen Himmels, einer neuen Erde. Dahinter Licht, das die Unendlichkeit füllt, heller als die wirkliche Morgensonne über dem stinkenden Fluß. Jetzt nicht einmal mehr Schemen des Heiligen, die Sphären opak verschmiert. Kaltluft stürzt aus undichten Fugen und Fehlstellen, sickert in Mantelkrägen, Ausschnitte. »Tauet Himmel den Gerechten / Wolken regnet ihn herab.« Die Orgel schleppt sich durch das Lied, der Gesang ohne Trost. Aber einmal wird aus den Seufzern Jubel werden.

Die Kinderbänke vorn sind dicht besetzt, Jungen rechts, Mädchen links; gut gefüllt auch die Frauenblöcke dahinter. Im Bereich der Männer hingegen ist Platz. Sie stehen im Vorraum unter dem Turm, rauchen vor der Kirchentür, reden über Schweinepreise, die Schließung der Molkerei. »Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe!« Aus der Luke im Gewölbe zwischen Apsis und Schiff hängt der Adventskranz am fingerdicken Stahlseil bis auf Höhe des Kanzelbaldachins. Tannenzweige um eine schmiedeeiserne Form geflochten, mit roten Bändern umwickelt, zwei Kerzen brennen, leichtes Schaukeln, sie flackern unruhig, bis nah ans Erlöschen. »Johannes trug ein Gewand aus Kamelhaar und einen ledernen Gürtel um seine Hüften. Heuschrecken und wilder Honig waren seine Nahrung.«

Der gewaltige Mann, Johannes, unerbittlich im Kampf gegen das Tier in sich, Rufer in der Wüste, sein Wort eine Geißel der Sünden, Schwert der Unterscheidung. Niemand kann ihm ins Angesicht widerstehen.

Die Stimme von Pastor Hünermann knarzt, als entspränge sie dem Röhrenradio, das seit der Hitlerzeit in Tante Rias Küche steht. Er hält inne, holt ein akkurat gefaltetes Taschentuch aus dem schwarzen Ärmel unter Albe und golddurchwirkter Kasel, tupft sich die Stirn. Der Schweiß ist aus dem vergangenen Sommer, trocken und unsichtbar. Heute schwitzt niemand. Nässe und Kälte sickern durch Anoraks, Wollpullover – wegen des Sparhaushalts, wegen der Schwingtüren. Das Frieren durchkreuzt die Andacht. »Als Johannes sah, daß viele Pharisäer und Sadduzäer zur Taufe kamen, sagte er zu ihnen: Ihr Schlangenbrut.«

Die Pharisäer sind ein unkenntlicher Schleiflaut, die Saddu-zä-er vier langgezogene Einzelsilben. Pastor Hünermanns Betonungen haben mit dem Sinn der Schrift nichts zu tun. Vier Tage ist er verschüttet gewesen, lag mit einer Kopfverletzung unter den Trümmern eines zerbombten Hauses. »Gott kann aus diesen Steinen Kinder Abrahams machen.«

Arndts rupft Maaß an der Jacke. Maaß rammt Arndts seinen Ellbogen in die Rippen. Das Geräusch eines Aufschreis, den vor die Lippen gepreßte Hände ersticken. Bernd Rogge friemelt sich einen Popel aus der Nase, bringt ihn auf der Daumenkuppe in Stellung, zielt, schnippt ihn Ulli Koch auf die Schulter. Ulli Koch ist klein und dumm. Er bemerkt es nicht, sieht keinen Zusammenhang zwischen dem Kichern und seiner armen Person.

Oben im Bogen, hinter dem der Altarraum sich öffnet, breitet der Heiland überlebensgroß die Arme am Kreuz aus. Seine Liebe zu den Menschen entströmt jeder Pore des gemarterten Leibes. Blut und Wasser rinnen aus der geöffneten Seite: lebendiges Wasser, das Wasser des Lebens. Wer davon trinkt, wird in Ewigkeit nicht sterben. Es schimmert lackrot, man denkt, es tropft auf den Boden. »Schon hält er die Schaufel in der Hand. Er wird die Spreu vom Weizen trennen und den Weizen in seine Scheune bringen; die Spreu aber wird er in nie erlöschendem Feuer verbrennen.«

Pastor Hünermann macht eine Pause, kratzt sich mit gestrecktem Zeigefinger im Ohr. Leinberger flüstert Arndts zu: »Deine Schwester ist eine Pimpinelle.«

»Pimpinellen gibt es gar nicht.«

»Wetten, daß es die gibt?«

»Und du bist ein Pimmelpisser.«

Der Gekreuzigte mag nur eine Figur sein, Holz, Kreidegrund, Farbe, doch der wirkliche Jesus wohnt darin, unser Bruder und Herr, gegenwärtig und nah, gegenwärtiger fast als im Sakrament. Er kann die Augen aufschlagen, den Kopf heben, Hände und Füße lösen. Wenn Er nur will. Das Holz gehorcht Ihm. Zeit und Raum, die Schwerkraft, alle Naturgesetze sind Ihm dienstbar, durch Ihn und zu Seinem Ruhm wurden sie erschaffen. Es wäre eine Lektion für das Volk, das vergessen hat, was Er als Sühne für die Sünden der vielen getan hat. Mit geschmiedeten Eisennägeln an die Balken geschlagen. Gestorben und hinabgestiegen in das Reich des Todes, auferstanden von den Toten, Er sitzet zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters, von dort wird Er kommen zu richten die Lebenden und die Toten.

Cherubim und Seraphim, Mächte und Gewalten unterstehen seinem Befehl. »Guck mal, Ulli Koch fallen Popel aus den Ohren.«

»Wieder nicht gewaschen, Ulli!«

Wahrlich ich sage euch: Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Sie verhöhnen Ihn, sie beschmutzen Sein geweihtes Haus. Wer guten Willens ist, die Tür seines Herzens dem Gekreuzigten öffnet, hat Mühe, den Worten der Frohbotschaft zu folgen. Carl ist guten Willens, vielleicht der einzige hier und heute, dessen Willen gut ist. Arndts sagt: »Ich will Pommes essen, mit Majo und Ketchup.«

Er lacht, man hört ihn im ganzen Kirchenraum. Niemand von den Erwachsenen schreitet ein. Es wird von Woche zu Woche schlimmer. Carl denkt an den Zorn Gottes, an die Wiederkunft des Herrn. Die Zeit ist nahe, man muß ihre Zeichen erkennen. Durch die Welt läuft ein Riß, an dessen Grund sich die Hölle auftut. Er spaltet die Familien, die Staaten, die Erde. Die Waffenlager quellen über, genügend Atombomben, um alles, was da ist, hundertfach zu vernichten. In Rußland und China werden die Gläubigen vor Gericht gezerrt, ins Gefängnis geworfen, ermordet. Überschwemmungen, Hungersnöte. Die große Drangsal steht bevor, das alles verschlingende Feuer. Ohne göttlichen Beistand schafft es keiner, bis zum Schluß auszuharren. Dann endlich wird von einem Ende der Erde bis zum anderen die Posaune erschallen, stählern, durchdringend. Der Menschensohn wird auf einer Wolke einreiten, in der Hand eine scharfgeschliffene Sichel. Das interessiert sie nicht. Sie denken, das lächerliche Leben, Gier, Gemeinheit und Zerstreuung, gingen immer so weiter. Leinberger und Rogge haben sich ganz dem Bösen verschrieben, in ihren Herzen hat der Teufel sich eine behagliche Wohnstatt eingerichtet. Die anderen sind bloß lau, träge, nachlässig. Das Licht des Glaubens in ihnen ist erloschen. Vielleicht wurde es nie entzündet. Rogges Vater taucht nur an Weihnachten in der Kirche auf, der Bauer Arndts, der Schreiner Maaß rauchen und quatschen draußen. Was ihre Söhne tun, haben sie auch schon getan. »Evangelium unseres Herrn Jesus Christus.«

»Lob sei dir, Christus.«

Auf dem Gesicht des Gekreuzigten Sanftmut – trotz des Martertodes, trotz der Gleichgültigkeit, die Ihm entgegenschlägt.

»In der Lesung aus dem Buch I-sa-i-jas malt der Prophet uns ein schönes Bild: Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten. So war es im Paradies, so wird es im himmlischen Jerusalem sein. Aber in unseren Tagen ist die Welt voll von Gewalt und Krieg, wohin man auch blickt. Vielen Menschen erscheinen die Worte des Propheten wie Hohn und Trug.«

Maaß zieht Schleim den Rachen hinauf, läßt einen hellgelben Pfropf aus gespitzten Lippen ab, saugt ihn lauthals wieder ein. »Ich kotz’ gleich«, sagt Arndts.

»Mach doch«, sagt Maaß, klappt sein Gebetbuch auf, legt es sich auf die Knie, um die Hose zu schützen, läßt den Pfropf tiefer sinken, nur ein dünner Speichelfaden hält den Schleim noch am Mund.

Eine Regung Seines Heiligen Arms würde reichen, um das hier ein für allemal zu beenden. Nie wieder würden sie sich so benehmen.

Schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt, und jeder Baum, der keine gute Frucht bringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen.

»Aber ganz gleich, was wir auch tun, wie tief wir auch in Sünden verstrickt sind, der Heiland wendet sich uns immer wieder voll Erbarmen zu.«

»Die Affen rasen durch den Wald / der eine macht den andern kalt / wo ist die Kokosnuß,/ wo ist die Kokosnuß,/ wer hat die Kokosnuß gekla-ha-haut?«

»Darum wollen wir umkehren, unsere Schuld bereuen, auch regelmäßig zur Beichte gehen und Vergebung empfangen, auf daß wir gereinigt und bereit sind für das heilige Sakrament der Eucharistie und dereinst, wenn die Gräber geöffnet werden und die Toten auferstehen, alle gemeinsam in den Himmel kommen zu ewiger Freude. Amen.«

»Hier stinkt’s.«

»Ulli Koch hat einen fahren lassen.«

»Die Sau.«

»Stimmt gar nicht.«

»Der Mief sitzt in der Unterhose fest.«

»Credo in unum de-e-e-um.«

Es ist ein Schmerz. Und Zorn. Eingeklemmt, verkantet. Er zerreißt Carls Brust. Dahinter ein Schrei. Wenn der Schrei sich befreit und herausbricht, zerspringen die Fenster, das bunte Glas. Splitter der Heiligen Dreifaltigkeit, der Himmlischen Heerscharen regnen herab, zerschneiden Gesichter und Hände.

»Wir glauben an den einen Gott, den Vater, den Allmächtigen.«

Niemand um ihn herum spricht das Glaubensbekenntnis mit.

Carl denkt, daß er sie ermahnen, daß er sie warnen, ihnen in Liebe erläutern muß, was der Herr getan hat, damit sie sich besinnen. Seine Rede wäre sacht und stark zugleich: ›Schaut, was Er auf sich genommen hat, die größte Schmach und Schande.‹

Sie würden ihn anglotzen, trüb und unverständig wie das Vieh in den Ställen, ihn für verrückt halten. Lachen – Rogge als erster, und alle würden einfallen. Montag bekäme er Prügel. Leinberger würde ihn auf den Asphalt werfen, bespucken, zum Gespött der Schule machen. Davon würde sein Ruf sich nie wieder erholen.

Arndts verteilt jetzt Kaugummis. Gleich wird er Carl einen Streifen anbieten. ›Begreift ihr denn nicht, was die Liebe Jesu bedeutet für jeden von euch, von uns, ohne diese Liebe können wir nicht einen Atemzug tun.‹

»Nimmst du?«

Carl will sagen: ›Schäm dich, das Haus Gottes zu einer Räuberhöhle zu machen, wo man schmatzt und furzt und pöbelt. Kehre um, wenn dir dein ewiges Leben lieb ist.‹

Er hört den Hall seiner Stimme in dem hohen Raum, streng und erhaben steht sie da. Es ist ganz still geworden. Dann das immer gewaltiger anschwellende Gelächter. Bis in die letzte Reihe schwappt es, wo die Bauern und Schlosser, die Melker, Bäcker und der Amtmann Sölling einstimmen. Sie halten ihn für einen Spinner, für ein überkandideltes Söhnchen.

Carl senkt demonstrativ den Kopf, sieht Arndts aufforderndes Grinsen am oberen Rand seines Blickfelds. Kein Augenkontakt. Augenkontakt wäre Zustimmung. Es darf keine Verständigung mit den Gotteslästerern geben, nicht ein einziges Wort. Schon ›Nein‹ wäre zu viel. Er bemüht sich, sein Gesicht, seine Körperhaltung ganz von Versenkung, Andacht, Gebet durchdringen zu lassen. Alles an ihm muß furchtbare Kraft und beschämende Demut ausstrahlen. Dann wird Arndts sich stumm und erschrocken abwenden und sein Benehmen ändern.

»Nimm, ist Wrigley’s.«

Pfefferminzgeruch. Carls Wangenmuskeln verkrampfen sich. Er sagt nichts, beißt die Zähne zusammen, preßt die Lippen aufeinander, bis sie kurz vor dem Platzen sind. Schüttelt den Kopf. Es ist eher ein Zucken, abrupt wie eine Nervenstörung. Arndts antwortet mit einer Grimasse, dreht sich nach vorn, flüstert Maaß etwas zu. Maaß wirft einen verächtlichen Blick zurück, zuckt mit den Achseln.

»Barmherziger Gott, wir bekennen, daß wir immer wieder versagen und uns nicht auf unsere Verdienste berufen können. Komm uns zu Hilfe und ersetze, was uns fehlt.«

Carl atmet schwer, hebt den Blick zum Himmel, der ein gemauertes Gewölbe ist. Seit Jahrhunderten steigen die Gebete dorthin auf. Die Steine haben sich vollgesogen mit Glaube, Hoffnung, Liebe. Er wendet sich dem Gekreuzigten zu, der in Gehorsam und Geduld alles ertragen hat, Spott und Geißel und Dornenkrone. ›Weise Du sie zurecht, o Herr. Laß sie zittern vor Furcht.‹

Ein Senfkorn – nur so groß wie ein Senfkorn muß er sein, der Glaube, dann kann er Berge versetzen.

Carl wird rot, spürt Hitze in den Wangen: Sein Glaube ist kleiner. Er reicht nicht einmal für den Mut, seine Klassenkameraden zurechtzuweisen. Schon bei der Vorstellung, »Laßt doch den Blödsinn« zu sagen, überwältigen ihn Verzagtheit und Angst.

»Heilig, heilig, heilig, Gott, Herr aller Mächte und Gewalten.«

»Peinlich, peinlich, peinlich, all die Pfaffen in Irrenanstalten«, kommt das Echo aus der Reihe vor ihm.

»Erfüllt sind Himmel und Erde von Deiner Herrlichkeit.«

Carl horcht in sich hinein, ob nicht irgendwo in seinem Innern etwas zu hören ist, das leise Säuseln, das ihn beim Namen nennt, kaum vernehmlich in all dem Geläute, dem Stimmengewirr. Er atmet flach, damit es nicht übertönt wird von der Luft, die seine Nasenwände entlangstreicht. Er hört nichts. Die gegeneinanderreibenden Stoffe, Parka, Pullover, Cordhose sind beim Hinknien so laut, daß nichts mehr zu verstehen wäre von dem, was der Stille am Grund seiner Seele entsteigen könnte. Sosehr er sich auch anstrengt, in ihre hintersten Winkel zu horchen, da wispern nur die erbärmlichen Einflüsterungen, die aus ihm selber stammen: ›Kleingläubiger!‹ – ›Steh auf, wenn du Gott wahrhaftig liebst!‹ – ›So ein Unsinn!‹ – ›Erhebe dich, bekenne deinen Glauben!‹ – ›Es ist lächerlich.‹ – ›Feigling!‹ – ›Du bist lächerlich. Erbärmlich. Ein Wurm.‹

»Das ist der Kelch des neuen und ewigen Bundes: mein Blut, das für euch und für alle vergossen wird zur Vergebung der Sünden.«

Carl sieht den Heiland an, der sich ihm voll Erbarmen zugewandt hat, schaut, ob sich nicht vielleicht doch ein Finger der angenagelten Hand, ein Mundwinkel im heiligen Gesicht regt, damit er den Mut faßt, aufzustehen, herauszutreten, sich aufrecht und gerade in den Gang zu stellen und das Wort zu ergreifen: ›Steig herab von diesem Kreuz, Herr Jesus, und lehre das Volk, das in die Irre geht, Deine Macht zu erkennen: Steig herab.‹

Carl weiß, daß es geschehen würde, wenn er ohne das Zweifeln wäre. Aber er zweifelt. Der Zweifel hockt in dem Herzenswinkel, von dem aus sich das Säuseln zur Gewißheit, vom Windhauch zum Sturm aufblähen müßte, doch es raunt nur: ›Nichts wird geschehen, rein gar nichts.‹

›Jesus, Sohn Gottes, des Allmächtigen: Gib mir ein Zeichen, ein winziges Zeichen, daß mein Glaube von Dir angenommen wird.‹

Sosehr er den Herrn dort oben auch anstarrt, bis seine Augen Schlitze werden, durch die das Licht in Strahlenkränzen wie von Wunderkerzen explodiert – nichts ist anders als immer.

»Herr, ich bin nicht würdig, daß Du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.«

Gleich wird es zu spät sein. Warum spricht Er ihm nicht dieses eine Wort ins Herz, daß die Kraft einströmt, ihn durchflutet, überlaufen läßt. Dann würde er furchtlos das Wunder wirken, wie es zugesagt ist: Wenn euer Glaube auch nur so groß wäre wie ein Senfkorn, würdet ihr zu dem Maulbeerbaum hier sagen: Heb dich samt deinen Wurzeln aus dem Boden, und verpflanz dich ins Meer!, und er würde euch gehorchen.

»Jerusalem erhebe dich, steig auf den Berg und schau die Freude, die von deinem Gott zu dir kommt«, sagt Pastor Hünermann.

Alle stehen auf.

Es ist zu spät. Die ersten gehen nach vorn, um den Leib des Herrn zu empfangen. Auf dem Weg zur Kommunionbank tritt Arndts Ulli Koch in die Kniekehle. Ulli Koch wehrt sich nicht. Die Orgel, ein Leierkasten, spielt »Wachet auf, ruft uns die Stimme«. Ein Trauermarsch zu Ehren eines Toten, der alles verloren hat.

Er hat es nicht geschafft. Er ist nichtswürdig. Ein Nichts. Weniger als ein Nichts.

I. Der steile Pfad

Eins

Glockentöne im Abstand von Atemzügen senken sich auf die stille Fläche des Sees. Dort, wo sie das Wasser treffen, breiten konzentrische Kreise sich aus. Eine Mücke sticht hinein, geht unter. Wenige Meter entfernt springen Jungfische. Es ist halb sieben früh. Über den feuchten Wiesen jenseits der Kerme hängen schmale Streifen rötlichen Nebels, aus denen die Rücken von Rindern tauchen. Ihren Nüstern entsteigt Dampf. Auf der schmalen Straße zwischen den Pappeln diesseits des Zauns und dem Wald dahinter beschleunigt ein Traktor. Dann wieder Stille, der Gestank von Dieselabgasen, vergorenem Maishäcksel. Am Fuß der Uferböschung hocken Engler und Matze schweigend bei ihren Angeln. Der blau-weiße Schwimmer bewegt sich unruhig vor dem Schilf, wechselt die Richtung. Sie sitzen auf Hecht an. Köder ist eine Rotfeder, der sie einen Drilling unter die Rückenflosse gestochen haben. Im Fall eines Bisses reißt Matze die Rute zurück, der Haken zerfetzt die Rotfeder, bohrt sich ins Hechtmaul. Es folgt ein Kampf, bis der Hecht schwach wird. Das kann über eine Stunde dauern und reicht als Entschuldigung für Zuspätkommen zum Unterricht. Wenn Schnur, Vorfach und Knoten halten, ziehen sie ihn ans Ufer. Er zappelt, springt, schlägt um sich, bis ihm einer die Schädelplatte mit einem scharfkantigen Stein einschlägt. Anschließend ein Schnitt durch die Bauchdecke, das Ausräumen von Schwimmblase und Gedärm mit geübten Handgriffen, aber vorsichtig; wenn die Galle verletzt wird, ist das Fleisch ungenießbar. Vielleicht entkommt er auch. Dann war er riesig, der größte, den sie je gesehen haben.

Die Schärfe des Morgens zwischen Klarheit und Schmerz. Das Feuchte auf der Gesichtshaut stellt einen Abstand her, durch den der Mensch dahinter sich kaum noch erkennt. In diesen Wochen entgleitet Carl Tag für Tag jemand anderem. Wer erwacht heute, schaut durch wessen Augen welche Welt an? Ist sie zum Aushalten oder unerträglich? Welchen Platz kann man in ihr einnehmen, behaupten?

In der Welt – … aber nicht von der Welt. Das ist die Stellung der Jünger. Ein Ziel, keine Zustandsbeschreibung. Man darf es nie aus dem Blick verlieren. Es erfordert ständiges Bemühen. Die Müdigkeit überwunden zu haben, ist ein kleiner Sieg über das träge Herz, das schwache Fleisch. Heute morgen hat der Wille ausgereicht, dem Schlaf eine halbe Stunde abzutrotzen, sich von Tentakeln aus den unteren Nachtschichten zu lösen, wo Fremdartiges haust, durchscheinende Wärmetiere, deren Feueratem die Grenzen des Körpers aufweicht.

Der Leib ist das Gefängnis der Seele. Welche Schritte führen hinaus?

Bilder von Verschmelzung, Aufgehen in jemand anderem, in allem. Vorspiegelungen des bösen Feindes. Wenn die Müdigkeit übermächtig ist, reicht ein Wischer über den Beistelltisch, und der Wecker schweigt. Es bleiben weitere fünfundvierzig Minuten zwischen Kissen und Wachtraum, bis der Schleimbeutel Eging die Tür aufreißt, »Morgen! Aufstehen!« brüllt. Die Glieder schwer, Zähigkeit in den Muskeln. Bilder, die nie Wirklichkeit werden und doch nicht verlöschen. Das Aufstehen ist kein bißchen leichter als es eine dreiviertel Stunde früher gewesen wäre.

»Man muß Geduld mit sich haben.«

»Man darf nicht nachlässig mit sich sein.«

»Ausreichend Schlaf ist das A und O.«

»Manche verschlafen sogar ihren Tod.«

Präses Dr. Roghmann sagt: »Das Leben ist ein Wettkampf, ein Wettkampf mit dem Teufel. Wer gewinnt, bleibt offen bis zum letzten Atemzug, aber wenn der Mensch nicht sein gesamtes Vermögen in die Waagschale wirft, hat er schon verloren.«

Wegschnecken, knirschender Kies, Amselgesang. Es wird Frühling. Im Osten bläht sich die Sonnenscheibe auf wie ein verlöschender Stern. Von weither Ahnungen, wie es gewesen ist am Beginn der Schöpfung, als das Wort, das bei Gott, das Wort, das Gott war, Land und Wasser schied, es im Wasser von lebendigen Wesen wimmeln ließ, alle Arten Tiere an Land hervorbrachte. Sie hausten in Frieden. Ein Tag noch bis zur Schöpfung des Menschen. Ein Tag vor dem Herrn ist wie tausend Jahre, und tausend Jahre sind wie ein Tag. Tausend Jahre aus dreihundertfünfundsechzig Tagen, von denen wiederum jeder tausend Jahre mißt. Dann steht er da, der Mensch, geformt aus Ackerboden, Dreck, räkelt sich, reibt sich die Augen. Gibt allem, was er sieht, seine Namen und findet doch niemanden, mit dem er vertraulichen Umgang haben könnte. Gott schaut zu. Es gefällt Ihm nicht, daß der Mensch allein ist. Anders als alles, was Er vorher ins Dasein gerufen hat, ist der Mensch so allein nicht sehr gut. Gott läßt ihn in die Bewußtlosigkeit zurückfallen. Entnimmt eine Rippe für die Frau, die ihm Gefährtin sein soll am Tag und in der Nacht. Bein von meinem Bein, Fleisch von meinem Fleisch. Nackt, ohne Scham. Ganz gleich, was danach passiert, die Schlange, der Apfel: Für kurze Zeit wird der Garten Eden das Paradies. –

Links fällt der Graben ab, der das ehemalige Kloster, Collegium Gregorianum Kahlenbeck, über Jahrhunderte geschützt hat vor den Übergriffen marodierender Söldner, vor protestantischen Bilderstürmern, die von Westen her kamen, um alles, was heilig ist, kurz und klein zu hauen. Jetzt markiert der Graben Abschnitte der Grenze, die von Schülern ohne Ausgang nicht überschritten werden darf, zusätzlich gesichert mit elektrischen Zäunen, Stacheldraht.

Unten, zu seinen Füßen, die Spiegelung des Gesichts: eine Fratze, Grinsen, dann Ernst. Spuren von Verzweiflung. Sie droht sich einzunisten. Auge in Auge mit sich. Was ist darin zu erkennen? Selbstsucht, Eitelkeit: ›Nimm einen Stein, wirf ihn ins faulige Wasser, schau, wie er hinabsinkt zum Grund, auf dem verrotteten Laub des Vorjahres Ruhe findet.‹ Wieder konzentrische Kreise, flüchtende Fische. Silberblitze. Sedimentwölkchen. Bohrt man mit einem Ast, steigen Gasblasen auf, Schwefelwasserstoff, Methan. Es stinkt wie von den Stinkbomben, die manchmal einer in den Fluren des Schulgebäudes zur Explosion bringt. Der Graben ist hypertroph, wird umkippen, bald schon, dann ist kein höher entwickeltes Leben mehr möglich. Weiter hinten laufen milchige Abwässer aus einem Rohr unterhalb der Wasseroberfläche ein, es riecht nach Waschküche. Im Sommer verbringen Sekundaner und Primaner als Strafe für nächtliche Unruhe, Schwänzen des Gottesdienstes, für unerlaubtes Verlassen des Geländes ihre Samstagnachmittage damit, schwarzen Morast aus dem Graben zu schaufeln, bis zu den Knien eingesunken in einem halben Meter vermodernder Pflanzen, dem Faulschlamm von Generationen. Es ist der schlimmste Strafdienst, der zur Zeit verhängt wird, für Wiederholungstäter und für die, die von den Erziehern gehaßt werden. Ganske mußte kotzen dabei. Siewert hat Bruder Walter anschließend verflucht. Nicht einfach beschimpft, tatsächlich verflucht, was gefährlich ist, weil ein zu Unrecht ausgesprochener Fluch sich gegen den Fluchenden selbst kehrt. Siewert hat eine Kerze angezündet, das Kreuzzeichen geschlagen und sehr feierlich die Worte gesprochen: »Der Bruder Walter Bastenkock soll verflucht sein in dieser und jeder anderen Welt wegen der menschenverachtenden Qualen und Erniedrigungen, die er den ihm anvertrauten Schülern auferlegt hat aus niederen Beweggründen. Amen.«

Es gibt viel zu bedenken. Für und wider, richtig und falsch, gut und böse. Böse Gedanken sind die größte Gefahr. Böse und schmutzige. Für die Seele wie für den Geist. Bei weitem gefährlicher als zu viel oder zu wenig Schlaf. Allerdings ist die Müdigkeit eine tückische Falle. Stürzt man hinein, lauern am Grund Selbstsucht und Wollust. Darin stimmen Präses Dr. Roghmann und Spiritual Krohkes überein. Wenn die Verderbnis erst Einzug gehalten hat, folgt unaufhaltsam der Abstieg. Als Einfallstore dienen die weit geöffneten, der Kontrolle des Verstandes entzogenen Schleusen der Nacht. Deshalb ist es gut, den Schlaf früh abzubrechen, Beherrschung zu üben. Fleisch und Trieb müssen geschwächt werden, damit Geist und Wille erstarken.

»Der faulige Grund des Grabens kann euch als Realsymbol für den Zustand eurer Seelen gelten«, hat Spiritual Krohkes gesagt. Er nimmt ausdrücklich niemanden davon aus. »Verrohung« und »abscheulich« lauten die Worte, die er im Zusammenhang mit der moralischen Verfassung der Schülerschaft am häufigsten gebraucht.

Die Farben im Wasser: Schwarz, Schwarzbraun, Beigebraun, roter Ocker, Goldocker, Umbra. Altlaubschattierungen, so weit entfernt vom Licht, wie Farben nur sein können. Dazwischen manchmal das Weiß toter Fische, die bauchoben treiben.

Aber jetzt knospen die Bäume. Das muß selbst Spiritual Krohkes zugeben. Unübersehbar haben sie das Knospen begonnen – am See, in den Gärten, bei der Hütte am Reitplatz, der Hütte am Schwimmbad. Die Weiden sind voller Kätzchen. Noch eine Woche Wärme, dann stehen die ersten Bäume grün da. Grün wie in der Erinnerung. Oder noch grüner. Linden, Eichen, Buchen treiben aus. Die Stare sind zurück, die Schwalben. Schwester Irmela behauptet, sie hätte schon den Pirol gehört, den noch nie einer hier gesehen hat, obwohl er das gelbste Gelb der Vogelwelt trägt. In der Höhe hämmert ein Specht. Er hält sich den Augen verborgen. Mit dem Specht ist der Frühling ganz sicher da, und mit dem Frühling die Hoffnung. Hoffnung auf ein neues Leben nach dem Dunkel, nach der Abschottung des Winters, in der kein Gotteswort Trost war. Es sollte auch nicht Trost sein: Es gibt Zeiten, in denen das Wort des Trostes zum Richterspruch wird. Bevor sich das Urteil wiederum in Barmherzigkeit wandelt, muß sehr viel Veränderung stattfinden in den Herzen. Davon ist weit und breit nichts zu sehen. Kaum einer macht Anstalten umzukehren, den alten Menschen abzustreifen, neu zu beginnen.

»Und jedesmal, wenn einer von euch seinen Kameraden ›du Dummkopf‹ nennt, saust der Hammer in der Hand des Folterknechts auf den Nagel, der Jesus ans Kreuz heftet!« hat Spiritual Krohkes in seiner Fastenpredigt von der Kanzel geschrien. Sein Sabber spritzte über die Köpfe hinweg. »Das war nicht vor 2000 Jahren, das ist jetzt, heute! Und wir sind es, die den eingeborenen Sohn töten, jeder von uns, mit seiner Boshaftigkeit, seiner Hartherzigkeit: Nicht wegen der Juden von damals, wegen unserer Sünden stirbt er.«

Vielleicht zeigt das Beispiel der Natur, wie die Erneuerung des inneren Menschen vonstatten gehen muß. Es kann jedoch auch mißverstanden werden im Sinne der Feier des Überquellenden, eines regelrechten Kults um die Fruchtbarkeit, wie er bei Griechen, Römern und Heiden gepflegt wurde. Doch der Frühling wird jetzt von Tag zu Tag größer. Wenn die Sonne durchbricht, kann man zusehen, wie er wächst, sich ausdehnt, ganz überhandnimmt, wohin man auch schaut. Dann ist er plötzlich so groß, daß es kaum mehr zum Aushalten ist und die Brust zu zerreißen droht vor lauter Erwartung des Glücks, das kommt. Es hat keine andere Wahl als zu kommen. Diesmal muß es sich zeigen, nachdem es so oft ausgeblieben ist, entgegen aller Vorboten und Versprechungen. Jedes Jahr kündigt der Frühling ein anderes Leben an, immer ist es nah und ganz und gar neu. Gedichte von Mädchen, die in Buchenhainen tanzen, Blicke verschenken, deren Sanftmut einem ein Heim werden könnte. Auf ihren Lippen, zwischen den Schenkeln das Wunder und dunkle Geheimnisse. Die Hoffnung hält sich bis zum Ende des Sommers, dann erkrankt sie. Es beginnt mit Schwächeschüben, wenn Dauerregen über dem Land hängt. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben. An Weihnachten ist keine Hoffnung mehr übrig. Deshalb ist es ein schreckliches Fest. Schon längst trösten die Geschenke über nichts mehr hinweg.

Der Specht hämmert eine weitere Salve aufs Holz. Hinten im Dickicht, zwischen Geäst, Büschen, erscheint etwas wie die Gestalt einer Frau: entblößte Schultern, langes Haar. Schrecken, als wäre ein Tier aufgesprungen. Wenn dort tatsächlich eine Frau ist, kaum bekleidet, wozu würde sie einen hinreißen, der allein hier herumspaziert in aller Herrgottsfrühe? Unausdenkliches könnte geschehen. Doch es ist ein Trugbild. Schon löst es sich auf, kippt zurück in den undurchdringlichen Grund, der es freigegeben hat. Man kann nicht ausschließen, daß sich fremdartige Wesen dort aufhalten, ehe der Tag beginnt. Daß sie ein schmales Fenster zwischen Raum und Zeit nutzen, um in verschiedenen Richtungen ein- und auszusteigen, ihre angestammte Sphäre zu erweitern, andere Gelände zu erkunden. Das Lateinbuch ist voller Bilder von Dryaden, Nymphen, den Hüterinnen der Eichbäume, die den Hirten erschienen sind, Götter verwirrten, heilloses Durcheinander anrichteten. Sie konnten auch Sterbliche lieben, wie Eurydike Orpheus, den größten der Dichter. Und den Tod finden durch einen Schlangenbiß. Dann blieb Verzweiflung zurück, nichts als Verzweiflung. Auf ihr wuchsen Verse vollkommenen Unglücks.

Manchmal gehen auch Küchenmädchen dort spazieren. Die meisten von ihnen sind häßlich. Kein Vergleich mit Nymphen. So viele häßliche Mädchen wie in der Küche des Collegium Gregorianum Kahlenbeck finden sich sonst nirgends auf einem Haufen. Häßlichkeit ist ein Kriterium, das die Schwestern bei der Einstellung zu berücksichtigen haben, auch wenn das offiziell keiner zugibt. Gelegentlich rutscht aber doch eine durch das Raster, die man lieber anschaut als nicht anschaut. Derzeit gibt es zwei oder drei, die beinahe schön sind. Kaum einer aus den unteren Klassen kennt ihre Namen. Wer erfährt, wie eine von ihnen heißt, behält es für sich. Man kann nicht danach fragen, ohne sich lächerlich zu machen. Die Küchenmädchen sind sechzehn, wenn sie anfangen, achtzehn oder neunzehn, wenn sie die Hauswirtschaftsprüfung ablegen und fortgehen.

Jetzt einer von den Schönen zu begegnen wäre ein Moment, der herausgehoben bliebe in der Erinnerung bis ans Lebensende. Sie könnte lächeln. Etwas Freundliches sagen. Das Lächeln eines Mädchens am frühen Morgen wäre mehr, als man vom Tag erhoffen kann. Wenn es einem tatsächlich gegolten hätte und nicht von dummen oder albernen Gedanken in ihrem Spatzenhirn verursacht worden wäre. Neben Häßlichkeit ist Dummheit die wichtigste Einstellungsvoraussetzung. All das, um die Versuchung klein zu halten. – Aber so schlecht ist kaum ein Mensch vom Schöpfer bedacht worden, daß überhaupt nichts Liebenswertes an ihm wäre, und ein Mädchen schon gar nicht.

Vom Berg weht Tabakduft herunter, begleitet von Stimmen. Nicht zu erkennen, wer dort oben hockt, um in Ruhe zu rauchen.

Carl wechselt die Richtung, verläßt den bewaldeten Weg längs des Grabens. Auf dem Gras klingen die Schritte anders als auf dem Kiesweg, anders auch als auf der roten Asche des Sportplatzes. Das Geräusch des eigenen Gangs, als wäre es der eines Fremden, der über das Gelände pirscht, um etwas Verbotenes zu tun.

Weiter vorn wandern zwei Krähen. Halten an, schauen sich um, gehen weiter. Kehren zum Ausgangspunkt zurück. Offenbar verständigen sie sich über etwas Bestimmtes. Jetzt sehen sie zu ihm herüber, legen die Köpfe schräg, fragen sich, wer der Mensch ist, der sich dort nähert, überlegen, was sie von ihm halten sollen, unter den Rücksichten, die Krähen haben. Eine plustert sich auf, die andere hüpft weiter.

Er flüstert: »Hört, ihr Vögel, was ich zu sagen habe, ich meine es gut mit euch, ihr könnt mir vertrauen. Weder werde ich euch verraten noch ausliefern, nicht eine Feder soll euch gekrümmt werden. Ich bin keiner von denen, die eure Nester samt Brut aus den Kirchtürmen werfen. Wir können Freunde werden. Ihr verratet mir etwas von den Geheimnissen der Luft, und ich zeige euch, wo es auch im Winter reichlich zu fressen gibt.«

Die eigene Stimme allein im Morgendunst. Aus den gekippten Kellerfenstern der Schwimmhalle steigt Wasserdampf.

Die Krähen verstehen nichts oder sind stur, springen auf und fliegen davon.

Zwei

Schwester Eugenia muß als Heilige angesehen werden, auch wenn sie nicht wundertätig ist, höchstens im Verborgenen, darüber läßt sich nur mutmaßen.

»Du hast sehr schlecht geübt letzte Woche«, sagt sie. »Die Tonleiter konntest du nicht, und weder beim Czerny noch mit der Clementi-Sonatine bist du vorangekommen. Wenn ich über den Flur gegangen bin, hast du entweder herumgeklimpert oder es war still im Übungsraum. Dienstag und Donnerstag bist du überhaupt nicht hier gewesen. Oder warst du krank?«

Eine Heilige ist eine Frau, die ihr Leben ganz und gar Gott verschrieben hat. Die Liebe zum Herrn füllt sie vollständig aus. Der Preis, den sie dafür zahlen muß, kümmert sie nicht. Sie hat Seinen Ruf an ihr Herz gehört und ist ihm gefolgt.

Carl schüttelt den Kopf. Er belügt Schwester Eugenia ungern.

»Du bist jetzt so alt, daß ich nicht mehr schimpfe, aber ich kann auch nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.«

Er schweigt.

»Es ist sehr undankbar deinen Eltern gegenüber, daß du dir gar keine Mühe gibst. Deine Eltern müssen hart arbeiten, um den Unterricht zu bezahlen. Für sie wird es eine große Enttäuschung sein, wenn sie beim Konzert feststellen, daß du keine Fortschritte gemacht hast. Oder möchtest du nicht mehr Klavierspielen lernen?«

»Doch.«

»Ohne Üben geht es aber nicht.«

Sie schaut trotz allem nicht ärgerlich.

»Ich weiß.«

Schwester Eugenias wasserblaue, rosa geränderte Augen mit den immer noch blonden Wimpern liegen tief im von bleicher, sehr fein gefalteter Haut überzogenen Gesicht. Eine winzige Person mit in die Länge gezogenem Kopf, das Haar bis auf eine einzelne Strähne von einem Schleier bedeckt, die Schultern eingesunken. Wenn sie keine Heilige wäre, würde man sie nicht ernst nehmen. Aus dem weiten Ärmel des schwarzen Habits ragt der knochige Unterarm, die Hand ist nach vorn gekippt. Manchmal unterstreicht der Zeigefinger das, was sie sagt. Ihre Gelenke sind knotig von Gicht oder Rheuma. Deshalb spielt sie nur selten vor, wie ein Stück klingen muß.

»Warum strengst du dich denn nicht an, kannst du mir das verraten?«

Carl schlägt die Augen nieder: weiße und schwarze Tasten, die weißen mit grauen Äderchen und Gelbstich aus echtem Elfenbein. Das Klavier ist alt, es stammt aus der Zeit, als man noch Großwildjäger werden konnte.

Er zuckt mit den Achseln.

»Wenn man fleißig übt, hat man doch viel mehr Freude an der Musik.«

Eine Heilige sorgt sich nicht um sich selbst. Ihr eigenes Leid ist ihr gleichgültig, statt dessen erleichtert sie die Beschwernisse der anderen. Das Gute, das ihr widerfährt, nimmt sie als Geschenk des Herrn in Dankbarkeit an. Alles Übel ist ihr eine verdiente Strafe, die sie klaglos trägt, oder eine Prüfung, die sie bestehen wird. Tag für Tag muß sie sich in Anfechtungen bewähren, dem Satan und seiner List widersagen. Je öfter sie ihm die Stirn geboten hat, desto heimtückischer werden seine Versuche, sie zu Fall zu bringen. Mit jedem Sieg, den sie davonträgt, steigt der Wert ihrer Seele. Weil sie alle Zeit auf Gott vertraut, ist sie ohne Furcht. Beschimpfungen und Marter kümmern sie nicht. Selbst den Tod achtet sie gering. Für den Herrn ihr Leben herzuschenken, wäre die höchste Ehre: Gold, das im Feuer geläutert wird, bis alle Schlacken ausgeschmolzen sind.

»Wissen Sie, Schwester, wir haben so viel für die Schule zu lernen im Augenblick. Vor allem in Latein … Herr Krantz ist sehr streng. «

»Das muß er sicher auch sein.«

Der Märtyrertod ist Schwester Eugenia nicht vergönnt gewesen, obwohl sie vierzig Jahre im brasilianischen Regenwald zugebracht hat, um den Heiden die frohe Botschaft zu verkünden. Vor acht Jahren, mit siebzig, mußte sie nach Deutschland zurückkehren, weil das tropische Klima sie zusehends geschwächt hat. Eigentlich nehmen Heilige keine Rücksicht auf die Gebrechen des eigenen Leibes. Vielleicht war die Gesundheit nur ein vorgeschobener Grund, weil die Generaloberin Schwester Eugenia nicht sagen wollte, daß sie ihre Aufgaben seit längerem nicht mehr erfüllt hat. Im Urwald braucht man mehr als die äußerste Kraft, die einem erwachsenen Menschen zur Verfügung steht. Schwester Eugenia hat die Weisung der Generaloberin in Ergebenheit und Gehorsam angenommen, wie sie es in den Gelübden versprochen hat.

Im Gregorianum wird sie keine Gelegenheit bekommen, Blutzeugin zu werden.

Carl glaubt Wehmut herauszuhören, wenn sie von der Zeit im Urwald erzählt. Trotz aller Gefahren wäre sie lieber dort und würde Kartoffeln schälen, Kleider flicken, statt hier, wo es kalt ist und genauso oft regnet wie im Dschungel, lustlosen Jungen das Klavierspiel beizubringen.

»Die Kinder in Brasilien waren dankbar, daß sie etwas lernen durften. Deshalb haben sie sich immer angestrengt. Für sie ist es nicht selbstverständlich gewesen, eine Schule zu besuchen. Manche sind tagelang erst mit dem Kanu und dann zu Fuß durch den Urwald gekommen, um bei uns zu sein.«

»Haben sie auch besser Klavier geübt?«

»Das hätten sie bestimmt, wenn ihnen eure Möglichkeiten geboten worden wären. Aber wir hatten keine fünfundzwanzig Übungsräume, sondern nur das kleine Harmonium in der Kirche, das im Gottesdienst und in der Musikstunde gespielt wurde. Für den Harmoniumunterricht gab es zwei Plätze, und die, die sie bekommen wollten, mußten besonders tüchtige und zuverlässige Mädchen sein.«

Außer den Indios in ihren abgelegenen Dörfern gab es auch Goldsucher, Holzfäller, Nachkommen entlaufener Sklaven und Abenteurer. Sie ließen Frauen mit Mischlingskindern zurück, die niemanden hatten, der für sie sorgte. Schwester Eugenia erzählt von weißen Männern, deren schlechter Lebenswandel den Menschen in ihrer Umgebung schwere Lasten aufgebürdet hat, von Indios, die durch deren Geldgier angesteckt wurden. Ganz allgemein benehmen sich die Weißen schrecklicher als die Eingeborenen. Trunksucht ist weit verbreitet, viele sterben daran, direkt oder infolge der Gewalt, die im Rauschzustand schnell ausbricht. Alle tragen immer Waffen, weshalb die Zahl der Waisen hoch ist. Oft sind die Mütter selbst noch halbwüchsig. Die Schwestern des göttlichen Erbarmens geben vielen von ihnen Arbeit auf der Station. Voraussetzung ist, daß sie sich an Regeln und Gebote halten. Sonst geht es nicht lange gut in einer Gemeinschaft. Schwester Eugenia bringt den Kindern Lesen, Schreiben und Rechnen bei, den Mädchen auch Handarbeit. Sie sollen aus ihrem Leben etwas machen. Von Pater Ruppert lernen sie, wie man Feldfrüchte anbaut, Möbel schreinert, eine Steinmauer setzt. Natürlich geht es bei alldem hauptsächlich um die Errettung der Seelen vor Verdammnis und Hölle. Aber Schwester Eugenia spricht nie davon, wie sie das Evangelium verkündet hat. Die Predigt ist Sache des Paters. Es gehört sich nicht für eine Frau vor der Gemeinde zu reden, wie der Apostel Paulus sagt. Das gilt auch für eine Schwester, selbst wenn sie sich durch ihre Gelübde keinem Ehemann unterworfen hat, sondern Christus direkt untersteht, der das Haupt des Mannes ist, wieder Mann das Haupt der Frau ist. Eigentlich steht sie in ihrem Verhältnis zu Christus also fast auf der gleichen Stufe wie ein Mann. Sie darf trotzdem nicht predigen, so wie Mädchen in Henneward nicht Meßdiener werden dürfen.

Schwester Eugenia studiert mit dem Chor Psalmen, Choral und mehrstimmige Sätze für den Gottesdienst ein. Diese Aufgabe ist ein großes Geschenk: »Wer einmal gehört hat, wie am Karfreitag mitten im Urwald unser Chor O Haupt voll Blut und Wunden singt«, sagt sie, »wird in seinem Leben nie wieder die Hoffnung verlieren.«

Carl stellt sich die kleine schwarze Gestalt mit dem krummen Rücken vor, der kein Buckel ist, eher das Ergebnis allmählicher Verformung durch die Feuchtigkeit und das Kreuz, das eine Heilige zu tragen hat, um dem Herrn ähnlich zu werden, wie sie über den staubigen Platz eilt, ringsum gewaltige Tropenbäume, Mahagoni und Kautschuk, in deren Wipfeln bunte Frösche, riesige Käfer und Würgeschlangen leben. Dazu das immerwährende Geschrei der Affen und Papageien. Nachts brüllt der Jaguar. Schwester Eugenia marschiert vorwärts, mit unbeirrbarem Gang, die Augen gerade auf das Ziel oder den Boden gerichtet.

So interessant die Indianer sein mögen, nackt im Fluß oder mit Blasrohren auf der Jagd, und selbst wenn ihre Welt dem Paradies zum Verwechseln ähnlich sieht – als Ungetaufte und ohne Glauben an den wahren Gott zählen sie doch zu den bedauernswertesten Geschöpfen der Erde, da sie von der Erlösung durch Christus nichts wissen und ihr Dasein in Angst und Schrecken vor dem ewigen Tod fristen müssen.

»Bevor die Kinder zu Ihnen kamen, waren sie aber doch richtige Heiden?«

»Die Indios haben ihre Geister, denen sie Opfer bringen. Manche lassen sich taufen. Oder sie nehmen den Glauben an Christus an, solange sie auf der Station sind, und wenn sie in den Dschungel zurückkehren, wenden sie sich wieder den Geistern zu.«

»Das ist dann noch schlimmer, als wenn sie sich gar nicht erst bekehrt hätten, oder?«

»Die Geister haben große Macht über die Seelen der Menschen dort. Und einige der Zauberpriester wollen natürlich nicht, daß die Leute zum Glauben an Christus finden. Sie lehnen es ab, daß sich jemand von einem weißen Arzt behandeln läßt, weil Unglück für den ganzen Stamm droht, sobald sich einer von den Göttern der Vorfahren abkehrt. Bevor sich die Menschen an einen Weißen wenden, fragen sie immer erst ihre Zauberpriester.«

Gelingt es Carl, Schwester Eugenia ins Erzählen zu bringen, ist die Stunde gerettet, auch wenn er schlecht geübt hat.

»Sind das denn nicht Männer, die mit Dämonen im Bund stehen?«

»Die meisten von ihnen haben gute Absichten. Sie kennen Kräuter oder Wurzeln, die bei Verletzungen oder gegen Fieber helfen. Sie zerkauen Blätter und tragen sie auf wie Salbe oder sie kochen einen Sud. Dabei beten sie zu den Geistern um Beistand. Für die Indianer steht alles mit Geistern in Verbindung.«

Carl schüttelt den Kopf, ungläubig staunend, aber auch traurig über all die verirrten Menschen, die es auf der Erde gibt.

»Dürfen Christen sich denn auf so etwas einlassen? Ist das nicht gefährlich?«

»Manchmal ist es schon gefährlich. Es gibt sehr böse Zauberpriester, die sich dafür bezahlen lassen, Unheil anzurichten. Einmal wurde eine Frau zu uns gebracht, eine einfache, bescheidene Frau – sie war in erbarmungswürdigem Zustand: Geschwüre an Armen und Beinen, offene Stellen auf dem Rücken, Durchfall, Fieberkrämpfe, Ausfluß … Wir haben dort eine Mitschwester, die Ärztin ist, Schwester Agathe. Schwester Agathe hat die Frau gründlich untersucht, aber das Zusammentreffen so vieler verschiedener Symptome konnte sie sich auch nicht erklären. Wir mußten sie natürlich auf der Station behalten, allein schon, um die Wunden täglich zu reinigen, sonst legen Fliegen ihre Eier hinein, und später wimmelt es von Würmern. Aber trotz Jod, Penicillin und Salbe ging es der Frau mit jedem Tag schlechter. Es sah so aus, als ob sie sterben würde, wenn nicht ein Wunder geschähe. Dann kamen zwei Jäger aus einem Dorf weiter westlich. Als sie hörten, was mit der Frau passiert war, sagte einer von ihnen, daß seine Mutter schon einmal ähnliche Beschwerden gehabt habe und daß es bei ihr eben keine von den Krankheiten gewesen sei, bei denen unsere Medizin wirke, sondern daß man sie verhext habe. Nur ein mächtiger Gegenzauber könne ihr helfen. Der Zauberpriester seines Dorfes, sagte er, sei der einzige weit und breit, der die Kraft habe, die Frau zu retten. Drei Tage später erschien tatsächlich dieser berühmte Zauberpriester bei uns. Er schaute sich die Frau an und wußte sofort, daß man sie verhext hatte. Er sagte, er müsse vor Ort in ihrem Haus nachschauen, was los sei. Also sind wir mit ihm in das Dorf der Frau gegangen. Er hat alles genauestens inspiziert, Stroh und Laub aus der Hütte gefegt, und an der Stelle, wo die Frau ihren Schlafplatz hatte, fand er ein Brett. Er nahm das Brett vorsichtig ab, und darunter, in einer kleinen Mulde, hockte eine ausgewachsene Kröte, die über und über mit Nadeln durchstochen war. Aber sie lebte noch. An den Stellen, wo die Nadeln steckten, hatte auch die Frau ihre Wunden und Geschwüre. Der Zauberpriester sagte, wenn die Kröte gestorben wäre, wäre auch die Frau gestorben. Er wußte natürlich, wer diese Hexerei vorgenommen hatte. Schon ihre Lehrmeister waren erbitterte Feinde gewesen. Aber sie besaßen beide gleich viel Macht, so daß er ihn nicht unschädlich machen konnte.

Der Zauberpriester hat Gebete gesprochen, Kräuter verbrannt und die Nadeln aus der Kröte entfernt. Danach ist er für Stunden im Wald verschwunden und kam schließlich mit allerlei Blättern zurück, mit denen er die Wunden der Kröte umwickelt hat. Er sagte, sie werde bald wieder ganz gesund werden, aber bis dahin brauche sie einen geschützten Ort, deshalb nähme er sie sicherheitshalber mit.

Als wir am nächsten Tag zur Station zurückkehrten, saß die Frau schon aufrecht im Bett und aß Süßigkeiten. –

Solche Dinge sind im Urwald an der Tagesordnung.«

Drei

›Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes.‹

Die Lichterkapelle in Mariendorn riecht stärker nach Weihrauch und verbranntem Wachs als jede andere Kirche. Der Raum quillt über von Kerzen. Die Wände sind zugehängt mit Wimpeln, Fahnen, Stickereien, davor Kränze, Puppen, Statuetten, Nachbildungen von Gliedmaßen, Modelle von Häusern. Tierfiguren stehen da, Turnierpferde, ein Dackel, Kühe. An den Wänden bis hinauf zu den Fenstersimsen Gestelle voller Tafeln, Medaillen, Votivgaben aus Stein, Holz, Metall, geschnitzt, gegossen, in Blech, Kupfer, Silber getrieben, gepunzt, vergoldet, mit Edelsteinen besetzt, mit Glasperlen bestickt, Brokat, Samt.

Viele Menschen, deren Namen niemand kennt, hatten während der letzten zweihundert Jahre einen Glauben, der so stark war, daß sie von schwerer Krankheit geheilt, aus Todesgefahr errettet werden konnten.

›… und die Frucht deines Leibes, Jesus, der in uns die Liebe entzünde.‹

Oberhalb der Dankgaben ist das Schiff bis zu den Schlußsteinen mit Gestirnen und Pflanzenornamenten ausgemalt. Dazwischen Bilder und Reliefs aus dem Leben der Heiligen Jungfrau, der Kindheit Jesu. Engel, Paradiesvögel, ein Einhorn. Überall Blattgold.

›Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Frauen.‹

Carl versucht die Holzperle zwischen Daumen und Zeigefinger zu drehen, wie es die alte Bäuerin Lisbeth van Laak tut. Bei ihr sieht es aus, als hätten die Fingerkuppen Mulden. Tante Ria sagt: ›An Lisbeth van Laaks Gottesfurcht kann sich jeder ein Beispiel nehmen.‹ Er hingegen muß sich konzentrieren, damit ihm die Kette nicht aus den Fingern gleitet. Immer wieder vergißt er, ob er zu Beginn oder am Schluß der Gebetseinheit die nächste Perle schon genommen hat oder erst noch nehmen muß.

›Und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus, den du, o Jungfrau, vom Heiligen Geist empfangen hast.‹

Ein Prälat stolziert mit violetter Bauchbinde um die Soutane durch den Mittelgang, biegt nach links, verschwindet hinter schweren lilafarbenen Vorhängen im Beichtstuhl, obwohl niemand wartet.

Carl denkt an Krantz und an den Streit mit Guntram, den er gestern hatte: Guntram findet, daß es sich nicht gehört, Krantz ein ›Arschloch‹ zu nennen, wo er doch Priester ist, ein geweihter Mann. Carl bleibt dabei. Seinethalben kann es Sünde sein, einen Priester zu beschimpfen. Sünde ist auch, Unschuldige zu ohrfeigen und Schüler zu bevorzugen, weil man sie hübscher findet als andere: Frieder Mertens, zum Beispiel, ist hübsch wie ein Mädchen. Man kann ihm nichts Böses wollen als Lateinlehrer, selbst wenn er sich weder um Hausaufgaben schert noch Vokabeln lernt. Aber ganz gleich wie weibisch Frieder wirkt: Kaum etwas ist weiter von einem Mädchen entfernt als ein Junge. Unfaßbar, daß ein Priester von sechzig Jahren solchen Täuschungen aufsitzt.

Wirklich mit einem echten Mädchen zusammen zu sein, wäre das Höchste. Das, was jede Vorstellung übersteigt: mit Regina Seegers. Oder mit dem Küchenmädchen, das er in letzter Zeit oft von fern bei der Essensausgabe sieht und deren Namen er nicht kennt. Wenn sie mit ihm reden, wenn sie sich in ihn verlieben würde, eines Tages, das wäre auch ein Wunder, ein Beweis für die unendliche Güte Gottes, der alles in Händen hält und niemanden vergißt.

Doch da er einen so geringen Glauben hat, ist es sinnlos, sich an die Heilige Jungfrau zu wenden. Zumal dieses Anliegen vielleicht sogar falsch ist, wenn man dem folgt, was Spiritual Krohkes und Präses Roghmann über Frauen und Liebe sagen: ›Die Lust vergeht, der Ekel bleibt.‹

Er stellt sich die Bildtafel vor, die er stiften würde, wenn sein Gebet erhört würde. Allein die Tatsache, daß einer Gott im Gebet um etwas bittet, beweist doch, daß er glaubt. Vielleicht reicht das für die Größe eines Senfkorns. Für einen Punkt im Unterschied zu keinem Punkt. Er bewegt die Lippen: ›Unsere Mittlerin, unsere Fürsprecherin: Kannst du nicht bewirken,heilige Maria, Mutter Gottes, daß ein Mädchen, das zu mir paßt und dem ich gut wäre als Freund, sich mir zuwendet. Oder Regina. Es ist mein einziger Wunsch. Du bist gebenedeit unter den Frauenund gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus, den du, o Jungfrau, zuElisabeth getragen hast.‹

Er weiß nicht, wie viele,den du, o Jungfrau, zu Elisabeth getragen hast, er gebetet hat, ohne mit dem Herzen dabei zu sein und ohne die Perle zu wechseln. Er sollte von vorn anfangen, zumindest mit diesem Gesätz. Streng genommen kann er mit allem von vorn anfangen. Es würde nichts nützen, weil es auch nach einem Neuanfang kein bißchen besser ginge. Er schaut auf das Silberkreuz, das die Enden der Schnur zusammenfaßt. Betrachtet den ausgemergelten Körper des Herrn, der lebensecht modelliert ist und gerade so groß wie eine Filzstiftkappe.

›Jesus, Sohn Gottes, erbarme dich unser.‹

»Bart und ich gehen schon mal«, flüstert Deggendorf. »Wir treffen uns nachher im Gasthaus Meier.«

Carl nickt.

Um halb fünf sind alle ins Gasthaus Meier zu Würstchen mit Kartoffelsalat eingeladen, weil Markus Meiers Eltern wollen, daß ihr Sohn beliebter wird. Voriges Jahr sind sie an seinem Geburtstag mit ihrem Lieferwagen angerückt und haben im Gruppenraum ein Schweinshaxenessen für die Klasse veranstaltet. Es war das beste Essen, das es je in Kahlenbeck gab, aber herausgekommen ist, daß der fette Meier seitdem erst recht als Schleimer gilt, der seine Eltern dafür bezahlen läßt, gemocht zu werden.

Wenn Carl fertig ist mit dem Rosenkranz, den er um der Liebe willen gelobt hat, wird er allein durch die Stadt gehen, obwohl sie Kleingruppen bilden sollen. Er kennt sich aus in Mariendorn. Seine Hauptsorge ist, Bart und Deggendorf könnten finden, daß er es übertreibt mit der Frömmigkeit. Vielleicht ist er ihnen peinlich wie Opgenhoff vom Schülergebetskreis »Laudate«, der angeblich sogar seine Hausaufgaben mit ›In nomini patris et filii et spiritui sancti‹beginnt.

Carl sieht sich selbst nicht als fromm an.

›… den du, o Jungfrau, zuElisabeth getragen hast.‹

Er war sieben, als er zum ersten Mal auf die Wallfahrt gegangen ist. Seit Tante Ria ihm die Geschichte der Marienerscheinung erzählt hat, wollte er dorthin: Am frühen Morgen des 7. Mai im Jahr 1801 führte Gerrit Winkels, der neunjährige Sohn des Tagelöhners Adalbert Winkels und seiner Frau Maria, die Kuh, die der kostbarste Besitz der Familie war, am Waldrand nahe der kleinen Bauernsiedlung Mariendorn zum Grasen. Gerrit fror, denn die Winterkälte hielt sich lange in diesem Jahr und seine Kleider waren zerlumpt. Plötzlich sah er wenige Meter vor sich über einem Felsen ein helles, überirdisch schönes Licht. Aus diesem Licht sprach eine Stimme, so liebreizend, daß Gerrits Herz allein von ihrem Klang mit Freude erfüllt wurde: »Hab keine Angst, Gerrit, mein Kind, ich bin die Beschützerin der Armen.«

Während sie sprach, sah der Junge, wie ihre reine und vollkommene Gestalt immer deutlicher aus dem Glanz der himmlischen Herrlichkeit hervortrat, bis sie ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand: »Ich bin gekommen, um die zu trösten, deren Herz rein ist, und die zu ermahnen, die in Sünde verstrickt sind.«

Im trauten Zwiegespräch eröffnete die Jungfrau Maria ihm Geheimnisse über die Zukunft, die er nur dem Bischof persönlich weitergeben durfte, Weissagungen, die mit bevorstehenden Umwälzungen und Kriegen zu tun hatten und später allesamt in Erfüllung gingen. Bevor sie entschwand, trug sie ihm auf: »Bauet mir über dieser Quelle ein Bethaus und fleht ohne Unterlaß um den Beistand des Heiligen Geistes, damit ihr in den Schrecken der kommenden Zeit nicht den Glauben verliert. Das Wasser aber soll euch eine Stärkung sein in jeder Not und Gefahr.«

Tatsächlich sprudelte dort, wo sie gestanden hatte, ein Rinnsal aus dem Felsen. Das Wasser war klar und rein und von beinahe süßem Geschmack. Die Quelle bewies, daß das, wovon Gerrit zunächst seinem Beichtvater, dem Pfarrer Konrad Eykendorp erzählte, wahrhaftig eine Erscheinung der Heiligen Jungfrau und nicht etwa die Phantasterei eines verwirrten Kindes gewesen war. Der Bischof erklärte bereits nach wenigen Monaten, daß es sich bei der Begegnung des Knaben Gerrit Winkels mit der Gottesmutter im Wald nahe Mariendorn tatsächlich um ein übernatürliches und verehrungswürdiges Ereignis gehandelt habe, das aller Welt als eine Barmherzigkeit offenstehe.

Seitdem riß der Pilgerstrom nicht ab, und ebensowenig wie die Quelle zu sprudeln aufhörte, versiegte die Wunderkraft des Ortes. Äbte, Erzbischöfe, Kardinäle aus aller Welt kamen, um der Jungfrau von Mariendorn die Ehre zu erweisen. Am letzten Heimfahrtswochenende hat Tante Ria Carl einen Artikel in der Pilgerzeitschrift gezeigt. Darin hieß es, daß der Papst sich über das Anliegen der Mariendorner, endlich die Seligsprechung von Gerrit Winkels zu erwirken, sehr positiv geäußert habe. Angeblich plante er sogar, selbst Mariendorn zu besuchen.

Eine Zeitlang hat Carl sich, wenn er allein durch die Gegend zog, gewünscht, auch einer solchen Erscheinung für würdig befunden zu werden. Er hat darum gebetet und sich im selben Moment geschämt. Trotzdem erschrak er jedesmal, wenn unerwartet Sonnenstrahlen durch die Baumkronen brachen oder wenn er von einem spiegelnden Stück Abfall im Unterholz geblendet wurde.

Am Vorabend der Wallfahrt hat Tante Ria ihm immer Kartoffelpuffer gebraten, und er durfte neben ihr in dem mächtigen Doppelbett schlafen, wo bis vor zwanzig Jahren ihr Mann gelegen hatte. Am nächsten Morgen standen sie um sechs an der Bundesstraße und warteten auf den Pilgerbus. Manchmal dauerte das Warten lange, und das Wetter war schlecht, so daß er fror, wie Gerrit Winkels in seinen zerrissenen Hosen vor fast zweihundert Jahren beim Hüten der Kuh. Carl war das einzige Kind zwischen älteren, alten und uralten Frauen, und außer Pastor Hünermann und dem Fahrer gab es keine Männer im Bus.

Von der Gnadenkapelle aus sind sie in die Basilika gegangen und haben der heiligen Messe beigewohnt, die in Mariendorn auch an Werktagen feierlich ist wie zu Hause nur an Hochfesten. Danach sind sie in einer Pilgergaststätte eingekehrt, und Carl durfte sich aussuchen, was er essen wollte. Er bestellte immer Zigeunerschnitzel mit Pommes frites. Anschließend wohnten sie einer Dankandacht mit Aussetzung des Allerheiligsten in der Lichterkapelle bei, und am Ende zogen alle gemeinsam Meerstern ich dich grüße singend zur neu errichteten Zapfstation für die Pilger, um so viel Wasser, wie sie eben tragen konnten, aus der gesegneten Quelle abzufüllen. Allen, die zu Hause hatten bleiben müssen, wurde Wasser aus Mariendorn mitgebracht.

›…Jesus, den du, o Jungfrau, in Bethlehem geboren hast.‹

Er hat Hunger. Trotz der Käsestullen, die bei der Ankunft verteilt wurden. Hunger und Durst – Lust auf Cola.

Bruder Walter und seine Tutoren, Eging und Bronkhorst, marschieren durch den Mittelgang vor in die erste Reihe, knien sich in die Bank direkt beim Tabernakel, als hätten sie nie das Evangelium gehört, in dem Jesus die Pharisäer zurechtweist,