Selfie mit Sheikh - Christoph Peters - E-Book

Selfie mit Sheikh E-Book

Christoph Peters

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Beschreibung

Was fasziniert uns an der Lebenswelt, Mentalität und Kultur des modernen islamischen Orients - und was erschreckt uns an ihr? Wie sehr verstehen wir sie - und wie sehr bleibt sie uns fremd? Inwieweit gelingt es uns, uns auf sie einzulassen und in sie einzutauchen? Und inwieweit bleiben wir gefangen in unseren westlichen Projektionen und Vorurteilen?

Immer wieder hat Christoph Peters in seinen Büchern die Berührungspunkte und Reibungsflächen der westlichen Welt mit anderen gesellschaftlichen und spirituellen Traditionen ausgelotet. Vor allem die Schnittstellen von Orient und Okzident, von Überlieferung und Moderne beschäftigen ihn zutiefst, die Faszinationskraft wie die Verstörung, die von der Begegnung mit zunächst fremden Lebens- und Denkweisen ausgehen.

Auf beeindruckende Weise umkreisen Christoph Peters‘ Erzählungen diese Themen in immer neuen Facetten. Die Geschichten dieses Bandes spielen teils in Deutschland, teils in Ländern des Nahen und Mittleren Ostens, die Christoph Peters in den vergangenen Jahren intensiv bereist hat: in Pakistan, Ägypten, Saudi Arabien oder der Türkei. Wie kaum ein anderer deutschsprachiger Autor lässt uns Christoph Peters in seinen Erzählungen eintauchen in eine manchmal unergründliche, manchmal verstörende, manchmal komische und gelegentlich auch überraschend vertraute Welt jenseits des Abendlands.

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Seitenzahl: 270

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Buch

Was fasziniert uns an der Lebenswelt, Mentalität und Kultur des modernen islamischen Orients – und was erschreckt uns an ihr? Wie sehr verstehen wir sie – und wie sehr bleibt sie uns fremd? Inwieweit gelingt es uns, uns auf sie einzulassen und in sie einzutauchen? Und inwieweit bleiben wir gefangen in unseren westlichen Projektionen und Vorurteilen?

Immer wieder hat Christoph Peters in seinen literarischen Werken die Berührungspunkte und Reibungsflächen der westlichen Welt mit anderen gesellschaftlichen und spirituellen Traditionen ausgelotet. Vor allem die Schnittstellen von Orient und Okzident, von Überlieferung und Moderne beschäftigen ihn zutiefst, die Faszinationskraft wie die Verstörung, die von der Begegnung und Auseinandersetzung mit zunächst fremden Lebens- und Denkweisen ausgehen.

Auf beeindruckende Weise umkreisen Christoph Peters’ Erzählungen diese Themen in immer neuen Facetten und Spiegelungen. Die Geschichten dieses Bandes spielen teils in Deutschland, teils in Ländern des Nahen und Mittleren Ostens, die Christoph Peters in den vergangenen Jahren mehrfach intensiv bereist hat: in Pakistan, Ägypten, Saudi Arabien oder der Türkei. Wie kaum ein anderer deutschsprachiger Autor vermag es Christoph Peters in seinen Erzählungen unsere uralten Ängste und oftmals naiven Projektionen zu durchdringen, und er lässt uns eintauchen in eine manchmal unergründliche, manchmal verstörende, manchmal komische und gelegentlich auch überraschend vertraute Welt jenseits des Abendlands.

Autor

Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar geboren. Er ist Autor zahlreicher Romane und Erzählungsbände und wurde für seine Bücher mehrfach ausgezeichnet. Christoph Peters lebt heute in Berlin. Zuletzt erschien von ihm bei Luchterhand der Roman »Der Arm des Kraken« (2015).

CHRISTOPH PETERS

Selfie mit Sheikh

Erzählungen

Luchterhand

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Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2017 Luchterhand Literaturverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Umschlaggestaltung: buxdesign GbR

Umschlagmotiv: plainpicture/Design Pics/Diane Levit

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-20373-3V002

www.luchterhand-literaturverlag.de

Für Sheikh Eşref Efendi, ohne den ich noch immer glauben würde, ich verstünde irgendetwas.

Inhalt

Urzustände, erste Menschen

Fast bis nach München

Grüße von Yunus

Pistolen

Konterrevolution

Beim Barte des Propheten

Der kleine Derwisch

England!

Rote Zone

Das Schwere und das Leichte

Strandidyll mit Fremdem

Schwarzmilane

Teppichwerkstatt

Die Mutter aller Schlachten

Dank

Urzustände, erste Menschen

Sagen wir, es ist nichts da, wie immer vor dem Anfang nichts da ist, wüst und leer, die Szenerien in abwesendem Licht, das keine Dunkelheit kennt, darüber Schwebezustände des Unbekannten. Jede Möglichkeit kann verwirklicht werden, auch wenn nirgends Raum ist, nicht Himmel, nicht Erde, weder Land noch Wasser, aber es wird geschieden auf der ebenen Fläche, die sich ausdehnt – waagerecht und senkrecht, horizontal und vertikal: hell von dunkel, Schärfe von Unschärfe, Farbe von Nicht-Farbe, Materie von Energie von Form. Dann der Einbruch des Lichts, damit etwas in Erscheinung treten kann, im selben Moment, abgegrenzt und als solche erkennbar: Finsternis. In ihr wohnt die Furcht. Es gibt Gewölbe, oberhalb, unterhalb, Durchbrüche, Höhlungen, aufgefaltet, verkrümmt, geschichtet. Vorstufen von Landschaft, Seen, Meere, Ozeane, gefüllt mit Urstoff, aus dem sich zusammenfügen wird, was erdacht wurde, ehe das Denken begonnen hat.

Damit ist die Zeit ins Werk gesetzt, deren Anfang ebenso unvorstellbar erscheint wie ihre Anfangslosigkeit. Erst jetzt kann das Eine aus dem Anderen hervortreten, fließende Übergänge vom Vorher ins Nachher, permanenter Wandel sämtlicher Strukturen, unablässiger Austausch aller Substanzen, nirgends ein Halten. Nur innerhalb der Ausdehnung eines Punkts wäre vollständige Erstarrung noch möglich, würde nicht jeder dieser Punkte in seinen eigenen Schacht aus unendlich aufgefächerten Abgründen stürzen. Bis zum Ende, das so unvorstellbar ist wie der Anfang, wird nicht der geringste Bruchteil von etwas je wieder stillstehen.

Abend und Morgen. Erster Tag.

»Nimm einen Platz ein.«

Von hier nach dort wandert der Blick, überbrückt eine Handbreit, einen Fuß, eine Elle, zunehmend Abstände jenseits des eigenen Maßes, stößt an Ränder, setzt Markierungen, um nicht verloren zu gehen, vergewissert sich seiner selbst, schaut erstmals zurück, noch ohne Erinnerung.

Wir sind längst mittendrin. Scharf angestrahlt werfen wir Schatten in jede Richtung. Vor uns eine unbestimmte, auf wenig mehr als Mutmaßungen beruhende Vorstellung dessen, was nicht da ist, nie da war, keine Spur der Abwesenheit selbst, nur das rückblickende Bild auf die äußerste Vorvergangenheit, als die entscheidenden Anstöße gegeben wurden, aus denen all das werden sollte, was war und noch kommt.

Du, ich, wir. Ratlos, unwissend.

Wir waren nicht gut.

Dann eine Stimme.

»Sprich mit mir.«

»Ich stelle mir vor, wir wären Menschen an diesem Ort, der kein Ort ist, nur eine leichte Wölbung, eine Kuppe, die sich aus dem Uferlosen erhoben hat. Wir sind die Ersten, fortgeschafft aus dem Vorherigen, wo alles schon einmal war, uns zuliebe eingerichtet, schön anzusehen, wohlriechend, die Flüssigkeiten von süßem Geschmack, wohlgestaltete Wesen, uns und einander freundlich gesonnen. Hier aber sind die Verhältnisse anders.«

»Nimm meine Hand.«

Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Fleisch, Haut, Haare. Fingernägel.

»Das, was ich spüre, kommt mir unbekannt vor.«

Um uns herum, hinter undurchdringlichen Schleiern, gurgeln heiße Quellen, Schlammfontänen. Schwefel tritt aus, tief darunter tektonische Verwerfungen, knirschende Platten in unaufhaltsamer Drift. Mineralien und Metalle verbinden sich, setzen weitere Kräfte frei, Kristalle, Gesteinsformationen blühen aus, bilden Stalagmiten, Stalaktiten, zerklüftete Massive. Gebirgszüge werden aufgetürmt, fallen in sich zusammen.

»Gib allen Dingen einen Namen: Calciumcarbonat, Natriumchlorid, Kupfervitriol.«

Von dort, wo der Horizont wäre, Donnergrollen, elektrische Entladungen, das Aufzucken irisierender Blitze, die vom Aufgang im Osten bis zum Untergang im Westen reichen. Unvorstellbare Atmosphäremassen werden auseinandergerissen. Für Augenblicke tun sich Zwischenräume auf, in denen Künftiges erscheint, ohne wirklich zu werden.

Wir müssen sehen lernen, hören, riechen, schmecken, fühlen, während die Formen aushärten, ihre Umrisse sich verfestigen.

Reine und gemischte Stoffe, Vorstufen von Dingen prägen Ordnungen aus, werden angezogen, abgestoßen, amalgamiert. Spaltprodukte, Zerfallsprozesse schon im Moment des Entstehens. Bitterkeit und Schärfe in dem, was »die Luft« heißt, zahlreiche Substanzen, die schlecht bekömmlich sind. Uns wird unwohl in unserer Haut, oben ist es zu heiß, unten zu kalt, links zu feucht, rechts zu trocken.

»Rechne mit dem Schlimmsten, gewöhne dich an den Gedanken von Gift.«

Nirgends ein Ausgang.

Alles was wird, spiegelt uns, wir spiegeln uns in allem. Mein Gesicht, ihr Gesicht, sein Gesicht, dein Gesicht. Einen Moment lang erkennen sie sich, erkennen wir uns, inmitten der vollkommenen Fremde, sind greifbar und eine ganze Welt voneinander entfernt, nur die Stimme, jetzt schon vertrauter, zwei Hände, die einander innewerden.

»Sag mir, in welche Richtung wir uns wenden, wo wir uns niederlassen, mit welchen Füßen auf welchem Grund, wenn alles um uns herum ungesichert ist, bevor wir es erreichen, bereits wieder aufgehört hat, zu sein, was es war.«

Wir setzen Schritte, einen nach dem anderen, zögernd, bang, auch wenn der Boden um uns herum nicht fest ist, wir den Grund unter unseren Füßen nicht kennen.

»Versuche dich zu erinnern.«

In den Rissen des Gewölbes, das wir jetzt »Himmel« nennen, scheinen immer öfter Bilder auf, die uns vertraut sind. Tropfen durchschlagen Oberflächen aus flüssigem Silber, aus Blei, breiten sich aus, darüber Luftspiegelungen unserer Herkunft, die es niemals gegeben hat. – Es hat sie gegeben.

Die Ebenen, die wir betreten, tragen zunehmend besser, wir sinken nicht länger ein bei jedem Schritt, heben den Kopf, werfen Blicke nach vorn, durchmessen die Gegend um uns herum. Hoch über uns Durchbrüche ins Schwarz, aus der Mitte des Schwarz heraus. Dorthin hat sich das Unbekannte verflüchtigt: hinter die Grenze von allem, was wir benennen können. Aber es ist da.

Wir folgen einem Weg, den es nicht gibt.

»Sag, was du siehst.«

Schnee und Rauschen, verwischte Flächen, die sich von innen her füllen, gefüllt werden, Umrisse bilden, Gestalt annehmen. Erstmals wärmendes Licht über uns. Etwas von dem, was wir »Bäume« genannt haben, bricht durch vorgelagerte Flächen. Berge und Täler.

»Weißt du noch?«

Wurzeln durchziehen das feuchte Erdreich. Äste und Zweige verflechten sich mit atmosphärischen Rinnsalen. Es wächst, treibt aus, ergrünt. Jedes Blatt findet seine Negativform. So stellt sich die Ahnung ein, was ein vollständiges Bild wäre. »Wald«, belebt und schattig, darin zu verweilen. Klare Wasserläufe und Sumpfkuhlen. Im Rauschen des Laubs ist klarer als irgendwo sonst zu hören, wie die Stille sein könnte. Wir werden sicherer. Was vor uns liegt, lässt sich begehen, greifen, nutzbar machen für eine Art Leben.

»Wie ein Teil von mir ist deine Hand in meiner.«

Wir müssen uns trennen und die Arbeit beginnen. So wie es ist, kann es nicht bleiben, dafür sind wir zu fremd. Wir nehmen alles, was vor uns liegt, in Besitz. Wenn es nicht reicht, legen wir Knüppeldämme, dorthin, wo es weder vor noch zurück gibt, und holen, was fehlt. Tag für Tag schöpfen wir Wasser in löchrige Fässer, bis die Sümpfe trockengelegt sind. Aus den Stämmen der Bäume bauen wir ein Haus, gedeckt mit Schindeln von gebranntem Ton, zum Schutz vor den Welten, die noch immer über unsere Köpfe hinwegziehen. So lernen wir die Erschöpfung kennen, die Müdigkeit und nennen sie »rechtschaffen«. Wenn die Nacht kommt, hüllen wir uns in Decken aus gestampftem Tierhaar, das wir von scharfen Rinden, von Dornbüschen gesammelt haben, und frieren nicht mehr. Unter dem Schutz des Dachs wird auch die Furcht vor dem Dunkel am Ende verschwinden.

»Schließ jetzt die Augen.«

Was dann folgt, nennen wir Schlaf.

Fast bis nach München

Glasklarer Nachthimmel. Die Temperaturen fallen schnell, seit die Sonne untergegangen ist. Feierabendverkehr. Untergebene und Vorgesetzte in großen und kleinen Fahrzeugen auf dem Weg zu Hochhaussiedlungen, Stadtrandvillen. Anschwellende Motorengeräusche, sobald die Fußgängerampel auf Rot springt. Der Luft lässt sich nichts entnehmen außer: Es ist Winter.

Er hat eingekauft, wie gestern und vorgestern: fünf Kilo Reis, fünf Kilo Mehl, drei Kilo Zucker, acht Packungen Nudeln, Linsen, getrocknete Bohnen, Kartoffeln, Kaffee, Tee, Salz. Eine Stange Zigaretten. So viel, wie er in zwei Stoffbeuteln und einem Rucksack tragen kann.

Bis jetzt weisen die Regale im Supermarkt keine Lücken auf. Weder bei Grundnahrungsmitteln noch bei Süßigkeiten, Seife, Toilettenpapier. Die Kassiererin fand seine Auswahl und Mengen normal, als sie die Preise eintippte.

»Hundertachtundzwanzigvierunddreißig.«

Auch wenn niemand hinter ihm stand, den er kannte, hatte er sich mit dem Einpacken beeilt und versucht, möglichst unaufgeregt zu wirken.

Es ist Unsinn, all dies Zeug in der Wohnung zu horten. Wahrscheinlich wird er außer den Zigaretten nichts davon brauchen. Sollte es anders kommen, wird es nicht reichen. Es ist im Prinzip unmöglich, genügend große Vorräte anzulegen. Und wie soll er in seiner Wohnung im sechsten Stock eines Hochhauses Reis, Kartoffeln, Linsen garen, wenn der Strom ausgefallen, die Wasserversorgung zusammengebrochen ist?

Nichts dergleichen wird geschehen.

Etwas wie Übelkeit im Kopf.

An der Straßenbahnhaltestelle drängen sich die Menschen unter das Dach des gläsernen Wartehäuschens, obwohl es weder regnet noch schneit. Zu große Nähe von Fremden, deren Gesichter ihm lose bekannt sind. Verschiedene Sorten Atem: Knoblauch, Bier. Der Geruch von Mottenkugeln. Er stellt seine Taschen nicht ab, damit niemand versehentlich dagegentritt.

Ein südländisch aussehender Mann Mitte zwanzig schiebt sich an ihm vorbei. Seine Bewegungen wirken fahrig. Er hat zwei Rucksäcke: einen sandfarbenen in der Hand und einen olivgrünen über der Schulter. Schwarze Augen, schwarzes Haar. Senkt den Blick, zieht sich in den hintersten Winkel des Häuschens zurück, wendet sich ab. Einen Bart trägt er nicht. Es wäre idiotisch, in diesen Tagen einen Bart zu tragen, wenn man tatsächlich etwas geplant hätte. »Wir werden euch treffen, wo immer ihr seid!« haben sie angekündigt. Laut Einschätzung der Fernsehexperten sind es ernst zu nehmende Drohungen. Was bedeutet es, dass der Fremde nicht raucht, obwohl er nervös ist? – Was hieße es, wenn er rauchen würde?

Zwei Rucksäcke bei einem Mann mit arabischen Zügen, der nicht in dieser Gegend wohnt, müssen an einer Straßenbahnhaltestelle zur Hauptverkehrszeit noch kein Indiz sein, aber wenn einer die Absicht hätte, viele Menschen, mit oder ohne sich selbst, in den Tod zu reißen, wäre es eine einfache Möglichkeit. Auch fährt die Straßenbahn direkt an den Barracks vorbei, keine zehn Meter von den Kontrollposten entfernt.

Der Mann wühlt in den Innentaschen seiner viel zu dünnen Segeltuchjacke, zieht einen Zettel heraus, versucht im Halbdunkel zu lesen, beugt sich tiefer in die Ecke, vielleicht wegen des Lichts, vielleicht, weil niemand sehen soll, was dort notiert ist, in welcher Schrift.

Es sind zwei Stationen bis nach Hause. Fünfzehn Minuten zu Fuß – wenn er schneller geht, zwölf.

Er schaut die Gleise entlang. Noch ist die nächste Bahn nicht in Sicht. Spürt dem Gewicht der Taschen in seinen Händen nach.

Denkt: »Es herrscht Stille«, aber es herrscht keine Stille: Der Abstand zwischen ihm, eingeschlossen in seinen Kopf, und all dem anderen außerhalb ist durch einen unbestimmbaren Schrecken gegen unendlich gewachsen, zu groß für jedes Geräusch.

Der Mann holt jetzt doch eine Zigarette aus der Jackentasche, ohne die Packung herauszunehmen. Seine Hand ist zittrig, als er sie zum Mund führt, das Feuerzeug entzündet.

Es ändert nichts.

So wie es Unsinn ist, das ganze Zeug zu kaufen, das er gekauft hat, ist es Unsinn, die schweren Taschen durch die Eiseskälte zu Fuß nach Hause zu tragen, nur wegen eines beliebigen jungen Mannes von im weitesten Sinne orientalischem Äußeren.

Mit zwei Rucksäcken.

Den er noch nie in dieser Gegend gesehen hat.

Vielleicht hilft Gehen oder die Luft aus dem Osten, die hart und klar ins Gesicht schlägt. Er atmet durch. Sieht die Bahn in die Straße biegen. Denkt: »Es ist völlig absurd.«

Setzt sich in Bewegung.

Nachlassende Anspannung, unmittelbar gefolgt von Scham.

Rechts beginnen die Villen der Ärzte, Anwälte, Vorsitzenden, geschützt von blickdichten Zäunen, immergrünen Hecken. Niemand außer ihm ist zu Fuß unterwegs. Kahle Bäume als Schattenrisse, vereiste Rasenflächen. Er geht vorbei an längs der Straße abgestellten Zweitwagen, nach Farben sortierten Mülltonnen. Die Abstände zwischen den Laternen vergrößern sich. Ein Hund bellt. Die Griffe der Einkaufstaschen schneiden ins Fingerfleisch. Er erhöht die Schrittfrequenz. Gegenüber zwischen hohen Kiefern der unbeleuchtete Spielplatz für die amerikanischen Soldatenkinder, gefolgt von einem umzäunten Basketballfeld. Daneben, unter Tarnnetzen kaum zu erkennen: ein Schützenpanzer. Sein Maschinengewehr ist auf die Straße gerichtet.

Er kreuzt die Schusslinie, fragt sich, ob jemand im Innern des Panzers ihn jetzt im Fadenkreuz hat, durch die Vergrößerung, den Restlichtverstärker klar identifizierbar als ein Mensch, von dem aktuell keine Gefahr ausgeht. Die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos erfassen schwer bewaffnete Posten. Alle dreißig Meter stehen sie, immer paarweise in Wintercamouflage, dunkelgrau-mittelgrau-schneegrau, bewachen ihre eigenen Wohnanlagen, Frauen und Kinder. Eine Garnisonsstadt im Land der ehemaligen Feinde, das von ihren Vätern und Großvätern befreit wurde, sechsundvierzig Jahre ist das her: Play it again, Sam. Schusssicher ausstaffierte Körper, als wären es Muskelberge. Hochgeschnürte Stiefel. MPs, beidhändig vor dem Bauch im Anschlag. Möglicherweise Granaten am Gürtel. Im Schatten der Stahlhelme keine Gesichter. Die Kriegsroboter der Zukunft werden so aussehen.

Von hinten das Geräusch der Straßenbahn. Er bleibt stehen, wendet sich um. An den Kontaktstellen zur Oberleitung spritzen Funken weg. Das Denken verlangsamt sich zu einer Bewegung in Zeitlupe. Er wird vom Lichtschein erfasst – dem keine Explosion folgt. Die Bahn rattert vorbei, dicht an dicht stehen Leute zwischen den Sitzen und im Mittelgang. Alles ist, wie es immer ist um diese Tageszeit im Januar.

Der Winter müsste nicht schrecklich sein.

Seine Hände werden fühllos unter dem Gewicht und der Kälte. Kann sein, dass er die Kontrolle über Fingermuskeln und -sehnen verliert, die Einkaufstaschen fallen lässt.

Der Scheinwerfer einer entgegenkommenden Bahn reißt einen weiteren Schützenpanzer am anderen Ende der Barracks aus der Dunkelheit. Was, wenn einer der Soldaten gestern den Bescheid bekommen hat, dass er in die Wüste verlegt wird, und den Verstand verliert? Gehen auf dem trockenen Asphalt, gelegentlich kleine Eispfützen. Die Haare wärmen den Kopf nicht, in seinen Ohren beginnt ein scharfes Ziehen, während ihm unter der Jacke Schweiß ausbricht.

Vor ihm die ersten drei der fünf Hochhäuser, in deren letztem er wohnt. Verschiedenfarbig erleuchtete Fenster: Lampenschirme, Neon, Fernsehblau. Ein Balkon, dessen Geländer noch mit Lichterketten von Weihnachten umwickelt ist.

Das erste Hochhaus, das zweite Hochhaus, das dritte Hochhaus.

Weitere körperliche Wahrnehmungen: das Schaben des Atems an den Nasenwänden; seine Lippen trocknen aus, während sich Tränenflüssigkeit in den Augenwinkeln sammelt. Satzfragmente, die sich zu keinem Gedanken verfestigen.

Die nächste Straßenbahn fährt vorbei, wiederum vollbesetzt. Er erkennt eine Nachbarin, Frau Weinreich, der er auf keinen Fall im Aufzug begegnen will, legt noch einen Schritt zu. Vorbei am vierten Hochhaus. Überquert die Straße, biegt auf den Parkplatz. Steht vor der Tür, hält kurz beide Beutel mit einer Hand, kramt den Schlüssel aus der Hosentasche, öffnet. Der Aufzug ist leer.

Im Eingang der Wohnung stapeln sich Zeitungen, Nachrichtenmagazine für die Altpapiertonne. Obenauf das Hochglanzbild einer bombenbepackten F-16, die von einem Lotsen unter riesigen Schallschützern in Startposition dirigiert wird. Auf den Lenkflugkörper unter der Tragfläche ist mit wackligem Pinsel »Stairway to Hell« geschrieben. Im Hintergrund Satellitenschüsseln, Wüstenhügel, unvorstellbar blauer Himmel.

Aus dem Wohnzimmer leuchten die Aquarien in den Flur.

Er stellt Taschen und Rucksack ab. Das Gefühl kehrt in die Hände zurück, sie schmerzen. Schaltet den Fernseher ein: Zwei Mädchen, eins blond, eins dunkelhaarig, keifen sich im Pferdestall an. Im nächsten Kanal: Pralinenwerbung, Mainzelmännchen, Ginseng-Kapseln gegen die Vergesslichkeit im Alter. Da er keinen Kabelanschluss hat, sind die Privatsender buntes Flimmern über mehr oder weniger scharfen Konturen und lautes Rauschen. Im Dritten Programm wird über die bevorstehende Wiedereröffnung der Gergesheimer Kaiserpfalz als Regionalmuseum berichtet. Er dreht den Ton weg, trägt seine Einkäufe in die Vorratskammer.

Das Regal ist beinahe voll. Um alles unterbringen zu können, muss er umschichten, zieht den Mineralwasser-, den Bierkasten, zwei Sechserkartons Rotwein aus dem untersten Fach, stapelt sie in der Küche aufeinander. Steht eine Weile vor dem Regal, zählt. Er hat siebzehn Kilo Reis, achtzehn Packungen Spaghetti – das entspricht neun Kilo –, vierzehn Kilo Mehl, zwölf Kilo Zucker, acht Pfund Kaffee, zwei Pfund Ostfriesentee. Außerdem größere Mengen verschiedener Linsen- und Trockenbohnensorten. Rechnet nach, für wie viele Tage Reis und Nudeln reichen: Wenn er von zweihundertfünfzig Gramm pro Tag ausgeht, hat er eine Basisversorgung mit Kohlenhydraten für hundertvier Tage, das Mehl nicht mitgerechnet. Das entspricht etwas mehr als drei Monaten. Vorausgesetzt, er lässt niemanden mitessen. Lächerlich, rechnet man in den Dimensionen eines Weltkriegs. Zumal er in seinem Bekanntenkreis der Einzige ist, der Vorräte angelegt hat.

Es wird nicht zu einem Weltkrieg kommen.

Er gießt sich einen Magenschnaps ein, trinkt ihn in einem Zug, zündet eine Zigarette an. Geht ins Wohnzimmer. Wirft einen Blick auf die Fische. Von seinen Schritten angelockt, schwimmen sie vorne rechts an die Wasseroberfläche, schnappen ins Leere. Er kehrt in die Küche zurück, holt aus dem Eisfach gefrorene Mückenlarven, wirft in jedes der drei Becken einen kleinen Klumpen blutrotes Gewürm.

Ein Gefühl vollkommener Unangemessenheit.

Er lässt sich auf den Stuhl fallen, schaltet zurück zum Ersten Programm.

Ein Brennpunkt: »Wir müssen davon ausgehen, wenn wir den Informationen der Geheimdienste glauben, und ich nehme an, dass man da seitens der Amerikaner verlässliche Quellen vor Ort hat«, sagt ein Generalleutnant a. D., »dass den Koalitionsstreitkräften rund 650000 feindliche Soldaten gegenüberstehen, die – und auch das darf man nicht vergessen – inzwischen genügend Zeit hatten, ihre Stellungen in der Wüste massiv auszubauen, die sind quasi in den Sand eingegraben.«

Das Telefon klingelt.

Es ist Gabi. Ihre Stimme hört sich an, als hätte sie Mühe, über den Kloß in ihrem Hals hinwegzusprechen: »Stör ich?«

»Du störst nie«, lügt er.

»Es gibt Krieg, oder?«

»Im Moment sieht jedenfalls alles danach aus.«

»Ich hab’ Angst.«

»Da bist du nicht die Einzige.«

»Es klingt vielleicht albern, aber …«

»Ich glaube nicht, dass du wirklich Angst haben musst. Jedenfalls nicht, wenn alles normal läuft.«

»Was soll normal heißen, wenn Krieg ist?«

»Ich meine, die Russen haben es abgenickt. Also, was uns hier anlangt, brauchen wir uns wahrscheinlich keine Gedanken zu machen. Vor fünf, sechs Jahren wäre das etwas ganz anderes gewesen.«

Er klemmt den Hörer unter die Wange, zündet eine weitere Zigarette an.

»Aber wenn er sein Giftgas einsetzt. Oder Bakterien – diese Milzbranderreger.«

»Nach allem, was ich gehört habe, reichen seine Raketen nicht bis zu uns.«

»Wer sagt das? – Und wer sagt mir, dass die, die das sagen, mich nicht bloß in Sicherheit wiegen wollen?«

»Ich glaube, es ist umgekehrt.«

»Wie meinst du?«

»Dass sie uns erzählen, wie riesig seine Armee ist und dass er unglaublich gefährliche Waffen hat, damit selbst die Pazifisten Panik bekommen und sagen: Gut, dann gibt es wohl keine Alternative. – So funktioniert moderne Propaganda.«

»Aber er hat doch früher schon Chemiewaffen eingesetzt. Oder glaubst du, dass die Bilder der Opfer – was waren das noch …«

»Kurden.«

»Glaubst du, dass die Fälschungen sind.«

»Nein. Wobei – sicher kann man nie sein. Es gibt sogar Leute, die behaupten, die Bilder von Armstrong auf dem Mond stammten aus Hollywood.«

»Neulich habe ich im Radio einen Rüstungsexperten gehört, der sagte, eventuell hat er doch Raketen, die bis nach Europa reichen.«

»Bis Griechenland vielleicht. Allerhöchstens Rumänien.«

»Dreitausend Kilometer, hat er gesagt, und …«

Gabis Stimme bricht weg, er hört ein Schluchzen, dann das Zündrädchen ihres Feuerzeugs, schweren Atem.

»Warte mal, ich hole jetzt meinen Atlas und einen Zirkel. Dann schauen wir, wie weit dreitausend Kilometer sind. Ich lege dich gerade mal ab: Das Kabel reicht nicht bis zum Regal.«

Der Atlas ist alt. Als Kind hat er mit seiner Hilfe Reisen an den Amazonas gemacht, später nach Sumatra, Borneo, auf der Suche nach unbekannten Labyrinthfischarten.

Er schlägt die Übersichtskarte Asien auf, Kontinent der Superlative, im Maßstab 1:30 000 000. Drei Komma drei Zentimeter entsprechen tausend Kilometern.

»Da bin ich wieder.«

»Und?«

»Kleinen Moment noch.«

Er stellt den Zirkel ein, setzt die Metallspitze am nordöstlichsten Punkt der irakischen Grenze auf, zieht einen Halbkreis, merkt, dass ihm kalter Schweiß auf die Stirn tritt.

»Gut«, sagt er. »Beziehungsweise: nicht gut. So gesehen würden die Raketen fast bis nach München reichen.«

Er spürt mehr, als er hört, wie Gabi die Zähne aufeinanderbeißt, krampfhaft schluckt.

»Das heißt, er könnte uns mit Giftgas treffen?«

»Uns vielleicht nicht. Von München bis hierher sind es noch mal fast vierhundert Kilometer. Wir liegen auf jeden Fall zu weit nördlich.«

»Aber im Prinzip, wenn es losgeht, sind wir Teil des Kriegsgebiets.«

»Das mit den dreitausend Kilometern stimmt auch nur, wenn er die Reichweite seiner Raketen in den letzten Monaten deutlich verbessert hätte, und ob sie dann tatsächlich funktionieren, steht auf einem ganz anderen Blatt. Getestet hat er sie, soweit ich weiß, jedenfalls nicht – das hätte man gehört …«

»Und alles nur wegen dem Scheiß-Öl.«

»Alles wegen Öl.«

»Ich würde mein Auto sofort abschaffen, wenn ich wüsste, dass es dann keinen Krieg gäbe. Ernsthaft jetzt.«

»Klar.«

Er hört, wie sie an ihrer Zigarette zieht, den Rauch tief in die Lunge saugt, bis es schmerzt.

»Was machst du gerade?«

Er will sie jetzt nicht bei sich haben.

»Ich sitze an Reinzeichnungen von Zellschnitten, die ich heute Morgen mikroskopiert habe. Wenn ich sie nicht zeitnah übertrage, hab’ ich vergessen, was genau mit welchen Linien gemeint war.«

»Verstehe. – Ich müsste einkaufen, aber ich will nicht aus dem Haus. Bei mir um die Ecke sind diese ganzen amerikanischen Läden und Casinos. Wenn er tatsächlich Terroristen schickt, werden sie hierherkommen.«

»Weißt du, die Amerikaner haben Militärbasen rund um den Globus, da würde ich mich, wenn ich Anschläge planen würde, eher an Afrika halten, oder … keine Ahnung – an Länder, wo die Sicherheitsvorkehrungen weniger hoch sind als bei uns.«

»Ich habe trotzdem Angst.«

»Man muss aufpassen, dass man sich von der Angst nicht auffressen lässt, sonst wird einem das eigene Leben zur Hölle. Ich weiß, das ist nicht einfach.«

»Am meisten wegen der Chemiewaffen. Und dass die Amerikaner, wenn er die einsetzt, mit Atombomben antworten.«

»Das wird nicht passieren.«

»Was macht dich so sicher? – Lass erst dreißig- oder vierzigtausend Amerikaner sterben …«

Er hat den selben Gedanken hundertfach gedacht in den vergangenen Tagen und mit vernünftigen Argumenten, die er Generälen und Präsidenten untergeschoben hat, in Schach gehalten. Er will ihn jetzt nicht noch einmal unter Tränen von Gabi hören, die psychisch instabil ist, zum Therapeuten geht, Tabletten nimmt, unabhängig davon, ob Krieg oder Frieden herrscht. Obwohl er das weiß, ist sie in der Lage, ihn in ihre Strudel zu ziehen, die in grundloser Dunkelheit enden, und er braucht Stunden, um von dort wieder aufzutauchen.

»Weißt du, mir ging es auch nicht gut, vorhin, als ich von der Uni gekommen bin. Ich habe mich regelrecht zwingen müssen einzukaufen, aber es hat funktioniert. Zurück bin ich sogar zu Fuß gegangen, direkt an den Barracks vorbei. War nicht angenehm, aber jetzt fühle ich mich deutlich besser. Weil ich etwas Konkretes und Reales getan habe. Es ist immer noch alles möglich. Und vermutlich wird hier bei uns einfach gar nichts passieren. Jedenfalls nichts von dem, was wir uns dauernd ausmalen, dass es passiert.«

»Aber du kennst das auch, diese Angst?«

»Ich glaube, die kennt jeder zurzeit.«

»Weil – bei dir habe ich immer den Eindruck, dass du ziemlich strukturiert bist, gedanklich und emotional.«

Er lacht.

»Nein. Wirklich. Du wirkst immer so organisiert. – Aber dass du auch Angst hast, das beruhigt mich jetzt. Ich komme mir ja oft fast schon verrückt vor mit meinen ständigen Hochs und Tiefs … Danke. Das war mir eine große Hilfe.«

Ohne dass er noch etwas Abschließendes hätte sagen können, hat sie aufgelegt.

Einen Moment lang fühlt er sich beinahe so rational, wie er sich Gabi gegenüber gegeben hat, während durch die neuerliche Stille das Surren der Filtermotoren in den Becken zum Dröhnen wird. Er hat gelogen – er hat nicht gelogen. Jedenfalls deutlich mehr gelogen, als die Wahrheit gesagt. Es war ihr eine Hilfe. Vielleicht vergisst sie eine Weile, mit dem Gedanken an Selbstmord zu spielen.

Sein Blick fällt auf den Halbkreis im Atlas, der München gerade noch berührt, das winzige Loch im Papier, dort wo die Nadel gesteckt hat. Diyarbakır, Mossul … Der Kalif Chasid zu Bagdad saß einmal an einem schönen Nachmittag behaglich auf seinem Sofa.

Er schlägt den Atlas zu, stellt ihn ins Regal zurück, geht im Zimmer auf und ab. Schaut aus dem Fenster. Wieder hält eine Straßenbahn. Leute steigen aus, gehen in Richtung ihrer Häuser. Wenn dieser Krieg sich zur globalen Katastrophe aufschaukelt, wird er mit ihnen zusammen einen Flüchtlingstreck bilden, im Auffanglager sitzen, verstrahlter Staub werden. Er geht zum Aquarium, legt die Stirn ans geringfügig kühlere Glas: Der Honiggurami leuchtet seit einigen Tagen wieder tieforange. Seine Weibchen halten Abstand, obwohl er nicht aggressiv ist. Eines hat eine vergrößerte Brustpartie, das zeigt die Laichbereitschaft an. Eigentlich hätte das Männchen längst mit dem Nestbau begonnen haben müssen. Warum wartet es ab? – Es heißt, manche Tiere hätten eine Art siebten Sinn für Erdbeben, Flutwellen, Vulkanausbrüche, Kometeneinschläge. Die Frage ist, ob er auch bei menschengemachten Katastrophen funktioniert.

Die weiße Kreislinie mit dem ablaufenden Violettstreifen der Tagesschau-Uhr spiegelt sich in der Scheibe. Er springt zur Fernbedienung, schaltet den Ton ein.

»Auch letzte weltweite Appelle haben den irakischen Machthaber Saddam Hussein nicht umstimmen können. Das UN-Ultimatum am Golf lief vor vierzehn Stunden ab, ohne dass es Anzeichen für einen Rückzug des Iraks aus Kuwait gibt. Nun wird stündlich mit dem Ausbruch eines Krieges gerechnet.«

Die Sprecherin trägt eine lachsfarbene Bluse unter beigem Blazer mit Schulterpolstern, Perlenkette, Perlenarmband, grellrot lackierte Fingernägel.

»›Wir nähern uns den harten Entscheidungen‹, sagte am Abend in Washington der Sprecher des Weißen Hauses, Fitzwater. Zugleich rief er alle amerikanischen Journalisten im Irak auf, das Land zu verlassen.«

Sprengstoffhunde, die in strömendem Regen durch Grünanlagen geführt werden und an ihren Leinen zerren. Männer in gelber Schutzkleidung, als wäre bereits der erste Angriff mit Bakterien erfolgt. Dazu die Stimme des Korrespondenten in Washington: »Vor dem Kapitol, dem amerikanischen Parlament, wurden die Sicherheitsmaßnahmen verschärft. Mit der Gefahr eines Krieges steigt die Gefahr terroristischer Aktionen auch auf dem Gebiet der USA. Im Pentagon, in vielen öffentlichen Gebäuden der Hauptstadt, auch im Weißen Haus gibt es ab sofort keine öffentlichen Führungen mehr.«

Männer mit Hüten in einer Pfütze gespiegelt. Letzte Friedensaktivisten, die hinter hohen Sicherheitszäunen ein durchnässtes Spruchband hochhalten: Respect our troops. Don’t kill.

»Ein trüber Tag. Der erste Tag der geschenkten Zeit nach Ablauf der Frist für Saddam Hussein.«

Vermutlich gibt es eine Reihe von Leuten, die wissen, beziehungsweise sich einbilden zu wissen, was in den kommenden Stunden oder Tagen geschehen wird.

»Der Präsident sei ruhig und zuversichtlich, sagte sein Sprecher.«

»Ich bitte Präsident Saddam Hussein, seine Truppen aus Kuwait abzuziehen und zu verhindern, dass die Welt in eine Katastrophe gestürzt wird«: UN-Generalsekretär Pérez de Cuéllar.

»Panikkäufe blieben die Ausnahme, nur stellenweise war Wasser knapp«, konstatiert der Reporter im saudi-arabischen Dhahran.

Gedenkgottesdienste in Kiel, Schülerdemonstrationen in Berlin. Mahnwachen in Köln.

Er hat sich an nichts Derartigem beteiligt, sondern im Labor über dem Mikroskop gesessen.

Simulationen normalen Lebens: Die Koalitionsverhandlungen sind abgeschlossen. Morgen soll der Bundeskanzler wiedergewählt werden. Die Post will in Ostdeutschland streiken, um ihre Forderung nach einem dreizehnten Monatsgehalt durchzusetzen. »Die Gewinnzahl im Spiel siebenundsiebzig lautet: acht zwei sechs neun fünf fünf null.«

Worin unterscheidet sich die Freude derer, die heute gewonnen haben, von der an anderen Tagen?

»Aus Frankfurt jetzt die Wettervorhersage für morgen, Donnerstag, den siebzehnten Januar.«

Er schaltet den Ton ab, obwohl ein weiterer Brennpunkt folgt.

Die lächerliche Frage, was aus den Fischen werden würde.

Trotzdem wäre es besser, einen Teil des Wassers im Honiggurami-Becken durch weicheres mit niedrigerem PH-Wert zu ersetzen und die Temperatur zu erhöhen.

Er geht in die Küche, gießt sich noch einen Magenschnaps ein, wirft einen Blick auf die Vorräte. Steht da, schüttelt den Kopf.

Grüße von Yunus

»In Istanbul ziehen jetzt die Studentinnen für das Recht, Kopftücher zu tragen, durch die Straßen, sie demonstrieren also dafür, dass man sie wieder unterdrücken darf«, hatte Professor Isebrecht gesagt, der es wissen musste, seine Frau war Türkin, stammte aus den besten Kreisen, hatte Minister und Generäle unter Schwagern, Vettern, Onkeln, die es nicht zulassen würden, dass ihr Land in die Hände anatolischer Analphabeten zurückfiel. »Das, wofür ihre Mütter und Großmütter gekämpft haben, teilweise immer noch kämpfen, wollen diese Mädchen einfach wegwerfen. Jetzt, wo erstmals eine Frau Ministerpräsidentin ist, fordern sie die Rückkehr zu Irrationalismus und Geschlechterapartheid. Wir können nur hoffen, dass die Regierung und notfalls auch das Militär dem entschlossen entgegentreten: Unter Umständen muss man die Leute zu ihrem Glück zwingen.«

Wolfgang Janssen hatte genickt, sich die bärtigen Väter und Großväter unter ihren Strickmützen, Häkelkäppis vorgestellt, die Halbstarken mit Silberkettchen, Muskel-T-Shirts, wie sie ihre schönen Töchter und Schwestern an den Haaren rissen, ihnen den Kopf in den Nacken zerrten, sie in Hinterzimmer schlossen, aushungerten, bis sie ihren freien Kopf mit all den wilden Gedanken in ein Stück schwarzen Polyacrylstoff schnürten.

Anderntags war er in ein Flugzeug nach Istanbul gestiegen, schlecht gelaunt, schicksalsergeben, ohne irgendeine Vorstellung, was er dort sollte, und hatte seinen Hauptpreis angetreten: Acht Tage 4-Sterne-Hotel in der Altstadt – weil er die Rabattkarte seines Dönerimbiss’, der sich zum zehnjährigen Bestehen bei seinen Stammkunden mit einem Gewinnspiel bedanken wollte, ausgefüllt und in den Kasten neben der Theke geworfen hatte.

Seit vier Tagen mäanderte er jetzt durch die Stadt, verwirrt, ratlos, sah sich Moscheen an, Fassaden, Kuppeln, Minarette, Innenhöfe, Brunnenhäuschen, versuchte herauszufinden, ob es an den Gebäuden lag, dass ihm alle Gewissheiten zerbröckelten, Kriterien schwanden, und ob ihm trotzdem irgendetwas davon nützen könnte, falls er eines Tages ein Haus planen, seine eigene Vorstellung einer zeitgemäßen Architektur verwirklichen sollte.

»Es ist nicht alles falsch, was sie dort gebaut haben«, hatte Professor Isebrecht gesagt. »Wenn man den Dekor, die Ornamente, den ganzen Kitsch des 18. und 19. Jahrhunderts ausblendet, finden sich durchaus interessante Baukörper. Wobei – machen wir uns nichts vor: Verglichen mit der Hagia Sophia, dem wichtigsten Kirchenbau der Spätantike, ist das alles zweiter Aufguss.«

Professor Isebrecht stand seit dreißig Jahren für radikal moderne Architektur. Nach wie vor machte er keinen Hehl aus seinen Sympathien für Le Corbusiers Vision, das alte Paris abzureißen und als gigantische Parklandschaft mit Hochhäusern neu zu errichten. Für ihn bedeutete das Projekt »die Vollendung der Aufklärung mit den Mitteln der Architektur«. Bis vor einer Woche war Wolfgang Janssen sein glühendster Gefolgsmann gewesen, hatte die Manierismen der Postmoderne als späte Rache Albert Speers beschimpft. »Ornament ist Verbrechen«, stand über seinem Schreibtisch.

Und dann brachen ihm binnen weniger Minuten ohne vernünftigen Grund all die Überzeugungen weg, die er sich in den vergangenen Jahren erarbeitet hatte. Er bezweifelte, dass er überhaupt jemals etwas bauen würde. Womöglich war er nicht einmal mehr in der Lage, sein Studium zu beenden. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte, wenn er nach Berlin zurückkehrte.