Eine Abrechnung - Matthias Kessler - E-Book

Eine Abrechnung E-Book

Matthias Kessler

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Beschreibung

DAS VERHÄNGNISVOLLSTE BUCH DER WELTGESCHICHTE 90 Jahre sind seit der Erstveröffentlichung von Adolf Hitlers Mein Kampf vergangen. 20 Jahre lang stiftete das Buch Tod und Verderben. 70 Jahre lang war es verboten. Die ganze Welt kennt den Titel, doch über den Inhalt von Mein Kampf weiß man höchstens vom Hörensagen etwas. Was steht eigentlich darin? Wie verändert einen die Lektüre dieses Buches, das sich so unheilvoll auf das 20. Jahrhundert ausgewirkt hat? Wie 'gefährlich' ist es heute wirklich? Der Autor Matthias Kessler machte den Selbstversuch. Seltene Fotos aus einer Münchner Privatsammlung komplettieren seine außergewöhnliche Odyssee in die deutsche Vergangenheit und ins deutsche Gemüt. Es wurde einmal 'Das Buch der Deutschen' genannt. Am 1. Januar 2016 werden die Nutzungsrechte an Mein Kampf frei, 70 Jahre nach dem Tod Adolf Hitlers. Eine Abrechnung ist keine weitere Hitler-Biografie oder -Deutung, sondern ergründet die düstere Genesis dieses Werkes, die Geschichte hinter der Geschichte. Basierend auf den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen von Dr. Othmar Plöckinger vom Institut für Zeitgeschichte in München, zieht diese höchst aktuelle Reportage die alte Mär vom ungelesenen und unlesbaren Bestseller in Zweifel und räumt auch mit anderen Klischees auf. Sie analysiert den Diktator, den 'Erfinder' des 'öffentlichen' Hitlers, Dietrich Eckart, und porträtiert Menschen, die eine Geschichte mit Mein Kampf verbindet; so zeigt sich die Brisanz des Werkes bis heute. Eine Abrechnung ist deshalb auch ein Buch über deutsche Befindlichkeiten sowie die deutsche Seele und stellt die aufrüttelnde Frage, wie sich das Entsetzliche ins Auge fassen lässt.

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Seitenzahl: 330

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MATTHIAS KESSLER

EINE ABRECHNUNG

DIE WAHRHEIT ÜBERADOLF HITLERS »MEIN KAMPF«

Editorischer Hinweis des Verlags:

Die Originalpassagen wurden in der alten Rechtschreibung belassen.

1. eBook-Ausgabe 2023

© 2015 Europa Verlag GmbH & Co. KG, Berlin · München · Wien

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Motivs von © Popperfoto/Kontributor/Getty Images

Lektorat: Palma Müller-Scherf

Innenlayout und Satz: BuchHaus Robert Gigler, München

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95890-577-1

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

In Erinnerung an Stéphane Hessel.Sein Brevier Empört Euch! feuerte michaus meinen Zweifeln heraus.

In Erinnerung an meinen Vater Günter.

INHALT

Die Reise beginnt

Mein Gepäck

Willkommen in der Gespensterbahn

Im Rückspiegel

Im Keller

Schlag aus heiterem Himmel

Faust des Schicksals

Helden und Flaschen

Die klare Sonne

Also sprach Herr Plöckinger

Massenerziehungsmaschine

Eiskalt tun, oder wie das Bewegende übers Bewegte herrscht

Das Leben schaukelt einen auf und ab

Der Flügelschlag der Mustang

Mann mit Eigenschaften

Guten Abend, Frau H.

Geistige Waffe

Eiskalt serviert

Ohne Luft und Liebe

Glücklich entbunden!

Physik des Bösen

Der auf mich zurasende schwarze Monolith

Die Liebesseuche

Auf drei Dingen basiert die Welt: auf der Wahrheit, auf dem Recht und auf dem Frieden

Die Rasse der Hausmäuse

Meister aus Deutschland

Nerodolf

Ilsebill salzte nach

Epilog

Bildnachweis

Quellennachweis

Adolf Hitler, Porträts von Heinrich Hoffmann

DIE REISE BEGINNT

»Es fordert Blut! Blut, sagt man, fordert Blut!«

»Strauchelt der Gute und fällt der Gerechte,Dann jubilieren die höllischen Mächte.«

»… in die Brust die böse Saat,Aber dem Menschen gehört die Tat.«*

Das schmale, hellblaue Büchlein aus dem Jahr 1929 wird die ganze Zeit neben Mein Kampf liegen.

Diese Bannsprüche habe ich gleich zu Beginn in Hitlers Buch geschrieben. Schillers Kraft und Shakespeares Eleganz, ihre klaren Gedanken, sollen mich vor Hitlers Dämonie der Phrase beschützen, vor seinem Pathos, und mir helfen, nicht den Verstand zu verlieren: damit es gelingt, seine Physik des Bösen restlos zu dekuvrieren, also zu enthüllen.

*William Shakespeares Macbeth. Zur Vorstellung auf dem Hoftheater zu Weimar eingerichtet und bearbeitet von Friedrich Schiller

MEIN GEPÄCK

I

»… Es gibt keinen Schlussstrich in der Geschichte. In keiner. … Aber Auschwitz ist nun mal passiert. … Dieser Teil unserer Geschichte ist in seiner Abartigkeit so einzigartig, dass er gar nicht vergessen werden kann. …« Das sagte Anja Reschke in den Tagesthemen zum Auschwitz-Gedenken 2015.

Sie spricht mir aus der Seele, und ich danke ihr dafür. Auch ich zähle zur dritten Generation. Auch ich war nicht dabei, was mir bei mancher Diskussion aufs Butterbrot geschmiert wurde. »Du hast kein Recht zu urteilen! Du warst nicht im Krieg! Du weißt nicht, wie das ist!« Mit diesen Totschlagargumenten wurde ich abgekanzelt. Wollte ich urteilen? Nein. Ich wollte verstehen. Ich wollte was erfahren, was Ehrliches. »Und außerdem muss ich ja die Henne nicht kennen, um zu wissen, ob mir ihr Ei schmeckt«, frechte ich dann zurück. »Du hast keinen blassen Schimmer, was Krieg bedeutet!« Damit war jede Diskussion sinnlos und beendet.

Als ich einmal in Auschwitz-Birkenau eine Filmsequenz drehte, fragte ich den uns von der Gedenkstätte zur Seite gestellten Begleiter, ob man hier Deutsch sprechen dürfe. Er bejahte. Indes wollte ich die Sprache der Täter nicht an diesem Ort aus meinem Mund hören, so sehr schämte ich mich. Mit seinem Wiener Schmäh holte mich mein wunderbarer Kameramann Harald aus meiner Schockstarre. Er meinte trocken: »Geh, mein Freund, jetzt müssen wir aber was drehen.« Und dann gelang ihm ein anspruchsvoller Schwenk mit gleichzeitigem Zoom und einer Schärfenverlagerung aus dem Inneren der Frauenbaracke durchs Fenster auf den Appellplatz. Er albtraumte mit seiner Kamera ein Bild, das wiedergab, was wir empfanden: einen anderen Planeten. Der Film porträtiert Emilie Schindler und ihren Mann Oskar, der 300 Frauen seiner Krakauer Belegschaft aus Auschwitz freikaufte und damit rettete. Aus dieser Hölle!

»Auschwitz? Auschwitz, das war wie Plaszow, ein anderer Planet«, hatte mir zuvor Dr. Moshe Bejski bei einem Interview in Tel Aviv erklärt. Was er damit sagen wollte, die Konstruktion des moralischen Supergaus, habe ich erst in Auschwitz begriffen; in Plaszow gibt es nichts mehr. Deshalb meine ich: Ein Besuch von Auschwitz und Birkenau gehört auf den Stundenplan jeder europäischen Schule.

Moshe Bejski, Richter in Israel und President of Yad Vashem’s Righteous Commission. zählte sich zu den »Schindler-Juden«. Er mochte diesen Ausdruck. Und ich mochte ihn, der Oskar Schindler geholfen hatte. Moshe Bejski sorgte dafür, dass Oskar seinen Lebensabend bei seinen »Kindern« – so nannte Schindler jene, die auf seiner Liste standen – verbringen konnte. In Würde.

II

Darf man ein Buch über Hitler schreiben? Muss man da jemanden um Erlaubnis fragen? Die Bayerische Staatsregierung vielleicht? Ich weiß es nicht. Das darf auch keine Rolle spielen.

Was ich jedoch weiß, ist, dass wir Deutschen ein Volk von Spezialisten sind. Bei einem Casting zu DSDSD, »Deutschland sucht den Superdeutschen«, dürften die Kategorien »Wir sind Fußball«, »Wir sind Baumarkt« und »Wir sind Auto« auf keinen Fall fehlen. Darin sind wir vermutlich die penetrantesten Kenner der Materie. So ähnlich verhält es sich auch in Sachen Adolf Hitler. Viele wissen wenig Gescheites, wenige wissen viel, aber alle wissen Bescheid. Am Anfang meiner Recherche fühlte ich mich wie ein Ertrinkender: im Ozean der Hitlerkenner, Hitlerdeuter und heimlichen Hitlerverehrer. Ja, diese Spezies gibt es immer noch. Vermutlich stirbt sie nie aus.

Aber: Was will ich? Die Idee für mein Buch ist eigentlich simpel. Ich lese gewissenhaft Hitlers Mein Kampf. Und zwar den ersten Band: Eine Abrechnung, der 1925 erschien; weil Hitler darin seinen persönlichen Werdegang und seinen Wertekanon beschreibt. Im zweiten Band, der später dazukam, porträtiert er Die nationalsozialistische Bewegung.

Ich lese Mein Kampf zum ersten Mal. Weil die Urheberrechte am 1. Januar 2016 auslaufen und das einen Wendepunkt markiert. Dann sind die Worte Hitlers – sozusagen – frei.

Was passiert mit mir, wenn ich das Buch lese? Was empfinde ich? Welche Fragen drängen sich mir auf? Gehe ich als Demokrat hinein und komme als Nazi heraus?

Ich bin ein Autor für alle und keinen. In der Politik und in den Medien existieren ja zahlreiche dissoziative Persönlichkeiten, die beständig um ihr eigenes Ich kreisen. Zu ihnen zähle ich mich nicht, weil ich nichts Besonderes bin oder sein will. Ich bin Mitte. Es gehört zu meinem Beruf, Ideen zu entwickeln, sie auszuführen und dann niederzuschreiben. Dabei bin ich auch auf die Hilfe von Experten, Zeitzeugen und Freunden angewiesen.

Den Titel Mein Kampf kennt die ganze Welt, beim Inhalt des Buches scheiden sich die Geister: Mehr Spekulation als Wissen rollt hier die Straße runter. Und darum geht es mir: Was steht denn nun drin? Ist es die Pforte zur Hölle oder dilettiert hier ein Soldat als Philosoph?

III

Für meine Expedition habe ich mir Regeln gegeben:

Erstens: Lesen, ohne gleich Schaum vorm Mund zu bekommen.

Zweitens: Wörter und Sätze auf mich wirken lassen.

Drittens: Gefährlich, aber notwendig: sich öffnen für die Wirkung.

Viertens: Es gibt einfache Fragen, aber keine einfachen Antworten.

Fünftens: Alles ist von Bedeutung, auch das Nebensächliche.

Sechstens: Ehrlich schreiben, was passiert, sonst ist es sinnlos.

Siebtens: Das Äußerste wagen und nicht aufgeben.

IV

Die Vorrecherche ist abgeschlossen. Morgen kaufe ich das Buch. Schnell ein letzter Schluck aus dem Hitlerozean: Spiegel-Serie von 1964, »Anatomie eines Diktators«. Der Autor Percy Ernst Schramm war ein honorabler Geschichtsprofessor, heute gilt er eher als apologetischer Geschichtskonstrukteur, weil er – so heißt es – Hitler zum Alleinschuldigen stilisiere, eine Pathologisierung zum größten Rattenfänger aller Zeiten, statt Gröfaz, größter Feldherr aller Zeiten, nun Grörazfaz. Also, mal hineinlesen in des Professors Anatomievorlesung: »Hitler faszinierte die Menschen durch seine knallblauen, immer schon leicht hervorstechenden strahlenden Augen, denen viele Besucher nicht standzuhalten vermochten. Hitler war sich dieser Einwirkung bewusst und pflegte den Menschen lange in die Augen zu schauen; dabei schlug er die Lider nur langsam nieder. … Hitlers Teint könnte als geradezu mädchenhaft bezeichnet werden; er war empfindlich gegen Sonne und Licht und hätte deshalb einer Sonnenbrille bedurft, trug sie aber nicht; belästigte ihn grelles Licht, hielt er die Hand vor die Augen. Auch Wärme und Föhn störten ihn. Hitler war schließlich gleichmäßig ergraut, wies aber keinen Ansatz zur Glatze auf. Sein Bartwuchs war nicht stark; er rasierte sich selbst und schnitt sich selten. Er hatte sorgfältig gepflegte, aber schlechte Zähne, und eine große Zahl war durch Brücken ersetzt. Hitler war sich dessen wohl instinktiv bewusst: Er hielt sich beim Lachen die Hand vor das Gesicht. … Wichtige Entscheidungen wälzte Hitler gewöhnlich lange in seinem Verstand hin und her; bei der letzten Entscheidung verließ er sich dann aber auf das, was er ›Instinkt‹ nannte – gemeint war: politische Hellsichtigkeit. In unwichtigen Angelegenheiten griff er, wenn der Verstand zu keiner Entscheidung führte, zu dem alten Mittel, eine Münze zu werfen und sich danach zu richten, ob ›Kopf‹ oder ›Wappen‹ oben lag. Doch war ihm Aberglauben völlig fremd. … Der Kreis der Vertrauten stand unter dem Eindruck, wie sehr der ›Chef‹ auf das Wohl seiner Umgebung bedacht war, wie er an ihrem Freud und Leid teilnahm, so überlegte er zum Beispiel vor den Geburtstagen, welches Geschenk dem Bedachten eine besondere Freude machen werde. … Ja, in seinem Kreise war Hitler, der Mensch ohne Familie und Freunde, ein guter ›Kamerad‹ – was Kameradschaft bedeutet, hatte er ja im Ersten Weltkrieg erlebt, und an dieser Erfahrung hielt er in seinem weiteren Leben fest. … Das war das eine Gesicht Hitlers, nicht gespielt, keine Tarnung, sondern echt. Aber dieser furchtbare Mann hatte noch ein zweites Gesicht, und dies hat er seiner Tafelrunde nicht gezeigt: es war gleichfalls echt. … In seinen Unterhaltungen sprach Hitler wohl davon, dass er den, der dies oder das verbrechen werde, selbst über den Haufen schießen wolle. Aber die Runde wußte, daß Hitler nie persönlich einen Schuß auf einen politischen Gegner abgegeben hatte, und nahm dies wohl als ›Rodomontade‹, als Aufschneiderei – ins Bayerische übersetzt, wäre zu sagen: ›er mache Sprüche‹. … Nie geht die Rechnung auf, wenn man den Menschen Hitler zu fassen versucht: Sein Kontakt mit Kindern und mit Hunden, seine Freude an Blumen und kultivierten Dingen, seine Bewunderung für schöne Frauen, sein Verhältnis zur Musik waren echt; ebenso echt war aber die mitleidlose, die ›eiskalte‹ – ein Lieblingswort Hitlers –, die alle moralischen Bedenken überspringende Konsequenz, mit der er die Gegner seiner Herrschaft und die, die er als virtuelle Gegner ansah, vernichtete. Diese beiden Gesichter waren die Ursache, weshalb Hitler so verschieden – die einen begeisternd, die anderen abstoßend – wirkte. Er konnte sie von einem zum anderen Augenblick auswechseln, so daß die eben noch Angezogenen, die eben noch Abgestoßenen sich nicht mehr zurechtfanden. Hitler, abwechselnd geleitet durch Verstand, durch Gemüt, durch dunkle Triebe, war hintergründiger, als je ein Mensch es war, der in die deutsche Geschichte einging.«

V

In der Nacht vor dem Kauf des Buches hatte ich einen Traum.

Mein Traum wirrte sich seinem Ziel zu, das spürte ich. Voller Verzweiflung wurde mir bewusst, dass mir nur noch wenig Zeit blieb. Aus dem Umherirren zwischen Menschenmassen auf einer längst vergangenen Wiesn wurde ein Running Wild: Frauen zuckten Charleston, Männer soffen, Kinder schrien. Ich stieß gegen Menschenmauern, taumelte, stürzte, kroch hindurch, stand auf, rannte weiter, meinen Sehnsuchtsort fest im Blick. In verwegener Hast löste ich ein Billet für dieses Fahrgeschäft. »Kommen Se rinn, da können Se rauskieken!«, lockte der Conférencier, kassierte mein Ticket und beförderte mich mit einem Stoß in eine schwarze venezianische Gondel. Bevor ich überhaupt denken konnte: »Was für eine Abartigkeit beginnt jetzt?«, klackte sich meine Gondel in die Zugkette ein. Mitgefangen, mitgehangen! Belehrungen aus meiner Jugend brachen sich Bahn. In meiner Gondel hockend, glitt ich vorwärts zum Vorhang. Tatataa! Welche Art von Welt wohl dahinter lag? Und sozusagen im letzten Moment, bevor ich ins angepriesene Entertainment eintauchen konnte, saß er neben mir, der Conférencier mit den stahlblauen Augen, und sprachspeichelte mir seine Losung mitten ins Gesicht: »In die Brust die böse Saat, aber dem Menschen gehört die Tat.« Wir waren im Innern angekommen, und bevor ich etwas erkennen konnte, brüllte er mich wach mit seinem: »Hallo! Willkommen in der Gespensterbahn!«

Adolf Hitler, Postkartenporträt von Heinrich Hoffmann vor der Machtergreifung 1933, von der NS-Publizistik nicht zur Veröffentlichung freigegeben

WILLKOMMEN IN DER GESPENSTERBAHN

I

Wie kauft man Mein Kampf? Darf man das? Kann man das einfach so heute in Deutschland? Nun, der Kauf einer antiquarischen Ausgabe von Mein Kampf ist nicht verboten, sondern nur der Nachdruck. Jeder seriöse Händler wird einen Nachweis fordern, für was das Buch verwendet werden soll.

Doch es ist etwas anderes, das mich gerade umtreibt. Ich bin wieder aus einer Parallelwelt aufgetaucht. Ich schalte schnell den Fernseher ein. Es ist Juni 2014.

Mein Kampf liegt vor mir auf dem Tisch. Klein. Blau. Eine Goldprägung ziert den Buchdeckel: ein Adler mit Lorbeerkranz. Darin das Hakenkreuz. Das Buch wirkt schlicht. Einmal gedreht: Auf dem Buchrücken, auch in Goldprägung: Adolf Hitler. MEIN KAMPF. In Fraktur. Die Schrift, in der damals gedruckt wurde. Später gab es Hochzeitsausgaben in Antiqua, wie auch heute noch gedruckt wird. Leichter zu lesen, für mich aber nicht so authentisch. Ich habe auf einer Fraktur-Ausgabe bestanden, denn ich will in diese Zeit eintauchen. Auf meiner Zunge bildet sich ein leicht pelziger Geschmack, was immer passiert, wenn ich in alten Büchern oder Urkunden stöbere. Das Buch riecht auch ein wenig muffig. Ich mache es schnell wieder zu; ich weiß bereits, dass auf Seite 2 sein Foto über seiner Signatur droht, einen seine Augen, die knallblauen, fixieren. Auf diesem Sepiaporträt sind sie natürlich dunkel. Egal.

Dann ein hauchdünnes, durchsichtiges Blatt, dahinter schimmern der Titel auf Seite 3 sowie die restlichen, urheberrechtlichen Daten des Verlages: 261./262. Auflage, 1937. Eine Standardausgabe. Das transparente Papier knistert beim Umblättern. Es ist beschnitten, kleiner als das Buchformat. Das verleiht der folgenden Seite, dem Titel oder dem Hitlerbild, etwas als geheimnisvoll zu Entdeckendes. Ich kann nicht glauben, was ich da schreibe, aber es ist so. Ich habe mir geschworen, ehrlich zu sein. Innere Stimmen treiben mich um, wollen nicht schweigen.

Mein Exemplar von Mein Kampf, erworben in einem Militaria-Handel in München, 2014

Darf ich das Buch überhaupt lesen? Bin ich dann ein Nestbeschmutzer? Nach so langer Zeit. Das ist doch alles vorbei. Du warst nicht dabei. Du hast kein Recht, dir über etwas eine Meinung zu bilden, was du nicht selbst erlebt hast. Lass es doch ruhen. Das ist alles schon längst aufgearbeitet. Schluss. Das macht doch keinen Sinn.

Doch, es macht Sinn: nicht wieder den gleichen Fehler zu begehen. Nicht zu schweigen. Nicht durch Verbieten zu mystifizieren. Es geht ums Dekuvrieren: Entlarven, als das, was es ist. Hitler war: Hass. Lüge. Manipulation. Hochmut. Neid. Raserei.

Mein Kampf liegt vor mir auf dem Tisch. Meine Hand darauf. Ich habe das dünne Papier zehnmal hin und her geblättert, und dann hat es mir etwas verraten: Jetzt, da deine heile Welt dem Abend zugeht, solltest du dir voller Furcht bewusst sein, dass dir nur wenig Zeit bleibt, diese Aufgabe zu bewältigen. Deshalb empfehle ich dir etwas Unerhörtes: Lies jedes Wort und jeden Satz und nimm alles ernst.

Das folgende Zitat stammt aus dem Hexenhammer, dem Malleus Maleficarum, einem Vorläufer von Mein Kampf. Hammer-Schriften sind Vernichtungsliteratur. Heinrich Kramer, der Inquisitor, schrieb: »Jetzt, da sich die Welt dem Abend zuneigt, ist sich der Teufel voller Wut bewusst, dass ihm nur noch wenig Zeit bleibt, deshalb hat er eine ungewohnt ketzerische Verworfenheit im Acker des Herrn emporwachsen lassen, die Ketzerei der Hexen.«

Danach wütete die Inquisition. Über Jahrhunderte hinweg.

Am 18. Juli 1925 erschien Mein Kampf zum ersten Mal. Der erste Band: Eine Abrechnung. Das Buch und sein Autor betraten die Weltbühne in einer Zeit des Chaos, und als das Reich der Finsternis und des Leids seinen Höhepunkt erreicht hatte, glaubten viele Menschen, dass Gott vor Hitler kapituliert habe.

Gott ist der Kuss zwischen Seele und Verstand. Wenn man nicht mehr küssen kann, kann man nicht mehr leben.

Es existiert ein unumstößliches Fundament der Moral: Das Gute kann ohne das Böse gefunden werden, das Böse ohne das Gute niemals, das ist gegründet auf Gottes Schöpfung, die in sich gut ist. Das entmenschlichte Adolf Hitler. Sein Wertekodex lautete: Recht ist schlecht und schlecht ist Recht. Fortzeugend produzierte Mein Kampf immer neues Böses, bis schließlich der Verfasser am 30. April 1945 mit seiner Frau Eva gemeinsam Selbstmord beging. »Der Chef brennt, ich hau jetzt ab!« Diese nichtoffizielle Stellungnahme aus dem Kreis des Führerbunker-SS-Personals benannte den Status quo des Tausendjährigen Reichs.

Nach dem Ende von Nazi-Entmenschlichung, politischer Verantwortungslosigkeit und grausamster Verbrechen startete die Entnazifizierung; der Wiederaufbau folgte, und dann kamen wir, die dritte Generation, die geburtenstarken Jahrgänge. Ich bin ein Kind der 1960er-Jahre. Mein Vater hatte Hitler noch gehört, im deutschen Jungvolk. Er war ein sogenannter Weißer Jahrgang. Im Dezember 1930 geboren. Meine beiden Großväter dienten in der Wehrmacht, kämpften in Russland und in Griechenland. Ich kenne ihre Sünden nicht. Ich war zu jung, um beharrlich ihre Geschichten einzufordern. Anders bei meinem Vater. Wir rangen miteinander, es ging um Ehrlichkeit; wir stritten, es ging um: »Warum erzählst du nie was vom Krieg?« Ich hasste ihn manchmal dafür, fürchtete, er verheimliche mir etwas, habe ein zweites Gesicht. Dem war nicht so. Es hatte einen anderen Grund. Er war gut zu mir, und während ich das schreibe, steckt mir ein Trauerkloß im Hals. Er starb so früh.

Das Buch vor mir. Unscheinbar. Es hat 90 Euro gekostet. Ich habe es zehn Euro günstiger bekommen, weil am Buchrücken eine Ecke fehlt. Ich halte es seit einer Stunde in der Hand. Vor drei Stunden war ich noch Herr meiner kleinen Welt.

Am Morgen hatte ich einen Termin in einem Militaria-Geschäft in Neuhausen, einem gutbürgerlichen Viertel in München. Ich rumpelte mit einer alten Trambahn Richtung Rotkreuzplatz, der Holzsitz teilte mir die Straßenbeschaffenheit unmittelbar mit. Zu viel Luxus taugt nichts, dachte ich bei jedem Schlag, täuscht nur Bequemlichkeit vor, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt.

Wer München kennt, liebt die Stadt oder hasst sie. Dazwischen gibt’s nichts. Ich liebe das ursprüngliche München und seine Münchner, das zugreiste reiche Gschwerl hasse ich.

Ich komme darauf, weil neben der Tram ein Bentley-Cabriolet fuhr. Darin ein Mann am Krokolederlenkrad, der aufgeregt mit seinem goldenen Handy telefonierte. Ich kann es nicht verhehlen, ich freute mich, dass ich wenigstens höher saß und so seine hektischen Versuche, an der Tram vorbeizukommen, mitleidig belächeln durfte. Neben mir hockte eine ältere Dame mit Hütchen. Typ wandelnde Münchner Gschichten. Ich nickte in Richtung Fahrbahn, meinte, sie möge doch mal schauen. »Mei«, seufzte sie, »Geld ist gut, zu viel Geld ist gar nicht gut.« Das war zwar nicht die größte Weisheit unter der Sonne, doch sie fügte noch etwas Entscheidendes hinzu: »Meine Oma hat mal fünf Milliarden Mark besessen. Das war nur ein Schein, hat sie gsagt. 1923. Und dann hat sie noch gmeint: Kind, das war so gut wie nix wert. Die Reparationen, die Zinswucherer, die Spekulanten. Dann hat der Hitler geputscht. Is ins Gfängnis kommen, is wieder rauskommen und is dann an die Macht kommen. Mehr sag ich nicht, hat sie gsagt.«

Sie schwieg, schaute angestrengt nach draußen, der Bentley war schon außer Sicht. Als ich dann an ihr vorbei zum Ausstieg drängte, schraubstockte ihre zierliche Hand für einen Moment meinen Arm. »Respekt, das ist mal ein Griff«, raunte ich, und sie flüsterte mir mit kluger Sanftheit etwas zu, das mich noch lange beschäftigen sollte: »Wissen S’ was? Warum ist Schnee eigentlich weiß und nicht schwarz? Weil’s ein Naturgesetz ist und nicht, weil’s für uns so schön ist. Verstehn S’ mi? Es gibt so ’ne Kausalität des Seins: Auf Spekulation folgt Zusammenbruch, auf den folgt Chaos und dann gibt’s Gewalt. Da kommt niemals nix Guads daher. Wissen S’, was ich mein …«

Und als ich an der Tramtür stand und noch einmal zu ihr schaute, hatte sie so einen schelmischen Zug um den Mund; wie die Therese Giehse, die Urmünchner Oma aller Zeiten, die Brecht-Giehse, die wunderbare.

Sieben Zigaretten später kam der Besitzer des Militaria-Handels endlich. Ich stand vor einem Genossenschaftsbau aus den 1920er-Jahren. Seinen Laden hatte er in einem alten Müllhäusl eingerichtet. Die Fenster waren mit Gittern versehen. Er schloss die Tür auf und führte mich in sein Reich. Alte Uniformen aus dem Ersten Weltkrieg, kopflosen Puppen übergestreift, an der Seite hingen Säbel oder Degen. Egal. Viele Bücher in den Regalen. Sowie Helme. Stahlhelme aus dem Zweiten Weltkrieg. In der Vitrine: Siegelringe mit SS-Runen. SS-Ehrendolche mit Sinnsprüchen: Jedem das Seine. »Steht das nicht über dem KZ Buchenwald?«, fragte ich.

»Ja. Kann schon sein. Schauen Sie mal da. Der Dolch: Mehr Sein als Scheinen. Der ist doch schön, oder?«

»Na ja, wer’s braucht.« Verkniffenes Lächeln.

»Also, was ist jetzt mit dem Buch? Wolln mer oder wolln mer net?«

»Jaja, wir wollen«, antwortete ich. Er verschwand in den Tiefen des Müllhäuschens. Ich wartete erneut.

Ich hatte zunächst in Schwabing gesucht, das mir mehr hitleraffin erschien, auch so ein Dummwort, weil Adolf Hitler angeblich häufig in Schwabing verkehrte, dort sozusagen zu Hause war: Schelling-Salon, Osteria Antiqua und der ganze Wo-Hitler-überall-war-Scheiß.

Doch meine Suche in Schwabing verlief ergebnislos. Entweder gab’s das Buch nicht, oder es war »ausverkauft«. In einem etwas angegammelten Antiquariat, abseits des schicken Schwabings, es waren wohl gerade eben fünf Exemplare verkauft worden, bekam ich den Rat, es doch in Südtirol zu versuchen, dort gäbe es die besten, oder eben bei jenem Militaria-Laden, in dem ich jetzt stand. Südtirol war mir zu weit gewesen. Wieso eigentlich Südtirol? Es gab Sachen, die wollte ich nicht wissen.

Dann kam er zurück. Drei Bücher unterm Arm.

»Also, das oder das oder die Hochzeitsausgabe, ist in Antiqua, das kann man ja viel besser lesen als die altertümliche Frakturschrift.«

»Ja, sicher. Was kostet …«

»… Die ist teuer, das sag ich Ihnen gleich, also unter 500 Euro geht da nix. Die Standarddinger hier, die Blauen, für 100. Wolln mer schaun?«

»Die Blauen. Ich will’s authentisch.«

Ich griff zu, hielt in der linken und in der rechten Hand jeweils Mein Kampf und wog ab. Links schlug ich den Deckel auf. Sah ein Foto, auf dem ein Vater Adolf Hitler auf dem Berghof seine kleine Tochter zuführt, das ging aus der Widmung hervor. Und Adolf Hitler strahlte das Mädchen an, hielt fest ihre Hand.

Ich wusste sofort, das wollte ich auf keinen Fall haben. Das hatte so etwas von Missbrauch. Was wohl aus dem Mädchen mit den Zöpfen geworden ist. Nein, auch das wollte ich nicht wissen.

»Ich nehme das andere, für 90, da fehlt eine Ecke am Buchrücken, abgeknabbert, oder?«

Mein Scherz kam nicht an, ich zückte sofort die Geldscheine.

»So, da unterschreiben Sie noch mit Adresse, und warum und wofür Sie das Buch wollen.«

Ich arbeite nicht mehr zu Hause. Für dieses Projekt bin ich in ein Co-Working-Space gezogen. Ein Gemeinschaftsbüro in einer Lagerhalle im Münchner Süden. Habe Gott sei Dank einen Tisch für mich allein, um mich herum geschäftigen dynamische Social Entrepreneurs ihre nachhaltigen Modelle zum Erfolg oder auch nicht.

»Hey, Matthias, was machst du denn so? Was ist denn dein Business?«

»Du, ich schreibe, und zu Hause fällt mir die Decke auf den Kopf.«

»Aha. Was schreibst denn so, was mit Anspruch auf Nachhaltigkeit?«

»Kommt drauf an, wie man das sieht.«

»Okay. Dann viel Erfolg. Ach du, morgen gibt’s ’nen Sexy Salad, magst da mitmachen, da lernen sich alle mal kennen und so?«

»Ja, klar.«

Die kleine Bewerbung habe ich bestanden und darf loslegen. Die Miete ist auch okay.

Ich sitze an einem Schreibtisch, alles ist für jeden da, außer persönlichen Dingen wie Bücher, Bleistifte, Laptop; um mich ideen junge Menschen Großartiges; ich bin froh, hier zu sein, nicht allein. Vor mir auf dem Schreibtisch Mein Kampf im neutralen Schutzumschlag. Es soll ja keiner Angst bekommen, und ich frage mich: Was ist denn nun die echte und was die Parallelwelt?

II

Was ich hier mache, entspricht keiner Political Correctness, sondern entstammt meiner Neugier: Ich will die Gefühle, die Emotionen und die Motive verstehen.

Mein Kampf: Seite 2 das Porträt; Seite 3 Titel et cetera. Es folgen Inhaltsverzeichnis sowie das seitenlange Personen- und Sachverzeichnis. Der Mann macht’s spannend. Aus dem Vorwort:

»Am 1. April 1924 hatte ich, auf Grund des Urteilsspruches des Münchner Volksgerichts von diesem Tage, meine Festungshaft zu Landsberg am Lech anzutreten. Damit bot sich mir nach Jahren ununterbrochener Arbeit zum ersten Male die Möglichkeit, an ein Werk heranzugehen, das von vielen gefordert und von mir selbst als zweckmäßig für die Bewegung empfunden wurde. … Ich hatte dabei auch die Gelegenheit, eine Darstellung meines eigenen Werdens zu geben, soweit dies zum Verständnis sowohl des ersten als auch des zweiten Bandes nötig ist und zur Zerstörung der von der jüdischen Presse betriebenen üblen Legendenbildung über meine Person dienen kann.«

Und dann, am Ende: »Dennoch muß zur gleichmäßigen und einheitlichen Vertretung einer Lehre das Grundsätzliche derselben niedergelegt werden für immer. … Landsberg am Lech, Festungshaftanstalt. Der Verfasser.«

Eine Lehre? Ich schäume innerlich. Doch ich will mich zurückhalten. Einfach lesen, was er schrieb. Eine Lehre also. Ein philosophisches Traktat: Von der »Logik des Nationalsozialismus« oder »Hitlers Poetik der Hölle« … Das sind meine ersten Gedanken nach zehn Minuten Lektüre.

IM RÜCKSPIEGEL

I

Was ist mein Fehler?

»Mein Fehler ist nur eines Neulings Furcht,Den die Gewohnheit noch nicht abgehärtet.Ich bin in Taten dieser Art noch Kind.«

Macbeth

Nächster Tag. Zwinge mich, zu funktionieren. Die Tastatur muss glühen.

Auf das Vorwort von Mein Kampf folgt eine Art Totenanzeige. Die Namen der beim Putsch am 9. November 1923 vor der Münchner Feldherrnhalle auf dem Odeonsplatz und im Hof des ehemaligen Kriegsministeriums gestorbenen Hitler-Ludendorff-Anhänger.

Dann beginnt: Eine Abrechnung. Und mit dem Untertitel eine neue Seitenzählung. Seite 1, 1. Kapitel »Im Elternhaus«:

»Als eine glückliche Bestimmung gilt es mir heute, daß das Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies. Liegt doch dieses Städtchen an der Grenze jener zwei deutschen Staaten, deren Wiedervereinigung mindestens uns Jüngeren als eine mit allen Mitteln durchzuführende Lebensaufgabe erscheint.

Adolf Hitlers Geburtshaus in Braunau

Deutschösterreich muß wieder zurück zum großen deutschen Mutterlande, und zwar nicht aus Gründen irgendwelcher wirtschaftlichen Erwägungen heraus. Nein, nein: … Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich. Das deutsche Volk besitzt solange kein moralisches Recht zu kolonialpolitischer Tätigkeit, solange es nicht einmal seine eigenen Söhne in einen gemeinsamen Staat zu fassen vermag. Erst wenn des Reiches Grenze auch den letzten Deutschen umschließt, ohne mehr die Sicherheit seiner Ernährung bieten zu können, ersteht aus der Not des eigenen Volkes das moralische Recht zur Erwerbung fremden Grund und Bodens. Der Pflug ist dann das Schwert, und aus den Tränen des Krieges erwächst für die Nachwelt das tägliche Brot.«

Gleich auf der ersten Seite steht es wie eine Prophezeiung. Aus den Tränen des Krieges, aus der Eroberung. Er definiert sein erstes Ziel: Expansion. Die Diktion, seine Ausdrucksweise ist schwülstig. Hatte ich mir jedoch schlimmer vorgestellt. Er schraubt seinen Gedanken in eine moralische Zwangsläufigkeit.

Zwei Zigaretten später. Ich arbeite weiter. Ich bin entflammt. Zuvor penibelte ich sein Schreiben, seine Erlebniswelt, seine Gedanken in die Vergangenheit. Jetzt hat es mich innerhalb von wenigen Zeilen in die Gegenwart katapultiert. Wie ich das finde? Unheimlich.

Dann kommt er auf Seite 2 auf seine Eltern zu sprechen:

»In diesem von den Strahlen deutschen Märtyrertums vergoldeten Innstädtchen, bayrisch dem Blut, österreichisch dem Staate nach, wohnten am Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts meine Eltern; der Vater als pflichtgetreuer Staatsbeamter, die Mutter im Haushalt aufgehend und vor allem uns Kinder in ewig gleicher liebevoller Sorge zugetan.«

Hitler glorifiziert seinen Vater, der dem »ewigen Elend und Jammer« trotzte, sein Heimatdorf im Waldviertel verließ, um in Wien zunächst Geselle, dann schließlich etwas Höheres, Beamter, zu werden. Zollbeamter, der häufig »wandern« musste, also umziehen. Dem Vater, der sich einst ein Versprechen gegeben hatte, es einmal im Heimatdorf allen zu beweisen, verweigerte das Schicksal diese Nemesis, denn es konnte sich keiner mehr »des einstigen kleinen Knaben erinnern«. Mit 56 ging Alois Hitler, unehelich geboren, den Makel zäh hinweg geschuftet, in den Ruhestand. Nach den Worten seines Sohnes war Alois Hitler kein »Nichtstuer«, im Gegenteil. Hitlers Vater kaufte ein Gut im oberösterreichischen Lambach, das der Pensionär auch bewirtschaftete, »und kehrte so im Kreislaufe eines langen, arbeitsreichen Lebens wieder zum Ursprung seiner Väter zurück. In dieser Zeit bildeten sich mir wohl die ersten Ideale. Das viele Herumtollen im Freien, der weite Weg zur Schule, sowie ein besonders die Mutter manchmal mit bitterer Sorge erfüllender Umgang mit äußerst robusten Jungen, ließ mich zu allem anderen eher werden als zu einem Stubenhocker. … Ich glaube, daß schon damals mein rednerisches Talent sich in Form mehr oder minder eindringlicher Auseinandersetzungen mit meinen Kameraden schulte. Ich war ein kleiner Rädelsführer geworden, der in der Schule leicht und damals auch sehr gut lernte, sonst aber ziemlich schwierig zu behandeln war.«

Adolf Hitler wurde am 20. April 1889 in Braunau am Inn in Oberösterreich geboren.Seine Eltern: Klara Hitler, geb. Pölzl, und Alois Hitler, k.k. Zollamts-Oberoffizial i. P. und Hausbesitzer, so stand es auf seinem Grabstein. Das Grab der beiden in Leonding bei Linz wurde 2012 aufgelöst.

Hitler schreibt weiter, dass er im Chorherrenstift zu Lambach Gesangsunterricht erhielt. Er idealisierte den damaligen Abt der Benediktinerabtei zu einem Vorbild; dabei muss es sich wohl um Cölestin Baumgartner handeln, der von 1890 bis 1934 das Kloster leitete. Cölestin bedeutet der Himmlische. Indes war dem Abt das Glück nicht hold. Baumgartner musste die Leitung des Stifts wegen Überschuldung 1929 abgeben. Die Schwärmerei des jungen Adolf Hitler verlor sich, als ihm sein Vater Alternativen anbot: Im Bücherschrank eine Volksausgabe des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71, deren Lektüre den jungen Hitler faszinierte und ihn nach einer Zugehörigkeit zu Bismarcks Reich und allem Kriegerischen schmachten ließ. Religion und Krieg passten ja schon immer gut zusammen.

Außer dem ersten Hauptkapitel »Im Elternhaus« gibt es noch Unterkapitel. Jede Seite ist mit einer inhaltsgeprägten Überschrift versehen. Diese Aufmachung erinnert an ein heiliges Buch: die Bibel. Das war wohl auch beabsichtigt.

Seite 5ff., Seitenüberschrift »Berufs-›Wahl‹«:

»Aus meinem ganzen Wesen und noch mehr aus meinem Temperament glaubte der Vater den Schluß ziehen zu können, daß das humanistische Gymnasium einen Widerspruch zu meiner Veranlagung darstellen würde. Besser schien ihm eine Realschule zu entsprechen. Besonders wurde er in dieser Meinung bestärkt durch eine ersichtliche Fähigkeit zum Zeichnen; … Grundsätzlich war er aber der Willensmeinung, daß, so wie er, natürlich auch sein Sohn Staatsbeamter werden würde, ja müßte. … Es war der Stolz des Selbstgewordenen, der ihn bewog, auch seinen Sohn in die gleiche, wenn möglich natürlich höhere Lebensstellung bringen zu wollen, um so mehr, als er doch durch den Fleiß des eigenen Lebens seinem Kinde das Werden um so viel zu erleichtern vermochte. … Und dennoch sollte es anders kommen. Zum ersten Male in meinem Leben wurde ich, als damals noch kaum Elfjähriger, in Opposition gedrängt. … Ich wollte nicht Beamter werden.«

Hitler rebelliert gegen die Autorität des alten, strengen Vaters: »Wiese und Wald waren damals der Fechtboden« für den jungen Adolf. Ein junger Vagant. Ein Rebell. Das entlockt mir Sympathie, und ich spüre, wie mich seine Erzählung fesselt. Aber Hitlers Kosmos atemlost mich. Es scheint nur ein Hinein und kein Heraus zu geben.

Karl May lässt mich gütig in seine Welt eintauchen. In respektvoller Distanz nehme ich an den Abenteuern seiner Helden teil, bin dabei und darf auch wieder zurückkehren in mein eigenes Dasein.

Nicht so bei ihm. Und immer die Frage, was stimmt, was ist erdichtet, erlogen, erhitlert?

Als er zwölf ist, schreibt er, habe sein Entschluss festgestanden: »Als ich zum ersten Male, nach erneuter Ablehnung des väterlichen Lieblingsgedankens, die Frage gestellt bekam, was ich denn nun eigentlich selber werden wollte und ziemlich unvermittelt mit meinem unterdessen fest gefaßten Entschluß herausplatzte, war der Vater zunächst sprachlos.

›Maler? Kunstmaler?‹ Er zweifelte an meiner Vernunft, glaubte vielleicht auch, nicht recht gehört oder verstanden zu haben.«

Nach dem Verweis des Sohnes auf zeichnerische Fähigkeit und Ernsthaftigkeit des Entschlusses stellte Alois Hitler fest: »Kunstmaler, nein, solange ich lebe, niemals.«

Adolf Hitler scheint das nicht zu kränken, sondern nur zu bestärken: »Auf beiden Seiten blieb es dabei bestehen. Der Vater verließ nicht sein ›Niemals‹ und ich verstärkte mein ›Trotzdem‹. Freilich hatte dies nun nicht sehr erfreuliche Folgen. Der alte Herr ward verbittert und, so sehr ich ihn liebte, ich auch.«

II

Die Lektüre entfaltet Wirkung, trostlose Gedanken. Bittere Nacht, geplagt von Schuldgefühlen, träumte ich, mit einem Auto Kinder versehentlich zu überrollen, obwohl ich innerlich mit aller Kraft dagegen aufbegehrte. Als ich unter den Wagen schaute, waren es nur Bilder von Kindern. Gott sei Dank, doch wie entsetzlich. Und keine wirkliche Ahnung, was der Traum bedeuten soll.

Komme von einem Morgenspaziergang zurück. Versöhnlich wirkten die Kinderwagenmütter. Wie sie zu ihren Einkäufen eilten und um den Nachwuchs sorgten. Ihre Liebe bedingungslost im Jetzt ein Alles für die Kinder. Mütter und Väter sollten im großartigen Kinderkosmos für immer die Schadenlöscher spielen. Wie schön wäre das eigentlich.

Am Abend beim Lieblingsitaliener. Federico, der sechsjährige Sohn des Hauses, stand an meinem Tisch. Eigentlich wie immer, wenn ich so früh zum Abendessen kam. Doch diesmal betrachtete er gebannt das Buch, das ich dabeihatte. Die vielen Schwarz-Weiß-Fotos hatten es ihm wohl angetan: Heinrich Hoffmanns Hitlerporträts. »Wer ist der Hitler, Matteo?«

Eigentlich ist mein Lebensmodell antiautoritär, aber ich erschrak derart, dass ich ihn anblaffte: »Sei still! Geh weg!« Er trollte sich mit dieser Kinderaugentraurigkeit, die mir immer sofort mitten ins Herz fährt.

Warum habe ich das getan? Weil Adolf Hitler nicht nur irgendwas Historisches ist, sondern eine uns Deutsche betreffende Realität. Gestern, heute, morgen. Das sind Millionen und Millionen von Tragödien, Schicksalen, Familiengeheimnissen. Opfer. Täter. Mitläufer. Warum antworte ich nicht einfach: Du, Adolf Hitler war deutscher Reichskanzler, ein Tyrann, ein Massenmörder … Weil ich Angst habe, dass er sich an Hitler infiziert wie an Ebola. Und genau das ist das Problem: die Angst. Man imaginiert das Monster im dunklen Zimmer, statt das Licht anzuschalten. Am nächsten Abend spendierte ich meinem schlechten Gewissen ein Tiramisu und stellte mich seinen Fragen.

III

»Ich führe das nur an, Euch auf die SpurZu bringen. Setzt Euch selber nun zusammen!«Macbeth, Rosse

In jener Nacht träumte ich etwas Rätselhaftes. Ich raste mit meinem Wagen auf der Autobahn, fraß Kilometer um Kilometer mit hoher Geschwindigkeit, als mir plötzlich ein Satz einschießt: Schweig. Ein Kind wird erscheinen, mächt’ger als jene zuvor. Ohne zu erschrecken, ohne eine Vollbremsung hinzulegen, bemerkte ich im Rückspiegel einen Knaben mit einem Zeichenblock. Er sah nur kurz auf und widmete sich dann wieder ganz hingebungsvoll seiner Tätigkeit. Weil ich ja schweigen sollte, wartete ich ab. Die Autobahn verengte sich mit zunehmender Geschwindigkeit. 250 war schon wirklich sehr flott, doch es sollte noch schneller gehen. 270, 300 Stundenkilometer. Der Junge saß im Schneidersitz auf der Rückbank. Konzentriert, aber mit einem Lächeln um die Lippen signierte er seine Zeichnung, um sie mir dann zu zeigen. 310. Die Kurve würde ich nie im Leben schaffen. Ich blickte hastig in den Rückspiegel und sah einen hochzufriedenen Jungen. Dann die Zeichnung: eine romantische Ruine in pittoresker Landschaft. Er weitet erwartungsvoll die Augen. »Ja. Doch. Schön«, sagte ich. Was Griffigeres fiel mir unter diesem Druck nicht ein. 330 Stundenkilometer. Das graue Band der Autobahn wurde zum schmalen Handtuch. »Ist es etwa nicht gelungen? Das ist es wohl!« Er überschrie den dröhnenden Motor: »IST ES WOHL! ICH BIN MALER!« Mit viel Schmeichelei brüllte ich zurück: »Ja! Du bist ein großartiger Kunstmaler!« Was auf sein Gesicht schlagartig Zufriedenheit zauberte. Dann meinte er trocken: »In der nächsten Kurve ist es vorbei. Rums! Eiskalt erwischt«, und lachte. Ich starrte nur noch auf den Tacho und nicht mehr auf die Straße. 340. 345. 350. Blick in den Rückspiegel: Der Junge war weg. Blick nach vorn: eine schnurgerade Autobahn. Das Tachometer sank auf 180 Stundenkilometer. Das war angenehm, so zu reisen, ins Aufwachen.

Am nächsten Morgen. Zurück zu Mein Kampf, Seite 8ff. Hitler hatte seinem Vater eröffnet, Kunstmaler werden zu wollen; er trotzt der Autorität des Vaters und kindlicht seinen Wunsch zum Ideal. Sein Wille muss geschehen. Seine Reaktion ist die Verweigerung:

»Ich glaubte, daß wenn der Vater erst den mangelnden Fortschritt in der Realschule sähe, er gut oder übel eben doch mich meinem erträumten Glück würde zugehen lassen. Ich weiß nicht, ob diese Rechnung gestimmt hätte. Sicher war zunächst nur mein ersichtlicher Mißerfolg in der Schule. … Meine Zeugnisse in dieser Zeit stellten, je nach dem Gegenstande und seiner Einschätzung, immer Extreme dar. Neben ›lobenswert‹ und ›vorzüglich‹, ›genügend‹ oder auch ›nicht genügend‹. Am weitaus besten waren meine Leistungen in Geographie und mehr noch in Weltgeschichte. Die beiden Lieblingsfächer, in denen ich der Klasse vorschoß.«

Zeichnungen von Adolf Hitler, aus einer alten Arbeitsmappe, erschienen in der Zeitschrift Freude und Arbeit, Ende der Dreißigerjahre

Darauf folgt ein Propagandaeinschub, der mit den Worten »wenn ich nun nach so viel Jahren mir das Ergebnis dieser Zeit prüfend vor Augen halte« eingeläutet wird. Hitler, Schicksalhaftes ständig einfordernd, schwadroniert übers verrottete alte Österreich. Den Vielvölkerstaat, den »Nationalitätenstaat«, in dem »die zehn Millionen Deutschen der Ostmark« seiner Meinung nach ständig um ihre Sprache und Existenz bangen mussten, um nicht vom Rest des Riesenreichs verschlungen zu werden. Das gipfelt dann »im Sprachenkampf des alten Österreichs«, in dem er drei Schichten identifiziert: »die Kämpfer, die Lauen und die Verräter«.

Das Habsburg-Reich regierte damals Franz Joseph I. Der Backenbart-Kaiser, der nicht so gut aussah wie Karlheinz Böhm und garantiert auch nicht so charmant war wie der Sissi-Kaiser.

Schließlich kommt Hitler wieder zurück zum Kind und schreibt: »Deutscher Knabe, vergiß nicht, daß du ein Deutscher bist, und Mädchen, gedenke, daß du eine deutsche Mutter werden sollst.«

Im damaligen »Kampf ums Deutschtum« stilisiert sich der gescheiterte Putschist im Gefängnis zum jungen Siegfried, dem Drachentöter im Nibelungenepos, und klittert:

»Auch ich hatte so einst die Möglichkeit, schon in verhältnismäßig früher Jugend am Nationalitätenkampf des alten Österreich teilzunehmen. Für Südmark und Schulverein wurde da gesammelt, durch Kornblumen und schwarzrotgoldne Farben die Gesinnung betont, mit ›Heil‹ begrüßt, und statt des Kaiserliedes lieber ›Deutschland über alles‹ gesungen, trotz Verwarnung und Strafen. … Daß ich damals schon nicht zu den Lauen gehört habe, versteht sich von selbst. … Diese Entwicklung machte bei mir sehr schnelle Fortschritte, so daß ich schon mit fünfzehn Jahren zum Verständnis des Unterschiedes von dynastischem ›Patriotismus‹ und völkischem ›Nationalismus‹ gelangte; und ich kannte schon nur mehr das letztere.«

Jung-Siegfried kämpft dann noch eine Seite lang mit dem österreichischen Vielvölkerkopf-Drachen, und die Frakturschrift lenkt meine Aufmerksamkeit auf einzelne Wörter: »Mutterland. Sehnsucht. Vaterhaus. Deutschösterreicher. Mahner. Weltgeschichte …«

In den Text kehre ich beim Aufblitzen seiner verhängnisvollen Gabe zurück: dem Schmieden von bedeutungsschwangeren Phrasen, die sich mit ihm, mit seinem Buch, ins kollektive Bewusstsein von uns Deutschen einnarbten. Er ist der Meister der Dämonie der Phrase. Meistens beginnt er mit einem Anlauf, so auch hier:

»Geschichte ›lernen‹, heißt die Kräfte suchen und finden, die als Ursachen zu jenen Wirkungen führen, die wir dann als geschichtliche Ereignisse vor unseren Augen sehen. Die Kunst des Lesens wie des Lernens ist auch hier: Wesentliches behalten, Unwesentliches vergessen.«

Und gleich darauf gerät Hitler in Verzückung, als er endlich über seinen Lehrer Dr. Leopold Pötsch dichten darf, den Germanenfanatiker, der ihn von 1900 bis 1904 an der k. k. Staats-Ober-Realschule in Linz unterrichtete: