Eine alte Geschichte - Gerhard Nattler - E-Book

Eine alte Geschichte E-Book

Gerhard Nattler

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Mord an einem Dorstener Unternehmer im hart umkämpften Transport- und Logistikmarkt stellt den erfahrenen Hauptkommissar Albert Berendtsen und seinen jungen Kollegen Oliver Hallstein vor unerwartete Probleme. Ursprünglich scheint der Fall für die beiden keine große Herausforderung darzustellen, da die Beweislage eindeutig auf einen Mitbewerber hinweist. Dann geschieht ein zweiter Mord. Es stellte sich bald heraus, dass die Ermittlungen komplexer sind als angenommen. Dabei hilft Berendtsen seine Fähigkeit, sich in verwickelte Fälle hineinzuversetzen. Außerdem wird er seinem Ruf gerecht, auch die kleinste Spur zu erkennen und keine Details zu übersehen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 366

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gerhard Nattler

Eine alte Geschichte

Kommissar Berendtsen

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

Kapitel 11.

Kapitel 12.

Kapitel 13.

Kapitel 14.

Kapitel 15.

Kapitel 16.

Kapitel 17.

Kapitel 18.

Kapitel 19.

Kapitel 20.

Kapitel 21.

Kapitel 22.

Kapitel 23.

Kapitel 24.

Kapitel 25.

Kapitel 26.

Kapitel 27.

Kapitel 28.

Kapitel 29.

Kapitel 30.

Kapitel 31.

Kapitel 32.

Kapitel 33.

Kapitel 34.

Kapitel 35.

Kapitel 36.

Kapitel 37.

Kapitel 38.

Kapitel 39.

Kapitel 40.

Kapitel 41.

Kapitel 42.

Kapitel 43.

Kapitel 44.

Kapitel 45.

Kapitel 46.

Kapitel 47.

Kapitel 48.

Kapitel 49.

Impressum neobooks

Kapitel 1.

Gerhard Nattler

KOMMISSAR BERENDTSEN

UND

EINE ALTE GESCHICHTE

Krimi

ImpressumTexte: © Copyright by Gerhard Nattler

Umschlag: © Gerhard Nattler

Gestaltung: Gerhard Nattler

Verlag: Verm.-Ges. b. R.

Lessingstr. 1

45896 Gelsenkirchen

Druck: epubli

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

»Cäsar ist tot.«

»So plötzlich? Was ist passiert?«

Krümel zog seine Schultern bis unter die Ohren hoch und schob die Unterlippe vor. »Keinen blassen Schimmer. Die Polizei untersucht die Angelegenheit.«

Der »Rote« versetzte die Farbe. Er geriet beinahe in Panik. Er sackte in den Sessel, rieb sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn. Als das wenig Erfolg zeigte, zog er sein Taschentuch hervor. Er war einer der wenigen Menschen, die heute noch ein herkömmliches Stofftuch in der Hosentasche mit sich führten.

»Wann?«, brachte er schließlich heiser hervor und räusperte sich.

»Die Sekretärin hat ihn heute Morgen in seinem Büro gefunden. Riesiger Aufwand, Spurensicherung, das gesamte Programm. Ich kam heute Morgen an seinem Gelände vorüber. Leider konnte ich mich nicht mit der Sekretärin unterhalten. Aber ich habe mit einem Mitarbeiter sprechen können, den ich einige Tage zuvor kennengelernt hatte, einem Bekannten aus meiner Nachbarschaft. Er wusste Bescheid.«

»Wurde er … Hat ihn jemand …? Ich meine … die Polizei …«

»Das muss nichts heißen. Bei plötzlichem Tod wird immer die Kriminalpolizei hinzugezogen.« Er trat ans Fenster und blickte auf die Straße, drehte sich um, sah seinen Freund an. »Vielleicht ist er die Kellertreppe runtergefallen …?«, versuchte Krümel seinen Freund mit leichtem Schmunzeln zu beruhigen. »Es gibt zunächst mal keinen Grund, sich unnötig Sorgen machen.«

Der Rote erhob sich vorsichtig und besorgte sich ein Glas Wasser aus dem Kühlschrank, drückte seinem Freund eins in die Hand und setzte sich. In kleinen Schlucken trank er aus. Danach ging es ihm besser.

Krümel hatte sein Glas auf dem Tisch abgestellt.

Kapitel 2.

Es kostete ihn Nerven, vom Pucciniweg im Stadtsfeld über die Bochumer Straße und die Vestische Allee auf den Willy-Brandt-Ring zu gelangen, denn die beiden Brücken über den Kanal und die Lippe waren wegen einer Baustelle seit langem nur einspurig zu befahren und verursachten immer wieder Staus bis zurück an die Händelstraße. Das Problem wurde dadurch verstärkt, dass die Auffahrt zur A31 in Richtung Emden gesperrt war. So mussten die Fahrzeuge alle am Freudenberg auffahren.

Ein Schiff hatte die Kanalbrücke gerammt und in solchem Maße beschädigt, dass sie nicht mehr voll belastet werden durfte. Der Beginn der Reparaturarbeiten verschob sich Woche um Woche. Den offiziellen Stellungnahmen nach stritt man sich um die Versicherungsleistung. Berendtsen fädelte sich vorschriftsmäßig ein. Dann ging es zügig über das Gemeindedreieck und die Bismarckstraße aus der Stadt hinaus in Richtung Wulfen. Hauptkommissar Berendtsen von der Abteilung Gewaltverbrechen und Tötungsdelikte bei der Kriminalpolizei in Recklinghausen verließ den Kreisverkehr und bog auf die Wienbecke in Richtung Wulfen ein. Von weitem sah er bereits das blaue Blitzen der Polizeiwagen, deren silberner Anstrich in der frühen Morgensonne glänzte. Als er das abgelegene Haus auf der Wienbecke erreichte, war die Zufahrt zum Grundstück abgesperrt. Mehrere Wagen waren am Straßenrand der Wienbecke geparkt. Darunter einer mit der ihm vertrauten Aufschrift »Ruhrzeitung«, deren Chefredakteur sein Nachbar war. Er kannte den Reporter Fuchs, der in Dorsten immer einer der ersten Neugierigen am Tatort war. Er hatte seinen Namen zu Recht. Er war schnell, flink und schlau.

Die beiden Beamten, Achim Frank und Robert Feil, erkannten den schwarzen BMW des Hauptkommissars und hielten das Absperrband hoch. Berendtsen ließ die Scheibe ein wenig herunter, grüßte die beiden, mit denen er seit Beginn seiner Versetzung nach Recklinghausen häufiger zu tun hatte, fragte nach ihrem Wohlbefinden und bedankte sich für ihre Aufmerksamkeit. Er stellte den Wagen auf dem Personalparkplatz neben dem blau-silbernen Kombi der Spurensicherung ab, auf dem trotz der vielen Parkflächen nur vier Wagen abgestellt waren. Es gab zwei separate Abstellflächen mit reservierten Nummern. Nur ein Fahrzeug. Er warf einen Blick auf seinen Chronographen, den seine Frau ihm noch während seiner Zeit in Hamburg geschenkt hatte, als er mit einem Streifschuss im Krankenhaus gelegen hatte. »Damit du weißt, was es geschlagen hat!«, waren Irmgards Worte gewesen. »Halte dich in Zukunft aus solchen Gefechten heraus! Dafür sind andere Leute zuständig!«, hatte sie gemahnt. Er hatte es ihr versprechen müssen. Halb neun. Er taxierte das Haus. Das schmucklose, nüchterne Bürogebäude mit Flachdach, stand am Ende der Bebauungszone ohne direkten Nachbarn einsam auf weiter Flur. Eine Wiese grenzte an den Maschendrahtzaun, der sich mehrere hundert Meter um das Gelände zog. Einzelne Rinder weideten verstreut oder lagen müde da und käuten ihre Nahrung wieder. Hinten grenzte das Gelände an einen Bahndamm, unter dem in der Ferne ein kleiner einspuriger Tunnel verlief. Die andere Seite des Areals war nicht erschlossen. Es gab nur Gras, Gestrüpp, wilde Sträucher und Birken und einen kleinen Aschepfad, der vom Bahndamm kam, an der Weide vorüberführte und auf die Wienbecke mündete. Auf der anderen Straße war er etwas besser ausgebaut.

Er sah sich um. Sein Kollege, Hauptkommissar Oliver Hallstein, schien noch nicht vor Ort zu sein. Sein neuer BMW X3 war nirgends zu sehen. Er musste die Tochter in die Schule und den Jungen in den Kindergarten bringen. Er hatte den Wagen vor gerade drei Monaten erhalten und war erst einmal damit in die Osterferien gefahren. Seit seine Tochter die Schule besuchte, hatte er sich an die Schulferien zu halten. Seine Frau war einige Tage nach der Rückkehr an Corona erkrankt. Sie war inzwischen negativ getestet, aber noch sehr mitgenommen. Die Kinder und er hatten sich nicht infiziert. Die Tests waren negativ und sie hatten auch keine Symptome entwickelt. Hallstein und er hatten schon manches Verbrechen gemeinsam aufgeklärt, waren gut aufeinander eingespielt und mit der Zeit Freunde geworden.

Die Einfahrt zum Grundstück war durch ein stabiles eisernes Rolltor geschlossen. Feil verwies ihn auf eine kleine Seitentür für Fußgänger. Er suchte und fand seinen Freund Willi Schmidt, den Leiter der Spurensicherung, inmitten des Ameisenhaufens, wie Berendtsen das Durcheinanderlaufen der Spurensicherung bezeichnete. Er war in seinen weißen Einweganzug mit dem grünen Reißverschluss eingehüllt, aus dem nur sein Gesicht herauslugte und ließ ein kleines Steinchen in einen durchsichtigen Plastikbeutel fallen, den er dann mit einem Schieber verschloss. Er war immer wieder erstaunt, dass bei diesem Gewühl überhaupt ein vernünftiges Ergebnis hervorgebracht wurde.

»Moin, Willi. Wat is ambach?« Berendtsen steckte sich ein Gummibärchen in den Mund und bot sie auch Schmidt an.

»Einen Augenblick, Albert. Bin sofort so weit«, nuschelte er beinahe geistesabwesend, füllte ein Etikett aus und klebte es auf den Beutel. »Moin. Erschlagen wurde er. Dat is ambach«, lachte Willi, überrascht, dass Albert Berendtsen, der lange in Hamburg Dienst geschoben hatte, sich der Ruhrgebietssprache bemächtigt hatte. »Woher der Wechsel in den Ruhrpott-Slang?« Er fischte sich mehrere Bärchen aus der fast vollen Tüte.

Berendtsen lachte. »Ich habe gerade im Radio einen Sketch mit Jürgen von Manger alias Adolf Tegtmeier über Energiesparen durch ›Alternaive Regenenergie‹ gehört. Das wäre zuverlässiger als Sonnenenergie, weil Regenwetter bei uns häufiger vorkäme als Sonnenschein. War auch so zu der Zeit, als er das System vorgeschlagen hat. Heute ist der Unterschied nicht mehr so eindeutig. Es scheint auch häufig die Sonne, wie man sieht. Das waren noch Dönekens, die damals erzählt wurden. Ich glaube, ich habe alle Sendungen von ›Tegtmeier klärt auf‹ angesehen.«

»Unbedingt überstreifen, Albert, hier gibt es jede Menge verwertbarer Schuhabdrücke. Ich möchte deine nicht dabeihaben.« Willi Schmidt wies ihn auf bereitliegende Überzieher für die Schuhe hin. Dann ließ er »einen Overall für den Kommissar Berendtsen!« bringen und bat seinen Freund, das Teil überzuziehen. »Wir sind gerade erst angefangen und haben noch nicht alles sicher. Ja … Jürgen von Manger … Das war auch schon Comedy, nur hat man es nicht so bezeichnet. Damals hießen diese Leute Humoristen und Kabarettisten. Dieter Hildebrandt fällt mir auf der politischen Seite ein. Den habe ich gerne gesehen. Ein Zitat von ihm habe ich mir damals bewusst gemerkt: ›Seit die Zukunft begonnen hat, wird die Gegenwart täglich schlechter.« Er zog seinen Freund Albert am Ärmel durch die Bürotür des Logistikunternehmers. Sein Schreibtisch stand vor dem Fenster, durch das das Licht der hellen Morgensonne einen Spot auf das Geschehen warf. Ein Toter lag mit dem Kopf auf dem Schreibtisch. Eine Blutlache zog sich über ein beschriebenes Papier die Kante hinunter auf die Erde. Die linke Hand hing schlaff herab, die rechte lag festgekrallt auf der Armlehne des Stuhls.

Berendtsen trat näher heran. Von dort aus war beinahe das gesamte Firmenareal zu übersehen. Berendtsen erblickte eine Tanksäule und eine Waschanlage für die LKWs, von denen jetzt nur zwei auf dem Platz zu sehen waren. Ein dritter stand an einer Rampe und wurde mit eingesiegelten Europaletten beladen. Weithin war die Aufschrift ›Berger Transporte und Logistik‹ zu sehen. Ein weißer Volvo SUV stand ebenfalls auf dem Platz, daneben zwei Mercedes Sprinter, einer davon hatte vier Extrascheinwerfern auf dem Dach montiert und eine gelbe Leuchte. Der andere stand in der Halle und war von hinten zu sehen. Er wurde von zwei Leuten im Overall mit Reifen beladen.

»Das ist Holger Berger, der Chef dieses Unternehmens. Den Namen hast du sicher bereits gehört …«

» … vor allem gelesen«, unterbrach Berendtsen. »Das sind doch die rot-schwarzen Lastzüge, die auf der Autobahn immer die Mitbewerber überholen. Da hat man Zeit genug zum Lesen, wenn man hinterherfahren muss: ›Berger Logistik‹«. Er machte dabei eine weit ausladende Bewegung, um anzudeuten, wie groß die Schrift ins Auge sprang.

»Genau der. Jetzt hat ihm jemand seinen Erfolg missgönnt.«

»Vielleicht einer, der immer überholt wurde«, mischte sich Michaela Rother ein, die Forensikerin und Leiterin der Gerichtsmedizin.

Rother ließen Leichen kalt. Berendtsen wusste, dass sie mehr als zwanzig Berufsjahre als Pathologin und Forensikerin hinter sich gebracht hatte. Dennoch sah sie immer frisch und fröhlich aus und konnte einen Spaß vertragen. Ihre Haare waren unter der weißen Kapuze des Overalls versteckt. Sie waren, wie auch ihre stets aufmerksamen Augen, dunkelbraun, wie er wusste.

Berendtsen schätzte Frau Dr. Rother und Willi Schmidt wegen ihrer erstklassigen Arbeit. Sie brachten alles ans Tageslicht, selbst wenn der Teufel die Details eigenhändig versteckt hatte. Darin war er sich mit Hallstein einig.

»Guten Morgen, Frau Rother. Wie geht’s Ihnen heute?« Sie hatte tags zuvor unter heftigen Kopfschmerzen gelitten. »Gibt es schon Ergebnisse?« Sie ließ sich ein rotes Bärchen zwischen die Zähne stecken, da sie mit ihren Händen in den weißen Handschuhen an der Leiche beschäftigt war.

»Es geht mir besser. Danke. Die Kopfschmerzen haben schon gestern Abend nachgelassen. Ja, es gibt Ergebnisse. Ungewöhnliche sogar. Er wurde auf den Kopf geschlagen und ist mit der Schläfe auf diesen Briefbeschwerer geknallt.« Sie zeigte auf einen Marmorstein, der einem alten gusseisernen Zwei-Kilo-Gewicht auf einem Marktstand nachempfunden war und mit Blut am Knauf auf dem Schreibtisch stand. Daneben lag eine zerbrochene Brille. »Der Schlag hatte eine solche Wucht, dass der Knauf des Steins seine Schläfe gespalten hat.« Sie drehte den Kopf an den Haaren ein wenig herum und verwies auf die blutverschmierte Schläfe. »Der Täter hat mindestens zweimal zugeschlagen. Und zwar damit.« Sie blickte zu Willi hinüber, der mit einer dicken Schwarte aufwartete, die der Täter offensichtlich für den Schlag benutzt hatte. Es handelte sich um eine Loseblattsammlung in blauem Kunststoffeinband. Oben und unten waren die Messingstäbe, die die Blätter hielten, mit kleinen Hutmuttern zusammengehalten.

»Kommentar zu Vorschriften in Spedition und Lagergeschäft«, las Berendtsen laut vor. »Er wurde also standesgemäß erschlagen. Tausend Seiten?«

»Ich denke das Doppelte. Ich habe es noch nicht durchgeblättert. Es gibt mehrere Abschnitte mit neu beginnender Nummerierung. Ich habe es direkt eingepackt. Das Teil hat gut und gerne drei Kilo. Der Täter hat zugeschlagen und den Kopf auf das Gewicht gehämmert. Als das Opfer sich noch gerührt hat, hat er abermals zugelangt. Das war’s.«

»Die Aufschläge sind deutlich zu sehen – eins … und hier der zweite Einschlag. Die blutenden Stellen wurden durch die Muttern verursacht«, fuhr Frau Dr. Rother fort.

»Todeszeitpunkt?«

»Gestern am Abend zwischen achtzehn und zwanzig Uhr. Genau kann ich das natürlich …«

»Ich weiß. Fingerabdrücke?«, fragte Berendtsen.

»Glaube ich nicht«, antwortete Willi, »Der Plastikeinband sieht abgewischt aus. An den Schrauben des Buchdeckels, die die Wunde verursacht haben, haftet kein Blut. Aber …«

»Mehr nach der Untersuchung im Labor.«

»Man spürt deine Erfahrung, Albert.«

»Und du? Möchtest du eine Steinchensammlung anlegen?«

»Leider habe ich nur den einen … bisher. Wir suchen weiter. Der Stein ist augenscheinlich vom Kiesweg draußen. Wenn wir ihn untersuchen, werden wir Spuren der Sohle des Täters daran finden, denn glatte Ledersohlen hatten die Schuhe nicht. Dann wäre der Stein nicht mitgeschleppt worden. Hier auf dem harten Kunststoff hat er sich herausgelöst. Jedoch ist nicht sicher, wer den Stein eingeschleppt hat. Berger trägt Schuhe mit Ledersohlen, aber auch bisweilen Sohlen mit dickem Profil, wie wir von einem Mitarbeiter erfahren haben. Wir werden sehen.«

»Sagen Sie, Frau Rother, können sie beurteilen, ob die Tat mit diesem schweren Buch eher von einem Mann ausgeführt wurde?«

»Auch Frauen studieren Transportrecht«, bemerkte sie ein wenig spitz, »Aber … so viel kann ich sagen: der Täter war recht groß. Das Opfer hat am Schreibtisch gesessen und der Schlag kam von hier oben, sonst hätte es nicht einen solch enormen Aufprall gegeben. Der Ordner hatte recht ordentlich Fahrt aufgenommen.« Sie ahmte die Handbewegung des Täters nach.

»Sie meinen, die Zeit, richtig auszuholen, war nicht gegeben?«

»Die beiden müssen sich gekannt haben. Wer sonst hätte sich so nahe hinter das Opfer an den Schreibtisch begeben können. Bei unbekanntem Besuch hätte er nicht mit dem Gesicht zum Schreibtisch gesessen, sondern seinen Stuhl umgedreht. Die Besucher sitzen dort. Das Buch gehört hier in diese Lücke auf dem Sideboard. Der Täter hat das Buch gepackt und zugeschlagen. Das Opfer hat offensichtlich das Vorhaben erkannt und den Kopf weggedreht. Das war jedoch sein Todesurteil. Dadurch ist er mit der Schläfe auf dem Marmorgewicht aufgeschlagen. Dumm gelaufen.«

»Warum hat Herr Berger den Täter an sich herankommen lassen?«, meldete sich Hallstein zu Wort, der gerade angekommen war und schon eine Weile unbemerkt in der Tür gestanden hatte. »Er hat ihn wahrscheinlich gekannt. Guten Morgen zusammen«, gab er durch die FFP2-Maske von sich, nahm sie dann ab, als er sah, dass niemand eine Maske trug außer den Leuten der Kriminaltechnik, die nach Spuren von DNA suchten, und steckte sie in die Innentasche seines Jacketts.

»Herzlich willkommen am Tatort«, begrüßten ihn die Anwesenden. »Aber das hatten wir auch schon festgestellt.«

Auch Hallstein wurde gebeten, einen Overall zu tragen und die Überzieher für die Schuhe zu nutzen.

»Als Ausgleich dafür brauchst du ab heute keine Maske mehr. Corona ist offiziell besiegt.«, klärte ihn Willi Schmidt auf.

»Ich bin etwas spät dran. Tut mir leid. Meine Frau ist nach der Corona-Infektion immer noch sehr schlapp. Das ist jetzt schon drei Wochen her. Sie hat keine Symptome mehr, ist auch wieder auf dem Damm, aber noch immer enorm schlapp. So darf ich den Chauffeur spielen und die Kinder in Schule und Kindergarten bringen. Heute ist für Sarah die erste Stunde ausgefallen. Als mich Uschi über die Tat unterrichtet hat, war ich bereits auf dem Weg. Heute Mittag nimmt sie eine Nachbarin mit zurück.«

»Wo hat Ihre Frau sich angesteckt?«, fragte Frau Rother.

»Keine Ahnung. Wir waren immer sehr vorsichtig und haben uns immer getestet. Die Kinder sind auch negativ. Nur meine Frau hat es erwischt. Ich denke, sie hat es aus dem Urlaub mitgebracht.«

»Après-Ski sollte in diesen Zeiten eingeschränkt werden«, empfahl Frau Rother.

»Wir haben uns in keiner Menschenansammlung aufgehalten. Après-Ski mit zwei kleinen Kindern ist schlecht möglich.« Hallstein hatte einen Vorwurf herausgehört. »Selbst beim Frühstück waren wir morgens unter den Frühaufstehern«, rechtfertigte er sich.

»Okay. Ich wollte Ihnen keine Vorhaltung machen. Entschuldigung. Also … Wie es auch immer gekommen ist … Machen wir weiter. Ich erkläre Ihnen nochmals kurz den vermuteten Tathergang:

Berger und sein Besuch haben sich unterhalten. Wahrscheinlich haben sie gemeinsam auf den Bildschirm geschaut. Es gab Ärger. Der Täter griff zu diesem Kommentar – oder hatte ihn bereits in der Hand und hat zugeschlagen. Dabei ist das Opfer auf das Marmorgewicht geschlagen und hat sich ordentlich verletzt. Er hat noch einmal aufgeschaut und direkt den nächsten Schlag kassiert. Das war sein Ende.«

Berendtsen blickte sich um. Das Büro war nicht groß. Der Schreibtisch stand direkt am Fenster. Eine Box mit vier Tasten stand in Reichweite zur Linken und war beschriftet mit »Halle, Platz, Julia«. »Sprechanlage« folgerte der Kommissar. Daneben stand ein Telefon mit angeschlossenem Mikrophon zur Spracheingabe und zwei Reihen Direktwahltasten. Dahinter ein Turm aus vier Ablagen, oben war eine abgewetzte Dymo-Beschriftung zu lesen: »Erledigen«, war noch zu entziffern. Drei Briefumschläge lagen darin, darunter »Unterschriften«. Die anderen waren nicht beschriftet. Der Turm auf der rechten Seite zeigte nur drei Fächer. »Unterschrieben« mit einem Formular, »Erledigt« mit verschiedenen weißen und farbigen Papierbögen unterschiedlicher Größen, »Postausgang«, leer. Mehrere Blätter und Stifte nebst einem Futteral mit Brieföffner und Schere und einem magnetischen Wackelmännchen mit Büroklammern lagen durcheinander auf dem Schreibtisch herum. Eine zweite halbe Lesebrille lag auf der Computertastatur über den F-Tasten und der Zahlenreihe. Der Rechner selbst stand auf zwei Holzklötzen neben dem Schreibtisch. Drucker und Scanner standen nebeneinander auf dem Sideboard, das im 90°-Winkel an der Seitenwand des Raums aufgestellt war und drei Reihen Fächer mit Rollverschluss aufwies. Zwischen Schreibtisch und Sideboard stand eine moderne Kombination aus Schreibtischlampe und Deckenfluter.

»Was ist mit seinem Handy?«

»Das habe ich zusammen mit dem Tablet schon in den Wagen gebracht, Herr Hauptkommissar Berendtsen«, meldete sich ein junger Mann auf einer Leiter am Aktenschrank. »Soll ich es noch einmal holen?« Schon war er herabgesprungen.

»Nicht nötig!«, winkte Berendtsen ab. »Immer mit der Ruhe! Wenn es gesperrt ist, muss es ohnehin zuerst in die EDV zu Schubert.«

Der Mann tippte mit der Hand an seine Stirn. »Okay, Herr Hauptkommissar Berendtsen.« Er stieg wieder auf seine Leiter, um die obersten Fächer mit seiner Taschenlampe auszuleuchten. Das Licht kam dort nicht recht hin, weil die Tür des Fachs die Neonröhre und den einfallenden Sonnenschein in diese Richtung verdeckte. Berendtsen kannte den jungen Mann nicht, glaubte aber, ihn schon einmal an einem Tatort gesehen zu haben.

»Mein Typ wird verlangt? Guten Morgen, Albert. Was kann ich für dich tun?«, meldete sich Schubert mit heiserer Stimme und kam aus dem Vorzimmer zu Berendtsen herüber.

»Es gibt nichts. Ich wusste nicht, dass du hier bist. Ich meinte nur, dass das Handy des Opfers in deine Obhut gehört. Das ist alles.«

»Es gibt in einem Logistikunternehmen eine Menge EDV zu untersuchen. Das kannst du dir sicher vorstellen. Das meiste davon steht im Großraumbüro. Fünfzehn voll ausgestattete Arbeitsplätze. Der Server steht bei der Sekretärin im Büro in einem verriegelten Serverschrank. Außerdem gibt es ein GPS – Gerät, das die Standorte der Lastwagen auf jedem Bildschirm anzeigt, die Geschwindigkeit, mit der er unterwegs ist und die voraussichtliche Ankunftszeit beim Kunden beziehungsweise zuhause. So können die Aufträge punktgenau angenommen werden. Bei den Zügen mit temperaturrelevanten, sensiblen Waren, wird sogar die aktuelle Temperatur angegeben. Nicht nur bei Kühltransporten, sondern auch bei Gütern, die warm gehalten werden müssen, wie Fette und Öle oder Seifen. Die Sekretärin heißt Julia Backmann. Sie hat Berger gefunden und ist für heute fertig mit der Welt. Sie sitzt in der Halle mit den Fahrern und den Mitarbeitern aus dem Büro und lässt sich trösten. Sie wartet auf dich.«

Berendtsen schlenderte auf die besagte Halle zu und sah sich dabei auf dem Gelände ein wenig um. Zwei Überwachungskameras. Es gab einen weiteren Personalparkplatz mit einer Wellblechüberdachung für die Wagen der Fahrer. Hier standen eine Menge Fahrzeuge, PKW, Motorräder und Mopeds sowie zwei Fahrräder in einem Stahlständer für sechs Räder. Bergers Wagen stand quer vor der Halle unweit der Zapfsäule für Diesel. Zwei Leute von der Spurensicherung untersuchten den Volvo. Alle vier Türen standen weit offen und die Heckklappe war ebenfalls hochgeklappt. In der Halle war bei einer dreiachsigen Zugmaschine mit Sattel, das Führerhaus nach vorne hin umgelegt. Vier ihrer acht hinteren Reifen waren offensichtlich neu und glänzten schwarz. Daran gearbeitet wurde nicht. Der passende mächtige Auflieger stand an der Rampe. Ein Gabelstapler bugsierte fleißig Paletten in den Planwagen. Es handelte sich um einen dringlichen Terminauftrag, wie er erfuhr.

Die zwei Leute, die den Lieferwagen beluden, waren eifrig bei der Arbeit. Es waren Leute der Reifenfirma. Sie schlossen die Klappen, winkten kurz und fuhren ab.

»Guten Morgen zusammen«, begrüßte Berendtsen die Versammlung der Mitarbeiter. Sie verstummten. Eine Frau warf ihre Zigarette auf den Boden und trat sie aus.

»Zum Tod Ihres Chefs möchte ich Ihnen mein herzliches Beileid aussprechen.« Gemurmel. »Hat irgendjemand etwas gesehen oder gehört … oder kann zu dem Geschehen etwas mitteilen?« Er sah jedem einzelnen Mitarbeiter der Reihe nach fest in die Augen. Sieben Damen und sechs Herren. Alle waren leger gekleidet mit Jeans und verschiedenen Oberteilen, vier davon rot-schwarz mit dem Logo und der Aufschrift der Firma. »Ich sehe, das ist nicht der Fall. Wer von Ihnen ist Frau Julia Backmann?«

Eine brünette Dame mittleren Alters erhob sich von einem Brett, das über die Hubzangen eines Gabelstaplers gelegt und so zu einem Sitzplatz umfunktioniert worden war. Mittelgroß, schlank, gepflegte Haut und Bettina Schausten nicht unähnlich. Sie trug ebenfalls Jeans und ein T-Shirt mit Logo. Berendtsen begrüßte sie per Handschlag. »Sie haben den Toten gefunden?« Ihre Fingernägel waren rot gegelt, aber nicht lang.

Sie hielt sich ein Taschentuch vor den Mund und atmete tief durch. »Ja. Ich«, hauchte sie beinahe unhörbar.

Berendtsen ließ ihr Zeit.

»War etwas Besonderes zu bemerken?«, fragte er nach einer kurzen Weile, um ihr auf die Sprünge zu helfen. »Stand das Tor vielleicht offen, oder war Licht im Haus eingeschaltet?«

»Als ich heute Morgen hier ankam, war alles wie gewohnt. Das Haus war dunkel, aber die Halle war erleuchtet. Ein LKW stand an der Rampe und wurde beladen. Das hatte ich erwartet, denn er hat heute eine frühe Tour.«

Sie zeigte auf den Lastwagen, der inzwischen beladen war und dessen Fahrer den Diesel langsam in Richtung Tor in Bewegung setzte, das sich selbständig öffnete.

»Die Eingangstür ins Haus war nur zugeschlagen und nicht abgeschlossen. Ich dachte, der Chef hätte es vergessen.«

»Hat Herr Berger noch gearbeitet, als Sie das Büro gestern verließen? Um welche Uhrzeit war das?«

»Der Chef war zu dieser Zeit nicht da. Er wollte aber noch einmal wiederkommen. Das ist nichts Besonderes. Er arbeitet oft bis sechs Uhr oder länger. Wenn es zum Monatsende geht, auch bis acht Uhr. Ich habe um siebzehn Uhr Feierabend. Ich bin pünktlich mit den anderen gegangen.«

»Seine Frau? Hat sie ihn nicht vermisst?«

»Sie ist zurzeit auf Kegeltour. Sie wollte am Sonntag zurückkommen.«

»Weiß sie inzwischen Bescheid oder wissen Sie vielleicht, wo sie zu erreichen ist?«

»Nein.«

Der beladene LKW wartete die vollständige Öffnung des Tores ab. Berendtsen deutete ihm, das Fenster herunterzufahren, und forderte ihn auf, sich bei der Kriminaltechnik zu melden. Er hatte bereits seine Daten, Fingerabdrücke und DNA abgeliefert, wie ein Mitarbeiter durch Winken bestätigte. Er durfte weiterfahren.

Der Kommissar wandte sich wieder an Frau Backmann.

»Was geschah, als sie das Büro betraten?«

»Als ich mein Büro betrat, bemerkte ich, dass die Stehlampe in seinem Zimmer eingeschaltet war. Ich dachte, der Chef ist schon da. Ich klopfte kurz an den Türrahmen, grüßte und … da sah ich ihn mit dem Kopf auf dem Schreibtisch liegen.« Sie schluchzte. »Ich dachte eine Sekunde, er schläft übernächtigt. Ich klopfte noch einmal. Dann ahnte ich, dass er tot war.«

»Sie haben uns gleich benachrichtigt?«

Sie nickte stumm. Sie knetete ihr Taschentuch.

»Haben Sie das Zimmer betreten?«

»Nein. Ich bekam es mit der Angst.«

»Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? Ein fremdes Auto auf dem Platz oder vorne oder auf der Straße? War das Licht in Ihrem Büro eingeschaltet? Waren Einrichtungsgegenstände verschoben?«

»Bei mir war alles dunkel. Die Rollläden waren noch herabgelassen. Daher fiel mir das Licht in seinem Büro sofort auf.«

»Die Tür zum Chefzimmer stand offen?«

»Einen Spalt.«

»Sie haben das Büro nicht betreten. Dann können Sie auch nicht sagen, ob etwas fehlt?«

»Nein.«

»Würden Sie mit mir einmal durchgehen, ob Ihnen etwas Ungewöhnliches auffällt?«

»Jetzt?«

»Ich denke, wir haben noch etwas Zeit. Die Techniker sind noch drin. Sollen wir uns morgen früh hier treffen? Dann würde ich vorschlagen, Sie gehen nach Hause und erholen sich von dem Schock. Haben Sie jemanden, mit dem Sie sprechen können oder brauchen Sie Hilfe?«

»Ich wohne mit meinen zwei Kindern zusammen und mit meinem Mann. Der kommt frühestens heute Abend zurück. Aber ich werde mich schon beruhigen.«

Hallstein gesellte sich zu ihnen. Berendtsen stelle seinen Kollegen vor.

»Komm mit zu mir. Ich bin allein. Wir könnten reden. Ich kann heute auch nichts mehr machen«, ermunterte sie eine jüngere Kollegin. »Die Kripo räumt alles aus.«

»Sind die Räume im Obergeschoss auch abgesperrt?«, fragte Frau Backmann mit einem Vorwurf in der Stimme.

»Oben ist unsere Mannschaft fertig«, erklärte Hallstein. Ihre Leute können dort weiterarbeiten, wenn Sie mögen.«

»Wir müssen weitermachen! Die Lastwagen sind überall in Deutschland unterwegs. Auch in den Nachbarländern. Der Zug, der gerade abgefahren ist, bringt Pumpen nach Rotterdam, muss dort heute noch laden und fährt weiter mit Scheibenwischern und Fernsehern nach Lüttich. Ich muss mit denen noch Rücksprache halten. Dort übernimmt er einen französischen Auflieger mit Brie und Wein, der für einen Lebensmittelkonzern in Essen bestimmt ist. In drei Tagen ist er zurück. Einer ist mit Holztüren auf dem Rückweg aus Salzburg. Er wird heute Abend hier erwartet. Wir können die Fahrer nicht im Stich lassen. Sie müssen und wollen betreut werden.«

»Wie viel Leute sind unterwegs?«, fragte Berendtsen.

»Wir haben – alles zusammengerechnet, Kombis, Lieferwagen, LKW, LKW mit Hänger und Sattelzüge - achtundachtzig Fahrzeuge. Sechs sind gerade über drei Nächte im Einsatz. Die anderen kommen heute oder morgen wieder zurück. Für mehrere Touren müssen Anschlussaufträge besorgt werden, damit keine Leerfahrten auf dem Rückweg entstehen. Alle müssen heute wieder ran!«, kommandierte sie und traf damit nicht die Wünsche der Mitarbeiter. Nach einer Schweigeminute entschloss sie sich: »Ich werde mich auch an die Arbeit machen. Ich kann auch oben an meine Programme.«

Ihren Blicken nach zu urteilen, fanden die Kollegen und Kolleginnen ihre Entscheidung nicht berauschend, aber angemessen und gerecht. Sie nickten ihr wohlwollend zu. Manche bedachten sie mit einem erhobenen Daumen, andere klopften ihr mutmachend auf die Schulter.

»Das Büro von Herrn Berger wird versiegelt«, erklärte Hallstein. »Wenn Sie etwas benötigen, müssen sie sich mit uns in Verbindung setzen. Dann schicke ich jemanden, der sie hineinlässt.« Er überreichte ihr seine Karte. »Ich möchte Sie bitten, mir eine Liste mit den Namen und Adressen aller Mitarbeiter bereitzustellen.«

»Selbstverständlich. Auch die Fahrer?«

»Alle. Mit Nachweis, wo sie gestern Abend zwischen achtzehn und zwanzig Uhr waren. Meine E-Mailadresse finden Sie auf der Karte.«

»Soll ich für Sie die Alibis überprüfen?«, fragte sie verdutzt.

»Nein. So wollte ich es nicht verstanden wissen. Ich meinte: Wir brauchen keine Alibis zu überprüfen, wenn die Leute hunderte Kilometer entfernt waren.«

»Wir müssen noch einmal hinein. Ich gebe Bescheid, wenn versiegelt werden kann«, bemerkte Berendtsen noch schnell, als ein untersetzter Kerl, unrasiert und mit einer Lederjacke über der Schulter, die er mit dem Mittelfinger an der Aufhängeschlaufe hielt, auf sie zu kam. Er grüßte freundlich.

»Morgen zusammen. Ich habe gerade gehört, was los ist. Der Alte ist umgebracht worden? Hat mich schon gewundert, dass sein Wagen heute Morgen bei der Zapfsäule stand. Weiß man schon …« Er unterbrach seine Frage, als er die beiden Fremden entdeckt hatte.

»Guten Morgen. Berendtsen, Hauptkommissar. Das ist mein Kollege Hauptkommissar Oliver Hallstein.« Sie präsentierten ihre Ausweise. »Mit wem haben wir es zu tun?«

»Karl-Heinz Möller, ich bin Fahrer. Ich kam heute Morgen mit dem Vierzehner, der gerade abgefahren ist, hier auf den Hof. Es war zwanzig Minuten nach sieben. Ich bin kurz durch die Waschanlage, habe getankt und die Übergabe gemacht. Mike hat mir von dem Drama erzählt.«

»Haben Sie etwas bemerkt heute Morgen, als Sie auf dem Platz ankamen?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Nur dass der Wagen an der Tanksäule stand. Ich hatte Glück, dass der Schlüssel im Wagen lag. So konnte ich ihn an die Seite fahren, um an die Säule zu kommen.« Er blickte Frau Backmann an. »Wir brauchen über kurz oder lang neuen Diesel. Er steht schon unter tausend.«

»Ist bestellt«, beruhigte ihn Frau Backmann. »Der Tankwagen hat um zwölf Uhr einen Termin bei der Veba.«

»Sind Sie heute Morgen mit dem Volvo gefahren?«, fragte Berendtsen den Fahrer.

»Nur das kurze Stück von der Säule bis dahin, wo er jetzt steht.«

»Könnten Sie sich bitte bei den Leuten melden, die den Wagen untersuchen? Die Leute müssen Ihre Fingerabdrücke nehmen und Ihre Kleidung anschauen.«

Der Mann blickte sich um. Langsam machte er sich auf den Weg.

Das sahen die übrigen als Signal, sich wieder ins Büro zu begeben.

»Das gilt ebenso für Sie alle! Melden Sie sich bitte bei der Spurensicherung. Das sind die Männer in den weißen Overalls mit der Aufschrift ›Kriminaltechnik‹. Wir brauchen von jedem die Fingerabdrücke zum Abgleich. Haben das alle verstanden?«, vergewisserte er sich.

Raunen.

Sie stellten sich der Reihe nach vor dem Eingang auf.

»Frau Backmann, ich habe noch einige Fragen.« Berendtsen begleitete sie. Hallstein schrieb in sein elektronisches Notizbuch.

»Woran hat Berger so lange noch gearbeitet?«

»Er hatte ein Problem mit einer Fuhre. Ein Wagen war unterwegs mit Zement nach Chemnitz und wir hatten noch keine Fracht für den Rückweg. Er wollte noch einige Stammkunden anrufen, ob sie einen Auftrag für uns hätten. Ob er Erfolg hatte, weiß ich nicht, denn ich habe die Aufträge heute Morgen noch nicht alle durchsehen können.«

»Das große Tor war geschlossen?«

»Das große Tor ist immer geschlossen. Wenn jemand vom Hof aus herausfahren will, fährt er durch eine Lichtschranke und das Tor öffnet sich. Danach schließt es automatisch. Von außen können alle hinein, die eine Fernbedienung haben. Sie ist in die Innenspiegel programmiert. Wenn das nicht möglich ist, wie bei meinem Wagen, bekommt man eine Fernbedienung.« Sie zeigte dem Kommissar ihren Schlüsselring mit dem kleinen Plastik­stick, auf dem eine Taste zu erkennen waren.

»Was ist mit dem kleinen Seitentor für das Fußvolk?«

»Das stand offen. Aber das war klar, denn die Belader für den LKW waren schon gekommen und bei der Arbeit.«

»Gab es Streit in der Firma? Oder mit einem Kunden?«

»Nein. Streit mit Kunden darf es niemals geben. ›Eine Lösung findet sich immer‹, war seine Losung.«

»Ihre Firma ist die größte weit und breit. Hat es manchmal Ärger gegeben mit der Konkurrenz?«

»Nichts Außergewöhnliches. Man hat sich ab und an gegenseitig die Aufträge weggeschnappt, aber andererseits hat man sie sich auch zugeschustert, wenn man selbst ausgelastet war.«

»Die Angestellten? Was ist mit denen?«

»Keine Probleme. Ganz im Gegenteil. Wenn jemand kurzfristig ausfiel, war der Chef sich nicht zu schade, für kurze Touren selbst auf dem Bock Platz zu nehmen. Ich glaube, es hat ihm sogar Spaß gemacht. Sie müssen wissen, als Student hat er in den Semesterferien oft ausgeholfen. Wenn die Familienväter in Urlaub waren, ist er eingesprungen. Er hat es mir selbst erzählt. Es gibt noch ein altes Bild mit ihm in einem alten Magirus Deutz.«

»Er hat die Firma von seinem Vater übernommen?«

»Vor ewigen Zeiten.«

»Die Eltern …?«

»Sind beide verstorben. Ich habe schon bei Ihnen gearbeitet. Der Vater hatte einen Schlaganfall und ist daran gestorben. Er wurde mit dem Notarzt ins Krankenhaus gebracht und ist nicht wiedergekommen. Es ging alles sehr schnell. Seine Frau, die Marie, hat dann die Firma an Herrn Berger übergeben. Sie kam aber weiterhin jeden Tag ins Büro, trank mit mir eine Tasse Kaffee, erkundigte sich nach dem Umsatz und sah die Fahrtenschreiber durch.« Sie zeigte auf ein Brett an der Wand, auf denen die rot-weißen Karten aufgereiht waren. »Sie ist über den Tod ihres Mannes nicht hinweggekommen. Sie hat auf den Tod gewartet. Der Wunsch ist nach einem halben Jahr in Erfüllung gegangen.«

»Gab es niemals Streit. So etwas kommt vor. Entlassungen?«

»Sie meinen …« Sie fuhr mit ihrer Zunge einmal rund über ihre Lippen.

»Genau. Wurde jemandem gekündigt?«

»Ja … vor drei Wochen hat Herr Berger einen Mitarbeiter entlassen, der mit einer Alkoholfahne zur Arbeit erschienen ist. Der Mann entschuldigte sich mit einer Feier am Abend vorher. Der Chef hat ihn dennoch fristlos entlassen, weil er schon eine Abmahnung in dieser Richtung ausgesprochen hatte. Er hatte bereits einmal die Fleppe weg.«

»Die Adresse des Mannes können Sie mir sicherlich geben.«

»Er heißt Kevin Haun und wohnt An der Alten Mühle in Deuten. Die Hausnummer kann ich Ihnen gern heraussuchen.«

Sie hatten das Bürogebäude erreicht. Berendtsen hielt ihr die Tür auf.

»Ich möchte mir gerne ansehen, woran Herr Berger gestern Abend gearbeitet hat, wo er angefragt hat und mit wem er telefoniert hat.«

»Gerne. Kein Problem.«

Frau Backmann stellte fest, dass Bildschirm und Tastatur an ihrem gewohnten Platz standen, der Rechner aber fehlte. »Ihre Leute?«, fragte sie rhetorisch. Sie führte den Kommissar in das Großraumbüro im Obergeschoss, in dem die Arbeitsplätze durch mannshohe Teiler getrennt waren. Manche Kräfte waren bereits wieder bei der Arbeit, andere kamen, sich leise unterhaltend, mit dampfendem Kaffee aus dem Sozialraum. Frau Backmann erblickte sofort einen freien Platz. Schaffte einen zweiten Stuhl heran und bat Berendtsen Platz zu nehmen. Der Kommissar rückte sich den Stuhl aus Stahlrohr mit Sitzkissen zurecht. Er war erstaunt, wie wenig von dem Telefongespräch des Nachbarn zu hören war. Nach Eingabe des Passworts dauerte es eine kleine Weile, bis auf die Cloud der Software ihres normalen Arbeitsplatzes zugegriffen werden konnte. Sie meldete sich beim Account des Chefs an und hatte die Daten seiner letzten Arbeit vorliegen.

Hallstein hatte sein Kurzprotokoll in sein Handy diktiert und stellte sich zu ihnen, aufgestützt auf Berendtsens Rückenlehne.

Frau Backmann sah kurz zu ihm auf. »Das letzte Telefongespräch fand um fünf vor sieben statt und war neunzehn Uhr elf beendet. Es war ein Anruf von seiner Frau Marie. Sie scrollte mit einer Taste. Davor hatte er mit der Firma WHG gesprochen. Das war zehn vor sieben. Er hatte den benötigten Auftrag an Land gezogen: Transport von sechzehn Paletten Ersatzteile für Automobile. Sie suchte den LKW, der dorthin unterwegs war. »Er wird sein Ziel in einer Viertelstunde erreichen. Dann lädt er und macht sich auf den Heimweg.«

»Wohin bringt er die Fracht?«

»Sie wird komplett in einer unserer Hallen eingelagert.«

»Wo befinden sich diese Lagerhallen?«, fragte Hallstein.

»Eine steht hier hinter der Halle, zwei weitere stehen in Wulfen im Industriegebiet und eine in der Nähe der Autobahnabfahrt Haltern. Eine wird nächste Woche in Betrieb genommen. Sie befindet sich in Lembeck.«

»Arbeiten dort auch Leute?«

»Meist nur einer. Es kommt darauf an, wie viel aus- oder eingelagert werden muss. Wenn der Fahrer die Ankunftszeit einschätzen kann, gibt er Bescheid. Wir geben ihm dann die Halle vor. Haltern oder Lembeck. Einen Moment …« Sie klickte auf dem Bildschirm herum und fand, was sie suchte. »Die KFZ-Ersatzteile bringen wir normalerweise in Haltern an der Ausfahrt unter. So haben es die Werkstätten leichter beim Abholen und wir, wenn wir sie weiterleiten müssen. Der Auftraggeber meldet nach dem Beladen den Umfang der Fracht, damit ich die entsprechenden Vorkehrungen treffen kann.«

»Das Lager in Lembeck ist auch direkt an der Autobahn?«

»Direkt an der Raesfelder Straße.«

»Sie kümmern sich um die Verteilung der Fracht, wenn sie vom Auftraggeber hier bei der Firma ankommt.?«

»Über meinen Schreibtisch geht alles, was nicht eindeutig ist. Die Mitarbeiter nehmen nur die festen Aufträge an. Achtzig Prozent erscheinen per E-Mail oder sind Wiederholungstouren. Zwei Koordinatoren teilen die Fuhren so ein, dass wenige Leerfahrten entstehen und die Route möglichst effizient ist, also möglichst kostengünstig. Es wird automatisch berechnet, wie groß der Umweg über eine Autobahn sein darf, damit die Tour inklusive Maut weniger kostet als die Zeit über eine Landstraße. Außerdem haben wir ein Navigationssystem, das die Brückenhöhen und deren Tragfähigkeiten berücksichtigt. Ich kümmere mich noch zusätzlich um die Börse.«

»Welche Börse?«

»Die Frachtbörse ist eine Plattform, an der wir angeschlossen sind. Dort werden Touren versteigert. Das ist manchmal günstig, wenn man einen gering beladenen Zug unterwegs hat. Man kann zu einem günstigen Preis eine Tour anbieten, die dann noch zugepackt wird. Dann hat man mehr Umsatz bei gleichen oder geringfügig mehr Kosten. Der Kunde freut sich, denn er zahlt zumeist nur den halben Preis. Wir können für zwei Firmen Rechnungen schreiben.«

»Großartige Einrichtung!« Die Kommissare waren begeistert.

»Wenn ein Wagen nach Hamburg unterwegs ist, dann kann er eine Zuladung in Bremen aufnehmen, die auch nach Hamburg muss?«, folgerte Hallstein.

»Oder in die Nähe. Manche Händler verschicken ihre Ware nur über die Börse … Wenn kein Termin vorgeschrieben ist.«

»Um noch einmal auf den angetrunkenen Fahrer zurückzukommen. Würden Sie mir bitte seine Personalien aufschreiben?«, bat Berendtsen.

»Oder können Sie mir die Daten direkt auf mein Handy schicken?«, fragte Hallstein.

»Ich kann leider nur das komplette Blatt senden. Damit sind auch die Interna verknüpft. Ich denke, das geht nicht.«

Sie brauchte keine Minute und die Daten waren auf einem Klebezettel aufgeschrieben.

»Danke.« Berendtsen, der solche Zettel gern verlor, gab an Hallstein weiter, der die Daten in sein Handy scannte.

»Sagen Sie, Frau Backmann, hatte Berger Feinde? Vielleicht Neider oder Konkurrenten, Mitbewerber, die mit seinen Geschäftspraktiken nicht einverstanden waren?«

Sie überlegte. »Ich weiß von keinem. Der Chef war als fair bekannt. Von außergewöhnlichen ›Geschäftspraktiken‹ weiß ich nichts.«

»Aber einen muss es gegeben haben«, vermutete Berendtsen.

»Haben Sie einen Überblick darüber«, fuhr Hallstein fort, wo der Chef sich den Tag über aufgehalten hat?«

»Er war bis gestern um die Mittagszeit in seinem Büro und auf dem Gelände. Bei der Zugmaschine, die in der Halle steht, stand eine Wartung an. Er wollte selbst entscheiden, ob eine neue Federung für den Fahrersitz eingebaut werden sollte und welche Reifen auszutauschen waren. Dann hat er sich in die Mittagspause verabschiedet.«

»Ist er nach Hause gefahren? Seine Frau ist auf Kegeltour. Hat er weitere Familienmitglieder zuhause?«

»Seine Tochter tritt in die Fußstapfen ihres Vaters und studiert in Münster Betriebswirtschaft und seine Schwiegermutter wohnt direkt dahinter … oder davor, je nachdem von welcher Seite man vorfährt.«

»Wissen die Angehörigen Bescheid?«

»Von mir nicht«, sagte sie, verwundert über die Frage. »Ich weiß nicht einmal, wo sich Frau Berger aufhält. Man müsste die Schwiegermutter informieren.«

»Haben Sie eine Rufnummer für mich?«

»Nein. Ich habe keinen Kontakt zu der Frau. Ich habe sie einmal kennengelernt, als ich dem Chef einige Akten nach Hause gebracht habe. Er war krank und sie hat mir die Tür geöffnet.«

»Die Kontaktdaten von Berger haben wir?«, fragte Berendtsen seinen Kollegen Hallstein.

»Alles hier drin.« Er zeigte sein Handy.

»Gibt es ein Fahrtenbuch für den Volvo?«, fragte Berendtsen weiter.

»Nein. Er hat den Wagen sehr häufig privat genutzt.«

»Können Sie sagen, wo er sich am gestrigen Nachmittag aufgehalten hat?«

»Nein. Er hatte an dem Tag keine mir bekannten Termine.«

»Frau Backmann«, setzte Berendtsen die Befragung fort, »das Gelände wird überwacht. Gibt es Aufzeichnungen?«

»Ja. Die Daten sind auf dem Rechner des Chefs, den Ihre Leute mitgenommen haben. Er und ich können den Hof vom Schreibtisch aus überwachen. Die Aufzeichnungen werden per Wlan auf einen USB-Stick übertragen. Jede Woche wird der Stick ausgetauscht. Es gibt zwei Sticks. So haben wir eine Übersicht bis zu zwanzig Tagen.«

»Wo ist der Stick?«, fragte Hallstein.

»Ich nehme an, dass die Polizei ihn mitgenommen hat. Er steckt normalerweise immer in dem Videogerät. Abends wurde dann davon automatisch ein Backup auf dem Rechner erstellt.«

»Gibt es einen Terminkalender Ihres Chefs?«

»Natürlich. Ich trage sämtliche Termine ein. Seine privaten erstellte er selbst. Dann sehe ich nur einen schwarzen Balken, der die Zeit blockiert.« Nach einer Tastenkombination erschien der Kalender auf dem Rechner. »Heute hätte er mehrere Termine gehabt. Ich muss sie absagen.« Sie schluckte. »Das war der Tag gestern. Am Nachmittag und Abend hatte er keinen Termin. Es muss jemand hier gewesen sein, der ihn unangekündigt besucht hat.«

»Das werden wir von der Abteilung EDV erfahren.« An Hallstein gewandt: »Roland ist dabei?«

»Er ist mit den relevanten Rechnern bereits auf dem Weg ins Präsidium.«

»Gut. Was ist mit dem Passwort?«

»Das hat er.«

»Sie haben den Chef nicht mehr getroffen, als er zurückgekommen ist?«

»Nein. Ich hatte, wie gesagt, um siebzehn Uhr Schluss und bin mit den anderen gegangen.«

»Woher wissen Sie dann, woran er noch gearbeitet hat?«, fragte Hallstein.

»Ich hatte ihm eine Aufgabe in seinen Terminkalender gestellt.«

»Und deshalb nehmen Sie an, dass er das bearbeitet hat.«

»Davon gehe ich aus.«

»Aber genau wissen Sie es nicht.«

»Wir können oben nachsehen.«

»Gibt es einen Notdienst für Fahrer, die liegengeblieben sind?«, wollte Hallstein wissen.

»Wir haben zwei Mechaniker, die sich um die Werkstatt kümmern, von denen immer einer erreichbar ist.«

Die Kommissare sahen sich an.

»Dann hätten wir vorerst unsere Fragen gestellt. Wenn wir noch Informationen brauchen, melden wir uns.«

»Ein Anliegen habe ich noch«, fiel Berendtsen ein und sah Frau Backmann an. »Wir wollten uns noch im Büro umsehen, ehe es versiegelt wird.«

Die Tür stand noch offen und der freundliche junge Kerl von der Leiter räumte verschiedene Kleinigkeiten in einen kantigen Rollenkoffer. Berendtsen nickte ihm kurz zu. Er machte sich dünn.

»Kann ich etwas für Sie tun, Herr Hauptkommissar?«

»Danke schön. Ich komme klar.«

Er packte die letzten Sachen ein und ließ die Schlösser einrasten, drehte an dem Zahlenrad und beschloss zu gehen. »Haben Sie Siegelband?«, fragte er.

»Nein. Können Sie mir bitte ein Stück abreißen?«

»Der Junge setzte den Koffer wieder ab, stellte die erforderlichen Zahlen ein und fand sofort das Band. Er maß eine Elle ab und riss es an einer perforierten Stelle durch. Kurz wies er darauf hin, dass es das breite Band ist, das man längs von oben nach unten klebt. »Nicht zu lösen«, sagte er und machte sich auf den Weg. »Wünsche Ihnen viel Erfolg, Herr Hauptkommissar.«

»Danke vielmals!«, rief er dem jungen Mann nach und bat Frau Backmann in den Büroraum. Der Leichnam Bergers war inzwischen abgeholt worden.

Sie sah sich um. Den Schreibtisch ließ sie zunächst unberücksichtigt. Sie würdigte ihn keines Blickes.

»Der Kommentar zum Speditionsrecht fehlt«, bemerkte sie als erstes. Sie schritt das Hauptregal ab und öffnete jede Schublade. Berendtsen erinnerte sich an die Uniformkontrolle durch den Feldwebel beim Antreten. »Diese Lampe war eingeschaltet, als ich ihn fand«, stellte sie nüchtern fest. »Die Türen haben sicherlich Ihre Leute offenstehen lassen.« Sie hob eine Büroklammer auf und heftete sie an das Wackelmännchen.

»Darf ich Ihnen eine Frage zu den Geschäften stellen, Frau Backmann?«

»Selbstverständlich. Wenn ich kann oder darf, werde ich Ihnen eine Antwort geben. Was möchten Sie wissen, Herr Kommissar?«

»Wie laufen die Geschäfte? Kommt die Firma zurecht?«

»Die Firma steht solide da und schreibt schwarze Zahlen. Das weiß ich, weil ich die monatlichen Auswertungen erstelle und bei den Bilanzen mitarbeite. Ich stehe in engem Kontakt mit dem Steuerbüro.«

»Das glaube ich gerne. Man hört oft von erhöhtem Frachtaufkommen und gestiegenen Frachtraten«, bestätigte Berendtsen.

»Die hohen Frachtraten bringen nicht höheren Gewinn. Sie müssen bedenken, Herr Berendtsen, dass die Kosten für eine Fracht enorm gestiegen sind und ich denke dabei nicht an den Diesel. Wir kaufen für unseren eigenen Tank um die zwanzigtausend Liter direkt ab VEBA. Wir holen mit einem von unseren Tankwagen selbst ab. Die Kosten stecken in den langen Frachtzeiten. Fuhren wir bis vor einigen Jahren morgens eine Tour nach Duisburg zum Hafen, war der Fahrer mit Kali mittags wieder zurück und konnte eine zweite Tour fahren. Heute kann er froh sein, wenn er von der A31 am Autobahnkreuz Bottrop einigermaßen zügig auf die A2 kommt. An eine zweite Tour am Nachmittag ist kaum zu denken. Das kann nur spontan entschieden werden. Da fällt eine Tour aus, aber der Fahrer kostet. Oder denken Sie an die gesperrte A43 und die Rahmede Brücke in Lüdenscheid. Das sind Umwege … Jeder Kilometer, jede Stunde verursacht zusätzliche Kosten.«

»Wohin liefert die Firma Berger Logistik? Ich meine in ganz Europa?«