Tod eines Ruderers - Gerhard Nattler - E-Book

Tod eines Ruderers E-Book

Gerhard Nattler

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Beschreibung

Auf dem Lippedamm beobachtet eine Frau das Kentern eines jungen Ruderers bei seinem Training. Die Wasserschutzpolizei nimmt den Unfall auf. Auf persönlichen Wunsch der Polizeipräsidentin Vera Zimmermann untersuchen die Hauptkommissare Berendtsen und Hallstein den Trainingsunfall dieses Profis, einem Mitglied des Trainingszentrums an der Lippe. Wegen der Strömung wird die Leiche erst drei Tage später gefunden. Es stellt sich heraus, dass ein Fremdverschulden nicht auszuschließen ist.

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Gerhard Nattler

Tod eines Ruderers

Kommissar Berendtsen

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Kapitel – Montag, 9. September

2. Kapitel – Dienstag, 10. September

3. Kapitel

4. Kapitel – Mittwoch, 11. September

5. Kapitel

6. Kapitel – Donnerstag, 12. September

7. Kapitel

8. Kapitel – Freitag, 13. September

9. Kapitel – Samstag, 14. September

10. Kapitel – Montag, 16. September

11. Kapitel

12. Kapitel – Dienstag, 17. September

13. Kapitel – Mittwoch, 18. September

14. Kapitel

15. Kapitel – Donnerstag, 19. September

16. Kapitel

17. Kapitel – Freitag, 20. September

18. Kapitel

19. Kapitel – Samstag, 21. September

20. Kapitel – Sonntag, 22. September

21. Kapitel – Montag, 23. September

22. Kapitel

23. Kapitel – Dienstag, 24. September

24. Kapitel

25. Kapitel – Mittwoch, 25. September

26. Kapitel – Donnerstag, 26. September

27. Kapitel – Freitag, 27. September

28. Kapitel – Montag, den 30. September

29. Kapitel – Dienstag, den 1. Oktober

30. Kapitel

31. Kapitel

Impressum neobooks

1. Kapitel – Montag, 9. September

Dr. Klara Kötter war nicht mehr die Schnellste, auch nicht die Jüngste, aber sie war rüstig und fit und fühlte sich noch lange nicht zum alten Eisen gehörig. Die Hüftoperation hatte sie gut überstanden. Seit einigen Tagen lebte sie wieder in ihren eigenen vier Wänden. Sie hatte einen ersten kurzen Spaziergang unternommen, um den Gang mit ihren neuen Gehstöcken zu testen. Auf einer Bank auf dem Deich unweit der Hervester Brücke hatte sie eine kleine Pause eingelegt und träumte in der warmen Sonne des Spätsommers vor sich hin. Sie stellte fest, dass der Kirchturm der Agathakirche durch den Neubau einer Fabrik mit einem Hochhaus und hoch aufragenden Rohren im Gewerbegebiet von hier aus nicht zu sehen war. Sie hatte noch nie auf dieser Bank Platz genommen. Wenn sie mit ihrem Mann einen Spaziergang machte, wurden es größere Distanzen, wenn sie nicht gerade in die andere Richtung gingen.

Ihr Haus befand sich an der Blumenstraße auf einem großen, weitläufigen Grundstück, das an die nördlich der Lippe gelegenen Wiesen grenzte. Im Vorgarten grünte und blühte es von Februar bis in den Oktober. Ganz wie es der Name der Straße erforderte. Hinter dem Haus, nach Süden gelegen, verfügte das Anwesen über einen großen, teils der Natur überlassenen Garten. Von der Terrasse aus hatte man freie Sicht über die Lippeauen bis zum Kirchturm der Agathakirche, dessen Turmspitze über den Deich und die ersten Dächer der Stadt hinausragte. Der Ausblick war ihr sehr vertraut, denn sie hatte schon als Kind in diesem Haus gewohnt, das sie nach dem Tod ihrer Eltern behalten hatte, obwohl ihr so mancher Verwandte davon abgeraten hatte. Inzwischen hatte sich der Turm zweimal verändert. Nach dem Krieg stand er lange Zeit ohne Spitze da, aber heute strahlte diese in der Sonne mit ihrer glänzenden Patina. Das Haus war aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und sie stellte die vierte Generation, an der es lag, das alte Gutshaus zu erhalten. Sie würde es ihren beiden Kindern vererben, bei denen sie die Tradition des Anwesens gut verwahrt glaubte. Sie dachte an ihre Kinder. Benedikt und Annalena mochten das Haus. Beide waren fleißig und nicht dumm, hatten ihr Abitur ohne eine Ehrenrunde gemacht und befanden sich im Studium. Zurzeit verfeinerte Benedikt seine Kenntnisse auf dem Gebiet des Ruderleistungszentrums in Dortmund. Seine Schwester war leidenschaftliche Radsportlerin und erweiterte ihren Horizont im Zentrum für Radsport an der Universität in Halle an der Saale.

Das Rattern eines Motorrades riss sie aus ihren Träumen. Das gleißende Sonnenlicht blendete sie einen Moment. Sie zog die Sonnenbrille, die sie wie einen Haarreif in ihrer Frisur stecken hatte, vor die Augen und erschrak bis ins Mark. Unter der Brücke trieb ein Kanu kieloben und dahinter rang ein Mensch um sein Leben. Er versuchte, sich mit letzter Kraft an seinem Boot festzuklammern, aber er schaffte es nicht. Es war glatt und bot keine Angriffsfläche. Er trieb mit dem Strom. Das Kanu gewann Abstand.

Eine Person mit einem Motorradhelm knatterte mit einer Vespa auf dem Leinpfad von der Brücke in ihre Richtung. Sie blickte zu ihr hoch, fuhr vorüber. Ein Gesicht war unter dem dunklen Visier nicht zu erkennen.

Die Person im Fluss war ein Mann. Als er an ihr vorübertrieb, erkannte sie Blut und ahnte als erfahrene Ärztin, dass er es nicht schaffen würde. Sie suchte instinktiv nach ihrem Handy, das sie jedoch nicht bei sich trug, weil sie wegen der Gehhilfen auf ihre Handtasche verzichtet hatte. Sie hastete so gut es ging nach Hause. Trotz aller Anstrengungen brauchte sie zwanzig Minuten. Sie hatte Mühe, auf ihren Krücken stehend die Terrassentür aufzuschieben. Theo hatte sie vollständig zugezogen.

»Polizei! Theo, wir müssen die Polizei anrufen!«, hustete sie außer Atem. Draußen kämpft jemand um sein Leben! Er treibt in der Lippe.«

Theo hatte von all dem nichts mitbekommen. Er telefonierte mit der Uni. Sie bedeutete ihrem Mann, den Hörer aufzulegen, aber er winkte ab, zeigte mit verkniffenen Augen an, dass er Mühe hatte, das Gespräch zu verfolgen. Daher griff sie in das Seitenfach der kleinen braunen Handtasche, die auf der Garderobe lag und fischte ihr Handy heraus. Sie drückte auf Notruf und regte sich über die Frage des Telefons auf: »Soll der Notruf gewählt werden?« Sie bestätigte.

»Notruf der Polizei. Mein Name ist Rosemarie Günther«, meldete sich eine Frauenstimme.

»Hier spricht Dr. Klara Kötter aus Dorsten«, begann sie mit ihrer Ausführung, gab ihre Adresse durch und beschrieb ihre Beobachtung.

Sie solle sich beruhigen und zur Verfügung halten, mahnte die Stimme. »Ich werde sofort zwei Kollegen zu Ihnen schicken! « Sie wiederholte noch einmal die Adresse. Klara Kötter stimmte zu.

****

Es vergingen zwanzig Minuten bis zwei Leute der Wasserschutzpolizei eintrafen.

Sie schellten an. Es öffnete eine gepflegte Dame in einer Jeans, grünem Poloshirt und einer dunkelgrauen, ärmellosen Strickweste. Die mit weißen Strähnen durchwachsenen üppigen Haare waren locker zu einem Dutt zusammengebunden und mit einer Sonnenbrille geschmückt. Auf Gehstöcken aus Aluminium gestützt, begrüße sie mit sorgenvoller Miene ihren Besuch.

»Guten Tag, meine Herren. Sie sind von der Kripo?«

»Wehling, mein Kollege Tracke.« Sie zeigten ihre Ausweise. »Wir sind von der Wasserschutzpolizei.«

»Klara Kötter.«

Sie führte die Herren durch den Flur, das Wohnzimmer, über die Terrasse durch den Garten. Bis endlich die Natursteintreppe erklommen war, dauerte es eine Weile. Klara merkte ihre Hüfte. Sie wollte nur einen kleinen Spaziergang versuchen und nun war die ganze Angelegenheit zu einem Ereignis ausgeartet. Leicht außer Atem durch die mangelnde Bewegung während des Krankenhausaufenthaltes entschuldigte sie sich:

»Es tut mir leid, meine Herren. Ich bin im Augenblick nicht gut zu Fuß. Bin mit einer neuen Hüfte unterwegs. Die Reha wird mich wieder in Schwung bringen.«

Wehling sah sich um. »Nun erzählen Sie uns bitte, was sie beobachtet haben.«

»Ich habe mir etwas Bewegung verschaffen wollen und bin hier auf dem Deich bis dort hinten zur Bank, ungefähr auf halbem Weg von hier bis zur Brücke. Dort habe ich mich ein wenig in die Sonne setzen wollen, um dann wieder umzukehren. Leider bin ich etwas eingenickt, bis mich dieser Vespafahrer mit seinem Geknatter aufgeweckt hat. Ich erschrak über den blutenden Mann in der Lippe neben seinem Kanu, der sich verzweifelt bemühte, sich an seinem Kanu festzuhalten, aber er schaffte es nicht. Es war schier nicht möglich. Wenn er schon nicht ans Ufer gelangen konnte, hätte er unter das Boot tauchen sollen. Dort hätte er Gelegenheit gehabt, sich festzuhalten. Und Luft hätte er auch gehabt, bis das Kanu irgendwo zu Stillstand kommt. Aber das hat er anscheinend nicht bedacht. Oder er hatte nicht die Kraft dazu. Deshalb denke ich, dass er verletzt war. Warum konnte er sich nicht ans Ufer retten? Wir sind als Kinder schon durch den Fluss geschwommen. Es gab sogar weiter in Richtung Stadt eine Badeanstalt.«

Tracke rutsche mehr als er lief die Böschung zum Leinpfad hinunter und lief ein Stück in Richtung Brücke. Dabei schoss er mit seinem Smartphone einige Bilder.

»Das sind Reifenspuren von einem Kleinmotorrad,« rief er von unten hoch und hielt dabei die Aufnahmen in Richtung seines Kollegen Wehling und Frau Kötter.

»Konnten Sie Details der Kleidung erkennen, die der Kanute getragen hat?«, fragte Wehling.

»Es war ein Trikot mit kurzen Ärmeln, blutverschmiert. Viel mehr war nicht zu erkennen. Er trieb mehr unter als auf dem Wasser. Von Schwimmen kann man nicht reden, eher von unkoordinierten Armbewegungen.«

»Können Sie die Person beschreiben, die das Mofa gefahren hat?«

»Es war eine Vespa. Ich kann Ihnen die Person gern beschreiben: Jeans, schwarzes T-Shirt, Integralhelm. Das ist alles. Es wird Ihnen nichts nützen. Aber … ich erinnere mich an die Ziffern des Nummernschildes. Es war drei, drei, drei.«

»Wunderbar!«, lobte Wehling. Haben Sie vielleicht eine Erinnerung an die Farbe?«

»Blau, glaube ich, ja stahlblau mit diesem Kofferraum hinter dem Sozius.«

Wehling gab die Daten an die Verkehrspolizei durch. »Wehling, WSP Dorsten, ich benötige eine Halterabfrage für ein Motorrad. Es handelt sich um eine blaue Vespa mit Topcase. Recklinghäuser Nummer. Die dreistellige Ziffernfolge wird mit drei Dreien angegeben. Die mittleren Buchstaben sind unbekannt. Schicken Sie mir bitte die Daten auf mein Phone.« Wehling kratzte sich ausgiebig den Scheitel.

»Können Sie auch das Kanu beschreiben? Hatte es eine besondere auffällige Lackierung?«

»Rot. Der Rumpf des Kanus war überwiegend rot. Der Kiel war schwarz. Das Deck konnte ich aus bekannten Gründen nicht sehen. Über die ganze Seite zog sich ein grün-weißer Streifen hin.«

»Sie haben eine gute Beobachtungsgabe und ein Gedächtnis, das auch nach einem Schrecken noch funktioniert«, lobte Wehling.

Tracke blickte auf seine Uhr. »Sie haben den Notruf um 10:31 Uhr abgesetzt, wie ich aus dem Protokoll ersehe. Wir waren um 10:50 Uhr hier vor Ort. Jetzt ist es 11:15 Uhr. Wir sind zehn Minuten hier. Wann haben Sie den Mann entdeckt?«

»Es war kurz nach zehn Uhr. Die Schläge von Paulus habe ich noch gehört und die Zeit mit meiner Armbanduhr verglichen. Dann bin ich wohl eingenickt. Zwanzig Minuten habe ich gebraucht, bis ich zuhause war und telefonieren konnte.« Klara verwies auf ihre Gehhilfen.

»Wer ist Paulus?«, fragte Tracke

»St. Paulus ist die Kirche hier im Dorf.«

Tracke wurde ein wenig verlegen.

»Es ist leider viel Zeit verstrichen. Mehr als anderthalb Stunden.« Mit Blick auf den Fluss fuhr er fort: »Bei dieser Strömung ist er schon eine Strecke unterwegs. Wir müssen einen Suchtrupp anfordern.«

»Am besten mit Unterstützung eines Bootes. Tracke, würden Sie das bitte veranlassen?«

Tracke hatte die Rufnummern der Einsatzkommandos im Handy. Er verzog sich einige Meter und telefonierte mit Blick auf die Brücke.

»Es gibt hinter der Kurve eine Stromschnelle. Dort ist das Wasser flacher und in dem Lippebogen stehen viele Sträucher. Vielleicht haben Sie Glück, Herr Kommissar, und finden die Leiche dort.«

Wehling schätzte die Distanz auf fünfhundert Meter. Er überlegte einige Sekunden und machte sich mit zügigen Schritten auf den Weg. Tracke entschuldigte sich im Vorbeigehen bei Frau Kötter und spurtete hinterher. Klara stelzte in kleinen vorsichtigen Schritten das Pättken, das schon immer die Deichböschung hinunterführte, zu ihrem Haus zurück. Es war inzwischen ein gut begehbarer Sandweg, aber es hieß immer noch Pättken. Es hatte immer so geheißen. Im Garten wartete sie eine halbe Stunde auf die Rückkehrer.

»Vergebliche Mühe.« Wehling schnaubte mehrmals tief durch. Jogging war nicht sein Ding. Er transpirierte bereits und wedelte mit seiner Jacke, um sich etwas Luftzug zu verschaffen. »Das Kommando ist bestellt und wird in einer halben Stunde hier anrollen. Wir warten derweil im Auto«, erklärte er mit sehnsuchtsvollem Blick auf den Tisch im Schatten des Apfelbaums und der leichten Hoffnung auf ein Glas Wasser oder eine Tasse Kaffee im Garten, die er auch prompt angeboten bekam. Tracke bediente die Kaffeemaschine, Wehling trug das stilvolle Service mit blau-weißem Zwiebelmuster vorsichtig in den Garten.

»Leben Sie allein hier in dem großen Haus?«, fragte er beiläufig. »Ein schönes altes Haus.«

»Ich lebe mit meinem Mann zusammen. Wo er sich im Moment aufhält, weiß ich nicht. Er hat im Wohnzimmer telefoniert, als ich den Notruf gewählt habe. Während ich mit ihrer Kollegin telefoniert habe, ist er eilig an mir vorbei und mit dem Wagen weg. Ich habe versucht, ihn zu erreichen, aber leider geht er nicht an sein Handy.«

»Sie haben eine neue Hüfte?«, begann Wehling mit einem Smalltalk, um die Wartezeit zu überbrücken.

»Vor einer Woche bin ich aus dem Krankenhaus entlassen. Habe alles gut überstanden. Jetzt warte ich auf die Reha.«

»Wohin geht’s?«

»Bad Sassendorf.«

»Da war meine Mutter mit ihrem Knie. Wirklich gut.«

»Ich hoffe, die Leute dort machen mich wieder fit. Schmerzen habe ich keine.«

****

Die Bootsstreife benötigte weniger Zeit als angekündigt. Sie meldete sich und ließ sich von Wehling über die genauen Abläufe informieren. Während er noch die Situation beschrieb, sprintete er auf den Damm und bekam Sichtkontakt.

Beinahe zur gleichen Zeit hörten sie vor dem Haus einen Einsatzwagen anrollen. Kommandos wurden gebrüllt, Stiefel krachten, Geräte und Aufgaben wurden verteilt.

Klara Kötter schickte die Leute außen ums Haus herum auf den Deich.

Wehling besprach sich mit dem Einsatzleiter. Er wies dementsprechend seine Leute ein. Sie verteilten sich auf dem Damm und auf dem Leinpfad. Sie leisteten ganze Arbeit. Es blieb kein Strauch, kein Grashalm, den man nicht in Augenschein genommen hatte, zurück. Sie kämmten sich vorwärts.

Wehling kam zurück. In der Luft hörte man eine Drohne noch ehe sie sichtbar war. Über Sprechfunk informierte der Pilot dieses neu angeschafften Fluggeräts, der die Lage auf einem Bildschirm in der Größe eines iPads von oben beobachteten konnte, den Einsatzleiter indem er auf verschiedene Stellen hinwies, die genauer zu inspizieren waren. Er zoomte dazu den Ausschnitt des Bildes durch Fingerspreizung heran. Zwischendurch stieg Wehling auf den Damm, um den Fortgang zu beobachten. Die Bootsstreife kam zurück. Sie konnten wegen der Stromschnellen nicht weiter. Der Einsatzleiter kreuzte in der Ferne mehrfach seine Arme, wie ein Marshaller auf dem Flugplatz die Stäbe zu einem Stoppzeichen. Wehling gab das Zeichen an die Leute unter dem Apfelbaum weiter.

»Sie brechen ab!«, rief er vom Damm aus. Er stieg die Stufen hinab. »Sie haben nichts. Die Drohne hat ebenfalls ihre Reichweite ausgeschöpft. Es tut mir leid.«

»Er liegt auf dem Grund der Lippe«, vermutete Frau Kötter.

»Aber das Kanu geht nicht unter«, gab Wehling zu bedenken. »Es kann nicht sinken, auch wenn es kieloben treibt. Das müssten wir finden.«

Eine halbe Stunde später gab der Einsatzleiter den Befehl zum Abrücken. Wehling begleitete ihn zum Wagen.

»Gibt es irgendeinen Hinweis, ob es wirklich einen Unfall oder einen Toten gab? Vielleicht ist der Kanute versehentlich aus dem Boot gefallen und danach weitergepaddelt?«

»Alles möglich und bestimmt auch schon dagewesen, aber die Frau ist praktizierende Ärztin und noch voll dabei. Will sagen … Frau Kötter hinterlässt keinen senilen Eindruck. Die Spuren des erwähnten Kleinmotorrades haben sich bestätigt. Wir haben sie fotografiert.« Er wollte die Kamera hervorholen, aber Wehling winkte ab. Er hatte sie bereits auf Trackes Smartphone gesehen.

»Ich gebe Ihnen recht. Anhaltspunkte für ein Verbrechen gibt es jedoch nicht?«

»Bisher nicht. Wir haben den Leinpfad vom Bootshaus bis hierher abgesucht. Keine Fußabdrücke, die auf Gerangel hindeuten, kein Blut – nichts. Der Heli und das Boot sind noch unterwegs. Abwarten.« Der Einsatzleiter grüßte mit der Hand an seiner Mütze und stieg in den Wagen, der von seinem Fahrer bereits vorgefahren war.

Wehling hatte die Haustüre zufallen lassen. Er schellte.

»Macht nichts. Die Tür ist schwer, das Schloss leichtgängig. So fällt sie leicht zu. Ist uns auch schon passiert«, schmunzelte die Frau des Hauses.

Eine Tasse durfte sie noch nachschenken, dann wollten die Beamten sich auf den Weg machen.

Wehlings Handy schellte. Die Zentrale hatte den Halter des gesuchten Fahrzeugs identifiziert. Es handelte sich um eine Vespa 125, zugelassen auf einen Herrn Westhoff, Blumenstraße 118, ganz in Ihrer Nähe ihres Standortes.

Er fragte Frau Kötter nach dem Namen.

»Den kennen wir gut. Er ist unser Nachbar, wenn auch einige hundert Meter entfernt. Er bewohnt das zweite Haus auf dieser Straße. Sie kommen auf dem Rückweg daran vorbei.«

»Was können Sie über ihn sagen?«

»Ein angenehmer Mann. Ich mag ihn. Er grüßt immer freundlich, wenn er uns begegnet. Manchmal unterhalten wir uns mit ihm. Wir kommen ab und an mit dem Fahrrad an seinem Haus vorbei. Er beschäftigt sich häufig in seinem Garten. Dann halten wir an und plauschen ein wenig. Warum fragen Sie, Herr Wehling?«

»Ihm gehört die blaue Vespa, die Sie gesehen haben, Frau Kötter.«

»Das stimmt! Ich kenne das Fahrzeug, aber er selbst ist nicht gefahren, Herr Wehling. Das weiß ich genau. Willi sitzt ganz anders auf dem Bock. Er hätte auch gewinkt. Ganz sicher. Er war es nicht.«

»Wir werden ihm einen Besuch abstatten.« Er trank seinen Kaffee aus und nickte Tracke zu.

****

Zehn Minuten später schellten sie bei Westhoff an. Als niemand öffnete, statteten die beiden Kollegen dem Garten einen Besuch ab. Alles ordentlich gepflegt und sorgfältig verschlossen. Die Tür zu einem Holzverschlag quietschte langsam hin und her. Es war ein einfaches Gartenhäuschen für allerlei Gerätschaften. Die Mitte war ausgespart. Der Spur und dem Abdruck des Ständers auf dem Holzboden nach, war es der Stellplatz für die Vespa. Sie inspizierten das Tor. Es war nicht aufgebrochen, aber frische Reifen- und Trittspuren waren auf dem Bretterboden gut zu erkennen.

»Was gibt’s hier zu entdecken?!« Ein älteres Ehepaar erschien hinter einem Golf mit aufgeklapptem Heck. Der Mann hielt einen Einkaufskorb in der Hand, die Frau einen Beutel mit Äpfeln.

»Herr Westhoff? Wir sind von der Wasserschutzpolizei. Mein Name ist Tracke, mein Chef, Polizeimeister Wehling.« Sie zeigten ihre Ausweise.

»Was suchen Sie auf meinem Grundstück?« Er bemerkte seinen leeren Schuppen. »Was ist passiert? Hat jemand meine Vespa gestohlen?«

»Sie besitzen ein blaues Motorrad?«

»Vespa 125«

»Herr Westhoff, wann haben Sie das Motorrad zum letzten Mal gefahren oder gesehen?«

»Vespa! Heute früh war ich damit zum Bäcker. Ich habe Brötchen geholt. Zum Einkaufen sind meine Frau und ich mit dem Wagen gefahren.

»Guten Tag meine Herren, angenehm.«

»Wie lange waren sie unterwegs?«

»Wir waren eine Runde spazieren. Es war kurz nach neun Uhr. Danach haben wir bei Edeka eingekauft. Anschließend sind wir zum Essen in die Dorfschänke. Jetzt sind wir hier. Gibt es etwas zu besprechen? Lassen Sie uns hineingehen. Sie könnten die Kartoffeln tragen.«

Tracke half gern. Wehling trug die Milch. Damit waren den beiden die schwersten Dinge bereits abgenommen. Durch eine quietschende Hintertür betraten sie die Küche. Seine Frau blickte Westhoff missfällig an.

»Heute Nachmittag. Das Öl steht schon auf der Spüle«, entschuldigte er sich unaufgefordert.

Die Beamten sollten sich setzen.

»Herr und Frau Westhoff, wie Sie schon richtig vermutet haben, wurde Ihr Mofa, ich meine Ihre Vespa entwendet. Wir können nicht ausschließen, dass sie bei einem Verbrechen benutzt wurde.«

»Bitte?«

»Wir können aus kriminaltechnischen Ermittlungen leider keine Auskunft geben. War das Fahrzeug gesichert?«

»Ich habe die Maschine im Schott abgestellt. Der Schlüssel befindet sich im Kasten. Ich sichere es außerdem immer mit einer Kette an der Dachstütze. Aber …« Er wurde verlegen.

»Heute nicht?«, ahnte Hallstein

»Es könnte sein, dass ich es heute nicht gesichert habe, denn ich wollte nach dem Frühstück zum Einkaufen. Aber dann sind meine Frau und ich mit dem Auto gefahren. Kartoffeln und Milch passen schlecht zusammen in die Box.«

Wehling fischte sein Handy aus der Innentasche.

»Wehling … wo? … schicken Sie mir bitte die Daten und die Aufnahme aufs Handy … Danke. Melden Sie es an die Kollegen der Straßenpolizei.« Er legte auf und wollte es gerade wieder in die Jackentasche stecken, als sich eine Nachricht meldete.

»Herr Westhoff, ist das ihre Vespa?«

Die Maschine lag auf der Böschung vom Leinpfad zum Deich. Der Fahrer war offensichtlich gestürzt. Westhoff kamen die Tränen.

»Meine schöne Maschine! Es ist zum Heulen. Wer tut so etwas? Verdammte Drecksau! Hoffentlich hat er sich die Knochen gebrochen. Wo haben Ihre Leute sie gefunden?«

»Sie liegt einige Kilometer von hier auf der Deichböschung. Die Kollegen der Straßenpolizei sind informiert. Sie werden sich in Kürze bei Ihnen melden.«

Ein Wink zu Tracke und sie fuhren los.

2. Kapitel – Dienstag, 10. September

Berendtsen kam gerade aus der Mittagspause, als Uschi ein Telefonat der Kriminaldirektorin Vera Zimmermann durchstellte, der Leiterin des Polizeipräsidiums.

»Hallo Vera, was gibt’s Neues?«

»Albert, ich brauche deine Hilfe. Könntest du kurz zu mir ins Büro kommen?«

Berendtsen hatte es nicht weit. Wenige Minuten später stand er vor seiner ehemaligen Freundin im Büro.

»Gut siehst du aus. Braun gebrannt und gut erholt. Wie war es im Indischen Ozean? Hat es dir gefallen?«

»Wunderbar. Es war ein Traum. Diese Natur … jede Menge bunter Vögel, Kaffeeplantagen, Vanillepflanzen habe ich gesehen und Flughunde, Riesenschildkröten. Das Hotel … ein Traum. Weißer Sand, Palmen, Hängematte … aufmerksames Personal servierte Drinks und Burger auf Wunsch direkt an den Liegestuhl«, seufzte sie. »Nimm Platz. Kaffee?«

»Gerne.«

Als alles eingerichtet war, begann sie:

»Hast du zurzeit viel Arbeit, Albert?«

»Wie man’s nimmt. Mir hat man das Qualitätsmanagement aufgebrummt. Das ist keine schwere Arbeit, aber nervig. Es steht eine Revision an. Du kennst die Arbeit, die auf einen zukommt. Es müssen eine Menge Blätter gewälzt und eine Wagenladung Ordner gestapelt werden«, seufzte er. »Ich glaube manchmal nicht, dass das ganze Verfahren Sinn macht. Ich sehe ein, dass ein Procedere festgehalten werden muss, damit jeder weiß, woran er sich halten kann oder muss. Ich möchte nur zu gerne wissen, wieviel Leute danach handeln. Nun gut, es ist wie es ist. Wir wollen uns nicht beklagen.« Er trank einen Schluck, wischte sich den letzten Tropfen von der Unterlippe und vermutete: »Deswegen hast du mich nicht hergebeten, Vera.«

»Wann ist die Revision angesetzt?«

»Dreißigster September. Eine ganze Woche ist angesetzt, aber erfahrungsgemäß dauerte es bei dem alten Revisor nur bis donnerstags, weil er gut vorbereitet war und Hallstein und Frau Bremer gut mitziehen. In diesem Jahr kommt ein neuer Mann. Ich kenne ihn nicht. Er nimmt die Revision zum ersten Mal ab, wie mir zu Ohren gekommen ist. Die Formulare habe ich in diesem Jahr alle online gestellt, so dass man sie ausdrucken kann, wenn sie gebraucht werden. Man muss sich nicht mehr mit den Fotokopien beschäftigen. Das hat immer aufgehalten. Außerdem kann man sie am Rechner ausfüllen und als Datei speichern. Das sieht nicht nur ordentlicher aus. Es geht auch flotter. Ich denke, er wird das so abhaken.«

»Das wird er wohl. Einen Fall hast du im Moment nicht zu bearbeiten?«

»Nein, aber wenn du so fragst, hast du sicher einen für mich?«

»Es geht um einen Kanuunfall auf der Lippe. Gestern um die Mittagszeit.« Sie erklärte kurz den Sachverhalt. »Gerade habe ich Bescheid bekommen, dass das Kanu noch immer nicht gefunden wurde, auch von dem Ruderer fehlt jede Spur. Er oder sie ist nirgendwo aufgetaucht.«

»Ich will dir gerne helfen, Vera, aber handelt es sich um ein Tötungsdelikt? Ich möchte nicht der Wasserschutzpolizei auf die Füße treten. Außerdem haben diese Leute mehr Erfahrung in Sachen Ertrinken.«

»In dem Punkt stimme ich mit dir völlig überein, Albert. Es ist nicht deine Angelegenheit, aber ich möchte die Sache akribisch untersucht haben. Mir geht die Aussage dieser Frau Dr. Kötter nicht aus dem Sinn, die erkannt haben will, dass dieser Mann mit dem Tode gerungen hat. Ich kenne die Frau. Sie weiß, was sie sagt. Ich bin ab und an noch bei ihr in der Praxis. Außerdem glaubt sie, Blut gesehen zu haben.«

Berendtsen überlegte still. Er kramte seine Tüte mit den Gummibärchen aus der Tasche. Vera bediente sich gerne.

»Das ist deine Sucht, nicht wahr, Albert? Seit wann hast du dieses Laster? Als wir noch zusammen waren, hattest du den Fimmel noch nicht.«

»In Hamburg hat es begonnen. Ein Kollege hatte dieses Laster. Ich sollte ihm böse sein«, lachte Albert.

Vera ließ ihn nachdenken.

»Also … ich könnte mich mit dieser Frau Doktor … Wie heißt sie?«

»Kötter. Käthe Kötter. « Sie übergab ihm die Akte. »Siebzig Jahre ungefähr, Praxis in Polsum.«

Albert klappte die Mappe auf. Sie enthielt nur ein einziges von Hand ausgefülltes Formblatt, abgezeichnet von Polizeiobermeister Frank. Ein Bericht über das sichergestellt Motorrad. Albert zog die Stirn in Falten.

»Bist du sicher, dass das die Akte vom Kanu ist? Sieht nach einer Vespa aus.«

»Es ist nicht das meiste, Albert. Ich weiß. Es fehlt noch der Bericht der Wasserschutzpolizei. Ich habe ihn angefordert. Ich warte drauf. Inzwischen habe ich ein Protokoll erstellt, auf der das Geschehen mit dem Kanu von mir nach einem Telefongespräch mit Frau Dr. Kötter aus dem Gedächtnis aufgeschrieben wurde.«

Sie schob ihm das Blatt über den Tisch.

»Das ist gar nichts.« Er erhob sich. »Trotzdem. Ich werde mich dir zuliebe mit Frau Dr. Kötter unterhalten. Kann ich Hallstein mitnehmen oder soll es unter uns bleiben?«

»Wie du möchtest, Albert. Ihr seid ein gutes Team. Ich wünsche euch viel Erfolg.«

****

In seinem Büro drückte er seinem Assistenten Oliver Hallstein die Mappe kommentarlos in die Hand. Hallstein drehte und wendete das einzige Blatt, dessen Rückseite nicht beschrieben war, sah auf dem Boden nach, als vermisse er etwas und blickte seinem Chef Albert gespannt in die Augen.

»Was sollen wir damit?«

»Ermitteln.«

»Wir ermitteln in einem Fall mit einem gekenterten Kanu und einem geklauten Moped?«

Ein Grinsen konnte Oliver Hallstein nicht vermeiden. »Hat sie dich degradiert? Nächste Woche Streife?«

Er lachte laut auf und tippte dabei Berendtsen mit der Mappe auf den Kopf.

»Und du sollst nachts den Polizeiparkplatz überwachen«, setzte Berendtsen das Spiel fort. »Im Ernst: Vera hat mich gebeten, dieser Frau Doktor einen Besuch abzustatten. Ich hätte dich gerne dabei. Hier habe ich ein Dokument, das wir dazu heften müssen. Es sind die Angaben der Frau Dr. Kötter, die Vera aus dem Gedächtnis niedergeschrieben hat.«

»Natürlich mache ich mit. Gerne sogar. Es liegt im Moment nichts anderes an. Mein Schreibtisch ist aufgeräumt. Deine QM-Blätter sind wie jedes Jahr fein säuberlich ausgefüllt und abgespeichert. Das hast du in diesem Jahr neu arrangiert, habe ich gesehen. Finde ich großartig! Erleichtert die Arbeit. Schön, dass du dich so gut auskennst. Was macht deine App, die du programmierst?«

»Habe nicht viel dran getan in der letzten Zeit. Erst müssen wir die Revision hinter uns gebracht haben.«

»Wie fangen wir an?«

Während er den schweren Locher zu sich drehte, ging ihm das Bild vom einsamen Parkplatzwächter in der Nacht durch den Kopf und er musste erneut laut lachen. Voller Übermut schlug er in alberner Weise mit der Faust kräftig auf den Hebel mit dem Erfolg, dass er wegen des ungenauen Schlags das Papier verschob und die Löcher nicht zu gebrauchen waren. Er versuchte es sogleich noch einmal sachlich und heftete Veras Blatt obenauf.

»Sooo … Das wäre dies! Wie gehen wir also vor?«

»Wir fahren auf die Blumenstraße und interviewen Frau Dr. Käthe Kötter. Außendienst bei schönem Wetter! Was wollen wir mehr? Weißt du, wo diese Adresse zu finden ist?«

Hallstein hatte es in seinem Handy gefunden. »Ich weiß, wo es ist. Ich kenne das Gelände.« Er schickte das Ziel an das Navigationssystem in seinem Wagen.

****

Die beiden Kommissare machten sich auf den Weg nach Dorsten, Ortsteil Hervest, Blumenstraße 126. Hallstein steuerte, Berendtsen verteilte Gummibärchen. Wie immer standen sie vor der roten Ampel an der alten Lippebrücke.

»Hier muss es gewesen sein, Albert.« Hallstein zeigte seinem Kollegen das Flussufer und den Deich, von dem aus Frau Dr. Kötter das Unglück beobachtet hatte. »Dort auf der anderen Seite sind die beiden Bootshäuser.«

Berendtsen verschaffte sich einen Überblick.

Als sie nach dem schier endlos erscheinenden Gegenverkehr, der sich auf der anderen Seite der Ampel gebildet hatte, endlich losfahren konnten, hatte ein »Trottel«, wie Hallstein diese Art Fahrzeugführer zu nenne pflegte, den Kreuzungsbereich nicht freigehalten und ein endloses Rangieren erforderlich gemacht. Als sie schließlich von der Hauptstraße in den Wald abbiegen konnten, checkte Berendtsen auf seinem Smartphone die Umgebung.

»Wusstest du, Oliver, dass sich hier ein so großes Waldgebiet ausdehnt? Über die Hauptstraße bin ich oft schon gekommen, aber ich war noch niemals hier.« Ein weiteres Bärchen fand den Weg zwischen seine Zähne. Nach seiner neusten Marotte biss er sie durch und betrachtete den Querschnitt, ehe er sie vertilgte.

»Würde mich nicht wundern, wenn hier gleich ein Wolf auftaucht. Mit einem Körbchen im Maul samt Wein und Brot.«

»Und Gummibärchen«, ergänzte Oliver, »wenn Oma ihren Enkel kennt.«

»Scheint ›jwd‹ zu sein, wie der Berliner sagt.« Auf Olivers Blick hin ergänzte er: »Janz weit draußen. Es handelt sich vermutlich um eine Art Bauernhof.«

»Es gibt hier am Lippeufer eine Familie Kötter, die ein Trainingszentrum für Ruderer unterhält.« Er konzentrierte sich auf die Straße. Ein Unimog kam ihnen entgegen mit gelbem Blinklicht, gefolgt von einem Tieflader, der wegen seiner Überbreite ebenfalls auffällig beleuchtet war. »Habe ewig keinen Unimog mehr gesehen. Zuletzt bei der Bundeswehr. Das waren noch Zeiten … Dieses Zentrum hat einen guten Ruf«, fuhr er fort. »Sie haben den Achter der Baldeneyer auf ihrem Weg zur Deutschen Meisterschaft begleitet. Das war vor zwei Jahren. Im letzten Jahr habe sie sich in Kiel vorbereitet und sind nicht in den Endlauf gekommen. Soviel zu den Fähigkeiten. Allerdings muss ich eingestehen, dass vier Leute ausgewechselt worden waren. Der Leiter ist Professor Dr. Theodor Kötter, ein fähiger Kopf. War früher Dekan für Sport an der Kölner Uni. Als ›Streng, aber fähig‹ soll er bezeichnet worden sein. Der Familie werden große Reichtümer nachgesagt, sowohl auf dem Konto als auch an Immobilien.«

»Woher weißt du das, Oliver?«

»Es stand ein großer Bericht über den Mann in der Zeitung, als der ›RSV - Rudersportverein Essen Süd‹, wie sie sich nennen, die Meisterschaft gewonnen hatte. Außerdem wurde das Trainingszentrum an der Lippe im Aktuellen Sportstudio gezeigt. Kötter hat, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, in Köln Radprofis getrimmt. Zu Beginn seiner Laufbahn hat er den Radsportler Rudolf Decker im Rahmen seiner Doktorarbeit betreut. Als der sich auf der Tour de France das Gelbe Trikot überstreifen durfte, hat er sich öffentlich bei Kötter bedankt. Als Decker in dem Jahr auch noch Weltmeister auf der Straße wurde, war das der Durchbruch seiner Karriere. Was in der Welt der Radprofis auf sich hielt, trainierte unter seiner Leitung.«

»Du bist eifriger Abonnent der Sportschau. Ich weiß.«

»Aktuelles Sportstudio, Albert. Das läuft am Samstagabend im ZDF.«

»Ist mir wohlbekannt. Schließlich habe ich davon den Klingelton ›Up to Date‹, wie du weißt.«

Sie fuhren einige Minuten. Hallstein hatte ein Hinweisschild erspäht: »Parken Trainingszentrum« mit einem Pfeil nach rechts. Ehe er einbog wies Berendtsen ihn auf ein rotbraunes Ziegelhaus hin.

»Das Haus dort könnte es sein.«

Hallstein parkte den Wagen gegenüber dem Gartentor.

»Donnerwetter, welch ein Gelände!«, staunte Berendtsen. Ein schmiedeeiserner Zaun schirmte mit seinen Messingspitzen den Vorgarten ab. Die Eingangstür überdachte ein massiver alter Stein, in dem das Alter eingemeißelt war: »anno domini 1844«.

****

Sie schellten an. Frau Kötter empfing die Herren in ihrer Garten-Garderobe, wie sie erklärte. Altes T-Shirt, Cordhose und niedrige gelbe Gummistiefel. Berendtsen bemerkte ihre dichten, mit einem Gummiband zusammengehaltenen Haare mit einem leichten Grauschimmer. Um ihren Hals hielt ein goldenes Kettchen eine Lesebrille. Mit der einen Hand stützte sie sich auf einen Gehstock, mit der anderen hielt sie sich an der Klinke. »Guten Tag, meine Herren. Sie sind von der Kripo?«

»Berendtsen, mein Kollege Hallstein.« Sie zeigten ihre Ausweise. »Sie wissen bereits, dass wir kommen?«

»Klara Kötter. Vera Zimmermann hat mich informiert. Sie hat mir nicht gesagt, dass sie so kurzfristig zu Besuch kommen. Bitte, treten Sie ein. Entschuldigen Sie mein Outfit. Ich war gerade bei der Gartenarbeit.«

Das gleiche Procedere. Durch den Flur, vorbei am Wohnzimmer, über die Terrasse durch den Garten. Berendtsen musste seine Schritte zurückhalten, um nicht gegen die Stöcke zu treten.

»Bitte, meine Herren, gehen Sie ruhig voran. Ich bin zurzeit nicht recht flott. Ich habe eine neue Hüfte, wie Sie sicher bemerkt haben.« Dabei klopfte Sie leicht mit dem Gehstock auf ihre rechte Seite.

Bis endlich die Natursteintreppe erklommen war, dauerte es eine Weile. Leicht außer Atem durch die mangelnde Bewegung während des Krankenhausaufenthaltes entschuldigte sie sich.

»Die Reha wird mich schon wieder an normales Tempo gewöhnen.«

»Wohin geht’s?«

»Bad Sassendorf.«

»Ich denke, dort sind Sie in den besten Händen. Man hört nur Gutes von den Leuten.« Berendtsen sah sich um. »Nun berichten Sie uns mal den Ablauf des Geschehens.«

Klara Kötter wiederholte nun zum dritten Mal geduldig ihren Bericht.

»Hat er stark geblutet?«, wollte Hallstein wissen.

»Seit heute Nacht, als mir das Geschehen wieder vor die Augen kam, Herr Kommissar, bin ich mir gar nicht mehr so sicher. Schon weil man ihn nicht gefunden hat. Ich hoffe inständig, dass ich mich geirrt habe. Sein Trikot erschien mir ganz verschmiert. Ursprünglich ist es wohl weiß gewesen.«

»Es muss nicht lebensgefährlich sein, wenn man stark blutet.«

»Ich weiß. Es kommen Leute blutverschmiert in die Praxis und es stellt sich heraus, sie haben Nasenbluten oder Kinder haben eine Platzwunde am Kopf. Das sieht jedes Mal schlimmer aus als es ist. Was mir allerdings Sorgen bereitet, ist diese Kraftlosigkeit, die der Mann an den Tag legte. Er hatte Mühe, seine Arme zu heben oder Schwimmbewegungen auszuführen. Mit einer kleinen Verletzung hätte er problemlos das Ufer erreichen können. Mir kam es beinahe so vor, als hätte der Mann gar nicht schwimmen können. Er machte eher unkoordinierte Bewegungen.«

»Können Sie den Mann beschreiben? Jung? Alt?«

»Junger Mann, kräftig.«

»Haarfarbe?

»Herr Kommissar, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Nicht blond. Die Haare waren nass, wie sie wissen. Die meisten Haare sehen nass dunkler aus als trocken.«

»Sie haben das Mofa erkannt. Ist Ihnen dazu noch etwas eingefallen?«

»Es war eine Vespa, Herr Hallstein, mit einem Staukasten hinter dem Sozius. Wie sich herausstellte, gehört sie unserem Nachbarn, Herrn Westhoff. Er ist selbst nicht gefahren. Sie wurde ihm gestohlen.« Sie wies mit einem Gehstock auf die Gartenmöbel. »Können wir unser Gespräch dort führen? Ich spüre meine Beine.«

Sie nahmen unter dem Apfelbaum Platz.

»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«

Sie einigten sich auf Wasser, das auf dem Tisch stand. Hallstein durfte die Gläser aus der Spülmaschine holen.

»Sie leben nicht allein hier«, begann Berendtsen das Gespräch, während er das riesige Areal taxierte. »Sie haben nicht nur ein wunderbares Haus auf einem riesigen Grund und Boden, das viel Aufmerksamkeit erfordert, sondern, wie ich erfahren habe, betreiben Sie auch ein Trainingszentrum. Ist das richtig?«

»Die Hoheit über das Zentrum liegt allein bei meinem Mann. Ich kann da nicht mitreden. Ich betreibe eine Praxis für Allgemeinmedizin in Polsum.«

»Ist die Praxis zurzeit geschlossen?« Berendtsen deutete auf ihre Hüfte.

»Nein, nein. Es handelt sich um eine Doppelpraxis. Ich habe seit langem einen Kollegen, der die Praxis führt. Er verrichtet den Hauptteil der Arbeit. Ich widme mich den Patienten, die immer schon von mir behandelt wurden oder denen, die mich unbedingt konsultieren möchten. Denen stehe ich gerne zur Verfügung. Es macht immer noch Spaß.«

»Haben Sie Kinder?«

»Ein Mädchen und einen Jungen. Benedikt bildet sich fort im Ruderleistungszentrums in Dortmund. Annalena ist leidenschaftliche Radsportlerin und verfeinerte ihre Kenntnisse im Zentrum für Radsport an der Universität in Halle. Sie schmieden zusammen große Pläne. Annalena fördert und fordert den weiteren Aufbau eines Trainingszentrums für Radsport als Ergänzung unserer bestehenden Anlage für Rudersport. Sie hält es für sinnvoll, weil diese Sportarten auf Ausdauer ausgelegt sind und die Trainingsmethoden sich ergänzen könnten. Eine erste Anlage ist bereits auf dem Hof hinter den Ruderern entstanden. Meine Praxis wollten die Kinder zu einem Gesundheitszentrum ausbauen. Von ihren Vorhaben können sie stundenlang erzählen. Oft sitzen sie sonntags lange Zeit hinten im Garten auf der Bank und phantasieren von den zukünftigen internationalen Erfolgen ihrer Athleten.«

»Darf ich fragen, wo ihr Mann sich aufhält?«

»Er ist in Köln, beinahe jeden Dienstag. Da fällt mir ein, das Telefon hat zwischendurch einmal geläutet. Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment. Ich sehe nach. Vielleicht hat er mir eine Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen.«

Berendtsen bewunderte das alte Haus. Es war wunderbar restauriert. Das Fachwerk exakt herausgearbeitet und das Holz der uralten Eichentür frisch gebeizt. Die Sprossenfenster waren weiß lackiert. In der ersten Etage war ein Fenster gekippt, ein anderes stand offen. Eine weiße Gardine bewegte sich leicht im Wind. Es herrschte absolute Ruhe, manchmal unterbrochen von einem leisen Rauschen in der Baumkrone. Einzelne braune Blätter einer Birke segelten durch die Luft und fielen irgendwo herab. Unter dem Dach der alten Scheune erschien eine Rauchschwalbe, drehte ihren Kopf mehrmals hin und her, um dann mit wenigen Flügelschlägen Höhe zu erreichen und mit elegantem Schwung davonzusegeln. Er hätte sich gerne einmal in dem Haus umgesehen. Zwar war er von vorne nach hinten durch das Haus gelaufen, aber durch die Anspannung auf dem Weg zum Tatort hatte er wenig registriert.

Ein Teil des Gartens war in Rabatte eingeteilt. Drei waren für Blumen reserviert, auf einem anderen machte er Tomaten aus, daneben Bohnen. Weiter hinten gab es Erdbeerpflanzen. Am Ende eines gepflegten Rasens reckte sich ein stolzer Fliederbusch mit den braunen Resten der Blütenstände, weiter hinten ein kleiner. Durch die Mitte führt der Weg, den sie gerade gegangen waren, eingefasst von Rosensträuchern, Vergissmeinnicht, Salbei, Kamille und Lavendel. Ein Abzweig führte zu einem Gartenhäuschen. Die Tür stand offen. Über der Klinke lag eine Kittelschürze. Davor stand ein Eimer mit ausgehacktem Unkraut. Das entsprechende Werkzeug lag auf dem Weg oder lehnte an der Tür. Auf der anderen Seite erstreckte sich eine Rasenfläche und dahinter hatte man den Rest des Gartens sich selbst überlassen. Berendtsen erkannte Löwenzahn, Wollgras und Schafgarbe. Weiter hinten leuchteten herrschaftlich die Blüten des roten Fingerhuts. Von den anderen vielfältigen Pflanzen wusste er die Namen leider nicht. Mitten auf dieser Wiese erkannte er einen Kirschbaum.

»Ziemlich viel Aktivität für jemanden nach einer Hüftoperation«, ging ihm durch den Kopf. Dann sah er einen Mann mit einem Plastikeimer aus der Gartenlaube treten. Er nahm die Schürze von der Klinke, besah sie von der einen, dann von der anderen Seite, warf die Schlaufe über den Kopf und band sie am Rücken zusammen. An der grünen Mütze mit der Aufschrift eines Gartenbauunternehmens erkannte er den Gärtner. Er liftete andeutungsweise seine Mütze und grüßte mit einem leichten Kopfnicken. Berendtsens Antwort sah er nicht.

»Der Anruf war leider nicht von meinem Mann. Er sollte bald zurück sein.« Sie nahm Platz und trank einen Schluck Wasser. Hallstein schenkte nach.

»Seit wann besitzen Sie dieses wunderbare Anwesen?«, wollte Berendtsen wissen.

»Das Haus wurde im Jahre 1845 fertiggestellt. Seit der Zeit ist es in Familienbesitz. Auf dem Stein am Eingang steht die Zahl 1844, aber die Fertigstellung hat sich verzögert. Das kam damals auch schon vor.« Sie schmunzelte. »Es gab nach einem völlig verregneten Sommer im Herbst Vierundvierzig Hochwasser in der Lippe und ringsum war alles überschwemmt. Das Haus und die Stallungen nicht, weil alle Gebäude vorsichtshalber auf diesem künstlich aufgeworfenen Hügel gebaut wurden. Wir haben zu Anfang der fünfziger Jahre selbst einmal ein Hochwasser miterlebt. Die Keller waren von der Flut und das dadurch steigende Grundwasser überschwemmt, aber in den Wohnräumen ist es trocken geblieben. Mit einem kleinen Ruderboot, das wohl zu Anfang gleich angeschafft wurde, sind meine Urgroßeltern immer bis ins Dorf gefahren. Dort gab es einen Anleger. Dann wurde der Deich gebaut. Jetzt ist Ruhe. Das Boot steht dort in der alten Scheune. Ich weiß nicht, ob es noch fahrbereit ist. Wir haben es seitdem nicht mehr benutzt. Man hätte es längst entsorgen sollen, aber Sie wissen, wie das ist, Herr Kommissar. Je mehr Platz vorhanden ist, desto mehr wird verwahrt. Es gab auch zwei Pferde, mit denen man durch die Flut reiten konnte. Es hängt eine Zeichnung von den beiden Zossen, die vor dem Scheunentor stehen, in meinem Arbeitszimmer. Die Mutter meiner Großmutter hat es gemalt.« Sie hörten das Garagentor. »Da scheint er zu sein.« Ein Wagen fuhr hinein, das Tor schloss sich. Einen kurzen Moment später trat Kötter aus der Seitentür. Ein großer aufrechter Mann in Jeans und leichtem Pullover samt den obligatorischen weißen Sandalen, hinten mit plattgetretenem Riemchen, nicht mehr die neusten.

Berendtsen und Hallstein erhoben sich.

»Guten Tag meine Herren.«

»Guten Tag, Herr Professor Dr. Kötter. Wir sind von der Kriminalpolizei. Berendtsen, mein Kollege Hallstein.«

»Kötter, einfach nur Kötter, Theodor oder Theo, wie mich alle nennen. Wir wollen schließlich keine wertvolle Zeit mit Floskeln verschwenden.«

Er gab seiner Frau einen flüchtigen Kuss auf den Mund. »Hallo meine Liebe.«

Diese Aussage machte ihn in Berendtsens Augen sympathisch.

»Wie war’s an der Uni, Theo? Du bist spät dran. Bist du mit diesen Sandalen …«

Der Professor sah an sich herunter.

»In der Vorlesung habe ich die neuen Schuhe angehabt. Ich habe mir eine Blase an der Hacke geholt. Da habe ich mich an diese Latschen im Kofferraum erinnert. Ich hatte sie mitgenommen, um sie zu entsorgen. Hatte ich leider – oder Gott sei Dank - heute Morgen vergessen.« Er freute sich.

»Jetzt liegen die neuen im Auto?«

»Ich hole sie gleich.«

»Du bist spät dran.«

»Leverkusen spielt zuhause.« Er zuckte mit den Schultern. »Was macht die Kripo in unserem Garten?«

»Sie sind wegen des Kanufahrers hier.«

»Haben Sie ihn?«, fragte er die Kommissare.

»Wir sind keinen Schritt weiter.«

»Ich musste heute den ganzen Tag daran denken! Schließlich habe ich Frau Zimmermann angerufen. Ich wollte wissen, ob ich mich geirrt habe.«

»Wen?«

»Vera Zimmermann, Chefin der Dienststelle dieser beiden Kommissare. Sie hat mir zugesagt, diese Sache akribisch untersuchen zu lassen.«

»Woher kennst du die Frau?«

»Sie kommt ab und zu in meine Praxis. Ich dachte, sie könne einmal etwas für mich tun. Sie hat mir versichert, sie schickt ihre besten Leute. Sind Sie die besten Leute?« Sie lächelte die Kommissare an.

»Wir tun, was wir können. Wir werden Sie nicht enttäuschen, hoffen wir.«

Die Kommissare machten sich auf den Weg. Unterwegs hielten sie kurz bei Westhoff an, standen aber vor verschlossener Tür. Sie gingen um das Haus herum, den Garten zu sehen. Die Laube war zugesperrt. Dieser Überblick musste fürs Erste genügen. Also beschlossen sie, für heute Schluss zu machen.

****

Als Berendtsen in die Puccinistraße einbog, winkte ihm sein Nachbar zu, Franz Roloff, Chefredakteur der Ruhrzeitung, der gerade sein Garagentor öffnete. Berendtsen hupte kurz und bat ihn per Handbewegung, auf ihn zu warten.

»Hallo Franz, ich brauche deine Hilfe. Hast du einen Moment?«

»Für dich immer. Was kann ich tun?«

»Was weißt du über dieses Trainingszentrum an der Blumenstraße?«

»Du meinst das Trainingszentrum Lippe für Rudersport? Sie machen einen guten Job. Ein Professor Dr. Kötter ist der Inhaber. Er hat in Köln studiert, ist dort promoviert worden und schließlich bekam er ebenda den Lehrauftrag für Sport. Er war sogar mal Dekan dieser Fakultät. Was ist mit ihm?«

»Keine besonderen Vorkommnisse?«

»Oh doch! Er hat den Achter zum Deutschen Meister gemacht. Er engagiert sich für den Breitensport und hat – wenn mich nicht alles täuscht – ein Patent auf Trainingsgeräte. Er verdient richtig Kohle. Ich war beim ersten Spatenstich dabei, zusammen mit dem Architekten, dem Bürgermeister, dem Chef des Bau- und Planungsamtes, dem Vertreter des Bauunternehmens und einem Kollegen eines anderen Blattes, dessen Namen ich hier nicht nennen möchte.« Er lachte, weil jeder wusste, dass es sich um die Emscher Tagespost handelte, seinen Mitbewerber. »Außerdem einige andere Leute, die Kinder, Freunde. Das Fest war draußen geplant, aber es musste ganz schnell alles ins Haus verlegt werden, weil es nach Regen aussah. Der kam dann auch. Heftig! Bei der Gelegenheit war ich in dem Haus der Kötter. Es ist ein altes, wunderbar hergerichtetes altes Fachwerkhaus.«

»Woher haben die Leute so viel Geld? Hat der Professor das alles mit den Trainingsgeräten verdient?«

»Das Geld hat die Frau. Klara Kötter, eine geborene Bachmann. Die hatte keine Geschwister. So hat sie alles geerbt. Den ganzen Hof, mit allem Drum und Dran.«

»Woher hat denn ein Bauer so viel Geld?«

»Bauer war der Vater nicht. Der war Millionär. Das kam so:

Der Familie Bachmann gehörte das Land bis ans Lippeufer. Dann rückte der Bergbau weiter vor und seine Wiesen standen ständig unter Wasser. Dafür musste die Ruhrkohle Entschädigung zahlen. Schließlich waren sie es leid und haben ihm ein Angebot gemacht. Der Alte hat aber kein Geld genommen, sondern wollte Ausgleich, denn Geldscheine fraßen seine Tiere nicht. Er hatte einen Haufen Kühe und Schweine, einige Hühner und Gänse - und zuerst noch zwei Arbeitspferde. Was man früher auf einem gutgehenden Bauernhof so an Viehzeug hatte. Also haben sie ihm in Hervest neues Weide- und Ackerland verschafft. Den Rest hat er behalten. Das ist das Anwesen, das die Familie heute bewohnt und auf dem sie die Nebengebäude gebaut hat. Was keiner ahnen konnte, auch der Alte - wahrscheinlich – nicht, dass die ganzen Hektar, die er eingetauscht hatte, gegen Ende der fünfziger Jahren Bauland wurden. Der alte Bachmann hat sich im Schlaf beschissen.«

»Das glaube ich auch.«

»Er ist im Dorf auf dem alten Friedhof beerdigt. Das war im Jahre 1966. Ich war damals der Messdiener mit dem ollen Pastor Lüdde. Es hält sich das Gerücht, dass, wer einmal an seinem Grab innehält, ein stilles Gebet spricht und die Ohren spitzt, ganz leise jemanden lachen hören kann.«

»Mach es gut! Schönen Feierabend.«

»Einen Augenblick! Warum fragst du. Gibt es eine neue Schlagzeile?«

»Noch nicht. Aber ich verspreche dir …« Berendtsen verabschiedete sich mit einem erhobenen Daumen.

»Was gibt’s zu schmunzeln?«

Irmgard hatte seinen Wagen gehört, als sie in der Küche die Einkäufe verstaute und für ihren Mann ein Bier im Kühlschrank kaltstellte.