Ein ganz normaler Mord - Gerhard Nattler - E-Book

Ein ganz normaler Mord E-Book

Gerhard Nattler

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Beschreibung

Ausgerechnet an dem Tag, an dem Kommissar Berendtsen sich um seine Frau kümmern muss, geschieht vor dem Dorstener Elisabeth-Krankenhaus ein Mord unter den Augen mehrerer Zeugen. Selbst Berendtsen hat wenige Minuten vor der Tat mit dem Opfer gesprochen. Trotz genauer Beobachtung des Geschehens ist keine Lösung in Sicht. Im Gegenteil. Der Fall wird immer undurchsichtiger.

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Gerhard Nattler

Ein ganz normaler Mord

Mord im Park des Dorstener Krankenhauses

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

Kapitel 11.

Kapitel 12.

Kapitel 13.

Kapitel 14.

Kapitel 15.

Kapitel 16.

Kapitel 17.

Kapitel 18.

Kapitel 19.

Kapitel 20.

Kapitel 21.

Kapitel 22.

Kapitel 23.

Kapitel 24.

Kapitel 25.

Kapitel 26.

Kapitel 27.

Kapitel 28.

Kapitel 29.

Kapitel 30.

Kapitel 31.

Kapitel 32.

Kapitel 33.

Kapitel 34.

Kapitel 35.

Kapitel 36.

Kapitel 37.

Kapitel 38.

Kapitel 39.

Kapitel 40.

Kapitel 41.

Kapitel 42.

Kapitel 43.

Kapitel 44.

Kapitel 45.

Kapitel 46.

Kapitel 47.

Impressum neobooks

Kapitel 1.

Die Pforte des St. Elisabeth Krankenhauses öffnete sich automatisch bereits so frühzeitig, dass der Weg hinaus ins Freie ohne zu stocken möglich war. Berendtsen schritt über den mit Glas überdachten Steg und betrachtete den historischen Torbogen, der nach dem Abriss des alten Krankenhauses hier majestätisch wieder aufgestellt worden war. Er schlenderte weiter in den Park. Der Frühnebel hatte sich aufgelöst und die Sonne sich durchgesetzt. Sie gab ihr Bestes, was um diese Jahreszeit, Ende Oktober, ein wenig bescheiden ausfiel, da sie selbst um die Mittagszeit nicht mehr sehr hoch über dem Horizont stand. Es war gerade halb elf Uhr. Jedoch wärmten die Strahlen genug, Berendtsen zu veranlassen, seinen Trenchcoat offen zu knöpfen. Eine Rüge, nicht den neuen Lodenmantel übergezogen zu haben, war ihm sicher, aber er liebte seinen alten Trench. Er war leicht und die Taschen waren dort, wo sie hingehörten. Die Gürtelenden steckte er in die Manteltasche und entdeckte eine Tüte mit Gummibärchen. Er gönnte sich zwei weiße. Er ließ den Blick umherschweifen und lenkte seine Schritte in Richtung eines Rondells, in dem mehrere Bänke aufgestellt waren. Die sommerliche bunte Blütenpracht des sehr gepflegten Parks war den herbstlichen Farben gewichen. Der Wind der letzten Tage hatte für reichlich Laubfall gesorgt. Die Wege und die meisten Areale waren bereits geräumt, aber auf den Grünflächen unter den Bäumen gab es noch genug zu harken. Mitarbeiter eines Gartenbaubetriebs entleerten ihre Laubsauger auf einen schmalen Pickup. Ihre Geräte warfen sie auf das Laub. Der ältere der beiden, der mit der Schirmmütze, klatschte mit der flachen Hand in seinem derben Arbeitshandschuh an die Klappe der Pritsche, um den Fahrer aufzufordern weiter vorzufahren.

»Auf geht’s!«

Der Fahrer reagierte nicht.

Der Mann mit der Mütze schlug mit der Faust gegen die Fahrertür.

Der Fahrer faltete in aller Seelenruhe seine Ruhr-Zeitung über dem Lenkrad zusammen. Berendtsen kannte die Zeitung. Er hatte sie abonniert. Der Chefredakteur dieser Zeitung, Franz Roloff, war sein Nachbar auf der Puccinistraße in Dorsten.

Die Scheibe senkte sich und ein Kopf lehnte sich aus der Fahrertür.

»Wenn du eine Beule … Gnade dir Gott!«, schnauzte er, dass Berendtsen es über die Entfernung hin deutlich verstehen konnte.

Es gab keine Beule. Der Fahrer lockerte die Bremse und ließ den Wagen das leichte Gefälle hinabrollen, bis er an einem Anbau zu stehen kam, hinter dessen doppelter Stahltür der Laubcontainer zum Vorschein kam. Berendtsens Weg führte ihn zum Teich. An einer Stelle, an dem der Pflanzengürtel am Ufer unterbrochen war und freien Zugang zum Wasser erlaubte, sammelte sich eine Schar Enten um einen kleinen Jungen, der einige Krümel seines Plätzchens hatte auf die Erde fallen lassen. Die Lippen des kleinen Kerls, der gerade eben noch mutig mit Trippelschritten die Enten verfolgt hatte, verzogen sich und begannen zu zittern. Die Mutter rettete ihn mit sicherem Griff und nahm ihn auf den Arm. Wieder mutig geworden, verteilte das Kind aus sicherer Höhe neue Krümel und strahlte. Berendtsen dachte an seine eigenen Kinder. Die Zeit rennt, dachte er. Sophie studierte Jura in Münster und Maximilian Maschinenbau in Aachen. Er fischte zwei weitere Bärchen aus seiner Manteltasche.

»Guten Morgen, Herr Berendtsen, alles klar?«

Überrascht wandte er sich um.

»Guten Morgen, die Herren«, antwortete er instinktiv.

Zwei Männer saßen im Rondell der aus Eisenstäben geflochtenen Bänke, die auch an anderen Stellen im Park unregelmäßig aufgestellt waren, und lächelten ihn an. Einen der beiden Männer kannte er nicht. Der andere war ihm als Inhaber des Fleischerladens bekannt, in dem er seit seiner Rückkehr aus Hamburg Stammkunde war. Ein großer stämmiger Kerl, der wohl einen schweren Schinken stemmen konnte. Er war offensichtlich nicht kälteempfindlich, denn er war nur mit Jeans und einem kurzärmeligen blauen Poloshirt bekleidet.

»Was ist passiert, Herr Schlüter?«, fragte Berendtsen den Metzger mit Blick auf seinen verbundenen und angewinkelten linken Arm. »Gips?«

»Schiene hat gereicht, zunächst für eine Woche. Heute Mittag werde ich, so Gott will, entlassen. Nach der Abschlussuntersuchung kann ich nach Hause. Ich werde abgeholt.«

»Was ist passiert?«, wollte Berendtsen wissen.

»Geschnitten. Wir arbeiten alle mit scharfem Werkzeug. Da kommt es schon einmal vor, dass jemand etwas mehr abschneidet als nötig. Bei mir musste ein Schnitt im Arm genäht werden. Das war mehr als vorher angenommen und ich brauchte eine Kurznarkose. Deshalb muss ich bis heute Mittag zur Beobachtung hierbleiben. Ich sollte nicht hier draußen herumlaufen, aber …« Er blickte auf seinen Nachbarn. »Mein Zimmergenosse. Bronchien. Er braucht frische Luft. Wir drehen nur eine kurze Runde. Zu zweit macht ein Spaziergang nicht nur mehr Spaß, sondern ich kann auf ihn und er auf mich aufpassen.«

Der Zimmernachbar erhob sich. »Ich drehe einmal eine Runde um den Teich. Wir sehen uns«. Er verabschiedete sich und schlich pustend und pfeifend davon. »Warte auf mich.«

»Alles klar.«

Schlüter tippte mit einer Hand auf den Platz, den sein Zimmernachbar soeben verlassen hatte und bat Berendtsen sich zu setzen.

»Sie arbeiten meines Wissens schon lange bei der Polizei, Herr Berendtsen?«, wechselte der Metzger plötzlich das Thema.

»Stimmt. Schon recht lange. Und wenn mich kein Verbrecher erschießt, dann wird es auch noch eine Weile so bleiben«, lachte der Kommissar. Er zog die Tüte mit den Gummibärchen aus der Tasche des Trenchcoats und bot sie an. Schlüter nahm gerne. Berendtsen selbst nahm ebenfalls mehrere. Eines davon warf er geschickt in seinen Mund. Schlüter würdigte das Kunststück angemessen.

»Wäre es Ihnen möglich, sich einmal etwas Zeit für mich zu nehmen, Herr Berendtsen? Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten.«

»Natürlich. Schießen Sie los. Oder nennen Sie Zeit und Ort – ich bin da.«

»Haben Sie eine Telefonnummer für mich?«

Berendtsen durchsuchte seine Taschen. Dann fiel ihm ein, er hatte ein neues Kartenetui. Auf Knopfdruck lugte eine Visitenkarte hervor. Er zog einen Kugelschreiber aus der Tasche, nahm das Etui als Unterlage und schrieb Zahlen auf die Rückseite.

»Unter meiner privaten Mobilnummer bin ich immer zu erreichen.«

Schlüter steckte die Karte in sein Portemonnaie.

»Wenn Sie einen Augenblick Zeit hätten, Herr … ›Leitender Hauptkommissar der Kriminalpolizei in Reckling­hausen‹ sind Sie? Donnerwetter. Ein richtiges Kaliber. Haben Sie einen Augenblick Zeit?«

»Wichtig und dringend?«, fragte Berendtsen.

»Dringend nicht unbedingt, auch, aber wichtig.«

Berendtsen setzte sich zu ihm. »Erzählen Sie. Was ist passiert?«

Er ließ zwei Leute passieren. Dann begann er geheimnisvoll: »Die Verletzung an meinem Arm, Herr Berendtsen, war kein Unfall. Ich habe es bei der Einlieferung zwar so dargestellt, aber …«

Berendtsens Handy meldete sich mit der Melodie »Up to Date«, der Erkennungsmelodie des Aktuellen Sportstudios. Herr Schlüter unterbrach seinen Bericht.

»Gehen Sie nur ran.«

Der Kommissar hörte zu. »Meine Frau ist fertig. Alles okay. Gott sei Dank.«

»Gab es Anlass zur Sorge?«

»Sie ist Lehrerin, wie Sie wissen. Bei der Kontrolle der Hausaufgaben ist sie über den Rucksack eines Schülers gestolpert, der im Weg stand. Sie ist gefallen. Sie konnte nicht mehr auftreten. Folglich musste sie zur Untersuchung. Das ist so Vorschrift bei Unfällen in der Schule. Die Sekretärin hat mich benachrichtigt, meine Frau sei wegen eines Dienstunfalls ins Dorstener Krankenhaus gebracht worden. Auf Nachfrage hat man mir schließlich die Details erklärt. So war ich beruhigt. Der Arzt hat sich für eine Röntgenaufnahme entschieden. Ich bin hergekommen, sie abzuholen. Sie steht am Empfang und wartet auf mich. Würde es Ihnen etwas ausmachen, das Gespräch heute Nachmittag zu führen?«

»Dann werde ich mich heute am Nachmittag nach meiner Entlassung bei Ihnen melden.«

»Nur wenn es Ihnen recht ist, Herr Schlüter.«

»Geht klar. Heute Abend ist es früh genug. Im Krankenhaus kann man das Gespräch schlecht führen. Es sind immer Leute um einen herum. Man hat nicht die Ruhe. Bringen Sie ihre Frau heile nach Hause. Grüße und alles Gute an sie, Herr Hauptkommissar.« Er betonte den Rang mit ein wenig Stolz, jemanden in solch wichtiger Position persönlich kennengelernt zu haben.

Berendtsen hatte seinen Dienstwagen direkt neben dem Ausgang geparkt. Er hatte das kleine Blaulicht hinter dem Kühlergrill eingeschaltet und ein eigenhändig angefertigtes Schild hinter die Windschutzscheibe geklemmt: »Polizei im Einsatz«. Es war nicht lege artis, aber der Zweck heiligte insofern die Mittel, als seine Frau nicht auftreten konnte. Sie kam ihm mit zwei Unterarm-gehstöcken humpelnd entgegen und schaffte es mit einiger Mühe bis zum Wagen. Der linke Fuß war reichlich bandagiert. Den Schuh hatte sie in einer Plastiktüte am Griff des Gehstocks angehängt.

»Wie geht’s?«, fragte er zutreffend mit Blick auf den Verband.

»Es geht«, lächelte sie.

»Dann geht’s ja«, witzelte er und half ihr, den Fuß in den Wagen zu hieven. »Es sieht sportlich aus«, munterte er seine Frau auf. Er lief um den Wagen herum und warf einen flüchtigen Blick zurück auf die Bank. Schlüter saß immer noch dort. Alle anderen Bänke waren inzwischen unbesetzt. Berendtsen sah auf die Uhr. Halb zwölf wurde das Mittagessen serviert. Die Leute hatten sich auf ihre Zimmer begeben. Auch die Mutter war nicht mehr zu sehen. Der Linienbus, der das Krankenhaus anfuhr, bremste kurz ab, hielt aber nicht an. Es gab keinen Fahrgast, der aussteigen oder aufgenommen werden wollte.

Berendtsen setzte den Wagen in Bewegung und entschied sich für die Ausfahrt, die dem Hinweisschild nach dem Krankentransport und der Buslinie vorbehalten war. Seine Frau warf ihm einen strengen Blick zu.

»Die Polizei ist im Einsatz«, entschuldigte er sich und nahm das Schild vom Armaturenbrett.

Sie hatten es nicht weit bis zur Puccinistraße, aber die Fahrzeit übertraf alles, was er bisher erlebt hatte. Zunächst fuhren sie zur Apotheke des Herrn Simons, um die verschriebenen Tropfen abzuholen. Währenddessen hatte es einen Unfall auf der Willy-Brandt-Allee gegeben und der Verkehr stand still. Es gelang ihm, mit Hilfe seines Blaulichts die Fahrspur zu wechseln. Dieses Mal schmunzelte seine Frau über den privaten Einsatz des Blaulichts.

»Krankentransport« lieferte sie als Ausrede.

Über das Areal einer Tankstelle erreichte er die Gladbecker Straße und konnte am Tennisplatz vorbei über die Feldmark ausweichen. Berendtsen hielt den Wagen in der Einfahrt an. Irmgard wartete, bis er ihr die Tür öffnete und die Gehstöcke entgegennahm. Sein Nachbar, Franz Roloff, hatte die Situation sofort erkannt und eilte zu Hilfe.

»Was hast du gemacht, Irmgard?«, fragte er besorgt. »Schmerzen?«

Sie nickte. Sie wollte zuerst ins Haus, den Fuß hochlegen. Dann berichtete sie detailliert ihrem Mann und dem Nachbarn von ihrem Missgeschick. Das Fußgelenk sei heil geblieben, aber die Bänder überdehnt. Das Gelenk sei stark angeschwollen. Sehen konnte man nichts, aber der Verband sprach Bände.

Als seine Frau versorgt war und die Tropfen eingenommen hatte, begleitete er seinen Nachbarn zur Tür.

»Ich weiß«, begann Franz Roloff vorsichtig, »Es ist nicht der geeignete Moment, über Informationen zu sprechen, Albert. Aber hast du Neuigkeiten über den Tötungsversuch am Krankenhaus? Ich frage, weil du soeben dorther kommst.«

»Was sagst du da? Tötungsversuch am Krankenhaus? Ich weiß davon nichts. Was hast du für Infos?«

»Ich habe zufällig mitbekommen, dass die örtlichen Kollegen deine Abteilung in Recklinghausen verständigt haben. Es gab einen Angriff auf einen Patienten. Der Begriff ›Tötungsversuch‹ ist gefallen.«

Berendtsen wusste, dass sein Nachbar Franz Roloff als Chefredakteur der Ruhrzeitung zu den verschiedensten Leuten intensive Kontakte pflegte. Auch zu den Mitarbeitern der örtlichen Polizei.

»Was?! Einen Augenblick!« Er wählte Hallstein an, seinen Kollegen.

»Hallo Albert«, meldete er sich.

»Gibt es Neuigkeiten vom Dorstener Krankenhaus?«

»Es hat einen Messerangriff auf einen Patienten im Park gegeben. Vor einer Stunde. Die Kollegen haben uns wegen des Verdachts auf ein Tötungsdelikt informiert. Ich bin bereits unterwegs und fahre gerade auf der A 31. Frau Günther kommt nach.«

»Warum hast du mich nicht informiert?«

»Wer hat denn ausdrücklich darum gebeten, heute nicht mehr belästigt zu werden? Ich denke, den Verletzten zu befragen, bin ich auch allein in der Lage. Es ist wohl früh genug, wenn du dich morgen einschaltest. Es handelt sich um einen Mann, der dort in Behandlung ist. Er wurde im Park attackiert. Die Ärzte wurden sofort informiert. Sie haben alles im Griff. Wie geht es deiner Frau?«

»Wir sind jetzt zuhause. Alles gut. Der Fuß ist angeschwollen und sie kann nicht auftreten. Franz Roloff hat geholfen, Irmgard ins Haus zu bringen. Dabei hat er die Tat erwähnt. Wenn du etwas erfahren hast …«

»… melde ich mich. Versprochen. Grüße an deine Frau. Ich bin jetzt vor der Abfahrt. Bis gleich.«

»Du hast es mitbekommen, Franz? Der Mann lebt und ist in Behandlung. Wer es ist, weiß ich nicht.«

»Du denkst an mich?«

»Sobald ich Neues weiß, ruf ich dich an.«

»Wenn du Hilfe brauchst, Albert … Wir haben heute Mittag Gulasch. Der reicht für alle.«

»Danke, Franz. Ich denke, wir kommen zurecht. Aber danke für das Angebot.«

Irmgards Schmerzen dauerten an. Simons hatte bereits angekündigt, dass die Wirkung der Tropfen bis zu einer Stunde auf sich warten lassen könnte. Albert schob auf Irmgards Wunsch zwei tiefgefrorene Pizzen in den Ofen.

»Du hast mit Hallstein telefoniert. Was ist passiert?«, fragte Irmgard.

»Es gab eine Messerattacke auf einen Patienten des Krankenhauses.« Er erzählte von der Information, die er von Roloff bekommen hatte. Hallstein habe ihn beruhigt. Inzwischen meldete sich der Backofen. Er schnitt die Pizza in mundgerechte Dreiecke und servierte sie ihr auf einem Betttablett. Sie aß mit Appetit.

Sein Handy meldete sich. Hallstein.

»Hallo Albert. Es gibt unangenehme Neuigkeiten, sprich ›Arbeit‹. Den Mann konnte ich nicht mehr verhören. Die Ersthelfer haben ihn noch in den OP gebracht, aber während er für die Operation vorbereitet wurde, ist er verstorben. Er wurde erstochen. Professionell. Stich direkt von hinten ins Herz. Er hatte keine Chance. Sein Name ist … Moment … Schlüter, Alfred Schlüter. Achtunddreißig Jahre. Du könntest ihn kennen, denn er ist Inhaber eines Fleischerfachgeschäfts ganz in deiner Nähe.«

»Schlüter? Um Gottes Willen. Er war noch jung.«

»Achtunddreißig«, wiederholte Hallstein.

»Unser Schlüter? Der Metzger?«, fragte Irmgard dazwischen?

Albert nickte ihr zu.

»Um Gottes Willen!« Irmgard war entsetzt. Sie hatte in ihrem Leben durch den Beruf ihres Mannes schon viele Morde miterlebt, aber niemals war darunter ein Bekannter gewesen.

»Ich selbst habe ihn noch nicht gesehen.« Sprach Hallstein weiter.

»Ist die Maschinerie bestellt?«

»Die Kollegen sind verständigt. Willi Schmidt ist mit seiner Kriminaltechnik bereits im Park bei der Arbeit, die Pathologie wird jeden Moment hier auftauchen. Ich habe einige Leute schon befragt, die Schwester an der Pforte und einige Raucher vor dem Eingang. Anschließend will ich die Leute in den Zimmern mit Blick auf den Tatort befragen. Bleibe du zuhause und kümmere dich um deine Frau. Von mir aus kannst du dir auch morgen frei nehmen. Ich werde Roland oder Frau Günther mitnehmen.«

»Ich habe heute Morgen im Park mit Schlüter gesprochen. Er war mit seinem Zimmernachbarn unterwegs. Als dieser seinen Spaziergang allein fortsetzte, bat er mich um ein Gespräch unter vier Augen. Er sollte heute am Nachmittag nach entsprechender Untersuchung entlassen werden und wollte mich anrufen. Wir hätten uns sogleich unterhalten, aber Irmgard rief mich in dem Moment an, als die Unterhaltung begann. Er versicherte mir, es sei wichtig, aber nicht dringend. Heute Abend würde reichen. Mist! Wäre wohl nicht passiert, wenn ich Zeit gehabt hätte. Hat doch nicht bis abends gereicht.«

»Der Zimmergenosse hat ihn gefunden. Er war einmal um diesen Ententeich spaziert und wollte ihn auf der Bank wieder abholen. Schlüter saß immer noch auf der Bank, regte sich aber nicht mehr. Das Blut auf dem Rücken des Opfers hat er zunächst nicht bemerkt. Er hat sofort die Pforte benachrichtigt. Es war eine Verkettung unglücklicher Umstände, Albert, die dem Mörder zum Erfolg verholfen hat. Du darfst dir keine Vorwürfe machen.«

»Das tue ich auch nicht. Ich denke nur darüber nach … Wir können davon ausgehen, dass der Täter ihn im Park beobachtet hat. Vielleicht hat er sogar auf Schlüter gewartet. Es waren nur wenige Minuten Zeit, in denen er zuschlagen konnte. Ach … ich bringe morgen meinen Mantel zur Spurensicherung. Sie werden Fasern auf der Bank finden. Du musst bitte Willi benachrichtigen.«

»Ich kann später bei dir vorbeischauen und einige Fasern zum Abgleich mitnehmen. Er braucht nicht den ganzen Mantel.«

»Stimmt. Würdest du das tun?«

»Keine Frage, Albert. Selbstverständlich komme ich. Wir sehen uns, wenn ich hier fertig bin.«

»Da fällt mir ein, ein Bus ist zu dieser Zeit an der Haltestelle vorübergefahren. Vielleicht hat der Fahrer etwas gesehen? Dann war da noch eine Mutter mit einem Kind von maximal zwei Jahren und Kinderwagen. Man könnte sie ausfindig machen.«

Um welche Zeit hast du mit Schlüter gesprochen?«

»Es wird kurz nach halb elf gewesen sein. Ich hatte mich an der Pforte angemeldet, damit sie Irmgard Bescheid geben. Ich sollte warten. Deshalb bin ich in den Park. Am Ausgang habe ich um halb elf auf die Uhr gesehen. Ich habe mich umgeschaut und bin einige Meter gegangen, als Schlüter mich ansprach.« Berendtsen sah auf seiner Anrufliste nach. »Zehn Uhr sechsundvierzig hat Irmgard mich angerufen. Da habe ich mich von ihm verabschiedet.«

»Da hast du ihn zuletzt gesehen? Zehn sechsundvierzig?«

»Zuletzt gesehen habe ich ihn später. Ich habe Irmgard in den Wagen gesetzt. Als ich einstieg, habe ich ihn noch auf der Bank sitzen sehen. Ob er da noch gelebt hat, weiß ich nicht. Ich denke schon, denn sein Zimmernachbar war noch nicht bei ihm. Er saß aufrecht. Das war keine zehn Minuten später.«

»Sein Zimmergenosse war nicht bei ihm? Du hast ihn auch nicht gesehen?«

»Nein. Es war niemand mehr im Park. Er war allein.«

»Um elf Uhr hat sein Zimmergenosse den Vorfall gemeldet.« Hallstein hatte es in seiner Notizbuch-App auf dem Smartphone vermerkt.

»Es kann nur so sein, dass der Täter sein Opfer im Park beobachtet und im entscheidenden Augenblick zugestoßen hat. Der Busfahrer muss etwas gesehen haben. Er kann nur in Richtung Gahlener Straße geflohen sein, denn ich stand auf dem Weg zur Notaufnahme. An mir ist er nicht vorbeigekommen.«

»Den Busfahrer finden wir.«

»Ich rufe Uschi an und gebe ihr die Zeit durch, an der der Bus die Haltestelle passiert hat«, schlug Berendtsen vor.

»Danke. Bis heute Nachmittag.«

Berendtsen rief seine Sekretärin an.

»Kriminalpolizei Recklinghausen, Sekretariat Hauptkommissar Berendtsen, Sie sprechen mit Frau Bremer, meldete sie sich.«

»Ich bin’s, Uschi. Warum so förmlich?«

»Hallo Chef. Ich stehe mit dem Headset am Aktenschrank und konnte ihre Nummer nicht sehen.«

»Weshalb ich anrufe: Es geht um die Messerattacke am Dorstener Krankenhaus. Wissen sie davon?«

»Hallstein ist vor Ort. Das Ensemble ist unterwegs.«

»Ich weiß. Habe mit ihm gesprochen. Wir benötigen den Namen eines Busfahrers, der die Linie am Krankenhaus bedient. Er hat um kurz vor elf Uhr heute am Vormittag die Haltestelle am Krankenhaus Dorsten passiert.«

»Geht klar. Ich kümmere mich. Darf ich fragen, wie es dem Mann ergangen ist?«

»Der Mann ist tot. Er hat nur noch den Weg in den OP geschafft. Dort ist er unter den Händen der Ärzte verstorben.«

»Mord?«

»Der Lage nach werden wir in einer Mordsache ermitteln. Der oder die Täter oder Täterinnen oder, welche Person auch immer, hat gezielt gehandelt mit dem Vorsatz, jemanden zu töten. Die Person hat die Tatwaffe mitgebracht, abgewartet und ihr Vorhaben gegen ein argloses und wehrloses Opfer hinterlistig ausgeführt. Damit ist der Tatbestand Mord gegeben. Gezielter Stich von hinten ins Herz. Keine Chance für den armen Kerl.«

»Ich gebe Ihnen Bescheid, Chef, sobald ich den Busfahrer ausgemacht habe.«

»Rufen Sie bitte Hallstein an. Der hat im Augenblick mit der Sache zu tun.«

»Geht klar, Chef. Grüße an die Gattin. Alles Gute. Darf ich fragen: Hat es sie arg erwischt?«

»Es hätte schlimmer kommen können. Im Moment hat sie noch Schmerzen. Aber wir haben ein Schmerzmittel. Ich hoffe, es schlägt bald an.«

»Bis morgen, Chef.«

»Bis …« Aufgelegt.

Es schellte an der Tür. Hallstein.

»Hallo Albert, wie geht es deiner Frau?«

»Es geht besser. Sie hat momentan keine Schmerzen. Komm bitte einen Augenblick herein, Oliver. So viel Zeit muss sein. Nimm Platz. Wasser?«

»Hallo Frau Berendtsen. Ich habe von ihrem Missgeschick gehört. Das Präsidium spricht von nichts anderem mehr und wünscht gute Besserung und vor allem schnelle Genesung. Wir brauchen jeden Kopf. Lehrpersonal ist knapp heutzutage«, scherzte er.

Irmgard kannte seine flotte Art.

Berendtsen hatte bereits den Trenchcoat von der Garderobe geholt und drückte ihn Hallstein in die Hand nebst einer steril verpackten kleinen Fusselbürste aus dem Kommissariat.

»Willi hat sie mir mal überlassen. Ich habe sie nie gebraucht.«

Hallstein wischte einige Male mit der Bürste über den Mantel und steckte sie dann samt Material in die Tüte.

Berendtsen kam mit einem Glas Wasser für seinen Kollegen aus der Küche.

»Kommst du jetzt vom Krankenhaus? Hast du schon etwas?«

»Die Schwestern bereiten die Ablösung vor. Niemand hat Zeit und Lust, Auskunft zu geben. Aber es gibt schon etwas. Erstens: Die Daten vom Busfahrer haben wir. Er ist noch unterwegs. Die Zentrale weiß Bescheid. Der Mann wird Uschi wegen eines Termins anrufen. Zweitens: Die Pförtnerin hat nichts gesehen. Sie habe schließlich anderes zu tun als die Natur zu beobachten. Von ihrem Glaskasten aus könne sie auch nicht den Park einsehen. Ich verstehe nicht, warum Leute wegen einer einfachen Frage genervt reagieren. Drittens: Auf einem Zimmer im ersten Stock hat eine Schwester, die einer Patientin den Blutdruck gemessen und dabei aus dem Fenster geschaut hat, eine Beobachtung gemacht. Sie hat einen Mann von hinten aus Richtung Notaufnahme auf die vordere Bank des Rondells zulaufen sehen. Er hat sich kurz über die dort sitzende Person gebeugt, ist sogleich weitergelaufen und hat sich über den kleinen Wall in Richtung Straße entfernt. Sie hat gedacht, er hätte dem Mann Koks zugesteckt. Dort wird zuweilen mit Drogen gedealt. Der Dealer läuft von hinten an den Kunden heran und steckt ihm das Zeug in den Kragen. Die ganze Aktion dauert zwei bis drei Sekunden. So bleibt er anonym. Das Geld nimmt sich der Dealer vorher aus einem verabredeten Versteck. Details konnte sie von dort oben nicht ausmachen. Es handelt sich wieder einmal um unseren allseits beliebten Freund im Kapuzenpulli. Mittelalt, mittelgroß, schlanke Figur.«

Berendtsen lachte. »Kapuzenpullis dürften nicht mehr verkauft werden.«

»Viertens: Willi hat die Fußabdrücke auf dem Weg vor dem Rasen gesichert. Hinter der Bank gibt es nur Gras und keine Sträucher. Dennoch hat er etwas von dem Dreck ausgemacht, der an seinen Sohlen haften geblieben ist und hinter die Bank getragen wurde. Die Erde war dort noch nass, weil diese Stelle im Schatten liegt. Alles deutet auf eine Sohle mit Sportprofil hin. Frau Dr. Rother beschreibt die Tatwaffe unter Vorbehalt als ein Fleischermesser. Sie vermutet ein Ausbeinmesser mit circa vierzehn Zentimeter langer Klinge. Ein professionelles Schlachtermesser.«

»Was heißt Ausbeinmesser? Was muss ich mir darunter vorstellen?«

»Diese Art Messer dient zur Trennung von Knochen und Fleisch. Entweder wird das Fleisch abgetrennt oder der Knochen ausgeschnitten. Sehr scharf, sehr teuer, sehr spitz. Man sieht sie oft in der Fleischerei.«

»Woher weiß sie das so genau schon vor der Obduktion?«

»Das habe ich sie auch gefragt. Sie sagt, man erkennt es an dem Parierelement. Das ist dieses meistens ovale, manchmal auch rechteckige Metallstück zwischen Griff und Klinge, das verhindert, dass die Hand in die Schneide rutscht. Bei einem Degen ist es häufig wie ein Schirm gebogen, um die Hand zu schützen, wenn man einen Angriff eben ›parieren‹ muss. Der ist bei diesen Messern deutlicher ausgeprägt als normal. Ich habe mir die Wunde auf einem Foto angesehen. Es stimmt. Man kann den Eindruck deutlich erkennen. Der Täter hat das Messer mit roher Gewalt in sein Opfer hineingerammt.«

»Wie lange hat Schlüter im Krankenhaus verbracht?«

»Laut Auskunft des Arztes hatte er gestern Nachmittag eigenen Angaben zufolge einen Unfall und hat sich den Arm an einer Maschine bis auf den Knochen aufgeschnitten. Die Wunde musste unter Narkose genäht werden. Sie war sehr tief und breit und zog sich quer über den halben Arm. Der Arzt glaubt daher nicht an einen Unfall. Er hatte bereits angeordnet, die Behörden darüber zu benachrichtigen, was sich inzwischen erübrigt hat. Er sollte die Nacht und den nächsten Tag über zur Beobachtung stationär bleiben. Nach Abschluss der OP-Termine sollte er nach einer entsprechenden Abschlussuntersuchung gegen Mittag entlassen werden.«

»Wie lange liegt der Nachbar stationär?«

»Seit gestern. Er hatte nach eigener Aussage einen Anfall mit schwerer Atemnot. Seine Frau bekam Angst, er erstickt. Der Notarzt hat ihn abgeholt und einquartiert. Er muss einige Tage zu weiteren Untersuchungen stationär bleiben. Meinst du, er hat mit der Tat zu tun?«

»Mir hat Schlüter gestanden, es sei kein Unfall gewesen. Ehe er mir jedoch erzählen konnte, was wirklich geschehen ist, schellte das Telefon.«

»Wenn ich dich nicht gestört hätte …«

»Mach dich nicht verrückt, Irmgard. Wenn du nicht angerufen hättest, dann wäre der Täter anders vorgegangen. Über ›wenn‹ und ›hätte‹ dürfen wir uns keine Gedanken machen.« Er setzte sich auf die Sofalehne neben sie und drückte sie an sich.

»Ihr Mann hat recht, Frau Berendtsen. Der Täter ist nicht zum Krankenhaus gefahren, um auf Ihren Anruf zu warten. Er hätte seine Tat auf jeden Fall durchgezogen.«

»Also … was haben wir?«, zog Berendtsen Bilanz. »Für den ersten Tag bist du gut vorangekommen. Wir haben die Aussage der Krankenschwester, meine Beobachtungen, wir kennen das Opfer und sein Umfeld, weil es uns persönlich bekannt ist, und wir haben eine exakte Tatzeit.«

»Außerdem kennen wir das Tatwerkzeug, das in das Umfeld des Opfers passt. Man sollte meinen, der Täter kommt aus dem Milieu.«

»So sehe ich die Sache ebenfalls.« Berendtsen erhob sich. »Komm gut nach Hause und grüß deine Familie.«

Berendtsen winkte Hallstein zurück. »Ich habe eine Frau mit einem kleinen Kind, höchstens zwei Jahre, und einem hohen Kinderwagen gesehen. Sie haben am Teich die Enten gefüttert. Versuche, diese Frau zu finden. Vielleicht kennt jemand vom Krankenhauspersonal die beiden. Mütter mit kleinen Kindern gehen meistens immer denselben Weg. Außerdem … weiß Frau Schlüter Bescheid? Er hinterlässt eine Frau und … ich glaube, er hat zwei Kinder. Einen Augenblick mal …« Er ging drei Schritte in Richtung Wohnzimmer und fragte seine Frau: »Sag mal, Irmgard, leben die alten Schlüter noch?«

»Ja sicher. Sie wohnen auf der Hardt. Oben in dem Haus hinter den Quarzwerken. Sie wohnen schon immer dort.«

Er kam zurück zur Haustür. »Du hast es gehört, Oliver. Die Eltern wohnen oben auf dem Hardtberg.«

»Frau Günther hat Frau Schlüter in Begleitung unseres Seelsorgers die Nachricht überbracht. Sie ist kollabiert. Ein Arzt aus einer nahen Praxis, bei dem sie auch in Behandlung ist, ist bei ihr. Ihre Schwester wohnt in Ulfkotte. Frau Schlüter kommt für die nächsten Tage bei ihr unter. Sie hat auch die Eltern benachrichtigt. Sie sind zurzeit an der Mosel.«

»Die Adresse hast du?«

»Selbstverständlich.«

»Wir müssen Schlüters Laden unter die Lupe nehmen. Vielleicht finden wir Hinweise auf das Messer.«

»Werde bitte nicht hektisch, Albert. Das Messer wird nicht zu identifizieren sein. Das steht wieder an seinem alten Platz mit Schweineblut und Fingerabdrücken von allen.«

»Entschuldige, Oliver. Du machst das schon.«

»Was ist mit der Schwester? Ich meine …«

»Alibi?«

»Genau.«

»Laut Aussage der Zeugin handelt es sich um einen Mann. Außerdem würde die Schwester vom Körperbau her nicht passen. Sie ist zu klein, der Mann ist untersetzt. Außerdem befand sich er sich in Bottrop im Autohaus. Er verkauft Gebrauchtwagen.«

»Kann man gelten lassen.«

»Übrigens …« Hallstein schmunzelte. »Ich werde morgen früh mit Frau Dr. Zimmermann sprechen. Ich habe mit ihr telefoniert. Sie möchte, dass ich ihr morgen persönlich berichte.«

»Welche Ehre. Es ist für dich das erste Mal, dass du als Einsatzleiter in ihr Allerheiligstes eingeladen wirst, soweit ich weiß.«

»Stimmt, Albert.«

»Komm gut nach Hause, Oliver.« Er vergrub seine Hände tief in seine Hosentaschen. »Es ist kalt. Ich gehe rein. Gute Nacht. Keine Sorge morgen. Sie ist nett. Schließlich war Vera jahrelang meine Freundin.« Berendtsen lachte schelmisch. »Vergiss nicht, ihr Gummibärchen anzubieten!«, rief er ihm nach.

Hallstein hob dankbar den Daumen.

»Eins noch!« Berendtsen winkte seinen Kollegen noch einmal zu sich und gab ihm noch einen Tipp: »Sie telefoniert viel. Deshalb wundere dich nicht, wenn sie keine Antwort auf dein Klopfen gibt. Klopfe nur einmal an und bleibe nicht hinter der Tür stehen. Es sieht blöd aus, wenn sie die Tür öffnet und du ins Zimmer fällst.«

»Danke, Albert. Ich rufe dich an.«

»Was habt ihr für einen Spaß da draußen gehabt?«, erkundigte sich Irmgard ein wenig neugierig. »Ist die Lage nicht traurig genug? Wie hat Frau Schlüter die Nachricht aufgenommen?«

»Der Arzt musste kommen. Sie kann einige Tage bei ihrer Schwester unterkommen. Schlimm wird es, wenn morgen die Kollegen anrücken und die Angestellten über das Messer befragen. Ich denke, ich werde zuhause bleiben oder halte mich im Büro auf. Ich bin doch irgendwie involviert. Wir kennen die Leute zu gut.«

»Hältst du es für möglich, dass jemand aus dem Geschäft den eigenen Chef getötet hat?« Irmgard sah ihren Mann aus weit geöffneten Augen an. Die hochgezogenen Augenbrauen schoben die Stirn in Falten.

»Aus dem Geschäft …? Das wäre arg dreist. Der Täter müsste allein für seine Dummheit bestraft werden. Eher aus dem Umfeld. Dem Mann wurde fachmännisch mit einem Fleischermesser von hinten ins Herz gestochen und das zielsicher in einer Sekunde, quasi ›en passant und nebenbei‹, wie ein Französischlehrer unserer Schule immer zu sagen pflegte. Wer hat so genaue Kenntnisse von der Anatomie und kann so schnell und zielsicher zustechen? Die Krankenhausärzte können wir wohl ausschließen, zumal ein Arzt nicht ein Ausbeinmesser benutzt hätte, eher ein Amputationsmesser. Nicht zu vergessen: Der Täter setzte sich der Gefahr aus, sofort entdeckt zu werden. Er hatte also ein sehr dringendes Motiv.«

»Was bedeuten all diese Ausdrücke? Ausbeinmesser? Amputationsmesser kann ich verstehen, aber ich hätte nicht gewusst, dass es spezielle Messer für eine … Mir wird ganz anders, wenn ich mir einen solchen Vorgang plastisch vorstelle. Ausbeinmesser hat Hallstein gerade erklärt.«

»Die Bezeichnung Ausbeinmesser habe ich auch gerade erst von Hallstein gelernt. Ansonsten kenne ich viele Vokabeln aus der Pathologie von Frau Dr. Rother.«

»Ich könnte nie einen Fuß in die Pathologie setzen. Macht dir ein aufgeschnittener Toter nichts aus?«

»Meist sieht man den Toten erst, wenn er wieder zugenäht ist. Nur manchmal sieht man Innereien, wenn die Verletzung zu groß ist, zum Beispiel …«

»Hör auf! Bitte!«, unterbrach sie ihren Mann. »Denke lieber an das Abendessen.«

»Besondere Wünsche?«

»Mach uns einfach ein paar Schnitten. Wie spät ist es inzwischen?«

»Gleich halb sieben. Keine Sorge. Ich schaffe es bis zu den Nachrichten. Trinkst du Milch?«

»Gerne.«

Es schellte an der Tür. Franz Roloff. Er war auf dem Weg in die Redaktion und hatte Licht in Berendtsens Küche gesehen.

Berendtsen war seinem Nachbarn einen Gefallen schuldig und ließ ihn wissen, dass der Mann verstorben und ein Mord nicht auszuschließen sei.

Berendtsen begab sich mit dem Abendessen ins Wohnzimmer und nahm soeben in einem Sessel Platz, als Barbara Hahlweg ihre sehr geehrten Damen und Herren begrüßte und es wiederum an der Tür schellte. Es war nicht Hallstein.

Der Mann stellte sich als Kollege seiner Frau vor. Er überreichte die Schultasche, die er an sich genommen hatte.

Berendtsen nahm sie entgegen und bat den Kollegen herein.

»Schau, meine Liebe, wer gekommen ist.« Er hielt die Nachrichtensendung an.

»Manni! Das ist lieb von dir. Ich habe noch gar nicht an die Tasche gedacht. Hier prallte heute Nachmittag einiges auf uns ein. Am Krankenhaus ist jemand ermordet worden, während wir auf dem Weg nach Hause waren. Albert hat noch kurz vorher mit dem Mann gesprochen. Es handelt sich um den jungen Metzger Alfred Schlüter. Was sagst du?«

»Von unserem Laden? Wer hat das getan und warum?«

»Mein Kollege setzt bereits alles daran, die Tat aufzuklären. Leider konnte ich heute nicht helfen. Ich werde morgen oder übermorgen in die Ermittlungen eingreifen.«

»Ist der Lehrerkalender noch drin?«, fragte Irmgard besorgt.

»Davon gehe ich aus. Ich habe die Tasche sofort an mich genommen, als ich dich zum Sekretariat gebracht habe. Ich habe sie in mein Fach eingeschlossen und mit nach Hause genommen. Es kann nichts fehlen.«

»Nimm Platz. Dürfen wir dir etwas anbieten?«

»Nein danke. Ich möchte nur noch nach Hause. Ich hatte heute einen langen Tag. Ich habe für morgen einen Versuch im Physiksaal vorbereitet. Du stehst bereits für die ganze Woche auf dem Vertretungsplan. Ich wurde jedoch verschont.«

Albert geleitete ihn zur Tür.

Kapitel 2.

Der Reisebus hatte, dem Kilometerstand nach, im Laufe seines Lebens bereits dutzendmal die Erde umrundet. Dennoch lief der Iveco-Diesel noch wie ein Uhrwerk. Er hatte die dreihundertvierzig Kilometer lange Strecke quer durch Ungarn von Szeged, der Grenzstadt zu Rumänien, bis nach Hegyeshalom an der Grenze zu Österreich, in fünfeinhalb Stunden zurückgelegt. Eine größere Baustelle mit reichlich Verkehr bei der Umfahrung von Budapest hatte für Aufenthalt und eine zusätzliche Pause gesorgt. Der komfortable Doppeldecker mit Bistro unter der engen Treppe ins Obergeschoss stand auf dem Parkplatz beim riesigen Outlet Center des letzten Rastplatzes vor der Grenze zu Österreich. Die Reklametafeln aller bekannten Marken warben in mehreren Sprachen für Sonderpreise. Der breite Eingang im Parterre führte wie ein Trichter in eine Passage, die in dieser Größe nur an solch exponierten Stellen Sinn mache. An dem Unterstand für die Einkaufswagen war die Größe der Lebensmittelabteilung, die von der Passage aus zu betreten war, nur zu erahnen.

Vierzig Männer waren ausgestiegen und vertraten sich die Beine, während der Fahrer sie mit Gutscheinen für ein Gericht nebst Getränk in der Raststätte versorgte. Einige hatten sich mit Kaffee im Bistro versorgt oder in Thermoskannen mitgenommen. Die Becher dampften in der morgendlichen Herbstluft. Manche machten sich auf den Weg zu den Waschräumen. Einige standen abseits und rauchten.

Endlich konnte der Fahrer an sich denken. Der kleine untersetzte Mann mit den krausen Haaren schlug sich im Bistro des Busses drei Eier in die Pfanne und gab ein wenig Salami dazu, die er frisch vom Stück geschnitten hatte, weil er Speck nicht hatte. Außerdem freute er sich auf rumänischen Bergkäse, den er sich in Szeged vor der Abfahrt besorgt hatte. Mit seiner Mahlzeit ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder, bei dem ein Tablett ausgezogen werden konnte. Wie bestellt schellte zu dieser ungünstigen Zeit sein Handy.

Er meldete sich mit einem kurzen »Ja hallo?«

»Ich bin’s. Wie weit bist du gekommen?«

Der Fahrer erklärte den Standort und die Verzögerung in Budapest. »Ansonsten sind wir gut vorangekommen und warten am verabredeten Ort auf Besuch.«

»Das ist gut. Ich bin gleich da.«

Der Fahrer kam endlich dazu, seine Portion Rührei und eine Tasse Kaffee, Käse und Brot zu genießen.

Ein dunkelgrauer Audi mit Mailänder Kennzeichen rollte eine Viertelstunde später langsam auf den Bistrowagen zu. Zwei Männer stiegen aus. Der Kleinere trug einen Anzug mit fein gestricktem Rollkragenpullover. Sein Fahrgast war kräftig und trug trotz der niedrigen Temperaturen nur ein T-Shirt über der Jeans. Eine Lederjacke hatte er locker über die Schulter geworfen und hielt sie mit dem Mittelfinger in der Aufhängeschlaufe fest. In der anderen Hand trug er eine Sporttasche. Daran baumelte ein Paar an den Senkeln zusammengebundene Schuhe. An den Füßen trug er ausgetretene Sandalen. Er blieb in höflichem Abstand ein wenig zurück.

»Du hier?« Der Fahrer des Audi war überrascht. »Seit wann fährst du Rumänien? Bist du nicht in Italien unterwegs?«

»Meine erste Tour. Ich komme von Szeged. Die Stadt liegt an der Grenze auf ungarischer Seite.«

»Wird Rumänien nicht mehr angefahren?«

»Doch. Aber dieses Mal hatte ich den Auftrag, die Rumänen in Szeged aufzunehmen. Sie sind in Eigenregie dort hingekommen. Ich weiß nicht, woher sie alle stammen. Mit einem habe ich mich ein wenig unterhalten. Er kommt aus Konstanza am Schwarzen Meer, nahe meiner Heimatstadt. Ich war lange nicht dort. Deshalb hatte ich mich für diese Tour gemeldet. Denn es hieß zunächst, die Leute werden von Bukarest abgeholt. Das liegt keine zweihundert Kilometer von meinem Zuhause entfernt. Ich hätte dort zwei Tage Zeit gehabt und die Gelegenheit genutzt, meine Mutter zu besuchen. Ich habe sie seit zwei Jahren nicht gesehen.« Der Mann weitete die Augen und zog die Brauen hoch. Er legte kurz den Kopf in den Nacken und blickte in den Himmel, als wolle er sich über das weitere Reisewetter informieren.

»Traurig?«, fragte der Kollege.

»Es geht.« Der betrübte Blick passte wenig zu dem Erscheinungsbild eines alten Haudegens. »Ich fahre die Tour in der nächsten Woche noch einmal. Dann sollten Winterreifen aufgezogen sein. In den Bergen geht es über tausend Meter hoch. Das hat es leicht geschneit und die Temperaturen fallen weiter. Vielleicht kümmerst du dich darum.«

»Ich kümmere mich drum.«

»Vielleicht sollte man einen anderen Bus nehmen. Für das Gepäck so vieler Leute – immerhin vierzig Männer, die ein halbes Jahr unterwegs sind – ist er definitiv zu klein.«

Er holte die Kaffeekanne von der Warmhalteplatte und schenkte noch einmal ein und probierte mit dem Löffel. Heiß. Er rührte einige Male um. »Darf ich euch etwas anbieten?«

Beide Männer schüttelten den Kopf.

»Warum wurde die Route plötzlich geändert?«, fragte der Mann im Anzug, der den Wagen gefahren hatte.

Der Busfahrer stellte das Rühren ein. Den Plastiklöffel klopfte er am Tassenrand ab und legte ihn auf den Rand des inzwischen leeren Tellers. Er nahm einen Schluck. Mit der Miene eines erfahrenen Strategen gab er seinem Besuch einen Rat:

»Ein altes Sprichwort sagt: ›Wer taub, blind und stumm ist, lebt hundert Jahre in Frieden‹. Das sollte man nicht vergessen. Ich habe den Spruch auf meinen Touren durch die Emilia-Romagna gelernt. Vor allem bei vielen italienischen Geschäftsleuten gebräuchlich.« Er blickte schmunzelnd auf seinen Teller und tupfte mit dem Zeigefinger einige Reste des Rühreis auf. Genüsslich leckte er sie mit der Zungenspitze ab. »Ich hatte Anweisung hier auf Papiere zu warten. Da bin ich. Pünktlich vor Ort. Was sind es für Papiere?«

»Es handelt sich um die Formulare E 101 für grenzüberschreitende Arbeitskräfte. Alle ausgefüllt und genehmigt. Du brauchst sie nur an der Grenze vorzuzeigen. Wenn du zuhause angekommen bist, übergibst du sie dem Chef.« Er öffnete den braunen Umschlag und zeigte kurz die Papiere. Komplett ausgefüllt und amtlich abgestempelt. Der Busfahrer war überrascht.

»Ich habe dir gestern erst die Namen der Arbeiter übermittelt. Wie können inzwischen die Papiere fertig sein? Ich habe auf meine Erlaubnis vierzehn Tage gewartet. Andere Kollegen auch.«

»Du hast mir doch selbst gerade eben den Hinweis gegeben, keine Fragen zu stellen. Halte dich dran und auch du wirst in Frieden leben.« Er lachte und steckte die vierzig Papiere zurück in den Umschlag. Diesen steckte er in eine kleine schwarze Ledermappe und übergab sie an den Fahrer. Der verwahrte die Mappe in einem abschließbaren Schubfach unter dem Beifahrersitz.

»Dem Chef übergeben? Nicht den Leuten?«, fragte er beinahe gleichgültig.

»Sie verlieren die Dokumente nur.«

»Wann werde ich in Bottrop erwartet?«

»Soweit ich weiß, sollen sie übermorgen die Arbeit antreten. Für Unterkunft ist gesorgt. Damit du vorschriftsmäßig deine Ruhezeiten einhalten kannst, habe ich dir einen Kollegen mitgebracht, der die Tour schon mehrmals gefahren ist. Er fährt ab sofort und erledigt die Grenzabfertigung.« Der Audifahrer wandte sich um und zog seinen Beifahrer am vollständig tätowierten Arm neben sich. »Darf ich vorstellen? Sein Name ist Sorin. Er ist Rumäne wie du.«

»Salut, Sorin. Numele meu esteCosmin.«

»Salut, Cosmin.«

Er stellte die Tasche ab. Es folgte ein kräftiger Handschlag.

Kapitel 3.

Hallstein rief bereits um halb zehn Uhr an.

»Guten Morgen, Albert. Wie geht es deiner Frau?«

»Die Schmerzen werden wieder schlimmer. Wir werden heute Morgen zum Hausarzt fahren. Ich selbst möchte den Verband nicht abnehmen. Wenn alles gut ist, werde ich heute Nachmittag im Präsidium auftauchen. Gibt’s etwas Neues?«

»Wusstest du, dass der Schlüter ein großes Unternehmen sein Eigen nennt? Er hat nicht nur zwölf Filialen, sondern auch einen eigenen Schlachtbetrieb mit vierzig Mitarbeitern. Es gibt viel zu tun, Albert.«

»Dann fangt schon mal an«, lachte er. »Von zwei Filialen wusste ich. Hier bei uns, in Holsterhausen und Hervest. Wo befinden sich die anderen?«

»Hier im Einzugsbereich befinden sich die Geschäfte in Kirchhellen, Herten und Westerholt. Die anderen sind im Ruhrgebiet verteilt. Der Schlachthof liegt zwischen Wulfen und Dorsten. Auf dem ehemaligen Werksgelände der KUBAG.

»Kenne ich nicht.«

»Dort wurden zu damaliger Zeit Reifen und Bremsbeläge hergestellt und entsorgt. Wurde von einer japanischen Firma Stegstone übernommen. Sie haben das Werk nach einer Übergangsfrist von einem Jahr stillgelegt und das Anwesen günstig verkauft. Stegstone hat offenbar nur gekauft, um die Arbeiter und Kundendaten zu bekommen und die Daten nicht einem Konkurrenten zu überlassen, der sich auch um den Erwerb dieses Geländes bemüht hat. Schlüter hat die Halle umgebaut und für die Schlachterei umgestaltet. Die Schweine kommen aus der Umgebung und, wenn nötig, aus dem südlichen Niedersachsen. Rinder aus eigener Aufzucht werden ebenfalls dort zu Steaks verarbeitet. Du siehst, Albert, es gibt viele Ausbeinmesser unter der Sonne, besser gesagt unter Neonröhren. Ich habe mit dem Veterinäramt telefoniert. Alles in bester Ordnung. Nichts zu beanstanden, alle Papiere der Mitarbeiter sind in Ordnung. Der Mann hat nicht mal ein Strafmandat. Fleischkontrollen werden regelmäßig durchgeführt.«

»Wie war es bei Vera?«

»Ich hatte noch keine Zeit, sie zu besuchen. Ich bin mit der Befragung der Mitarbeiter in Dorsten beschäftigt.«

»Hier bei uns im Viertel? Dann komm doch auf einen Kaffee vorbei.«

»Gerne, wenn ich euch nicht störe.«

»Bestimmt nicht. Wir sind um halb zwölf zum Arzt bestellt. Ansonsten sind wir hier anzutreffen.«

Irmgard bearbeitete das Kreuzworträtsel der Ruhr-Zeitung. Als Profi für Schwedenrätsel und Sudoku hatte sie die Aufgabe schnell erledigt.

»Hier steht bereits eine Nachricht über das Geschehen am Krankenhaus, Albert.«

Sie drehte ihrem Mann den Artikel hin.

Albert knibbelte mit den Augen, stand auf und schaltete die helle Neonröhre an. Im Stehen versuchte er sich an dem Text.

»Albert, du brauchst eine Lesebrille. Ich habe in der letzten Zeit bemerkt, dass du die Zeitung nur noch auf dem Tablet liest, weil du dort die Texte nach Belieben vergrößern kannst. Jetzt wird’s Zeit. Du musst zum Augenarzt. Wann warst du das letzte Mal dort? Zehn Jahre? Mehr! Sieh mich an. Ich habe schon lange eine Gleitsichtbrille.«

»Der Betriebsarzt …«

»Der Mann untersucht deine Hühneraugen. Willst du selbst einen Termin machen oder soll ich …«

»Mache ich selbst. Ich muss das mit meinen Terminen abgleichen.«

»Gib mir die Zeitung!«

Sie las vor:

»Messerangriff mit Todesfolge

.

Am gestrigen Vormittag wurde in der Parkanlage vor dem Dorstener Krankenhaus ein Angriff auf einen Patienten ausgeübt. Der Messerstich wurde gezielt in den Rücken geführt und drang durch bis ins Herz. Der achtunddreißigjährige Mann verstarb, ehe die erforderliche Notoperation durchgeführt werden konnte. Er hinterlässt eine Frau und zwei Kinder. Wie die Ruhr-Zeitung erfuhr, wurde die Tat von einer Zeugin zufällig beobachtet. Leider konnte sie den Täter nicht genau erkennen. Ein Jogger im Kapuzenpulli näherte sich von rückwärts dem Patienten und stach in Sekundenschnelle zu. Er setzte seinen Weg in Richtung Gahlener Straße fort. Die Polizei geht von einem geplanten Mord aus. Das Dezernat für Tötungsdelikte in Recklinghausen wurde mit der Untersuchung beauftragt.

Nach Aussage des Zimmernachbarn hatten die beiden einen Spaziergang unternommen und sich auf der Bank eine Ruhepause gegönnt. Als das spätere Opfer einen Bekannten traf, habe er die Runde allein fortgesetzt. Nach der Rückkehr habe er den Toten auf der Bank entdeckt. Er habe noch gelebt. Das Opfer wurde sofort in den Operationssaal gebracht. Jedoch kam jede Rettung zu spät. Die Polizei bittet eventuelle Zeugen um Mithilfe. Die Ruhr-Zeitung wird ihre Leser über neue Erkenntnisse unterrichten. F.R.

Dazu gibt es ein Foto vom Tatort.«

Irmgard schob die Zeitung unbedacht gegen ihre Tasse Kaffee. Albert rettete sie kurz vor dem Umfallen.

»Wie du siehst, sehe ich noch immer gut genug, um Unheil zu vermeiden.«

»Was machst du im Büro, wenn du schriftliche Texte bekommst?«

»Sie sind größer geschrieben als diese Pixelschrift vom Franz.«

»Alterssichtigkeit nennt man das. Du musst dich nicht nur damit abfinden. Du musst es dir auch eingestehen. Die meisten Leute trifft es schon eher als dich. Also: Keine falsche Eitelkeit.«

»Wenn ich auch die kleinen Buchstaben in der Nähe nicht mehr richtig sehen kann, so erkenne ich umso besser die Verbrecher in der Ferne.« Er drückte seine Irmgard an sich. »Du hast ja recht. Ich kümmere mich drum, sobald ich in die Stadt komme.«

Hallsteins BMW fuhr vor. Ehe er schellen konnte, öffnete Berendtsen bereits die Tür.

»Hallo Oliver, schön, dass du uns besuchen kommst. Wir sitzen in der Küche. Verletzungsbedingt haben wir das Frühstück ausgedehnt.«