Der Investigator - Gerhard Nattler - E-Book

Der Investigator E-Book

Gerhard Nattler

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Beschreibung

Karl-Heinz Hillebrandt, investigativer Journalist und leidenschaftlicher Jäger, wird tot auf seinem Hochsitz im Hervester Bruch aufgefunden. Dem ersten Anschein nach war er einer Bande von Wilderern auf der Spur. Doch dann stoßen die Kommissare Berendtsen und Hallstein bei ihren Ermittlungen auf Verbrechen in großem Ausmaß.

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Seitenzahl: 332

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Gerhard Nattler

Der Investigator

Krimi aus dem Vest Recklinghausen

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Inhalt

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

Kapitel 11.

Kapitel 12.

Kapitel 13.

Kapitel 14.

Kapitel 15.

Kapitel 16.

Kapitel 17.

Kapitel 18.

Kapitel 19.

Kapitel 20.

Kapitel 21.

Kapitel 22.

Kapitel 23.

Kapitel 24.

Kapitel 25.

Kapitel 26.

Kapitel 27.

Kapitel 28.

Kapitel 29.

Kapitel 30.

Impressum neobooks

Inhalt

Gerhard Nattler

KOMMISSAR BERENDTSENder inVESTigator

Krimi

aus dem VEST Recklinghausen

ImpressumTexte: © Copyright by Gerhard Nattler

Umschlag: © iStock.com/ralfgosch

Gestaltung: Katharina Erhardt

Verlag: VGbR

Lessingstr. 1

45896 Gelsenkirchen

Druck: epubli, ein Service der

Neopubli GmbH, Berlin

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

Kapitel 1.

Adebar, durch sein weißes, in der Sonne glänzendes Federkleid weithin sichtbar, beobachtete von seinem Thron aus sein Revier im Hervester Bruch und gab Acht auf seine Gattin Luise, die geduldig ihren Nachwuchs bewachte. Sein Kollege in einigen hundert Metern Entfernung, der in seinem Revier nach Fröschen suchte und dabei sehr erfolgreich war, ließ ihn gleichgültig. Er störte ihn nicht, denn es war für alle genug Nahrung vorhanden. Werner hatte alles unter Beobachtung: das Moor, den Wald, die feuchten Wiesen mit vielen bunten Blumen und den kleinen See. Die vielen Besucher, die ihre Fahrräder an den Zaun gelehnt hatten, und die anderen Leute, die sich zu Fuß auf den Weg gemacht hatten, um ihn und seine Gattin zu bewundern, ließen ihn kalt. Auch der Hochsitz, der seit Jahren in einiger Entfernung einsam am Waldrand Wache hielt, passte in sein gewohntes Bild. Was er nicht sah, war der Mensch, der oben in einer Ecke des Ansitzes lag. Zusammengesackt, von Fliegen und Mücken umschwirrt, mit Maden übersät. Seit einigen Tagen lag er dort. Regungslos.

****

Oberstudiendirektor Dr. Otto Brinkhoff, seines Zeichens promovierter Biologie- und Chemielehrer am Gymnasium Petrinum, befand sich seit einem Jahr im Ruhestand. So konnte er sich jetzt ganz seinem Hobby widmen, Flora und Fauna in unberührter Natur zu beobachten. Sein Taschenhandbuch zur Bestimmung der heimischen Pflanzen- und Tierwelt hatte er inzwischen durch eine App auf seinem Smartphone ersetzt nebst einem Notizbuch, in das er Beobachtungen von selten zu sehenden Pflanzen und Tieren samt Fotos säuberlich eintrug. Sogar Tonaufnahmen konnte er speichern. Er brauchte diese Hilfsmittel nur selten und nur in fremder Umgebung, wie bei einem Ausflug in die Eifel oder den Harz, und dann auch nur zu seiner Eigenkontrolle. Unsicherheit konnte er bei sich ebenso wenig leiden wie früher bei seinen Schülern die Fehler. Bisweilen veranstaltete er Seminare für Studenten. Er wanderte mit ihnen durch die verschiedenen Landschaften Deutschlands und erklärte den Studenten der Biologie und Pharmazie die Pflanzen mit volkstümlichen Namen und lateinischer Nomenklatur, Eigenschaften und bevorzugten Standorten. Gegebenenfalls wusste er auch die Bedeutung als Heilpflanze zu erläutern. Besonderes Augenmerk legte er dabei auf Moose und Flechten, denen seiner Meinung nach nicht die Aufmerksamkeit zuteilwurde, die ihrer Bedeutung für die Natur entsprach. Das alles veranstaltete er kostenlos und mit großer Begeisterung, denn die Erhaltung der Natur lag ihm am Herzen. Auch freute es ihn, wenn er bei der Schar der Jugendlichen, die ihn auf den Exkursionen umringte, auf Interesse stieß. Als Otto der Große war er unter den Studenten eine Institution, bekannt von Münster bis Köln und darüber hinaus. Von Frühjahr bis zum Herbst war er stets einmal am Tag in der freien Natur unterwegs. Meistens morgens in aller Frühe, »wenn die Natur erwacht«, wie er mit Glanz in den Augen zu verkünden pflegte.

Auch heute war Otto der Große wieder unterwegs. Seinen Namen verdankte er ehemaligen Schülern – nicht nur wegen seiner Größe von zwei Metern, sondern auch wegen der Autorität, die er als Direktor der Schule sowohl bei den Schülern und Eltern als auch innerhalb des Kollegiums genossen hatte. Sein Auto hatte er im Hervester Bruch auf dem kleinen Wanderparkplatz abgestellt. Zunächst ging er der gerade aufgehenden Sonne entgegen und war begeistert über dieses wunderbare Schauspiel. Oben auf der kleinen Brücke hatte er weite Sicht. Er entschied, die Situation mit seinem neuen Filteraufsatz auf dem Objektiv einzufangen. Vier Versuche brauchte er für ein vollkommenes Foto. Kurz darauf bog er rechts ab in den Wald und nahm Kurs auf den Hochsitz. Er hatte vor, sich mit einem Freund zu treffen, der ihm einen Teilalbino unter seinen Rehen zeigen wollte. Mit Fotoapparat, Filmkamera und einem Mikrofon bepackt, wollte er Material sammeln für sein Vorhaben, ein »kleines Bilder- und Notizenbuch« über den Hervester Bruch zu schreiben. Das Bild, das er gerade geschossen hatte, hielt er nicht ungeeignet für ein Titelbild.

Die Luft war mit siebzehn Grad noch angenehm an diesem frühen Augustmorgen um halb acht, aber er ahnte schon, dass heute wieder ein sehr warmer Tag anbrechen wollte, vielleicht mit einem kräftigen Gewitter gegen Abend.

Kapitel 2.

»Als Hauptkommissar Albert Berendtsen und sein Assistent Kommissar Oliver Hallstein am Hochsitz eintrafen, war die Spurensicherung schon in vollem Einsatz. Wie immer rannten sie wie die Ameisen umeinander herum. Zwei Fotografen schossen ununterbrochen Fotos. Für einen Außenstehenden schien es ein wirres Durcheinander zu sein, aber jedermann kannte seine Aufgabe und sie arbeiteten sehr effektiv, wie die Kommissare zugeben mussten.

Willi Schmidt, der Leiter der Spurensicherung erspähte seinen Freund Albert, der sich von einer kleinen Aussichtplattform einen Überblick über das Gelände verschaffte, und winkte ihm oben vom Hochsitz aus zu.

»Albert! … Hier bin ich! Hallo!«

Berendtsen winkte kurz zurück zum Zeichen, dass er ihn erkannt hatte, und machte sich auf den Weg zum Hochsitz. Zuerst musste er einmal wieder unter dem rot-weißen Absperrband hindurch. »Wie viel Absperrband er in seinem Leben über- oder unterquert hatte … eine Firma zur Herstellung von Absperrband müsste man haben …«, ging ihm durch den Kopf. Berendtsen blickte skeptisch zu Schmidt, Spurensicherung, und Rother, Pathologin, hoch. Die Leiter schien aufgrund des Grünbelags auf den Stufen und an den Holmen nicht die neueste zu sein. Er fühlte und rüttelte an mehreren Stufen bis Willi ihn beruhigte.

»Alles solide, keine Bange. Wir sind auch heraufgekommen. Nur Mut. Das oberste Brett bitte nicht betreten. Sieht nach einem Fußabdruck aus.«

Die Stufen hielten, aber Berendtsens Magen nicht. Er konnte sich gerade noch über die Brüstung lehnen. Von oben besah er sich das Malheur.

»Drei Tassen Kaffee und eine Schnitte Bauernbrot mit leckerer Mettwurst direkt von Humberts Biohof«, krächzte er. »Tut mir leid, Willi.« Er spuckte mehrmals aus. Jemand brachte eine Flasche Mineralwasser die Leiter herauf und ein anderer bot den Verschluss seiner Thermoskanne an. Er trank zuerst vorsichtig, danach zügig. Schließlich fischte er blind zwei Gummibärchen aus der Tasche seines Jacketts und neutralisierte den Geschmack einigermaßen. Dann ging es ihm besser. Er atmete tief durch.

»Macht nichts, Albert«, lachte Willi. »Man sollte meinen, du wärest aus Hamburg noch andere Kaliber gewöhnt. Auf der Reeperbahn geht man doch auch nicht gerade pfleglich miteinander um.«

»Messer kenne ich, Schusswaffen in den Kopf auch, sogar Tötung durch Schrotverletzungen im Gesicht bin ich gewöhnt, aber das hier … Maden, Insekten, Ameisen und was nicht alles … allein der Geruch …«. Berendtsen zeigte mit dem Fuß auf den Stiefel des toten Jägers. »Ist das eine Schnecke? Mein Gott, der arme Kerl.« Er drehte sich kurz ab, um frische Luft zu schnappen. Willi band ihm einen Mundschutz mit dem Geruch frischer Minze um. Alsdann erläuterte er Albert den Ablauf.

»Also … die Lage stellt sich folgendermaßen dar: Der Schütze hat von unten geschossen. Unser Freund hier stand direkt am Eingang zu dieser Kabine … also hier. Entweder hat er seinen Killer gehört oder gesehen, oder … dieser hat ihn gerufen, so dass er nachschaute. Der Täter hat sofort losgeballert. Großes Kaliber, geeignet für dicke Bachen. Manche gehen damit auch auf Rotwild. Der Mann ist sofort umgefallen. Name und Anschrift haben wir. Es handelt sich um Karl-Heinz Hillebrandt aus Sythen. Einundvierzig Jahre wäre er in der nächsten Woche geworden. Er hatte seinen Jagdausweis in dem Rucksack.«

Berendtsen blickte sich um.

»Den Rucksack haben wir schon in Verwahr genommen. Der ist schon bei den Utensilien in unserem Auto. Den nehmen wir uns im Institut vor.«

»Wie ist die Leiche entdeckt worden? Ich schätze mal, sie liegt schon einige Tage hier.«

»Die Rother sagt, mindestens … also sie wollte sich nicht festlegen, aber sie schätzt auf fünfzig bis sechzig Stunden. Es ist nicht so einfach, sagt sie, weil die Leiche die ganze Zeit auf dem Hochsitz gelegen hat. Da sind die Viecher, die an ihm herumkrabbeln anders, als wenn er auf dem Boden gelegen hätte. Sie muss erst die Maden und den Entwicklungsstand der Larven bestimmen.«

Berendtsen war immer wieder überrascht, mit welcher Coolness Willi die Vorgänge zu erläutern wusste. »Also seit Montag. Kaum zu glauben. Hier gehen so viele Leute vorüber und der liegt hier oben und wird nicht bemerkt. Von unten und von der Plattform aus ist nichts zu sehen. Ich komme gerade von dort. Man sieht nicht einmal das Schwirren der Mücken.«

Willi sah Albert suchend umherschauen »Oliver steht dort etwas abseits mit Otto dem Großen. Der hat die Tat entdeckt.« Willi deutete mit seinem Kopf in die Richtung.

»Wer?«

»Otto der Große ist hier in Hervest eine Institution. Erkläre ich dir mal später. Er geht früh morgens auf Safari mit Kamera und Richtmikrofon. Er beobachtet Vögel und Wild, nimmt ihre Laute auf und macht Fotos von ihnen und von den Pflanzen hier. Er hat schon zwei Bücher veröffentlich. Gute Bücher über die Natur.«

»Wann sehen wir uns?« Berendtsen hatte schon einen Fuß auf der Leiter.

»Ich denke, morgen früh gegen zehn Uhr habe ich alles ausgewertet und Michaela meint, sie kann es bis dahin ebenfalls schaffen.«

»Michaela? Die Rother, glaube ich?«

»Ja. Sie will es versuchen.«

»Bis dann. Ich sehe mal nach Hallstein und unserem Karl dem …«

»Otto dem Großen!«, rief Willi ihm nach. Vertue dich nicht. Da ist er eigen!«

»Otto«, murmelte Berendtsen noch mehrmals vor sich hin und forschte in seinem Handy nach der Geschichte Otto des Großen.

Hallstein stellte seinen Chef vor: »Hauptkommissar Berendtsen von der Mordkommission in Recklinghausen. Er leitet die Untersuchungen. Dieser Herr ist Oberstudiendirektor Dr. Otto Brinkhoff, der die Tat entdeckt hat.«

»Im Ruhestand«, ergänzte er sofort.

Berendtsen gab ihm die Hand. »Sie scheinen in dieser Gegend bekannt zu sein und weit und breit einen guten Ruf zu genießen.«

»Wenn man mehr als dreißig Jahre in einer Stadt wie Dorsten die Ober- und Mittelstufe und auch einmal Sextaner unterrichten durfte, dann soll man wohl bekannt werden, nicht wahr. Die meisten von den Schülern sind schon im Beruf, bis auf die, die noch im Studium sind. Das letzte Abitur habe ich vor zwei Jahren abgenommen.« Dann kam er auf sein Thema. Langzeitstudenten. Früher hätte es das nicht gegeben. Von seiner Abiturientia kenne er niemanden, der nicht in angemessener Zeit sein Studium abgeschlossen habe. Sein Kollegium hatte noch mit dem rechten Anspruch ausgebildet. Berendtsen hörte mit einem Ohr zu. Dann machte Otto eine Pause in seinen Ausführungen, weil er seinen Feldstecher dem Futteral entnahm, um den Storch zu beobachten, der gerade zum Landeanflug ansetzte. Berendtsen ergriff seine Chance, wollte die Ansichten allerdings nicht kommentieren, sondern besann sich auf die Aufgabe, diesen Zeugen zu befragen.

»Sie gehen also häufig in der Frühe spazieren. Heute waren Sie hier unterwegs. Warum heute? Hatte das einen bestimmten Grund?«

»Ich gehe auch hier bisweilen meine Runde. Heute allerdings gab es einen Grund. Ich war hier mit Kalle verabredet. Er wollte mir ein geschecktes Reh zeigen, das seit einem Jahr in seinem Revier lebt. So etwas ist recht selten, nicht wahr, und ich wollte es fotografieren«. Er präsentierte selbstbewusst seine Nikon mit dem beinahe Furcht einflößenden Teleobjektiv, auf das selbst ein Paparazzo stolz gewesen wäre. »Er hoffte, es mir heute oder in den nächsten Tagen zeigen zu können. Jetzt beginnt die Sprungbildung, nicht – nicht wahr, und die Wahrscheinlichkeit, es zu Gesicht zu bekommen, ist groß.«

»Sie kennen Herrn Hillebrandt näher?«

»Seit fünfundzwanzig Jahren. Ich habe ihn vier Jahre in Biologie unterrichtet und ein Jahr Chemie in Klasse Acht. Er hat schon früh seine Freude am Waidwerk erkannt. Sein Vater war begeisterter Jäger. Der alte Hillebrandt, Heinz, kam immer zum Elternsprechtag. Wir haben mehr über die Jagd erzählt als über die Leistungen seines Sohnes, die im Übrigen ganz hervorragend waren. Kalle ist später Journalist geworden und arbeitete bei der Ruhrzeitung. Teilweise schrieb er auch als freier Mitarbeiter für überregionale Zeitungen und Jagdjournale. Er testete Waffen und Munition und berichtete darüber.«

»Sind Sie ebenfalls Jäger?«, wollte Hallstein wissen.

»Ich habe keine eigene Jagd, aber einen Schein. Habe aber eine Ewigkeit nicht mehr angelegt. Zuschauen tue ich noch gerne.«

»Wie haben Sie den Toten gefunden?«

»Ich kam vom Parkplatz, nicht wahr, und sah seinen Wagen dort am Waldrand stehen. Ich vermutete ihn auf dem Anstand. Ich habe mehrmals mit dem Klötzchen auf den Leiterholm geschlagen, mit dem wir uns anmelden. Tack – tacktack. Rufen geht oft nicht, weil dann schnell das Wild erschreckt. Oben angekommen habe ich ihn entdeckt. Schlimm! Ich wäre beinahe rückwärts die Leiter hinuntergefallen. Nachdem ich mich einige Minuten unten im Gras von dem Schreck erholt hatte, habe ich die Polizei gerufen. Bis zum Schluss habe ich gehofft, dass es nicht Karl-Heinz ist. Es tut mir sehr leid. Ich kann es nicht fassen. Er war immer ein anständiger Kerl, nicht wahr.«

»Haben sie eine Vermutung, wer ihn erschossen haben könnte?«

»Um Gottes willen! Nein! Ich kenne nur Kalle, nicht sein Umfeld … außer seiner Frau und seiner Tochter und ein paar Freunden von manchem Beisammensein. Er war freundlich zu jedermann. Ich kenne niemanden, der ihm Böses gewollt hätte.«

»Aber eine Person muss es gegeben haben. Denken Sie nach.« Berendtsen bat ihn, sich in den nächsten Tagen auf dem Revier zu melden, um das Protokoll aufzunehmen, und vergewisserte sich, dass Hallstein seine Adresse notiert hatte. Brinkhoff steckte Berendtsens Karte in sein Portemonnaie, tippte an seinen Hut und wollte schon zu seinem Auto zurückkehren, als Berendtsen noch eine Frage stellte: »Sie kannten Herrn Hillebrandt näher. Waren Sie eng befreundet? Wie war ihr Verhältnis zu dem Toten?«

»Da gibt’s nichts zu berichten. Wir haben uns ab und an getroffen, manchmal haben wir uns hier verabredet, manchmal sahen wir uns zufällig in der Fußgängerzone. Von Zeit zu Zeit haben wir gemeinsam an Exkursionen teilgenommen. Im letzten Oktober waren wir zusammen bei einer Treibjagd im Allgäu am Forggensee. Kennen Sie Hopfen am See? Wunderschönes Örtchen. Sie sollten …«

»Im Augenblick nicht so wichtig, Herr Oberstudienrat.«

»A. D.«, fügte er sofort hinzu. »So viel Zeit muss sein. Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja. Also: wenn es etwas Besonderes gab, hat er mich angerufen. In der vorigen Woche hat er mir ein Foto von seinem Reh gemailt und mich eingeladen, mit ihm auf dem Anstand danach Ausschau zu halten. Er kannte mein Vorhaben, das Buch über diese Gegend zu schreiben. Da wären ein paar Fotos von dem Tier gut angekommen. Er hat mir auch bei den anderen beiden Büchern geholfen. Er hatte Journalismus studiert und dadurch Beziehungen zu Verlegern.«

»Wann haben Sie ihn das letzte Mal getroffen?«

»Telefoniert haben wir am letzten Sonntag. Er hat mich angerufen und mir diesen neuen Termin vorgeschlagen. Ursprünglich hatten wir uns für Montag verabredet, aber den Termin hat er am letzten Dienstag abgesagt. Getroffen haben wir uns vor …« - er sah in seinem Handy nach - »vor sechs Wochen zum Grillen in unserem Garten. Er hat einen Rehrücken mitgebracht. Ja, da fällt mir ein, vor zwei Wochen habe ich ihn in der Stadt getroffen. Wir haben nur kurz gesprochen. Er hatte es eilig.«

»Was war er für ein Mensch?«

»Er war ein netter Kerl, sympathisch, bei allen beliebt, nicht wahr. Wer ihm das angetan hat …? Ich weiß es nicht? Es tut mir sehr leid. Er war wie ein Freund für mich.«

»Seine Frau? Hatten Sie Kontakt zu ihr?«

»Die Marianne? Natürlich kannte ich sie. Sie war auch beim Grillen dabei. Meine Frau und ich waren manchmal bei ihm in Sythen zu Besuch, z. B. im letzten Jahr auf seinem vierzigsten Geburtstag. Dabei habe ich nach langer Zeit den Heinz wiedergetroffen, seinen Vater. Er wohnt immer noch in Lembeck.«

»Er hatte eine Tochter?«

»Maike. Sie ist jetzt … ja sie wird zwanzig Jahre sein. Studiert in Münster. Schrecklich für die Familie. Er hat noch einen um zwei Jahre älteren Bruder in Nordkirchen.«

»Danke Herr Dr. Brinkhoff. Meine Kollegen werden noch ihre Fingerabdrücke und die DNA abnehmen zum Vergleich. Sie waren am Tatort … und denken Sie an das Protokoll.« Berendtsen fischte nach Gummibärchen.

»Herr Brinkhoff!« Hallstein rief ihm hinterher und ging auf ihn zu. »Herr Brinkhoff, besitzen Sie Schusswaffen?«

»Zwei Büchsen, eine Flinte und eine Smith & Wessen Pistole. Warum fragen Sie? Sie glauben doch nicht, ich hätte Karl erschossen? So verrückt können Sie doch nicht sein? Aus meinen Waffen wurde seit letztem Herbst nicht geschossen. Das können Sie nachprüfen, nicht äh, nicht wahr. Bei mir …«

Hallstein musste ihn abwürgen. »Alles nur fürs Protokoll und für die Akten. Reine Routine. Das kennen Sie bestimmt auch aus ihrem Berufsleben. Sie mussten sicher früher auch manches dokumentieren, was schon jeder wusste.«

»Das können Sie laut sagen …«

Hallstein überhörte die Antwort und drehte direkt ab, um nicht wieder in ein Gespräch verwickelt zu werden. Er blickte sich um und fand Berendtsen, der etwas abseitsstand und auf einem Bärchen kaute. Er erkundigte sich nach dessen Befinden, denn gesund sah Berendtsen nicht aus. »Was ist los mit dir, Albert? Ist dir nicht gut? Ich denke, du kommst aus dem Urlaub.«

Berendtsen berichtete kurz von dem Erlebnis auf dem Hochsitz, das ihm seine ganze Bräune genommen hatte, die er sich beim Wandern in Südtirols Bergen erworben hatte. Seit Sonntag war er zurück.

Kapitel 3.

Der weiße Bungalow in Sythen lag abseits, von Wiesen und einem Maisfeld umgeben, an einem Waldrand als letztes von drei Häusern. Die Navigation dirigierte den Wagen über einen Wirtschaftsweg. Sie bogen links ab und sahen das Haus am Ende der Straße in der Sonne glänzen. Die Straße führte weiter in einem langen Bogen zu einem benachbarten Bauernhof.

Hallstein bediente den Klingelknopf. Westminster, Big Ben. Die Kommissare stellten sich vor und hielten ihre Ausweise vor die Linse. Ein Summen ertönte und das Gartentor sprang auf. Hallstein ging voraus. Berendtsen registrierte drei Überwachungskameras, die den Eingangsbereich im Visier hatten.

»Frau Marianne Hillebrandt?«, begrüßte sie Hallstein. In der Tür stand eine auf gutes Aussehen getrimmte Frau mit hochgestecktem braunem Haar. Berendtsen schätzte sie auf Mitte vierzig. Sie trug ein grünes T-Shirt und knappe braune Shorts, die ihr seiner Meinung nach nicht zum Vorteil gereichten, denn ihre Beine erschienen ihm zu dünn. Insgesamt hatte diese Frau ein paar Kilo zu wenig, was vermutlich am Rauchen lag. Hinter ihrer tiefen Bräune und den zahlreichen Falten im Gesicht vermutete Hallstein eine Sonnenbank im Keller.

Fast unbemerkt erschien hinter ihr ein großer Hund, der ihr bis zur Hüfte reichte, und zwängte sich neben Tür und Frauchen, um den Besuch zu taxieren. Es handelte sich offensichtlich um den Jagdhund. Braun kurzhaarig, glattes glänzendes Fell, Schlappohren, helle Brust. Er nahm Witterung auf und stand still. Nur der Schwanz pendelte leicht hin und her.

»Steht vor Ihnen. Was führt Sie hierher?«

»Frau Hillebrandt, es geht um Ihren Mann. Dürfen wir einen Augenblick hineinkommen?«

»Mein Mann ist nicht zuhause. Wenn Sie mit mir vorliebnehmen wollen, treten Sie gerne ein, meine Herren. Vielleicht kann ich helfen?«

Der Hund, Filou, trabte voraus ins Wohnzimmer, drehte sich auf seiner Decke einmal um die eigene Achse und machte es sich gemütlich, indem er die Vorderpfoten lang ausstreckte und seinen Kopf darauf ruhen ließ. Berendtsen beobachtete, dass Filou seine linke Pfote bis über das erste Gelenk hinaus dick gepolstert und verbunden hatte.

»Was ist ihm passiert?«

»Er ist in den Boden einer zerbrochenen Bierflasche getreten. Sie lag in einer Pfütze, sonst wäre ihm das nicht passiert. Ich war am Samstag und Montag mit ihm zum Tierarzt in Lavesum.«

»Ist das der Jagdhund Ihres Mannes?«

»Filou ist der beste Jagdhund, den man sich vorstellen kann. Mein Mann war am Wochenende zum Segeln auf dem IJsselmeer eingeladen. Da konnte er den Hund nicht gebrauchen. Am Samstag hat er sich beim Spaziergang verletzt.«

Berendtsen kannte diese Hunderasse, aber die Bezeichnung wusste er nicht.

Frau Hillebrandt führte die Kommissare ebenfalls ins Wohnzimmer. Unaufgefordert stellte sie Mineralwasser, Eistee und Gläser auf den Tisch, denn es war draußen bereits sehr warm. Sie schob jedem ein Glas hin und schenkte ein. Hallstein stand auf Eistee.

Die Kommissare bedankten sich für die Aufmerksamkeit und Berendtsen begann mit den Fragen.

»Frau Hillebrandt, wann haben Sie Ihren Mann das letzte Mal gesehen?«

»Vor einer Woche, am letzten Donnerstag. Ich habe den Hund abgeholt.«

Berendtsen wartete. Sie war aufgestanden und holte von der Anrichte einen schweren Aschenbecher, grün gefleckter Marmor, und eine eingedellte Schachtel Marlboro, die sie kurz in die Höhe schnellte bis eine Zigarette mit den Lippen greifbar war. Ein Einmalfeuerzeug fand sich in der Schachtel. Der erste Zug war heftig und wurde tief inhaliert, als wäre sie einige Wochen abstinent gewesen. Eine eminente Rauchwolke wurde auf den Weg an die Decke geschickt. Mit dem zweiten Zug sog sie genügend Atemluft ein für die Antwort.

»Wir sind seit vier Wochen getrennt. Ich wohne mit der Tochter bei meiner Mutter.« Der Rest Qualm entkam in zwei Parallelen durch die Nase.

»Haben Sie miteinander telefoniert?«

»Am letzten Samstag wegen des Hundes. Am Sonntagabend hat er angerufen, weil er sich über Filous Zustand erkundigen wollte. Bei diesem Gespräch haben wir uns für heute verabredet, um verschiedene Angelegenheiten zu besprechen. Außerdem wollte ich einige Dinge von mir abholen. Er ist leider nicht hier. Er hat es verschwitzt. Er hat nur noch andere Dinge im Kopf. Seine Familie zählt nicht mehr. Ich habe ihn vor einer Stunde angerufen, aber er hat sein Handy abgeschaltet. Er ist bestimmt wieder in seinem Revier unterwegs.«

»Frau Hillebrandt … Ihr Mann ist auf der Jagd. Vielmehr – er war auf der Jagd.« Berendtsen blickte in ein Gesicht voller Skepsis mit hochgezogenen Augenbrauen und gerunzelter Stirn. »Wir haben ihn gefunden … auf dem Hochsitz im Hervester Bruch … Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihr Mann tot ist.«

»Tot? Wieso tot? Er war gesund und topfit. Ist ihm etwas passiert?«

Filou reagierte auf den bestürzten Tonfall in ihrer Stimme. Er hob den Kopf und stellte sich gleichsam schützend neben sie.

»Er ist erschossen worden«, fuhr Berendtsen vorsichtig fort.

»Ein Jagdunfall?«

Als Berendtsen zögerte, fuhr Hallstein fort: »Er ist auf seinem Ansitz erschossen worden. Wir gehen von Mord aus.«

Die Farbe ihres Gesichts wechselte von tiefbraun auf aschfahl. Sie zog an der Zigarette, hustete und bekam einen Schluckauf. Sie trank sehr langsam ohne Absetzen ihr Glas leer, hielt die Luft an. »Was?!« Der Rauch schoss ihr aus Nase und Mund. Sie tupfte die Glut ihrer Zigarette im Aschenbecher aus und steckte nach einem prüfenden Blick die nicht gerauchte Hälfte zurück in die Schachtel.

»Herr Brinkhoff war mit ihm am Hochsitz verabredet und hat ihn gefunden. Er hat uns benachrichtigt. Sie kennen Herrn Brinkhoff?«

Sie brauchte eine Weile. »Natürlich kenne ich Otto.«

»Frau Hillebrandt«, setzte Berendtsen das Gespräch fort, »wir wissen, dass diese Nachricht für Sie ein Schock ist. Dürften wir Ihnen trotzdem einige Fragen stellen?«

Sie füllte ihr Glas. »Fragen Sie.«

Berendtsen begann: »Sie haben Ihren Mann zuletzt gesehen am Donnerstag.?«

»Wie ich schon sagte. Donnerstag in der letzten Woche. Ich habe ihm den Wagen zurückgebracht. Ich hatte den großen Landcruiser genommen, weil ich darin mehr verstauen konnte. Ich selbst fahre ein Cabrio«. Sie zeigte nicht ohne Stolz auf einen SLK in der Garagenauffahrt. »In diesen bekommen ich nicht viel rein. Ich musste ohnehin mehrmals fahren. Alles habe ich immer noch nicht mitgenommen. Deshalb waren wir hier heute verabredet. An dem Tag hat er mir den Hund anvertraut.«

»Wusste Herr Brinkhoff, dass Sie beide getrennt sind?«

»Ich glaube nicht. Wir waren vor einigen Wochen das letzte Mal bei ihm, aber da wohnten wir noch zusammen. Wir hatten gegrillt. Bei Otto wird immer gegrillt. Er hat nicht gerne Besucher in seinen Gemächern, … die übrigens ganz geschmackvoll eingerichtet sind.«

»Gab es einen Grund für diese kurzfristige Trennung?«

Sie steckte die nächste Zigarette an.

»So kurzfristig kam die gar nicht. Wir hatten schon seit einigen Monaten mehr oder weniger Probleme mit dem Zusammenleben. Dann kam allerdings doch alles recht plötzlich.«

Sie wartete auf eine Frage, die aber nicht kam.

»Ja«, fuhr sie leise fort, »er hatte eine neue Beziehung. Es hat mich tief getroffen. Ich hatte keine Chance.«

»Kennen Sie seine neue Partnerin?« Hallstein hatte sein Notizbuch bereits parat für die neue Adresse.

»Ich habe keinerlei Informationen über ihn.« Sie hielt kurz inne. »Sie haben richtig gehört«, ergänzte sie sogleich. »Es ist ein Mann … mehr weiß ich nicht. Ich sagte schon: Ich hatte keine Chance. Ich wusste, dass ich irgendwann gegen jemanden würde antreten müssen. Schließlich bin ich neun Jahre älter als Karl-Heinz. Aber gegen einen Mann zu konkurrieren … da hat man als Frau keine Chance. Er könne nicht dagegen an. Es täte ihm auch leid. Und so weiter und so fort. Bla bla. Lächerlich! Was habe ich davon?«

»Aber sie haben doch eine gemeinsame Tochter. Es war also nicht immer so?«

»Die Tochter ist aus meiner ersten Ehe. Mein erster Mann war Steiger bei der Ruhrkohle. Er war Elektroingenieur. Er ist durch die Unachtsamkeit eines Kumpels zu Tode gekommen. Der Vollidiot ist ganz einfach mit einer Raupe über ihn hinweg gefahren. Zwei Jahre auf Bewährung.«

Die Kommissare teilten der Frau ihr Bedauern mit.

Es entstand eine unangenehme Pause, aus der Berendt­sens Handy rettete. Frau Rother wollte mit ihm einen Termin zur Endbesprechung der Leichenschau abstimmen. Berendtsen vertröstete sie auf den frühen Nachmittag. Er entschuldigte sich bei Frau Hillebrandt und setzte das Gespräch mit der Frage fort, seit wann sie beide zusammenlebten.

»Seit fünfzehn Jahren. Karl war Trauzeuge bei der Hochzeit seines Bruders. Ich wohnte in der Nachbarschaft von Karin, seiner Frau. Meine Tochter war als Blumenmädchen ausgesucht. So haben wir uns kennengelernt. Ein Jahr später haben wir dann geheiratet. Er hat Maike adoptiert, damit sie schon mit dem neuen Namen in der Schule angemeldet werden konnte.« Dann gab sie die Antwort auf die Frage, auf die die Kommissare warteten. »Wir haben eine ganz normale Ehe geführt. Mit allem Drum und Dran. Das wollten Sie doch wissen. Nein, ich hatte keinen Grund, an seiner Liebe zu mir zu zweifeln. Es gab niemals einen Anhaltspunkt. An seiner sexuellen Einstellung … nein. Es war alles normal.« Sie wandte ihr Gesicht Richtung Garten. Der Rasen hatte es nötig. Es war Stroh. Langes Stroh. Weder gewässert noch geschnitten. Berendtsen dachte an seinen Rasensprenger. Heute Abend war Gartenarbeit angesagt: zuerst schneiden, dann wässern. Er brauchte einen neuen Anschluss für den Schlauch. Er entsperrte sein Handy, das er noch in der Hand hielt, setzte eine wichtige Miene auf und wollte die Erinnerung daran eintragen. Es stand bereits für 17:30 Uhr eingetragen: Gardena.

»Seit wann, glauben Sie, hat ihr Mann die neue Beziehung?«, nahm Hallstein das Gespräch wieder auf.

Sie brauchte gar nicht zu überlegen. Sie hatte es bereits die letzten Tage mehrfach analysiert.

»Ich vermute, dass es im letzten Herbst auf dem Jägertreffen im Allgäu war. Er hatte keine einzige Trophäe mitgebracht, wie es sonst seine Art war. Er war immer stolz auf seine Beute gewesen. Statt von seinen Vorträgen und dem Applaus zu berichten, den er stets genossen hatte, war er still und in sich gekehrt. Ich habe ihm empfohlen, einen Arzt aufzusuchen. Er ist sofort gegangen. Das hat mich schon gewundert. Er war sogar mehrmals beim Psychotherapeuten. Er geht immer noch einmal im Monat zu ihm. Ging … muss ich abmelden …«, bemerkte sie vor sich hin. »Der hat sein fröhliches Wesen einigermaßen wieder in die Reihe gebracht, aber unser Sexualleben lies seitdem zu wünschen übrig. Der brauchte keine Pillen, aber er war nicht mehr so ganz bei der Sache, … wenn sie verstehen. Ich habe mir keine Sorgen gemacht, weil ich davon ausging, dass es wieder wird. Ich dachte eher an eine Midlife-Crisis.«

»Frau Hillebrandt, wie schätzen Sie die Beziehung ein? Ich meine, wie stark waren die beiden verbunden? Gab es ein Testament?«

»Wir haben schon seit langem eine Verfügung. Wir setzten uns gegenseitig als Erben ein, wie man das so macht. Ich glaube nicht, dass er es geändert hat. Soweit war die Beziehung hoffentlich nicht gediehen. Ich kann nicht sagen, wie häufig die beiden zusammenwaren waren, aber meistens war er abends und am Wochenende zuhause.«

»Haben Sie das Testament mit Hilfe eines Notars aufgesetzt?«

»Bei Herrn Schenk, Notariat Rudolf Schenk. Er wohnt hier auf der Straße, übernächstes Haus.« Sie tupfte sich mit dem Zipfel eines Taschentuchs vorsichtig Tränen aus den Augen, darauf bedacht, ihre Wimperntusche nicht zu verwischen, was ihr aber nicht gelang. Sie betrachtete gedankenverloren die schwarzen Flecken.

Stille.

Berendtsen erhob sich, trank den Rest Wasser und stellte das Glas leise auf den ledernen grünen Untersetzer mit der Aufschrift des Whiskys »Laphroaig« und den Umrissen Schottlands und der Insel Islay zurück. Berendtsen kannte die Untersetzer. Er hatte sie vor – er dachte nach – fünf Jahren in seinem Schottlandurlaub bei einem Besuch dieser Destillerie ebenfalls geschenkt bekommen. Sie mussten noch irgendwo sein. Er schlenderte wie zufällig zur Terrassentür, die Hände auf dem Rücken, leicht nach vorne gebeugt. »Den Garten haben immer Sie bearbeitet?«

Sie nickte. »Geschnitten hat der Gärtner, aber der scheint im Urlaub zu sein. Ans Gießen hat Karl-Heinz nie gedacht.«

»Was wird nun aus dem Haus? Werden Sie hier wieder einziehen?«

»Herr Kommissar! Ich weiß seit einer halben Stunde vom Tod meines Mannes. Seitdem haben Sie mich befragt. Wann hätte ich mir darüber Gedanken machen sollen?«

Berendtsen entschuldigte sich ein wenig unbeholfen. Er fand seine Frage auch völlig überflüssig und dumm. Eigentlich hatte er nur etwas Unverbindliches sagen wollen. Es war schief gegangen. Ihm gingen andere Überlegungen durch den Kopf. Wie konnte sich ein Mann so ändern? Er hatte schon davon gelesen, aber live und vor Ort …

»Frau Hillebrandt, hatte Ihr Mann ein Arbeitszimmer? Dürften wir es uns einmal ansehen? Vielleicht finden wir Hinweise, die uns zum Täter führen.« Hallstein griff vorsorglich in das Gespräch ein, um zu verhindern, dass es wieder durch eine längere Pause unterbrochen wurde.

Frau Hillebrandt führte die Kommissare über eine halbgewendelte, sechzehnstufige Holztreppe in eine Art Atelier, das den halben Dachboden ausfüllte. Zwei Dachgauben auf jeder Seite schickten genügend Tageslicht in den Raum, den man ebenso gut zu einem Tanzsaal hätte umfunktionieren können. Der erste Eindruck bestätigte die Aussage, dass ihr Mann auf seine Trophäen stolz war. Die überwiegend mit Geweihen verschiedener Größe und Arten dekorierten Wände hingen voll mit ausgestopften großen und kleinen Tieren, darunter Köpfe von Wildschwein, Reh und Hirsch. Ein Spotlight konzentrierte sein Licht auf einen Winkel, in dem sich ein mannshoher Braunbär aufbäumte. Auf den bewundernden Blick der Kommissare hin erzählte sie kurz von ihrem gemeinsamen Urlaub in Alaska. An der Wand imponierte ein Eisbärfell aus dem Norden Kanadas, das allerdings bei einem Bärentöter, wie sich der Mann damals genannt hatte, erstanden worden war.

Der mächtige Schreibtisch mit den passenden Regalen und Schubladenschränken aus massiver Eiche passte in dieses große Zimmer. Davor beeindruckten zwei breite Chesterfield - Sessel den Besucher. Zwischen Schreibtisch und Wand stand eine schwarze, in der Höhe verstellbare Drei-Bein-Stehlampe. Das Licht der mächtigen Scheinwerfer ließ sich durch vier Klappen dirigieren. Berendtsen kannte solche Lampen aus Fotostudios.

Die Kommissare nahmen die Möbel in Augenschein. Der Schreibtisch war aufgeräumt. Die Unterlage bestand aus einem großen DIN A3 – Papierblock mit Kalender und dem Absender Heckler & Koch samt Bildern verschiedener Jagd- und Handfeuerwaffen. Einige mit Kugelschreiber gemalte Bäume und Sträucher sowie Rechtecke und Kreise hatte Hillebrandt offensichtlich beim Telefonieren entworfen. Beim Versuch, das Geweih eines Zwölfenders zu zeichnen, war er augenscheinlich unterbrochen worden oder das Gespräch hatte für dieses Motiv nicht die nötige Länge. Zwischendurch fielen einige Telefonnummern auf. Teilweise durchgestrichen, manche mit Namen und Durchwahl. Berendtsens Blick fiel auf einen umkreisten Termin: ›Ansitz: Montag, 19. Otto‹. Durchgestrichen. Darunter mehrere kleine Punkte, die das Stornieren des Durchstreichens darstellten. Dahinter war ein überdimensionales Ausrufezeichen gemalt und offensichtlich während eines Telefonats verziert worden. Verschiedene Ablagefächer enthielten bezahlte und unbezahlte Rechnungen. In den Schubladen fanden sie nichts außer Büromaterial und Ordnern. Sie nahmen sich die Schrankwand vor. Offene Fächer gab es in der oberen und mittleren Reihe. In der Mitte sprang eine Art Säule hervor, die nur aus Fächern mit Türen bestand. In allen steckten Schlüssel, aber keine war abgeschlossen. Die Türen öffneten nach oben. Sie enthielten sorgfältig beschriftete Aktenordner. Alte Berichte, Zeitungsartikel, Honorarabrechnungen, Pläne des Hauses, Korrespondenz, Prospekte über Waffen. Berendtsen griff zum Ordner »Aktuell«. Er war leer. Drei Trennblätter fielen zu Boden.

»Frau Hillebrandt, können Sie mir sagen, warum dieser Ordner leer ist?« Er hob die Teiler vom Boden auf.

Sie sah in den leeren Ordner und stutze. »Dieser Ordner war in der Regel niemals leer, weil er immer neue Ideen im Kopf hatte. Selbst wenn keine Untersuchung lief, hatte er immer Aufzeichnungen darin, eine Art Ideensammlung.«

Sie nahm Berendtsen die drei Blätter ab, heftete sie in den Ordner und stellte ihn zurück an seinen Platz. Berendtsen sah sich weiter um. Fein säuberlich abgeheftete Jagdzeitschriften, ordentlich in Jahresordnern sortiert, mit Inhaltsverzeichnis. Berendtsen blätterte einige Zeitschriften durch und fand mehrere Artikel, die unter seinem Namen veröffentlicht waren. Hallstein stieß in einer Schublade auf einen handlichen Fotoapparat für die Hosentasche, auf dem er aber keine Bilder fand, und zwei großen Teleobjektive, die zu diesem Apparat nicht passten. Nach kurzem Augenschein gaben sie auf. Hier war für sie beide nicht viel zu begutachten.

»Wo hat ihr Mann seinen Waffenschrank?«, fiel Berendtsen ein.

Frau Hillebrand öffnete eine Tapetentür neben der Schrankwand. Der Stahlschrank dahinter war verschlossen. »Den Schlüssel hat er immer bei sich. Sie werden ihn bestimmt bei ihm finden. Er hat stets zwei Schlüsseletuis, ein braunes in der Hosentasche, ein blaues zur Sicherheit in der Jagdtasche. Er hatte vor Wochen einen Bund beim Bergen eines Tieres in dem Sumpf des Hervester Bruchs verloren. Ich musste ihm den zweiten Autoschlüssel bringen. Es hat lange gedauert, bis er alles wieder beisammenhatte. Auf den Schlüssel zum Waffenschrank haben wir über zwei Wochen gewartet.«

»Also konnte er zwei Wochen nicht jagen? Muss schlimm gewesen sein für ihn.«

»Nein. Die Waffen hatte er mit auf der Jagd. Er konnte sie nur nicht einschließen. Sie haben während der Zeit hier oben hinter dieser Tür gestanden. Es war ihm nicht recht, aber was sollte er machen?«

»Dürfen wir Ihnen unsere Kollegen schicken, die einen geschulteren Blick für versteckte Informationen haben und den Computer untersuchen, eventuell mitnehmen?«

Sie stimmte zu.

Berendtsen zog sein Handy aus der Hosentasche und informierte Willi bei der Spurensicherung.

»Haben Sie einen Tresor?«

Frau Hillebrandt öffnete einen Wandschrank und tippte den Code ein. Außer einigen hundert Euro fanden sie nur eine Dokumentenmappe und eine Schmuckschatulle mit einem Paar goldener Manschettenknöpfe und zwei teure Armbanduhren. Ein ledernes, mit blauem Samt ausgeschlagenes Etui, das er laut Auskunft der Frau von seinem Vater übernommen hatte, enthielt zwölf Goldmünzen verschiedener Prägung.

An der Haustür bedauerten die Kommissare nochmals ihren unangenehmen Besuch und händigten ihr die Visitenkarten mit dem Hinweis aus, dass sich ein weiterer Besuch wohl nicht vermeiden ließe.

Hallstein dachte an alles. »Frau Hillebrandt, wo waren Sie am Montagmorgen? Nur für die Akten«, ergänzte er sofort. Sie war bei ihren Eltern in Lavesum gewesen. Gegen zehn Uhr hatte sie den Tierarzt besucht.

»Frau Hillebrandt, wo können wir Sie erreichen?«

Sie verschwand kurz im Haus und kam mit einer Visitenkarte zurück.

»Hier finden sie alle Angaben.«

Hallstein las den Namen, Telefon, Mobilfunk und Emailadresse.

»Sie haben zuletzt den Landcruiser gefahren. Dürfen wir zum Abgleich ihre Fingerabdrücke nehmen?«

Als sie zögerte, erklärte Hallstein das Vorgehen. »Sie brauchen sich keine Sorgen um schwarze Finger zu machen. Die Zeiten sind vorbei. Das geht heute anders.« Er startete eine App auf seinem Smartphone und zeigte ihr die Auflagefläche. »Einfach hier auflegen. Das geschieht mehrmals. Das Ergebnis bekommen wir sogleich hier oben angezeigt und wissen bei einer grünen Umrandung sofort, ob es den Anforderungen unserer Spurensicherung genügt.« Er wischte mit einem speziellen Tuch über das Display und drückte die Kuppe ihres Daumens auf sein Smartphone. Die App zeigte die Hälfte der Abdrücke an. Die Umrandung der Auflagefläche erschien rot und verlangte eine zweite, dann eine dritte und vierte Auflage. Dann zeigte sie grün. Bei den Fingern genügten drei Abdrücke. Die Prozedur war schnell erledigt. Er beschriftete die Abdrücke von eins bis zehn, fügte ihren Namen hinzu und drückte auf »Senden«. Ein kurzer Quittungston und ein grüner Kreis mit Häkchen und der Meldung: »Datenübertragung erfolgreich abgeschlossen« bestätigten die Übermittlung an die Spurensicherung. Frau Hillebrandt sah Hallstein erstaunt an.

»Wie versprochen, ganz einfach, Frau Hillebrandt. Jetzt würde ich Ihnen noch gerne eine Speichelprobe abnehmen, wenn Sie nichts dagegen einzuwenden haben.« Sein Stäbchen in dem Plastikröhrchen hatte er schon aus seiner Jackentasche gezogen. »Ich habe noch eine letzte Frage: Wäre es Ihnen möglich, Ihren Mann in den nächsten Tagen zu identifizieren? Ich muss Ihnen gleich sagen, es ist kein schöner Anblick.«

»Ich lasse von mir hören. Muss ich mich vorher anmelden?«

»Sie können kommen, wann Sie wollen. Melden Sie sich im Präsidium. Frau Brüggemann wird Ihnen weiterhelfen.«

Die Kommissare legten die wenigen Meter zum Notar zu Fuß zurück. Laut seiner Auskunft hatte Hillebrandt das Testament zu Anfang des Jahres – er sah in seinem Kalender nach – am zweiundzwanzigsten Januar geändert, aber vor drei Wochen hatte er ihm in dieser Angelegenheit einen neuerlichen Besuch abgestattet mit der Bitte, das neue, letzte Testament zu vernichten und das alte wieder in Kraft zu setzen. Es war die Version, die mit seiner Frau zusammen vor Jahren aufgesetzt hatte. Er bot den Kommissaren an, die Akte mit der zugehörigen Unterschrift aus dem Archiv kommen zu lassen.

»Das Testament selbst dürfen Sie nur mit richterlichem Beschluss einsehen«, erklärte er den Beamten unmissverständlich.

Berendtsen verzichtete auf diesen Aufwand. Das Wort des Notars reichte ihm.

Auf der Straße in Richtung Marl wies Berendtsen seinen Kollegen auf einen Wegweiser hin: »Hier geht es zum Stausee, Oliver. War das wohl ein interessanter Fall im letzten Jahr?«

Hallstein nickte kurz und konzentrierte sich auf den Verkehr.

Kapitel 4.

Frau Brüggemann passte ihn an der Pforte ab und verwies ihn sogleich in die Pathologie. Frau Rother hatte bis spät in den Abend ihr Bestes gegeben und gleich heute fortgesetzt. Sie konnte schon einen ersten vorläufigen Bericht abliefern.

»Der Tod muss am Montag, den neunzehnten, in der Frühe eingetreten sein. Genauer mag ich mich nicht festlegen. Wissen Sie, Herr Berendtsen, in dieser Situation kann man den Zeitpunkt nur noch anhand der Larvenstadien von Maden und anderen Viechern feststellen, weil …« Weiter kam sie nicht.

»So genau will ich das gar nicht wissen. Mir wird gleich wieder schlecht, wenn ich daran denke, wie er auf dem Ansitz lag. Lassen Sie es gut sein, Frau Rother.« Einige Gummibärchen wanderten aus der Tasche Richtung Mund.

»Die Nachbarn haben einen Schuss gehört, aber niemand hat auf die Uhr geschaut, weil dort immer wieder morgens in der Früh geschossen wird. Nach den Aussagen dieser Anwohner war es nicht vor sechs Uhr, als die ersten beim Frühstück saßen. Einer sprach von sieben Uhr fünfzehn, weil er sich auf den Weg zur Arbeit machen wollte und gerade dabei war, die Zahlenkombination für sein Garagentor einzugeben. Ihm war aufgefallen, dass es nur ein einziger Schuss war. ›Blattschuss‹, hat er gedacht. Sonst fallen oft zwei Schüsse. Der Tathergang war folgendermaßen: Die Kugel ist direkt in den Oberkörper eingedrungen, hat Brustbein und Wirbelsäule zerschmettert, ist zwischen den Schulterblättern wieder ausgetreten und im Dach des Ansitzes gefunden worden. Er muss also leicht nach vorne gebeugt oben an der Treppe gestanden haben, wie die erste Einschätzung schon vermuten ließ. Er war sofort tot. Das Kaliber ist eine 7x64, die aus einer Jagdwaffe abgefeuert worden ist. Um welche Tatwaffe es sich handelt, kann ich nicht sagen. Diese Patrone kann aus fast allen Gewehren abgefeuert werden. Ich mache mich mal schlau«, versprach Frau Rother.

»Irgendetwas Auffälliges?« Berendtsen warf sich vorsichtshalber mehrere Bärchen ein.