Eine Frau wie Zuckerwatte - Ruth Gogoll - E-Book

Eine Frau wie Zuckerwatte E-Book

Ruth Gogoll

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Beschreibung

Es beginnt mit einem Tagebuch in der Vorweihnachtszeit: Einträge voller Sehnsucht, bis plötzlich die Liebe einschlägt wie ein Blitz. Kurz darauf scheint jedoch schon wieder alles vorbei zu sein. Bis sich am Heiligabend ein unerwartetes Geschenk enthüllt ... Dieser kurze Anfang des Romans war unter dem Titel »Das Weihnachtstagebuch« bereits als E-Book erhältlich, doch das Happy End war ein wenig verfrüht – denn die beginnende Liebe entpuppt sich als ungeahnt problematisch: Nachdem das äußerst attraktive Geschenk unterm Weihnachtsbaum ausgepackt ist, beginnt eine leidenschaftliche Fernbeziehung mit heißen Nächten in Hotels, denn Kim ist wegen ihrer Arbeit in der Werbeagentur ständig unterwegs. Ihr Traum ist es, einmal selbst die Agentur zu übernehmen. Das einzige Hindernis dabei: Kims Chefin, denn die gibt ihre Firma nur unter einer Bedingung ab. Einer Bedingung, die das Liebesaus bedeuten würde. Doch alles ändert sich, als Kim während eines Fotoshootings auf Mallorca spurlos verschwindet ...

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Ruth Gogoll

EINE FRAU WIE ZUCKERWATTE

Liebesroman

© 2016édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-173-5

Coverillustration: © PleaseRemember – Fotolia.com

TEIL 1 Das Weihnachtstagebuch

1. Dezember

Liebes Tagebuch,

es ist kalt draußen geworden, und ich weiß nicht, ob sich das auf meine Stimmung auswirkt, aber ich glaube, es tut es. Obwohl ich heize wie verrückt, werden meine Füße einfach nicht warm.

Vielleicht liegt es auch nur daran, dass mein Bett nachts so kalt ist, dass ich irgendwie gar nicht warm werde, wenn ich schlafe. Ich wache schon mit einem Frösteln auf. Und dann schaue ich auf die andere Seite und denke mir, wie schön es wäre, wenn da jemand läge – eine Frau, die sich mit mir zusammen auf Weihnachten freut . . . meine Frau.

Aber das ist wohl nur ein frommer Wunsch. Fromm! In der Weihnachtszeit wahrscheinlich gerade die richtige Bezeichnung!

Soll ich einen Wunschzettel schreiben und ihn auf die Fensterbank legen, damit der Weihnachtsmann – oder die Weihnachtsfrau – kommt und ihn abholt? Und mir eine Frau zu Weihnachten schenkt? Schön verpackt unterm Weihnachtsbaum?

3. Dezember

Von drauß vom Walde komm ich her; Ich muss euch sagen, es weihnachtet sehr! Allüberall auf den Tannenspitzen Sah ich goldene Lichtlein sitzen;

Ach, liebes Tagebuch,

ich war gerade auf dem Weihnachtsmarkt und habe mir die Nase abgefroren! Es weihnachtet sehr, aber nur in einer Richtung, nämlich der des Verkaufs. Und goldene Lichtlein – na, die gab es vielleicht noch zu Theodor Storms Zeiten, als er das Gedicht schrieb, aber heutzutage sieht man höchstens rote Lichtlein auf den Nasenspitzen sitzen, entweder vom Frost oder vom Glühwein.

Alt und Junge sollen nun Von der Jagd des Lebens einmal ruhn;

schreibt Theodor Storm weiter in seinem Knecht Rupprecht, aber wie sieht es in Wirklichkeit aus? Alles rennet, rettet, flüchtet!, wie der gute, alte Schiller in seinem Lied von der Glocke sagte. Oder drängt sich vor den Ständen, als ob es morgen nichts mehr zu kaufen gäbe.

Hektik überall. Weihnachten, das Fest der Stille und der Besinnung – gibt es das überhaupt noch? Vielleicht ist es einfach schon zu lange her, dass dieses Fest entstanden ist. Über 2000 Jahre, ist ja auch eine mordsmäßig lange Zeit.

Jedes Jahr denke ich: Dieses Jahr machst du es dir zu Weihnachten aber richtig schön! Keine Arbeit, kein Stress, keine Leute. Und jedes Jahr bin ich enttäuscht, dass es wieder nicht geklappt hat, dass wieder alles im Trubel untergegangen ist, bis ich dann einsam vor meinem Tannenzweig sitze und merke, dass Weihnachten doch nicht so schön ist – allein.

Keine Leute – klar, das ist ja ganz nett, wenn man damit die klingelnden Telefone meint, die einem im Büro in den Ohren dröhnen, die Geschäftsbesucher, die vor dem Schreibtisch stehen, die Massen beim Samstagseinkauf. Keine Leute – ja, aber schön wäre es eben doch: ein Leut. Ein ganz bestimmtes Leut. Ein Frau-Leut.

Selbst auf dem Weihnachtsmarkt habe ich nach ihr Ausschau gehalten. Jedes nette Frauengesicht betrachtet, ob es nicht vielleicht auch von Einsamkeit spricht, von der Sehnsucht nach Gesellschaft. Aber die meisten sind mit ihrem Mann unterwegs und mit den Kindern.

Und die allein unterwegs sind starren vor sich hin, als ob sie sich auf einem Schlachtfeld befänden, einen Krieg gewinnen müssten. Den Krieg gegen das letzte Weihnachtsgeschenk.

Das habe ich alles schon vor Wochen erledigt. Das ganze Jahr über schaue ich nach Geschenken und sammle sie dann in meinem Abstellraum. Vor Weihnachten werden sie hervorgeholt, eingepackt und verschickt, das dauert ein paar Tage und macht tatsächlich Spaß. Für jeden das richtige Geschenk – auch wenn ich selten das richtige zurückbekomme . . . wenn überhaupt.

Meine Nachbarin stand heute vor der Tür. Eine wirklich nette Frau – mit einem netten Mann und netten Kindern. Sie wollte mich einladen – sie hat so eine soziale Ader – zum Weihnachtsessen mit nachfolgender Bescherung unterm Baum. Wahrscheinlich holen sie sich sonst jedes Jahr einen Obdachlosen von der Straße, und dieses Jahr haben sie sich auf ihre alleinlebende Nachbarin besonnen.

Ich habe dankend abgelehnt. Sie sagte, ich könne es mir ja noch einmal überlegen, ich könne auch ganz spontan kommen. Spontan! Als ob ich spontan wäre! Nein, bin ich nicht – und ich stehe auch dazu!

Heutzutage wollen alle spontan sein, das hat was von jugendlich, von Elan, aber muss das denn immer sein? Kann man die Dinge nicht auch einmal planen? Meine Tage verlaufen einer wie der andere, wie Du ja weißt, liebes Tagebuch, da ich Dir alles erzähle, und Spontaneität würde nur alles durcheinanderbringen.

Nein, nicht mit mir. Ich will meine Ruhe, meine Ordnung, meinen geregelten Ablauf.

Ob es eine Frau gibt, die mir da zustimmt? Oder wollen die auch alle das Spontane? Spontane Liebe, spontaner Sex, keine Verpflichtungen.

Ja, das kenne ich. In einer Minute verliebt, in der nächsten im Bett, und in der dritten schon wieder allein. Darauf kann ich verzichten.

5. Dezember

Es schneit, es schneit, Es wurde höchste Zeit! Der Winter lädt zum Rodeln ein Und endlich freut sich Groß und Klein . . .

Wie es das Weihnachtslied sagt, zeigt sich heute zum ersten Mal die weiße Pracht. Richtiges Sonntagswetter, und überall sehe ich die Familien mit den Kindern und Rodelschlitten zu unserem kleinen Hügel hier um die Ecke ziehen.

Von meinem Fenster im zweiten Stock habe ich einen guten Blick auf alles. Ich erinnere mich, wie sehr ich das Rodeln als Kind geliebt habe. Jetzt würde ich mir wahrscheinlich die Beine brechen, die Sportlichste bin ich nicht mehr.

Na, aber ein bisschen Schnee hat noch niemand geschadet. Ich werde mir die dicken Stiefel anziehen und hinausgehen, ein paar Schneebälle werfen, dem vergnügten Kreischen der Kinder lauschen, das mich an mein eigenes erinnert.

Tagebuch, liebes Tagebuch!

Ich bin so aufgeregt! Als ich Dir vor ein paar Stunden von dem Schnee erzählte, der gefallen war, und dass ich hinausgehen würde, hatte ich an überhaupt nichts Böses gedacht – nichts Böses und nichts Gutes; es war einfach nur der Winter, der mich anzog.

Und was glaubst Du, was passiert ist? Ich habe sie getroffen!

Sie, sie sie! Ich könnte tanzen vor Freude, wenn die dicken Klamotten mich nicht daran hindern würden. Warte, ich ziehe sie aus. Ich musste Dir gleich davon erzählen, ich konnte nicht warten.

So, jetzt bin ich wieder hier. Ohne dicke Stiefel und Ohrenschützer. Sie ist UMWERFEND! Du kannst dir nicht vorstellen, wie sie ist. Sie ist schön, charmant, blauäugig – habe ich schon erzählt, dass sie blaue Augen hat? Augen, die blitzen, wenn sie spricht, die lachen, wenn sie einfach nur redet. Augen, die einfach nur – zum Versinken sind. Wie in einen See würde ich mich gern hineinfallen lassen und in ihnen ertrinken.

Nein, vielleicht nicht ertrinken, nur tauchen mit ihr, ihr, ihr! Oh, ich bin glücklich, glücklich, glücklich!

Sie ist nicht von hier, sie ist nur zu Besuch bei Verwandten oder Bekannten, ich habe nicht genau hingehört; ich konnte nicht genau hinhören, ich musste nur immer ihre Lippen beobachten, wie sie sich bewegten, wie sie sich rot über ihren weißen Zähnen öffneten.

Sie hat wundervolle Zähne, große, starke, kräftige Zähne, sinnliche Lippen, einen immer ein wenig schmunzelnden Gesichtsausdruck, als ob ihr die Welt zu Füßen läge und sie sich darüber amüsierte.

Sie strahlt etwas aus – einmal blickte ich hinunter, während ich neben ihr stand, und nahm fest an, dass der Schnee unter meinen Sohlen geschmolzen sein müsste, weil mir so heiß war . . . so heiß wie schon lange nicht mehr.

Aber der Schnee war ganz unbeeindruckt und kalt. Nur mir wurde heißer und heißer, ich kochte fast. Wohlige Schauer rannen mir über den Rücken, während ich die Augen schloss und nur ihrer Stimme lauschte, dieser süßen, süßen Stimme, die mich in höhere Welten versetzte.

Nach einer Weile stieß sie mich an, und als ich aus meinen Träumen erwachte, blickte ich in ihr lächelndes Gesicht.

»Ist etwas?«, fragte sie. »Langweile ich Sie mit meinen Geschichten?«

Langweilen? Wie könnte sie mich je langweilen? Sie! Nichts konnte weniger langweilig sein als ihre Gegenwart.

Ich versicherte ihr schnell, dass ich nur Kopfschmerzen hätte – Kopfschmerzen! Seit ich sie gesehen habe, kann ich mir nicht vorstellen, je wieder welche zu haben! – und dass ich ihr gern zuhören würde.

Sie meinte, ich könne ruhig ehrlich sein, sie wüsste, dass sie manchmal etwas langatmig würde.

Sie könnte das Telefonbuch vorlesen, und ich würde ihr hingerissen lauschen.

7. Dezember

Oh Tagebuch, was soll ich nur tun? Vorgestern habe ich sie zum ersten Mal gesehen, konnte mich eine Weile mit ihr unterhalten – das heißt, sie hat sich mit mir unterhalten, ich habe ihr nur zugehört oder unverständliches Zeug gestammelt –, und dann verabschiedete sie sich.

Ich blickte ihr hinterher, wie sie durch den Schnee davonging, und dachte, ich müsste sterben. Je kleiner ihre Gestalt wurde, bis ich sie nicht mehr sehen konnte, desto mehr wollte ich ihr hinterherlaufen, vor ihr auf die Knie fallen, sie anflehen, mich mitzunehmen. – Aber das hat ja keinen Sinn. Und sie würde mich nur auslachen. Es bliebe ihr gar keine andere Wahl. Es wäre einfach albern.

Gestern habe ich dann den ganzen Tag nach ihr Ausschau gehalten. Ich dachte, ich könnte ihr vielleicht »zufällig« begegnen und so tun, als ob ich das gar nicht erwartet hätte. Die ganze Zeit habe ich mir überlegt, was ich sagen könnte, wie ich einen überraschten Gesichtsausdruck spielen könnte.

Ich stand im Schnee, an der Stelle, wo sie mich das letzte Mal verlassen hatte, und übte die verschiedensten Varianten. Die Leute sahen mich schon ganz komisch an.

Kein Wunder, wenn da jemand einfach so auf dem Rodelhügel steht und Grimassen schneidet, zwischendurch ergänzt durch Selbstgespräche. »Ach, was für ein Zufall! Sie auch hier? Damit habe ich ja gar nicht gerechnet!«

Ich weiß, ich bin blöd. Ich bilde mir etwas ein. Ich bilde mir ein, sie würde wiederkommen – meinetwegen vielleicht? Ich bilde mir ein, sie hätte vielleicht Interesse an mir, ich könnte sie vielleicht zum Kaffee einladen, und sie würde ja sagen.

Was für ein Schwachsinn! So etwas kommt einfach nicht vor. Das gibt es nicht. Eine Frau wie sie. Die ist doch längst verbandelt. Abgesehen davon, dass ich noch nicht einmal weiß, ob sie überhaupt –, aber darüber denke ich jetzt nicht nach.

Für heute habe ich mir jedenfalls fest vorgenommen, nicht auf sie zu warten. Vielleicht ist sie ja schon längst wieder abgefahren, vielleicht war es nur ein kurzer Besuch für einen Tag. Vielleicht ist sie in die Karibik geflogen.

Karibik – ja, das ist gut. Ganz weit weg. Sie ist in der Karibik. Ich brauche nicht auf sie zu warten.

Sie ist in der Karibik? Mit wem? Ich bringe ihn um! Ihn oder sie – ganz egal. Ein endgültiger Schnitt, eine saubere Sache. Dann ist sie allein, und ich kann – 

Ja, bin ich denn verrückt geworden? Was denke ich denn da? Tagebuch, erkennst Du mich überhaupt noch wieder? Hast Du mich schon je so etwas sagen hören: jemanden umbringen? Ernsthaft? Ohne Gewissensbisse? Ich müsste mal zurückblättern, aber nein, ich glaube nicht. Das ist ja wohl so was von bescheuert.

Ich habe ein paar Minuten mit ihr gesprochen, sie war einfach freundlich zu mir – freundlich, wie man es eben zu einer Fremden ist, die man zufällig auf dem Rodelhügel trifft. Sonst war nichts . . . gar nichts. Der Rest ist alles nur Wunschdenken.

Wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie vor mir. Ihre Augen, ihre Lippen, ihre Haare . . . ihre Lippen, ihre Lip-

Ich möchte sie einfach küssen, diese Lippen, einmal nur, ganz sacht. Es muss gar nicht viel sein. Einmal nur sie spüren, einmal ihre Wärme aus der Nähe. Einmal noch ihr leichtes Lachen hören, wenn sie antwortet.

Einmal noch in diese Augen sehen, in diese tiefen blauen Augen voller Charme und Zärtlichkeit. Wenn ich das nur noch einmal tun könnte – oh, ich glaube, ich würde wirklich sterben!

9. Dezember

Ich denke nur noch an sie – oh Tagebuch, es gibt keine anderen Gedanken mehr außer ihr, ihr, ihr.

Gestern habe ich sie gesehen – von weitem. Aber ich konnte ihr nicht folgen. Sie saß in einem Wagen, der stadtauswärts fuhr. Sie steuerte den Wagen selbst. Niemand war bei ihr. Das Herz blieb mir fast stehen. Was, wenn sie die Stadt verlässt? Ich wusste noch nicht einmal, bei wem sie gewesen war. Aber der Wagen hatte eine hiesige Nummer, und so hoffte ich, dass sie vielleicht zurückkommen würde.

Meine Hoffnung hat sich heute bestätigt. GOTT SEI DANK! Ich habe sie wiedergesehen.

Sie ging die Straße entlang, direkt unter meinem Fenster. Ich wusste nicht, wohin. Und ich war nicht angezogen!

Anscheinend steht sie früh auf, früher jedenfalls als ich, denn ich stand im Pyjama da, mit meiner Kaffeetasse in der Hand, die Augen noch halb verklebt vom Schlaf.

Als ich sie sah, war ich plötzlich hellwach. Doch was sollte ich machen? Ihr im Schlafanzug hinterherlaufen?

Ich setzte die Kaffeetasse ab – das heißt, das wollte ich, aber da war gar kein Tisch, wo ich sie hätte abstellen können, also verteilte sich der Kaffee auf dem Parkett und leider auch auf der Tapete.

Die war mal weiß, jetzt ist sie stellenweise hellbraun. Nun ja, damit muss man leben. Sonst bin ich ja eher pingelig, aber dieser Fleck ist mir so egal wie nur irgendetwas.

Ich schnappte meinen Mantel und versuchte in die Stiefel zu schlüpfen, was mir nur halb gelang. Ich hüpfte auf die Straße, aber sie war schon so weit weg. Ich konnte sie nicht aufhalten.

Ich nahm mir eine Sekunde Zeit, um die Stiefel richtig anzuziehen, dann joggte ich los, so schnell ich konnte. Die Stiefel waren nicht sonderlich bequem, sie sind nicht dafür gebaut, mit ihnen Sport zu betreiben, und das hatte ich ja auch nie vor, aber in diesem Fall . . .

Ich erreichte sie wirklich – sie ging ja nur normal und lief nicht –, die Füße taten mir weh, aber ich merkte es kaum. Ich lief an ihr vorbei und drehte mich halb um, tat überrascht – hatte ich das nicht lange genug geübt? – und blieb stehen.

»So sieht man sich wieder«, sagte sie, bevor ich es tun konnte. Sie lächelte, und mein Herz rutschte in die Stiefel.

Es wäre noch weiter gerutscht, wenn die Kälte es nicht abgeschreckt hätte. »Ich jogge hier jeden Morgen«, log ich.

Ihr Blick fuhr von oben bis unten über mich. »In Pyjama und Mantel, mit Stiefeln?«, fragte sie belustigt.

»Nun ja, eine neue Methode. Es soll die Abwehrkräfte stärken.« Ich zitterte am ganzen Leib. Es war kalt, und meine Abwehrkräfte waren wohl nicht mit der neuen Methode einverstanden.

»Interessant«, sagte sie. »Davon habe ich noch nie gehört. Besonders die Stiefel sehen nicht gerade bequem aus. Gehört das Vertauschen von links und rechts auch zu der neuen Methode?«

Ich blickte hinunter und erblasste, bevor ich wie mit roter Farbe übergossen wieder aufsah. Deshalb hatten mir die Füße so weh getan! »Ja, vermutlich«, sagte ich. »Ich mache das noch nicht so lange.«

»Das hoffe ich«, erwiderte sie, und ganz eindeutig amüsierte sie sich. »Sonst würde Ihr Orthopäde sich über viele zusätzliche Einnahmen freuen.« Sie blickte sich um. »Wohnen Sie hier in der Nähe?«

Ich wies die Straße hinunter. »Ja, dahinten.«

Sie lächelte – so hinreißend, dass ich meine Knie flattern fühlte. »Ich würde vorschlagen, Sie ziehen sich um, bevor Sie weiterjoggen. Nur so eine Idee.«

»Eine gute.« Ich seufzte. »Sie sind keine Joggerin, oder?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das gehört nicht zu meinen bevorzugten Tätigkeiten.«

Woher hast du dann diesen knackigen Körper? hätte ich am liebsten gefragt. Auch wenn ich nicht viel unter der Winterkleidung sehen konnte, dass ihr Körper einfach spitze sein musste, davon war ich überzeugt.

»Ich war gerade dabei, Kaffee zu trinken. Darf ich Sie dazu einladen?«, fragte ich. Ich weiß nicht, woher ich den Mut nahm.

»Ich habe eben erst Kaffee getrunken. Ich wollte einen Spaziergang machen. Wenn Sie wollen, können Sie sich mir anschließen.« Sie lächelte. »Sobald Sie dafür angezogen sind. Ich glaube, sonst werden Sie sich einen Schnupfen holen.«

Einen Schnupfen? Was konnte es Schöneres geben als einen Schnupfen? Wenn sie mich pflegte? »Würden Sie denn auf mich warten?«

»Warum nicht? Ich gehe langsam weiter, Sie holen mich sicherlich ein.«

Ich raste zurück – meine Füße wollten mich überzeugen, langsam zu gehen, aber ich konnte nicht –, und als ich mich umgezogen hatte, ging ich wieder los – was Wunder, ohne Fußschmerzen, da ich nun den linken Stiefel auf dem linken Fuß und den rechten auf dem rechten hatte. Wirklich eine tolle Erfindung. Man sollte nicht meinen, was das ausmacht! Ich holte sie ein, und wir gingen eine Weile stumm nebeneinander her.

»Sie sind eine Frühaufsteherin«, bemerkte ich dann. »Oder machen Sie das nur im Urlaub?«

Sie sah mich an. Ihre blauen Augen blitzten. So was von Blau!

Ich blickte auf den Schnee und fühlte mich geblendet.

»Nein, ich stehe immer so früh auf«, sagte sie. »Es ist die schönste Zeit des Tages.«

»Ja, das finde ich auch«, log ich schon wieder. Sie unterstützte nicht gerade meine Wahrheitsliebe.

Als wir im Wald waren, betrachteten wir gemeinsam die letzten roten Strahlen am Himmel, die sich im Schnee fingen. Sie schaute mich an und lächelte.

Dann beugte sie sich zu mir und hauchte einen sanften, süßen, zärtlichen Kuss auf meinen Mund, so zart, dass ich ihn kaum spürte, und doch brannten meine Lippen noch lange davon.

Sie drehte sich um und ging.

Ich stand erstarrt und konnte ihr nicht folgen.

Was geschieht nur mit mir?

10. Dezember

Geliebtes Tagebuch, mein einzig vertrautes!

Ich kenne nicht einmal ihren Namen, und doch könnte ich jeden Blick ihrer Augen, jede Berührung ihrer Lippen, jedes Lächeln ihres herrlichen Mundes buchstabieren.

Ich weiß nicht, was das war, gestern, mit dem Kuss. War es ein Kuss? Was sollte es sonst sein? Die ganze Nacht habe ich wachgelegen und darüber nachgedacht.

Warum hat sie das getan? Warum ist sie dann gegangen?

Ich hätte es nie gewagt, so etwas zu tun – mit einem wildfremden Menschen, mit einer Frau, von der ich nicht weiß, wie sie heißt oder wo sie wohnt, mit der ich gerade einmal ein paar belanglose Worte gewechselt habe.

Mir fiel ein, dass es Frauen gibt, die in Skiurlaub fahren und dann ein Techtelmechtel mit dem Skilehrer haben. Bin ich ihre Skilehrerin? Ich laufe nicht besonders gut Ski.

Will sie sich im Urlaub eine kleine Auszeit gönnen, ein kleines Abenteuer, bevor sie wieder in ihren Alltag zurückkehrt?

Einen Alltag, von dem ich nichts weiß. Nicht, ob sie allein ist, nicht, ob sie eine Familie hat, nichts über ihren Beruf oder ihr sonstiges Umfeld.

Es ist mir nicht wichtig, natürlich nicht. Das einzig Wichtige ist sie, aber wenn ich mehr über sie wüsste . . . wenn ich nur mehr über sie wüsste!

Würde ich mich trauen? Wenn ich mehr über sie wüsste? Würde ich mich trauen, dorthin zu gehen, wo sie wohnt, zu klingeln, nach ihr zu fragen?

Was ist, wenn sie mich fragen, warum ich frage? Hätte ich eine Antwort?

Wenn sie mich fragen würde: Was willst du von mir?

Was würde ich antworten?

Meine Antwort wäre eine Gegenfrage: Was willst du von mir?

Denn offensichtlich ist da etwas. Wieso hätte sie mich sonst geküsst?

Oder sollte es ein Abschiedskuss sein? Ist sie fort? Wollte sie mir zum letzten Mal Adieu sagen mit einer besonderen Geste?

Oh Tagebuch, mein Herz bleibt stehen! Es hört einfach auf zu schlagen, wenn ich daran denke. Schon einmal dachte ich, sie könnte fort sein: als ich sie mit dem Auto wegfahren sah. Doch diesmal –

Ist es wahrscheinlich, dass jemand immer wieder fortgeht und dann doch wiederkommt?

Aber warum sollte sie das tun? Sie ist nicht von hier. Sie hat ein anderes Leben, weit fort von hier. Sie wird auf jeden Fall fortgehen – irgendwann. In nicht allzuferner Zukunft, wenn sie es jetzt noch nicht getan hat.

Heute morgen habe ich den Sonnenaufgang beobachtet – an derselben Stelle, wo wir gestern seine letzten Strahlen sahen. Immer kehre ich an die Orte zurück, an denen sie mich verlassen hat. Und immer hoffe ich, sie dort zu finden.

Aber ich finde sie nie. Sie ist vielleicht nur eine Fata Morgana, ein Schemen. Vielleicht existiert sie gar nicht. Vielleicht sehe nur ich sie und sonst niemand. Vielleicht ist sie ein Engel, der vom Himmel herabgestiegen ist.

Ja, du hast recht, Tagebuch, ich sollte damit aufhören. Setz mir den Kopf zurecht, damit ich wieder vernünftig werde. Wirklich – wenn meine Kollegen aus dem Büro mich so sehen könnten!

Mich, die ich immer nur meine Arbeit kannte. Die Frau ohne Privatleben – dachten sie.

Nun ja, so falsch war das ja auch gar nicht. Ich wünschte, ich hätte keinen Urlaub jetzt, den ganzen Dezember. Dann könnte ich mich ablenken.

Aber ich musste den Urlaub ja nehmen, ich wurde dazu gezwungen. Wenn ich den Urlaub nicht bis zum Ende des Jahres genommen habe, verfällt er.

Es wäre mir egal gewesen, aber die Gewerkschaft ist hart. Sie haben meinem Chef die Hölle heiß gemacht, obwohl er gar nichts dafür konnte. Ich nehme nun mal nicht gern Urlaub. Ich bin lieber im Büro, bei meinen Aktenschränken, an meinem Schreibtisch, wo alles schön aufgeräumt ist und vertraut.

Jeden Morgen kehre ich in mein Büro zurück und fühle mich, als käme ich nach Hause. Abends, wenn ich dann wirklich nach Hause gehe, kommt es mir oft so vor, als müsste ich meine Heimat verlassen.

Jeder, dem ich das erzähle, lacht mich aus. »Geh mal aus. Amüsier dich!«, sagen sie. Und früher habe ich das ja auch mal ab und zu getan.

Aber heute? Wo sollte ich mich amüsieren und mit wem? Ich habe zu viele Enttäuschungen erlebt. Wenn ich nicht den ganzen Tag von meiner Wohnung abwesend wäre, würde ich mir einen Hund zulegen, einen treuen Begleiter, der zu mir steht und mich nicht verlässt. Aber da ich tagsüber nie da bin, will ich das einem Tier nicht antun.

Also ist meine Wohnung leer, wenn ich heimkomme. Ein paar Plüschtiere auf dem Sofa, das ist alles.

Ich spreche mit ihnen. Mit irgendjemand muss ich ja sprechen.

Außer mit dir, liebes Tagebuch, mit dir spreche ich ja auch. Und ich bin froh, dass du mir immer zuhörst, dass du immer für mich da bist, dass du mir Trost spendest. Kein Mensch könnte so tröstlich sein. Keinem Menschen könnte ich so vorbehaltlos alles erzählen, was ich dir erzähle.

Niemals hätte ich gedacht, dass ich jemals noch einmal einen Menschen kennenlernen würde, dem ich auch so viel erzählen möchte. Ihr würde ich gern alles erzählen.

Die Frage ist nur, ob sie es auch hören will. Interessiert sie das überhaupt? Was denkt sie von mir? Was erwartet sie von mir? Wie hätte ich reagieren sollen auf ihren Kuss? Dachte sie, dass ich irgendetwas tun würde?

Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht – oh mein Gott, ich weiß es nicht!

Ich werde wieder den ganzen Tag herumlaufen und nach ihr Ausschau halten, wie ich es schon heute morgen getan habe.

Vielleicht sehe ich sie nie wieder.

Oh bitte, bitte nicht!

Bitte, lass mich sie noch einmal wiedersehen!

Einmal nur!

11. Dezember

Gestern war der schrecklichste Tag in meinem Leben.

Und heute ist der glücklichste!

Gestern dachte ich, ich müsste sterben. Oh Tagebuch, was habe ich mich gequält! Den ganzen Tag nach ihr gesucht, mir eine rote Nase geholt und kalte Füße.

Ich musste niesen, als ich nach Hause kam, legte mich ins Bett, wärmte mich auf, nahm ein heißes Bad – ich weiß, die Reihenfolge ist falsch, das musst du mir nicht sagen! Ich füllte mich mit Vitamin C ab und allem, was ich an Hilfen für das Immunsystem finden konnte, und Gott sei Dank hat es geholfen. Ich bin nicht erkältet.

Was nützt mir das, dachte ich heute morgen, als ich frisch und munter aufwachte, wenn ich sowieso nichts zu tun habe? Wenn ich meine Zeit nicht sinnvoll nutzen kann? Wenn ich sie nicht sehen kann?

Ich ging einkaufen, es war mal wieder nötig, und kehrte zurück, da stand sie vor dem Haus!

Ich konnte es nicht fassen! Mir fielen die Beutel aus der Hand, und einige Orangen kullerten die leicht schräge Straße hinunter.

Sie sah es, sprang herbei und half mir aufsammeln.

Wir lachten. Wir haben zusammen gelacht!

Es war wie eine Befreiung.

Ich war glücklich, als ich in ihre lachenden, blitzenden, funkelnden Augen sah, so voller Schalk und Anmut.

»Orangen sind ganz wichtig im Winter, die darf man nicht verschwenden«, sagte sie, als wir alles wieder beisammen hatten.

»Sie haben noch eine ganze Menge im Laden. Ich glaube, man kann sie kaufen«, sagte ich.

Sie lachte. »Sie haben recht. Wie dumm von mir. Wenn man irgendwo nicht zu Hause ist und nicht einkaufen geht, denkt man manchmal nicht daran, dass es überall Geschäfte gibt, selbst hier auf diesem Dorf.«

»So ein Dorf ist es auch wieder nicht. Immerhin haben wir einen kleinen Supermarkt.«

»Das wusste ich nicht«, sagte sie. »Mir kommt hier alles sehr klein vor.«

»Sie kommen aus der Großstadt«, stellte ich fest, ohne zu fragen. So musste es sein.

Sie nickte. »Deshalb ist es hier für mich so erholsam. Hier fahren nur fünf Autos am Tag.«

»Etwas mehr.« Ich musste auch lachen. »Aber es ist sicherlich viel weniger als bei Ihnen, das kann ich mir vorstellen.«

Sie drehte sich um und betrachtete den Wald in einiger Entfernung. »Der Schnee ist wundervoll«, bemerkte sie mit einem versonnenen Gesichtsausdruck. »Weißer Winterwald. Winterwunderland. Kennen Sie das Lied?«

»Natürlich. Wer nicht? Hier ist es jedes Jahr so, deshalb fällt es mir schon gar nicht mehr auf. Nur wenn Fremde kommen und mich darauf hinweisen.« Ich schmunzelte.

»Fremde wie ich.« Sie sah mich merkwürdig an. Dann rieb sie ihre dick behandschuhten Hände aneinander. »Ich mache einen Spaziergang. Das ist wirklich Erholung pur.« Sie wollte gehen. Dann drehte sie sich noch einmal um. »Kommen Sie mit?«

Ihr fragender Blick enthielt etwas, dem ich mich nicht entziehen konnte.

»Gern«, sagte ich, und ich versuchte das Zittern meiner Stimme zu unterdrücken. »Ich stelle nur meine Einkäufe schnell vor die Tür.«

»Können Sie die denn einfach hier so stehen lassen?«, fragte sie verwundert.

»Hier stiehlt niemand«, sagte ich. »Jede einzelne Orange wird noch da sein, wenn wir zurückkommen, keine Sorge.«

Sie lachte. »Ich bestehe auf Orangensaft als Beweis nachher!«

Ich schluckte. Das hieß, sie wollte in meine Wohnung? »Sicher«, sagte ich mühsam. »Kein Problem.«

Und dann, Tagebuch, gingen wir los, und weißt du, was wir im Wald gemacht haben? Eine Schneeballschlacht!

Wir gingen ganz ruhig nebeneinander her, plötzlich bückte sie sich und nahm etwas Schnee auf, drückte ihn zusammen und warf ihn mir an den Kopf. Ganz sanft nur, ich spürte es kaum, aber als ich mich ihr überrascht zuwandte, hatte sie schon den nächsten Ball gerollt, entfernte sich etwas von mir, holte aus und traf meine Schulter.

Das konnte ich mir einfach nicht bieten lassen! Ich bückte mich auch, quetschte den Schnee kräftig zusammen und warf ihn nach ihr.

Sie drehte sich weg, und der Schnee hinterließ einen weißen Fleck auf ihrem Rücken.

Na warte, ich krieg dich schon! Ich fühlte mich in meine Jugend zurückversetzt. Schon Jahre habe ich so etwas nicht mehr gemacht.

Doch ich hatte keine Zeit zu überlegen, denn sie traf mich schon wieder. Sie lachte laut auf und formte bereits den nächsten Ball.

Wie die kleinen Kinder trieben wir das eine Weile.

Dann rannte ich auf sie zu und versuchte sie zu fangen. Es war ein spontaner Einfall. Ich wollte einfach nicht so weit von ihr entfernt sein.

Ich erwischte sie, sie rutschte aus, und wir fielen in den weichen, sanften Schnee.

Sie lag unter mir und sah mich an. Sie lag ganz ruhig. Sie wehrte sich nicht.

Ich beugte mich hinab und küsste sie.

Sie lag immer noch ganz ruhig, als unsere Lippen sich voneinander lösten. Es war wie ein Traum.

Sie sagte nichts, ich sagte nichts.

Die Stille des Waldes umgab uns, der Schnee war unser Bett, kein Laut war zu hören – und plötzlich begann es zu schneien.

»Ich glaube, jetzt wird es dann doch ein bisschen kalt«, sagte sie.

»In einem Iglu soll es ja auch warm sein. Wir könnten uns einfach zuschneien lassen«, schlug ich vor. Ich wollte mich einfach nicht von ihr lösen.

»Für dich ist es ziemlich warm«, sagte sie, »weil ich unter dir liege, aber ich liege direkt auf dem Eis.«

»Oh!« Ich sprang auf und reichte ihr meine Hand. »Entschuldige. Daran habe ich nicht gedacht.«

Sie stand auf und klopfte sich den Schnee ab. »Eine heiße Suppe wäre jetzt was Feines.«

»Und Orangensaft?«, fragte ich.

Sie lachte. »Und Orangensaft«, bestätigte sie.

Wir gingen zurück. Während wir nebeneinander hergingen, sah ich sie immer wieder verstohlen von der Seite an. Sie würde meine Wohnung betreten – gleich! Ich konnte mir kaum vorstellen, wie ich das überstehen sollte.

Ich kochte eine heiße Suppe, und wir aßen sie; ich presste den Saft aus den Orangen, und wir tranken ihn. Sie saß auf meinem Sofa und sah einfach hinreißend aus.

So ohne Mantel konnte ich endlich auch sehen, dass mein Verdacht bezüglich ihrer Figur nicht falsch gewesen war. Aber war das wirklich wichtig? Das einzige, was zählte, war ihre Anwesenheit.

Wir unterhielten uns über Banales, tauschten endlich auch unsere Namen aus, und versuchten anscheinend beide, keine Gesprächspause aufkommen zu lassen. Aber irgendwann trat sie doch ein: die befürchtete Stille.

Ich sah sie an, sie sah mich an – und unsere Augen stellten ein so festes Band her, dass ich aufstand, zu ihr hinüberging und mich neben sie setzte. Es war, als ob sie mich mit Worten dazu aufgefordert hätte.

Sie wartete auf meinen Kuss, und ich strich mit einem Finger über ihre Wange, versank in ihren Augen, berührte ihre Lippen, küsste sie erst, als ich alles in mich aufgenommen hatte, ihr Gesicht, ihre Augen, ihr warmes, scheinendes Herz.

Unser Kuss war wie die Antwort auf eine Frage, die wir uns beide gestellt hatten. Im Wald hätte es auch anders sein können, ein Zufall, ein ungewollter Zwischenfall, aber hier war es eindeutig: Es war Absicht, und es war schön.

Ich küsste sie lange. Sie seufzte ganz sacht und sank auf dem Sofa nieder, bis ich sie unter mir spüren konnte. Wir streichelten und küssten uns, es war wie eine Ewigkeit voller sanfter, zarter Berührungen; ich erforschte ihren Körper mit meinen Händen und sie meinen mit ihren.

Alles erschien ganz langsam und vorsichtig. Wir zogen uns nicht aus. Als ob wir eine Vereinbarung getroffen hätten.

Obwohl ich mich so sehr nach ihr gesehnt hatte, fühlte ich keine Leidenschaft, sie besitzen zu wollen, und ihr schien es ebenso zu gehen.

Es war einfach nur schön, sie zu berühren, sie zu streicheln, ihr leises Seufzen zu hören, ihre sanften, ruhigen Bewegungen unter mir und über mir, als sie sich umdrehte und mich von oben herunter ansah.

Wir sprachen nicht. Es war, als ob wir keine Worte brauchten. Unsere Hände sagten alles, unsere Blicke, unsere Berührungen.

Stundenlang, dachte ich, ging das so, dann stand sie auf, schaute auf mich hinab. »Ich muss gehen«, sagte sie.

Sie war fort, bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte.

Als ich endlich auf die Uhr sah, bemerkte ich, dass sie nur eine gute Stunde dagewesen war, und mindestens die Hälfte davon hatten wir uns unterhalten.

Aber es kam mir trotzdem vor wie eine Ewigkeit.

Ich lächelte und schwebte. Ich konnte nicht mehr aufhören zu lächeln, den ganzen Tag nicht, und wahrscheinlich werde ich auch heute Nacht noch lächeln, wenn ich schlafe.

Ich denke nur an sie, und ich weiß, sie denkt an mich.

Wir werden uns wiedersehen, diesmal bin ich sicher.

13. Dezember

Ich bin sicher! Ich bin sicher! Wieso konnte ich so sicher sein?

Ich weiß nicht, wo sie wohnt, ich kenne gerade einmal ihren Vornamen, woher habe ich diese Sicherheit genommen?

Vermutlich hatte es schon seinen Grund, warum sie mir nicht mehr gesagt hat. Wenn sie mich wirklich hätte wiedersehen wollen, hätte sie mir doch sagen können, wo sie wohnt. Wir hätten eine Zeit ausmachen können, einen Ort, wann und wo wir uns treffen.

Bisher sind wir uns immer zufällig über den Weg gelaufen, aber das muss ja nicht so bleiben. Vielleicht will sie nicht mehr, als wir schon hatten.

Gestern hat sie sich nicht gemeldet. Sie weiß jetzt, wo ich wohne, sie hätte es tun können. Aber sie hat es nicht getan.

Ich hatte solche Sehnsucht nach ihr – wenn ich gewusst hätte, wo sie wohnt, wäre ich zu ihr gegangen. Aber sie ist nicht gekommen.

Sie hat keine Sehnsucht. Sie ist zufrieden. Sie will nicht mehr. Sie hat nicht dieselben Bedürfnisse wie ich. Sie ist – sie ist – ich weiß nicht, was oder wer sie ist.

Ich fühle mich so erschöpft, ich könnte heulen. Dieses Auf und Ab macht mich fertig. Einen Tag schwebe ich und den anderen fahre ich in die tiefste Hölle hinab, ohne zu wissen, ob ich je wieder herauskommen werde. Es ist grausam.

Ich hätte sie fragen sollen. Verdammt, warum habe ich sie nicht gefragt? Als sie so plötzlich ging – warum ist sie so plötzlich gegangen?

Aber ich war so glücklich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie einfach so gehen würde ohne Grund – dass sie nicht wiederkommen würde.

Sie hat nichts gesagt. Sie war nicht hektisch oder flüchtete, so dass ich mir hätte Sorgen machen müssen. Sie musste einfach nur – weg, warum auch immer.

Es schien, als hätte sie sich an einen Termin erinnert, nicht als ob sie Schuldgefühle hätte oder so etwas. Das kenne ich ja schon. Heterofrauen, die ihren Mann mit einer Frau betrügen oder betrügen wollen, sehen anders aus. Und Lesben, die ihre Freundin betrügen, auch.

Sie schien nichts in dieser Richtung zu denken, gar nichts.

Und trotzdem ist sie gegangen. Fast ohne sich zu verabschieden.

Nein, wirklich ohne sich zu verabschieden. Sie hat nichts gesagt außer »Ich muss gehen«.

Keine Erklärung. Vielleicht hatte sie keine. Oder sie wollte keine geben. Nicht mir. Möglicherweise nicht einmal sich selbst.

Oh Gott, ich mache mir einfach zu viele Gedanken! Ich kann nicht mehr aufhören, darüber nachzudenken. Ich hatte sie, sie war bei mir – und dann habe ich sie einfach gehen lassen. Ich hätte sie aufhalten, ihr nachlaufen, ihre Taschen durchwühlen sollen nach einem Ausweis, nach einer Adresse.

Warum habe ich nicht alles getan herauszufinden, wer sie ist? Vielleicht hätte sie es mir gesagt, wenn ich sie einfach nur gefragt hätte. Vielleicht, vielleicht, vielleicht. So komme ich nicht weiter. Ich brauche kein Vielleicht, ich brauche Antworten.

Ich war einfach zu überrascht von der ganzen Entwicklung. Schon mit dem ersten Kuss hat sie mich überrascht. Und dann mit allem, was seither geschehen ist. Sie scheint kein Ziel zu haben, und doch erreicht sie es.

Sie ist faszinierend. Sie ist so wunderbar. In meinen kühnsten Träumen könnte ich mir nicht vorstellen, wie wundervoll es sein muss, mit ihr zusammenzusein. Sie jeden Tag sehen zu können, sie jeden Tag berühren zu können, jeden Tag in ihre Augen zu blicken beim Aufwachen und beim Schlafengehen. Beim Aufwachen und beim Schlafengehen – oh mein Gott!

Tagebuch, mach die Augen zu. Ich bin rot wie eine Tomate. Ich darf auf keinen Fall daran denken, wie sie aussieht, wenn sie – hm – nicht so viel anhat. Wirklich besser, wenn ich das Thema gleich wieder fallenlasse.

Aber das steht ja auch gar nicht zur Debatte. Um überhaupt in die Situation zu geraten, über den Zustand ihrer Kleidung nachdenken zu können, müsste ich sie erst einmal wiedersehen.

Kannst du mir nicht helfen, Tagebuch? Wie kann ich herausfinden, wo sie ist?

Ohne ihren Nachnamen vermutlich gar nicht.

Sie muss hier in der Nähe sein, sonst hätten wir uns nicht immer wieder getroffen. Sie wohnt hier im Ort. Sie ist zu Besuch bei irgendjemand. Das hat sie ja selbst gesagt.

Manchmal dachte ich, sie kommt mir bekannt vor, als ob sie jemandem ähnelt, den ich kenne. Aber ich weiß nicht, wem. Wahrscheinlich war es ohnehin nur Einbildung.

Und es nützt mir nicht die Bohne! Ich bin bald so weit, dass ich mich auf die Straße stelle und nach ihr schreie! Wenn sie hier in der Nähe ist, müsste sie mich doch hören.

Aber sie wird sich nicht melden, weil sie mich für verrückt hält.

Ist also auch keine gute Lösung.

Mist.

15. Dezember

Mein Tagebuch, mein Freund,

ich liege nur noch auf der Couch und heule. Warum ist sie einfach so verschwunden? Oder besser: Warum hat sie mir überhaupt Hoffnungen gemacht?

Hätte sie mich doch gar nicht erst angesprochen, als wir uns trafen! Es wäre ein Dezember wie alle anderen gewesen, die Vorbereitung auf ein einsames Weihnachtsfest. Adventszeit.

Advent heißt »Ankunft« – und wer kommt? Niemand.

Ich wollte mich heute ablenken und stand in der Küche, habe Plätzchen gebacken. Meine Tränen tropften in den Teig, während ich ihn knetete, ich stach die Plätzchen mit den Backformen aus und legte sie auf ein Blech, schob sie in den Ofen.

Sie sind alle verbrannt.

Ich hatte den Ofen viel zu hoch eingestellt, das hatte ich gar nicht gemerkt. Ich konnte die Zahlen nicht erkennen durch meine tränengefüllten, verschleierten Augen. Als es anfing zu qualmen, bemerkte ich es. Aber es war zu spät.

Kurz darauf klingelte es. Für einen winzigen Moment wagte ich zu hoffen …, aber es war nur meine nette Nachbarin, die sich wegen des Qualms im Hausflur Sorgen machte. Sie fragte mich, ob es mir gutginge, ich sagte ja, und sie sah mich an, als ob sie mir nicht glauben würde.

Sie lud mich erneut ein, zu ihr hinüberzukommen, mit ihr und ihrer Familie zu essen, aber das konnte ich natürlich nicht annehmen. So verheult, wie ich aussah, schon gar nicht.

Ich behauptete, das läge am Qualm – eine einleuchtende Erklärung, wenn man im Flur steht und vor schwarzen Wolken kaum die Hand vor Augen sieht –, und sie konnte schlecht das Gegenteil behaupten.

Nun habe ich wenigstens etwas, das ich aufräumen kann. Die verbrannten Plätzchen in den Abfall, das verbrannte Blech scheuern, die Küche mit Fichtennadelduft besprühen, bis der beißende Qualmgeruch weg ist.

Mit dem Tuch, das ich mir um den Kopf gebunden habe, sehe ich aus wie eine Hausfrau aus den Fünfziger Jahren. Es hat was. So alt fühle ich mich auch.

Ich habe alle Türen und Fenster aufgerissen, damit der Rauch abzieht.

Ich muss mich bewegen, damit mir nicht kalt wird.

Oh Gott, Tagebuch, wer konnte das ahnen? Ich wedelte mit meinem Putz-Outfit durch die Wohnung, attraktiv wie eine Vogelscheuche, da klingelte es erneut.

Meine Nachbarin lässt aber auch nicht locker! dachte ich noch etwas genervt und öffnete, um ihr erneut höflich abzusagen.

Und wer stand vor der Tür?

Sie!

Sie lächelte. »Du wolltest das Haus in Brand setzen?«, fragte sie.

Ich war so baff, dass ich sie nicht einmal hereinbat.

Aber sie ließ sich davon nicht stören, sondern ging einfach an mir vorbei ins Wohnzimmer. »Was für eine sibirische Kälte herrscht denn hier?«, fragte sie fröstelnd.

Ich raste zum Fenster und schloss es. »Ich musste doch den Qualm irgendwie rauskriegen«, sagte ich entschuldigend, und meine Stimme klang atemlos, als ob ich kilometerweit gelaufen wäre und nicht nur die paar Meter von der Tür zum Fenster.

»Dann wäre ich jetzt dankbar für einen Glühwein«, lächelte sie. »Zum Aufwärmen.« Sie rieb die Hände aneinander.

Glühwein, Glühwein – verdammt, ich habe keinen Glühwein! »Leider«, ich zuckte die Schultern, »habe ich so etwas nicht. Ich habe noch einen Rotwein im Keller, den könnte ich aufwärmen, aber die Gewürze und all das –«

»Ist doch egal.« Sie setzte sich, immer noch im Mantel wegen der Kälte, auf meine Couch. »Ein Tee tut es auch.«

Ich schloss schnell auch noch die restlichen Fenster und Türen, stellte den Wasserkocher an und brachte zwei Teegläser ins Wohnzimmer. »Der Tee ist gleich fertig«, sagte ich.

Dann verließ mich meine Kraft endgültig. Ich sank ihr gegenüber in einen Sessel. Ich fühlte, wie wieder Tränen in meine Augen steigen wollten, Tränen der Erleichterung, dass sie da war.

»Es tut mir leid, dass ich mich die vergangenen Tage nicht gemeldet habe«, sagte sie. »Ich hatte so viel zu tun.«

»Ich denke, du hast Urlaub?« Meine Augenbrauen hoben sich überrascht.

»Ja, schon, aber ich musste noch einiges erledigen. Ein Glück, dass es hier Internetanschluss gibt.«

»Gibt es das?«, fragte ich verdattert. Ich schlug mir an die Stirn. »Ja, natürlich, ich habe ja auch einen!«

»Hätte ich das gewusst –« Sie lächelte rätselhaft.

»Mein PC steht im Schlafzimmer«, sagte ich. »Ich –« Ich benutze ihn nicht oft, hatte ich sagen wollen, aber sie stand schon auf und folgte der Richtung meiner Augen, indem sie einfach auf mein Schlafzimmer zuging.

Kurz vor der Tür drehte sie sich um. »Darf ich?«, fragte sie.

Diese zwei kleinen Worte – und dann so ein bezauberndes Lächeln . . . es war unverhältnismäßig.

Ich räusperte mich. »Ja, natürlich«, sagte ich, »wenn dich ein ungemachtes Bett nicht stört.«

»Stört mich nicht.« Sie ging hinein.

Ich stand da, vollkommen erstarrt. Sie ging einfach in mein Schlafzimmer? Gut, der PC, aber – 

Der Wasserkocher meldete mit einem Geräusch, dass das Wasser kochte, und schaltete sich ab.

Ich löste mich aus meiner Erstarrung – nicht ganz, denn ich lief mehr wie ein Zombie – und ging in die Küche.

Als ich mit der Teekanne zurückkam, sah ich die beiden verlassenen Gläser auf dem Tisch. Ich gab mir einen Ruck und nahm sie. Ich trug alles ins Schlafzimmer.

Sie saß am PC und rief ein E-Mail-Konto ab, ihres vermutlich.

»Wir können den Tee auch hier trinken«, sagte ich.

Sie drehte sich mit dem Stuhl um. »Ach ja, der Tee«, sagte sie.

Ich stellte die Kanne und die beiden Gläser auf den Computertisch und goss ein. »Ich hole noch das Stövchen«, kündigte ich an und drehte mich um.

Eine Hand hielt meinen Arm von hinten fest. »Ich glaube, der Tee bleibt auch so eine Weile warm«, erwiderte ihre Stimme sanft mit einem Hauch von Erregung.