Eine für alle - Carola Holzner - E-Book
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Eine für alle E-Book

Carola Holzner

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Beschreibung

Carola Holzner ist als Notärztin im Einsatz und arbeitet als Oberärztin in der Notaufnahme. Nirgendwo sonst die Grenzen so schmal zwischen Glück und Unglück, Hoffnung und Verzweiflung, Leben und Tod. Sekunden entscheiden. Ein Herzschlag entscheidet. Carola Holzners Herz schlägt vor allem für ihre Patienten. Für sie ist sie unermüdlich im Einsatz, denn ihre Leidenschaft gilt der Akutmedizin. In ihrem Buch nimmt sie uns mit in ihre Welt zwischen Intensivstation, Schockraum und Straße. Sie gibt Einblicke, die fernab jeder Vorstellung liegen, was sich hinter verschlossenen Türen abspielt. Authentisch und ehrlich erzählt sie über die Emotionen und Gedanken, die sie während einer 24-Stunden-Schicht begleiten. Und die nicht eine Halbgöttin in Weiß zeigen, sondern den Menschen unter dem Kittel. Vor allem aber zeigen die Einblicke, dass Wunsch und Wirklichkeit oft ziemlich weit auseinander liegen. Es sind aufrüttelnde, traurige, lustige, skurrile, teils verstörende aber auch mutmachende Geschichten, die am Ende immer auch einen Mehrgewinn beim Lesen bieten, weil die Notärztin Carola Holzner die Fragen aufgreift, die ihr im Einsatz am häufigsten gestellt werden. Was genau ist Diabetes? Wann rufe ich die 112? Sollte man eine Patientenverfügung machen? Was tun bei einem Krampfanfall? Wie sieht Sterben aus? Carola Holzner beantwortet diese und viele andere Fragen hilfreich und auf Augenhöhe. Wer noch mehr von Doc Caro lesen möchte:  »Keine halben Sachen: Wie die Notaufnahme den Blick aufs Leben verändert«

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Seitenzahl: 294

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Dr. med. Carola Holzner

Eine für alle

Als Notärztin zwischen Hoffnung und Wirklichkeit

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Ein paar Worte vorweg …Scheiß JobWarum ich den Arztberuf an den Nagel hängen wollteAuf der IntensivstationAuf dem OP-Tisch stirbt man nichtDer letzte MomentDie NotaufnahmeDer SchockraumEin Glas Sekt zum Abschied oder: Engel gibt es dochWahre Helden und warum Respekt so wichtig istRTL2 ist wichtig oder: Kannst du mal aus dem Bild gehen?Beim RettungsdienstNEF und RTWHerbert und GiiiiselaVerschüttetPolnische Gastfreundschaft oder: Die tanzende KobraKrebs ist ein ArschlochWenn Papa sterben willEin etwas anderer SpieleabendIm GleisbettPersönliches K.o. oder: Wie ich selbst zur Verdächtigen wurdeWährend du schliefstWarum Instagram und Intensivstation viel gemeinsam habenEin Wort zum Schluss …Danke

Dieses Buch ist für dich.

 

Weil du es dir einfach aus Interesse gekauft hast.

 

Vielleicht, weil du weißt, wovon ich spreche, weil du im Gesundheitssystem arbeitest und dich an der ein oder anderen Stelle wiedererkennst; vielleicht weil du selber mal Patient oder Patientin warst oder jemanden kennst, der ein Krankenhaus bereits von innen gesehen hat.

 

Dieses Buch ist für alle und deshalb ist es auch allen gewidmet.

 

Ganz besonders aber ist es für meine Patientinnen und Patienten, die mich geprägt und inspiriert haben. Und für alle Assistenzärztinnen und Assistenzärzte: Haltet durch! Es wird zwar nicht wirklich besser, aber anders. Und eines Morgens werdet ihr mit einem Lächeln aufwachen und feststellen: Dieser Beruf ist alle Kraftanstrengung wert.

Ein paar Worte vorweg …

Ich gehöre wohl auch zu denen, die auf Arztserien reingefallen sind. Stets gutgelaunte, bildschöne Menschen in blütenweißen Kitteln finden sämtliche noch so seltenen Diagnosen heraus und retten jeden Tag Unmengen von Patienten, die sich im Anschluss überschwänglich bedanken. Achtung Spoiler: Alles gelogen. Aber das erfuhr ich erst, als ich das erste Mal als Studentin im Pflegepraktikum ein Krankenhaus betrat. Es hatte nichts von Ruhm und Ehre, Glorie, Professor mit weißem Kittel und goldenen Manschettenknöpfen. Zwischen überfordertem Pflegepersonal, die fünf Patientenklingeln gleichzeitig bedienen müssen, kaputtsparenden Controllern, für die Krankenhäuser Wirtschaftsunternehmen sind, und schlechtgelaunten Assistenzärztinnen mit Augenringen – stand ich. Was mich bei der Stange hielt, wusste ich damals nicht. Noch nicht. Es war wohl der unterbewusste Wunsch zu helfen. Menschenleben zu retten. Tatsächlich. Aber das erfuhr ich erst viel später, in einer harten Schule. Wenn du das Studium geschafft hast, meinst du, du bist die Größte. Ärztin, dachte ich … wie das klingt! Großartig. Die Freude über das bestandene Examen hielt nur kurz an. Der erste Dienst kam mir vor wie ein Fallschirmsprung ohne Schirm, und bis heute ist mir nicht klar, wie ich, geschweige denn die Patienten überlebt haben. Danach folgte die Ernüchterung. Schicksale, die ich niemals erwartet hatte. Körperliche Erschöpfung, emotionale Überforderung, immense Last unter der erdrückenden Verantwortung. Das ist real. Das hat nichts mit Arztserien zu tun. Wohl eher mit der Frage: Warum tut sie das? Warum entscheidet sich jemand bewusst dafür? Die Frage habe ich mir oft gestellt. Als ich neben dem emotionalen Stress auch unter Schlafstörungen und Magenschmerzen litt und mich irgendwann in einem Erschöpfungszustand wiederfand. Und erst recht, als ich nach einem Notarzt-Einsatz eine Posttraumatische Belastungsreaktion hatte. Das alles zwischen selber Mutter werden, Beruf und Familiendramen, geschlossenen Kitas und schlaflosen Nächten.

Aber dann ist da doch dieses eine Gefühl. Wenn du wirklich jemandem geholfen hast. Wenn du wirklich ein Leben gerettet hast. Es ist das schönste Gefühl der Welt. Es wiegt alles auf.

Ich liebe Menschen. Ich liebe das Leben. Und es gibt daher keine Alternative. Mein Herz ist die Medizin. Mein Leben ist die Medizin. Und ich bin dankbar dafür, dass ich Ärztin werden durfte. Dieses Buch ist mein Herzensprojekt, denn ich bekomme die Möglichkeit zu zeigen, was ich in meinem Beruf bisher erlebt habe. Und was jeden Tag millionenfach auf der Welt passiert: in Krankenhäusern, in Notaufnahmen, beim Rettungsdienst. Ich bin dankbar für die Chance, zu zeigen, was es bedeutet, Ärztin zu sein, und euch einen Blick auf die andere Seite zu gewähren. Hinter die Kulissen. Nach diesem Buch werdet ihr vielleicht einiges nicht mehr so sehen wie vorher. Und die Dinge (anders) verstehen. So wie ich nach jedem Erlebnis nicht mehr dieselbe war und sich mein Blick auf viele Dinge geändert hat. Und deshalb möchte ich euch ermutigen, euch darauf einzulassen. Danke, dass ihr euch die Zeit nehmt. Danke, dass ihr dabei seid.

Auf der Suche nach einem geeigneten Buchtitel kam mir immer wieder das Wort »Herz« in den Sinn. Wahrscheinlich, weil es naheliegt, dass Medizin, Emotionalität, persönliches Handeln und Gefühle damit zu tun haben. Ein aus zwei Kammern und zwei Vorhöfen bestehendes, autark schlagendes Organ, welches das Blut durch unseren Körper pumpt. Es kann tachykard (schnell) oder bradykard (langsam) schlagen, seine Erregung breitet sich von den Vorhöfen vom Sinusknoten, ausgehend über den AV-Knoten und die HIS-Bündel weiter auf die Kammern aus. Es kann stolpern, gefährlich flimmern oder einfach nur stillstehen. Und dann ist es aus. Aber interessanterweise hatte ich diese Assoziationen und Vorstellungen nicht, als ich über Herz als Titel nachdachte. Ich spürte etwas anderes. Warum kann unser Herz eigentlich so viel mehr als schlagen im anatomischen Sinne? Es kann hüpfen, schmerzen, trauern, lieben, jubeln. Es kann uns zur Verzweiflung bringen und versteinern. Und es kann brechen. Und das tatsächlich. Das Broken Heart Syndrom fühlt sich an wie ein Herzinfarkt, es ist schmerzhaft und wird oft durch emotionalen Stress ausgelöst. Das zeigt, dass man Gefühle und körperliche Symptome oft nicht trennen kann.

Aber das Herz ist so viel mehr als ein Muskel, umgeben von Gefäßen. Es ist das, was vor allem in der hochtechnisierten Medizin, die mittlerweile so vieles kann, ständig untergeht. Weil es keinen Raum mehr gibt für Menschlichkeit, Gefühle, Emotionen, Schicksale. Ich habe schon so viele Herzen gesehen, die stehen geblieben sind. Und damit meine ich nicht die Reanimation im Schockraum, sondern vielmehr den emotionslosen Umgang mit der »Ware Mensch« oder die gespaltenen Persönlichkeiten, vor allem beim ärztlichen Personal. Der Druck der Wirtschaftlichkeit. Der Stress, der es einem auf Dauer versucht zu verbieten, jeden Patienten als wertvolles Individuum zu sehen, mit eigenem Anrecht auf Respekt, Zeit und Zuwendung abseits der medizinischen Versorgung.

Ich arbeite in einer Notaufnahme. Ich habe eine Intensivstation betreut. Ich bin unterwegs als Notärztin. Nirgendwo sonst ist die Grenze so schmal zwischen Glück und Unglück, Hoffnung und Segen. Leben und Tod. Sekunden entscheiden. Ein Herzschlag entscheidet. Und im besten Fall schlägt das Herz des Arztes für den Patienten. Das wünsche ich mir.

Das Herz spielt also eine große Rolle und dennoch habe ich mich für einen anderen Titel entschieden. Denn in jeder Geschichte gibt’s immer irgendwie etwas fürs Herz. Nein, Eine für alle sollte es sein, denn dieser Titel zeigt, dass wir Ärztinnen und Ärzte, vor allem in der Notfallmedizin, immer auf alles gefasst sein müssen. Oder besser: auf jeden. Wir sind für alle da und wir suchen uns unsere Patientinnen und Patienten und unsere Fälle nicht aus. Sie kommen einfach zu uns: mitten in der Nacht, während der Mittagspause, wenn wir gerade traurig sind oder mit einem Eis in der Sonne sitzen.

Ich möchte reale Einblicke in den Arztberuf geben.

Intensivstation, Schockraum, Notarzt-Einsätze: Was genau passiert da eigentlich? Wie sieht der Alltag in einer Notaufnahme aus? Gibt es den überhaupt? Was passiert in einem Schockraum, wer arbeitet da und welche Fälle werden dort betreut? Was geschieht, wenn ein Notruf bei der Feuerwehr eingeht? Ich nehme euch mit auf meine Schicht und erkläre euch, was wir da genau machen. Und was ich dabei denke und fühle. Wie es in mir tatsächlich aussieht, auch wenn es niemand sieht. Emotionen, Situationen, Gedanken, die fernab sind von der heilen Arztserienwelt, sondern eher an den »ganz normalen« Wahnsinn grenzen, und dennoch zeigen, warum sich der ganze Stress lohnt. Es ist und bleibt der schönste Job der Welt! In diesem Job – und das möchte ich euch in diesem Buch zeigen – weißt du nie, was passiert. So wie ich ständig ohne Vorbereitung mit neuen Situationen konfrontiert werde, werde ich auch euch konfrontieren. Gerade noch in der Notaufnahme finden wir uns plötzlich im Notarzteinsatzfahrzeug, dem NEF, wieder. Während wir uns in einem Moment freuen, weil eine Geschichte ein schönes Ende gefunden hat, wartet unmittelbar danach ein schreckliches Erlebnis auf uns. Ihr wisst nie, was euch erwartet. Hinter jeder Tür, durch die ich als Notärztin gehe, wartet ein neues Schicksal. Jeder Mensch, der die Notaufnahme betritt, bringt seine eigene Geschichte mit. So wie alle, die unter Lebensgefahr auf einer Trage in den Schockraum geschoben werden. Mein Leben als Ärztin zwischen Notaufnahme, Intensivstation und Rettungsdienst hat kein Drehbuch, es ist die pure Improvisation. Es gibt keine Regisseurin, vielleicht so etwas wie Schicksal oder Zufall. Genau so überraschend wie mein Arbeitsalltag ist, soll euch dieses Buch mitnehmen und überraschen. Alle Geschichten beruhen auf wahren Begebenheiten, die ich erlebt habe. Die Namen oder Örtlichkeiten sind vielleicht geändert oder die Geschichte wurde so umgeschrieben, dass sie nicht unmittelbar auf einen konkreten Einsatz schließen lässt. Denn ich bin Ärztin. Ich habe Schweigepflicht. Ich würde daher niemals Patientendaten erkennbar machen. Der ein oder andere Kollege aus dem Rettungsdienst und der Notaufnahme wird sich vielleicht wiedererkennen. Namen oder Personen sind aber zufällig gewählt. Ich möchte euch teilhaben lassen an meinen Momenten, um zu zeigen, dass mein Job nichts mit Halbgöttin in Weiß oder Neongelb zu tun hat. Er ist verdammt hart. Und verdammt schön. Ich würde keinen einzigen Patienten missen wollen. Manchmal hätte ich mir einen anderen Ausgang, ein Wunder, eine helfende Hand, die rettende Eingebung gewünscht. Aber ich habe niemals daran gezweifelt, dass es der wohl für mich einzige Beruf ist, der mehr ist als das. Eine Berufung. Das, wofür mein Herz schlägt.

Bevor ihr nun mit mir auf diese Reisen geht, möchte ich euch warnen. Das, was ich erlebe, ist nicht nur sehr oft blutig und schlimm, es ist mitunter eklig, abstoßend und schockierend. Manches mag man auf nüchternen Magen vielleicht nicht lesen, einiges eignet sich nicht als Lektüre kurz vor dem Einschlafen. Einige Geschichten sind traurig und tragisch, sie machen betroffen oder rühren an unsere Ängste. Immer dann bekommt ihr eine Triggerwarnung.

All diese Gefühle gehören zum Leben. Aber es gibt auch Schönes, wenn zum Beispiel jemand lächelnd die Notaufnahme verlässt. Lustiges, wenn wir uns vor Lachen in einem Einsatz kaum noch zusammenreißen können, und Nützliches: Wann rufe ich die 112? Wie formuliere ich eine Patientenverfügung? Woran erkenne ich Diabetes? Wie zeigt sich eine Posttraumatische Belastungsstörung? Und vieles mehr. Denn: Wissen kann auch Leben retten! Und ihr seid vor Ort, der Notarzt kommt immer später. Aber seht selber. Denn darum geht es mir in diesem Buch. Ich möchte, dass ihr genauso unvorbereitet seid wie ich es (meistens) bin. Kommt einfach mal mit in den Schockraum.

Scheiß Job

»Mann, was haben Sie für ’n scheiß Job«, grinst der Typ zynisch, als er in Handschellen vom Rettungsdienst in den Schockraum gebracht wird. Ein Notarzt, drei Notfallsanitäter, drei Polizisten, zwei Schwestern, eine Assistenzärztin und ich. »Staraufgebot.« Er lacht gekünstelt.

Es ist 23.14 Uhr, und ich wollte eigentlich gerade nach Hause gehen. Eigentlich. Wie so oft. Als der Rettungsdienst anruft und einen Patienten ankündigt, der unzählige Tabletten genommen hat, ändere ich meine Pläne. Wie immer. Pläne sollte man abschaffen. Also statt gemütlicher Feierabend: Endoskopie. Ich hatte die »Endo«, wie wir sie liebevoll nennen, bereits zusammengetrommelt: Kommt mal schnell, der Notarzt bringt gleich irgendwas mit Tabletten. Und da muss man natürlich in den Patienten hineinschauen, um zu erfahren, was sich im Magen an Tabletten angesammelt hat. Daher die Endoskopie, zu der man auch die entsprechende Mannschaft braucht. Die Kollegin am anderen Ende des Telefons hatte sich sofort gemeinsam mit ihrer Pflegekraft in Bewegung gesetzt, um uns im Schockraum zu unterstützen. Da sind wir nun alle. Und auf der Trage liegt er. Gutaussehend, groß, mein Alter. Mitte bis Ende dreißig. Der Notarzt reicht uns seinen Wohnungsschlüssel. Auch der Schlüssel eines teuren Autos baumelt am Schlüsselring. Er ist sichtlich genervt. Genauso wie die Polizisten. Leute, die sich umbringen wollen, machen nämlich immer Arbeit. Psych-KG, Handschellen, das ganze Prozedere … »Psych-KG kommt«, konstatiert der Notarzt. Laut Psychisch-Kranken-Gesetz können psychisch kranke Menschen, die sich selbst oder andere gefährden, in akuten Fällen auch gegen ihren Willen in einem psychiatrischen Fachkrankenhaus untergebracht werden. Und Selbstgefährdung ist hier ja nun ganz offenkundig der Fall. 24 Stunden Freiheitsentzug sind damit also gesetzt.

»Was ist passiert?«, frage ich einen der Polizisten. »Seine Schwester hat ihn mehrfach telefonisch nicht erreicht, da hat sie uns informiert. Er hat die Tür nicht aufgemacht. War wohl nicht der erste Suizidversuch. Also Gefahr im Verzug. Wir haben die Tür aufgebrochen. Wohl noch rechtzeitig, er hatte die Tabletten gerade erst geschluckt.« »Und warum die Handschellen?«, hake ich nach. »Er war mega aggressiv, wollte auch nicht mitkommen, da blieb uns nichts anderes übrig.« »Gerade noch rechtzeitig«, denke ich. Das erklärt seinen Zustand. Er ist zwar etwas müde, aber die Wirkung der Tabletten ist noch nicht eingetreten. Zum Glück.

Der Polizist ist ganz bemüht und möchte wissen, ob ich noch Hilfe benötige, immerhin war der Mann schwer renitent. Zumindest war er das zu Hause. Irgendwie verständlich, wenn du gegen deinen Willen mitgenommen wirst.

»Moment noch«, sage ich und drehe mich zu dem Mann um. Ich kenne ihn nicht, auch der Name ist zweitrangig, aber irgendwas ist da zwischen uns. Eine spezielle Chemie. »Ich kann die Handschellen abmachen?«, frage ich ihn. Er nickt. Ich glaube ihm und schaue den Polizisten an. Der zuckt mit den Schultern und nimmt ihm die Dinger ab. Unser Patient scheint zunehmend müder zu werden und somit eindeutig umgänglicher.

»Mann, was haben Sie ’nen scheiß Job«, wiederholt er. »Ich will mich umbringen, und Sie müssen mich retten. Verkehrte Welt, was? Aber ich sag Ihnen: Ich meine es ernst. Erst Tabletten, dann wollte ich mir einen Dolch ins Herz rammen. Damit es endlich vorbei ist. Ich ertrage das nicht mehr. Offenbar aber nicht heute. Da haben die mir jetzt einen Strich durch die Rechnung gemacht«, raunt er in Richtung des Rettungsdienstes.

Ich glaube, ich höre nicht richtig. Alter Schwede. Dolch ist ’ne Hausnummer. Ich habe schon einige Selbstmorde oder Selbstmordversuche als Ärztin gesehen. Vereinfacht gesprochen, kann man sagen, je brutaler ein Mensch sich umbringen möchte, desto ernster ist es ihm. Also zum Beispiel: Säge, Springen, Erhängen, Erschießen und Erstechen. Diese Menschen haben keine Angst oder sind wirklich so entschlossen, dass meist der eine Versuch reicht. Die, die Tabletten nehmen oder es mit Gas, Kohlegrill oder laufendem Automotor versuchen, um sich mit Kohlenmonoxid zu vergiften, haben tatsächlich oft mehrere gescheiterte Versuche hinter sich, da in diesen Fällen der Tod ja nicht unmittelbar, sondern erst verzögert eintritt. Ich habe da oft den Eindruck, sie riskieren es, gefunden zu werden. Es ist mehr eine Art Hilferuf. Ich habe schon einige, in Augen der Suizidenten, fehlgeschlagene Versuche betreut. Schlimm sind die, die schiefgehen. Also jene, die zum Beispiel aus dem Fenster springen, sich alle Knochen brechen, querschnittsgelähmt sind und dann erst recht einen langen und noch härteren Weg vor sich haben. Oder eben die, die durch Sauerstoffunterversorgung des Gehirns bleibende Schäden davontragen. Einer meiner furchtbarsten Einsätze war ein Zeitsoldat, der sich vor einen Zug geworfen hat, was ihn beide Arme gekostet hat, weil er sich in Fahrtrichtung auf die Gleise gelegt hatte. Er überlebte schwer verletzt. Ohne Arme.

In solchen Situationen bin auch ich hin- und hergerissen zwischen Mitgefühl und Wut. Da gerate ich dann in einen ordentlichen Anschiss-Modus. Denn sich vor einen Zug zu werfen ist aus meiner Sicht extrem unfair der Zugführerin oder dem -führer gegenüber. Ich habe schon von einigen gehört, die danach nie wieder ihren Beruf ausüben konnten. Verständlich. Und da kann ich mir eine anständige Standpauke manchmal nur schwer verkneifen.

Aber zurück zu meinem Patienten. Hat er gerade Dolch ins Herz gesagt? Er hat Dolch ins Herz gesagt. Dolch ist echt ’ne Ansage. Der meint es ernst. Oder tut er nur so?

»Sie mag ich«, wendet er sich mir zu. »Ich mache alles mit, fangen Sie an.« Ich bin fassungslos, lasse mir aber natürlich nichts anmerken. Ich habe jetzt keine Zeit für Small Talk und gehe stoisch mein ABCDE durch. Es gibt ein Schema zur Versorgung von Schwerverletzten, das folgende Behandlungsschritte umfasst:

 

A Atemwege (bzw. Sicherung dieser)

B Beatmung (und alles was damit zu tun hat)

Ccirculation (Sicherung eines Minimalkreislaufs)

D neudeutsch Disability (also die neurologische Beurteilung)

Eenvironment (oder wie ich immer zu sagen pflege: E wie Einfach alles andere)

 

Also los: Atemwege frei, keine Tabletten im Mund, beidseits Atemgeräusche, Kreislauf stabil, EKG unauffällig. »Ultraschall auch«, ruft meine Assistenzärztin. Keine freie Flüssigkeit in Bauchraum oder Brustkorb. Keine im Herzbeutel. »Blutentnahme erledigt, Rest auch«, so die Schwester. Gut, Zugänge wären also drin, Monitoring komplett. Ich drehe mich um. »Wir legen jetzt eine Magensonde. Und gleich gibt’s eine Magenspülung.« Ich schaue ihn an. Abseits von Technik und all den Dingen, die noch anstehen, blicke ich in seine Augen. Sie wirken traurig. Leer. Verzweifelt. »Wieso das alles?«, frage ich ihn. »Scheiß Job«, murmelt er. »Stress, Familie, Depression.« So langsam komme ich aus meinem Trott und realisiere, was hier eigentlich gerade passiert. Während er sich völlig entspannt die Magensonde einschieben lässt und wir jetzt bereits Unmengen an blauem Zeug absaugen, merke ich, wie er irgendwas in mir auslöst. »Scheiße«, sage ich. »Du bist doch ’n toller Typ. Was soll das? Und die Dosis! Letal. Mann, Junge, das kann tödlich enden.« Was für ein blöder Satz von mir! Sollte es ja auch! Aber der Wunsch des Patienten interessiert in diesem Fall niemanden. Mich am allerwenigsten. Er ist nicht geschäftsfähig, also muss ich handeln. »Wir holen jetzt alles raus, was geht, vielleicht haben wir Glück.« »Glück habe ich nur, wenn ich es nicht gebrauchen kann.« Stille. In diesem Moment sagt keiner ein Wort. Die Luft könnte man schneiden. Sein Blick ist leer. Ich versuche mich zu konzentrieren. Auf einmal fängt er an zu lachen. »Mann, hast du ’n scheiß Job.« »Geht«, antworte ich und erwache aus meiner Starre. »Ich mach ihn gerne.« »Merkt man. Ich nicht. Ich bin auch Arzt. Ich sollte eigentlich wissen, wie man sich umbringt. Nicht mal das kriege ich hin.« Bäm! Das hat gesessen. Klingt komisch, aber jetzt macht sein Verhalten irgendwie Sinn. Wir fügen uns. Jeder in sein eigenes Schicksal. Ich muss retten, er muss das ertragen. Weil er weiß, wie das ist, jemanden gegen seinen Willen zu retten. Oder muss ich ertragen? Irgendwie ja. So geht es mir immer und immer wieder. Eine Situation, die sich schwer beschreiben und auch nicht nachvollziehen lässt. Wie ich mich fühle, wenn ich jemanden gegen seinen Willen behandeln muss, weil es mein Job ist. Alles andere wäre Unterlassung und strafbar. Meine Garantenstellung (siehe Seite 56 Weil er per Gesetz gerade nicht entscheidungsfähig ist. Ich schon. Es klingt hart, jemanden, der sich gerade umbringen wollte, nach den Gründen zu fragen. Binnen Minuten neben der medizinischen auch eine seelische Einschätzung des Patienten durchzuführen – mir bleibt keine Zeit. Ich kann keine emotionale Bindung zulassen und Therapiegespräche führen. Auch ich muss funktionieren. Das ist meine Aufgabe. Retten. Um jeden Preis. Unabhängig von meiner Gefühlslage, denn die tut hier nichts zur Sache. Warum auch. Ich bin Ärztin. Ich habe keine Gefühle. Nicht im Schockraum. Nicht im Einsatz. Danach darf ich fühlen. Manchmal mehr, als mir lieb ist.

Wir werden über 100 Tabletten eines Antidepressivums finden, ihn stabil auf die Intensivstation verlegen, es wird alles gutgehen und er wird schon zwei Tage später in die Psychiatrie verlegt werden. Was bleibt aber, ist der Anblick, den ich nie vergessen kann. Den ich ertragen musste. »Mann, was haben Sie einen scheiß Job.« Ich verstehe, was er meint. Es geht nicht um das Medizinische, um das Arzt sein. Um das Retten, um die Medikamentengabe. Es geht um etwas anderes. Den Anblick eines gestandenen Mannes, der nur mit OP-Hemd bekleidet, zusammengekauert wie ein Häufchen Elend auf einer Schockraumtrage zittert. Der am Ende ist. Der eigentlich alles hat. Auf den ersten Blick. Dessen Blicke mir so viel sagen, den ich einfach nur in den Arm nehmen möchte. Dessen Schicksal mich noch länger beschäftigen wird, weil ich mich irgendwie wiedererkenne. Ich kenne diese Situationen, in denen man am Ende ist. Wenn man einfach nicht mehr kann. Weil man wochenlang Dienste geschoben hat und Dinge gesehen oder erlebt hat, die einem sehr nahegehen, und vielleicht sogar einen Fehler mit Folgen begangen hat. Es geht um Menschen. Dass wir Ärztinnen und Ärzte auch Menschen sind, wird leider oft vergessen. Wenn die Not-Situation vorbei ist, sehe ich nicht mehr nur die Intoxikation, den Blutdruck, die EKG-Kurve, den Patienten. Ich sehe den Menschen. Ist das eigentlich alles zu ertragen? Für viele eben nicht. Jeder hat eine andere Grenze. Seine war offenbar überschritten. Ich glaube, so geht es vielen. Ärzten, Ärztinnen, Schwestern, Pflegern, Rettungsdienstpersonal. Und warum endet es für manche so? Treiben wir es bis zum Äußersten? Hören wir nicht auf uns? Beachten wir die Warnungen nicht? Ich weiß es nicht. Vielleicht hat einfach jeder eine andere Schmerzgrenze.

Es ist Visite, der Alltag ruft. »Weißt du eigentlich, auf was du dich da eingelassen hast?«, frage ich meinen Studenten. Er sieht so klein und unschuldig aus. »Voll cool. Leben retten und so«, seine Augen strahlen. Er hat keine Ahnung. Muss er auch nicht. »Du musst noch viel lernen«, sage ich. Aber er weiß nicht, wie ich das gemeint habe. Er denkt, es geht ums Bücherlesen und Auswendiglernen. Aber das, was wir brauchen, steht in keinem Medizinbuch. Das erzählt einem nämlich niemand. Oder es glaubt einem keiner. Oder beides.

Ärztinnen und Ärzte am Limit

Zahlreiche Erhebungen (vom Statistischen Bundesamt bis zum Ärzteblatt) zeigen, dass pro Jahr angeblich zwischen 100 und 200 Ärzte in Deutschland Suizid begehen. So genau kann die Statistik das nicht beziffern und die Dunkelziffer ist hoch. Doch selbst wenn wir von »nur« hundert Menschen ausgehen, heißt das, alle drei bis vier Tage nimmt sich ein Arzt in Deutschland das Leben.

Medizinerinnen und Mediziner weisen eine höhere Suizidrate auf als die Allgemeinbevölkerung. Und das ist empirisch belegt.

Depressive Störungen und Substanzabusus (Tabletten, Alkohol, Drogen) sind die häufigsten Ursachen für einen Freitod. Ärztinnen und Ärzte stehen unter einem enormen Stress: unzählige Überstunden, die ständige Konfrontation mit Leiden und Tod, die große Verantwortung, der erhöhte Stresslevel und eine Burn-out-Symptomatik bringen sie an den Rand der Belastungsfähigkeit. Und das ist einem gnadenlosen Gesundheitssystem geschuldet. Zu wenig Personal und immer wieder: Einsparungen.

Der Burn-out, also der Zustand tiefer emotionaler, körperlicher und geistiger Erschöpfung, ist bei Medizinern keine Seltenheit. Am Ende des Burn-outs steht oft eine Depression. Sie geht mit Niedergeschlagenheit, Interessenverlust und mangelndem Antrieb einher. Diese Krankheitszeichen lassen sich auch bei einem fortgeschrittenen Burn-out beobachten.

Egal, ob Ärztin, Krankenschwester, Bauarbeiter, Managerin oder Verkäuferin: Wer depressive Verstimmungen hat und so verzweifelt ist und glaubt, dass sich das Leben nicht mehr lohnt, der braucht dringend Hilfe.

Und die gibt es für jeden von uns:

Telefonseelsorge: 0800/1110111

Nummer gegen Kummer: 116111 (Kinder- und Jugendtelefon)

0800/1110550 (Elterntelefon)

Scheiß Job: das waren die Worte des Kollegen. So sehe ich das nicht. Aber ihr werdet den Menschen, der da verzweifelt und lebensmüde in meinem Schockraum gelandet ist, im Laufe des Buches vielleicht mehr und mehr verstehen. Sicher hat auch er sich diesen Job alles andere als scheiße vorgestellt, als er als junger Assistenzarzt im weißen Kittel stolz durch die Krankenhausflure rauschte. Aber die Ernüchterung lässt nicht lange auf sich warten. Der dauernde Spagat zwischen Hoffnung und Wirklichkeit kann einen fertigmachen. Hoffnung ist etwas Schönes, aber die Möglichkeit einer Enttäuschung lauert leider immer im Hintergrund. Und wenn die Realität deine Hoffnung mehr als einmal brutal zerstört hat, dann musst du schon ein dickes Fell haben. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich hab ja irgendwann mal angefangen, und auch meine Lehrjahre waren keine Herrenjahre.

 

#verunsichert

Ich weiß nicht, ob es richtig ist, was ich tue. Ich stehe alleine am Patientenbett und muss Entscheidungen treffen. Ich entscheide über Therapie, Konzepte und manchmal sogar über Leben und Tod. Und vielleicht bin ich nicht nur verunsichert, vielleicht habe ich einfach tierische Angst, einen Fehler zu machen.

Warum ich den Arztberuf an den Nagel hängen wollte

Ich bin müde, als zum fünften Mal in dieser Nacht das Telefon schellt. »Augen auf bei der Berufswahl«, denke ich und weiß nicht genau, wer ich bin und warum ich hier eigentlich im Dunkeln liege. Ach ja, ich bin es. Und es ist 3.43 Uhr. Ich liege in einem Bett, das bei jeder Hotelbewertung durchfallen würde, in einem Raum, der mehr einer Abstellkammer als einem Zimmer ähnelt. Die Schreibtischlampe, die keine ist, weil es hier ja gar keinen Schreibtisch gibt, hat den Geist aufgegeben. Schon wieder. Während ich versuche, den Lichtschalter zu finden, taumele ich gegen den Schreibtischstuhl, der ja keiner ist, weil es keinen Schreibtisch gibt, und stoße mir den kleinen Zeh. »Scheiße«, murmle ich.

»Bitte was? Caro, bist du dran?« Tja, da hatte ich wohl schon den Hörer abgehoben.

»Ja, was ist denn?« Schwester Karina bittet mich nochmal auf die Intensivstation. »Dem Patienten in Zimmer 3 geht es nicht gut, komm schnell!«

»Ich komme, lass mich eben nur meine Hose richtigrum anziehen«, stammele ich und renne mit halb offenem Reißverschluss den Weg zur Intensivstation. Zum dritten Mal nach 24 Uhr. Wenn Karina anruft, dann laufe ich los. Ohne Rückfragen. Sie ist eine von den Schwestern, die mir schon verdammt oft den Allerwertesten gerettet hat. Kennt sich aus, macht den Job schon ewig. Ich bin erst im ersten Weiterbildungsjahr und zufällig auf die Intensivstation versetzt worden – wegen Personalmangels. Nach sechs Jahren Studium und Freude über Staatsexamen und Approbation hat mir keiner verraten, was dann folgen würde. Ich bin 28 Jahre alt und versuche gerade, bestmöglich im Klinikalltag zu überleben. Privatleben habe ich sowieso keines, und die Miete könnte ich mir auch sparen, weil ich ja so gut wie im Krankenhaus wohne. Wobei »wohnen« einen falschen Eindruck vermittelt. Als Dank für mein Engagement erhalte ich wegen guter Führung mehr Dienste, als mir lieb ist, und Lob gibt es in Form von Überforderung, da mir Aufgaben zuteilwerden, die noch weit außerhalb meines Ausbildungsstandes sind. Zusammengefasst geht es mir also wie jeder anderen Assistenzärztin. »Keine Sorge, du schaffst das schon«, haben sie gesagt. Aha. Gut, dass es Karinas gibt. Also zurück zu ihr auf Station.

Ich bin seit 16 Stunden im Dienst, fühle mich angeschlagen und hatte heute einen echt miesen Tag. Wenn du schon vor dem ersten Kaffee den ersten Schockraumalarm hast, weißt du, Murphys Gesetz schlägt zu: es ist Freaky Friday. Ich stapfe die Treppen rauf und suche vor der Intensivstation meinen Transponder. Na klar. Der liegt natürlich noch im Dienstzimmer. Was auch sonst.

»Na, wieder den Schlüssel vergessen?«, fragt mich Tobi, einer der Intensivpfleger, der heute auch Nachtdienst hat, als ich schlaftrunken an der Wand vor der Gegensprechanlage lehne.

»Ne, ich schelle nur so.« Ich bin genervt. Ich betrete das Zimmer und sehe Karinas Stirn in Falten liegen. Das verheißt nichts Gutes. Der laute Alarm des Beatmungsgeräts und des Monitors ist besser als jeder Wecker. Jetzt bin ich wach.

»Ich kriege keine Luft mehr rein«, sagt sie und fummelt an Kabeln, Beatmungsschlauch und dem Beatmungsgerät rum. Ich weiß nicht, ob sie sich gerade sortiert oder ihre Hilflosigkeit kompensiert. »Ich habe schon alles versucht, aber der Patient lässt sich einfach nicht beatmen!«

Vor mir liegt er. Hat sich nicht zum Arzt begeben wollen, als er beim Fußball mit Bauchkrämpfen zusammengesackt ist. Ist lieber nach Hause gegangen, um sich eine Wärmflasche auf den Bauch zu legen. Darmperforation mit Peritonitis, Bauchfellentzündung also. Kam im septischen Schock auf den OP-Tisch. Will heißen: Hat einen Darmdurchbruch verschleppt, die Bakterien haben sich im Bauchraum verteilt und zu einer Blutvergiftung geführt. Prognose: nicht gut. 37 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder. Sechs und vier Jahre. Den ganzen Tag habe ich bereits mit dem Patienten und um ihn herum verbracht. Ins CT, in den OP, aus dem OP zurück und auf die Intensiv. Neue zentrale Katheter, Medikamente angepasst, Antibiotikum. Mein Tageswerk: »die Peritonitis« – bloß keine emotionale Bindung aufbauen. Jetzt ist er beatmet und bekommt Kreislauf unterstützende Medikamente. Zumindest war er beatmet, bis Karina angerufen hat. Irgendwas stimmt hier nicht. Konzentrier dich, Carola. Okay. Fangen wir oben an. Tubus. Also der Beatmungsschlauch. Undicht? Brodelt es? Ich schaue auf den Schlauch. Mist. »Karina, der ist raus, der hängt nur noch bei zehn Zentimeter!«

»Intubation vorbereiten!«, brülle ich und wähle hastig die Nummer meines Oberarztes im Hintergrund. Gott sei Dank gibt es den Retter in der Not. Während die Assistentinnen und Assistenten vor Ort sind, gibt es zumindest immer den Facharzt und die Fachärztin im Hintergrund, die zwar zu Hause sind, aber jederzeit in die Klinik kommen, wenn sie gebraucht werden. So wie in diesem Fall. Ich stelle auf laut. Das Letzte, an das ich mich erinnere, ist, dass ich schreie, er solle sofort losfahren. Ab da weiß ich nichts mehr. Tunnel.

Also, mal kurz erklärt: Was versuchen Karina und ich hier eigentlich? Eine Intubation ist das Einführen des Tubus (Beatmungsschlauch) über Mund oder Nase bis in die Luftröhre. Das ist zumindest das, was wir tun sollten. Was aber eben leider nicht klappt. Katastrophe!

Ich funktioniere mechanisch: Narkose vertiefen, Maskenbeatmung, Intubationsversuch. Ich schaffe es nicht. Ich kann die Stimmritze nicht einsehen. Ich bekomme den Tubus einfach nicht rein. Die Sättigung fällt weiter, der Herzschlag wird langsamer, und ich stehe wie gelähmt und starre auf den Monitor und dann auf die Fotos der Kinder des Patienten. Die hat seine Frau heute liebevoll auf der Fensterbank platziert. Ein weißer Rahmen, auf den die Kinder Pappherzen geklebt haben. Eins mit Mama, eins mit Papa. Der Sohn sitzt auf einem roten Bobbycar, die Tochter klammert sich an einen Teddybären.

»Carola, tu was, der stirbt gleich, der bekommt keine Luft mehr!«, schreit Karina mich an. Träume ich? Sie schubst mich zur Seite und greift sich die Beatmungsmaske. »Drück auf den Beutel. Na, mach schon!« Ich folge ihren Anweisungen. Ich bin handlungsunfähig. Mein Kopf ist leer. Das Einzige, was ich denke ist: Wie erklärst du das den Kindern? Handeln kann ich nicht. »Carola! Carola!!! Hey, aufwachen!«, ruft sie und stößt mich an. »Drück auf den Beutel. Drück einfach auf den gottverdammten Beutel!!«

Wir bekommen Sauerstoff in den Patienten, und als nach 20 Minuten mein Oberarzt eintrifft und übernimmt, taumele ich zur Seite und hocke mich in die Zimmerecke auf den Boden. Bei ihm scheint es kein Problem gegeben zu haben. Vielleicht habe ich es auch nur nicht gemerkt. Der Patient ist intubiert, und das Beatmungsgerät tut sein Übriges. Karina lagert den Kopf des Patienten. Nachdem die Situation sich stabilisiert hat, kommt er rüber. Er sagt nichts. Hält mir seine Hand hin und hilft mir auf. Es ist 5.15 Uhr. »Kaffee?«, fragt er. »Ich bleib dann wohl direkt hier.«

In der Stationsküche schüttet er mir Kaffee ein, setzt sich neben mich und sagt immer noch nichts. Ich zähle mittlerweile die Hunde auf der Stationstischdecke. »Willst du reden?« Schweigen. »Scheiße, mir wäre gerade fast ein Familienvater verreckt.« »Die Peritonitis« heißt nämlich Marcel, der Sohn Timo und die Tochter Charlotte. Und seine Frau Kim. Menschen aus Fleisch und Blut. Eine Familie, die um Mann und Vater bangt. Seit einer Woche liegt Marcel schon auf der Intensivstation. Er hat mehrere OPs überstanden, war immer nur kurz in Narkose und hat es bislang ganz gut verpackt, leider musste er heute erneut operiert werden. So ist das oft, denn manchmal halten Nähte vielleicht nicht so, wie sie sollen, gerade, wenn Gewebe entzündet ist. Ich mag ihn. Er hat immer Scherze gemacht. Und mir Vorträge gehalten, dass echte Männer nicht zum Arzt gehen und so. Dieser Mann ist eben nicht nur »die Peritonitis«. Ich schaue hoch. »Bitte keinen Anschiss jetzt«, bekomme ich noch raus, dann heule ich los.

Ich weine nicht, ich heule. Schluchzend erzähle ich meinem Oberarzt, dass ich unfähig bin, besser was anderes machen sollte, Menschen wegen mir sterben würden, ich keine Ahnung hätte und dass, wenn Karina nicht gewesen wäre, Marcel jetzt tot wäre, weil ich es nicht hinbekommen hätte. Er schweigt. Hört sich meinen fünfminütigen Monolog bereitwillig an und schenkt Kaffee nach. »Scheiß Gefühl, oder?« Pause. »Und nein, du bekommst keinen Anschiss. Du hast alles richtig gemacht. Du hast mich angerufen. Carola, du machst das hier jetzt seit acht Monaten. Es ist ein Unding, eine Berufsanfängerin so einem Druck auszusetzen. Aber so ist das System. Ich bin auch froh, dass Karina da war, aber diese Situationen werden dir noch häufiger begegnen. Begeh jetzt nicht den Fehler und stell deine Tätigkeit in Frage, weil man dich Situationen aussetzt, die du gar nicht bewältigen kannst. Du bist eine gute Ärztin.« Ich wische mir die Tränen weg. »Der wäre gestorben – wegen mir«, sage ich leise.

»Ohne dich beziehungsweise das Krankenhaus und die Ärzte hier wäre er das schon lange«, fährt der Oberarzt fort. »Bis zu diesem Moment hast du ihm geholfen. Die Therapie heute den ganzen Tag über hast du doch gut gemacht. Das Gespräch mit der Frau, das hast du geführt. Du hast dich gekümmert. Vergiss das nicht.«

Ich denke nach. Ist ein System richtig, das solche Prozesse nutzt, beziehungsweise sie sogar verlangt, weil wir Ärztinnen 24 Stunden durcharbeiten müssen? Wo Berufsanfänger und Anfängerinnen aufgrund von Personalmangel überfordert werden? Und ja, ich bin überfordert.

Hier geht es um Menschen. Und dann erwartet man von mir kleinen Assistenzärztin, Probleme zu lösen, von denen ich noch nicht einmal wusste, dass sie überhaupt auftreten können? Nach einer weiteren halben Stunde Schweigen ist es 6.48 Uhr. »Komm, wir gehen zur Frühbesprechung.« Benommen folge ich ihm mit gesenktem Kopf. Karina treffe ich auf dem Flur, sie hat Feierabend. Sie lächelt mich an. »Danke«, flüstere ich. Sie nickt. Ich bin müde, frustriert, traurig, überfordert, hungrig und genervt. Ganz schlechte Kombination. Und während mein Oberarzt so vor mir her läuft in seinem ausgeblichenen Kasack und den viel zu großen OP