Eine kurze Geschichte der deutschen Sozialdemokratie - Peter Brandt - E-Book

Eine kurze Geschichte der deutschen Sozialdemokratie E-Book

Peter Brandt

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Beschreibung

Dieser Band bietet einen knappen und aktuellen Blick auf die wechselhafte Geschichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands von den Anfängen um die Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart der Regierungskoalition des Jahres 2022. Er stellt die Entwicklungsgeschichte und das Selbstverständnis der Sozialdemokratie auf wissenschaftlicher Grundlage dar. Der Historiker Peter Brandt und der Politikwissenschaftler Detlef Lehnert machen die langen Linien der Parteigeschichte für ein breiteres Publikum erkennbar, erläutern die unterschiedlichen Perioden und deren Rahmenbedingungen. Sie tragen den innerparteilichen Strömungen und Führungspersonen gleichermaßen Rechnung, was einen generell kritischen Blick einschließt. Kurzweilig, informativ, kenntnisreich.

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Seitenzahl: 322

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Peter Brandt · Detlef Lehnert

Eine kurze Geschichte der deutschen Sozialdemokratie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8012-7047-6 (E-Book)

ISBN 978-3-8012-0646-8 (Printausgabe)

© 2023 by

Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH

Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn

Umschlag: Petra Bähner, Köln

Satz:

Kempken DTP-Service | Satztechnik ∙ Druckvorstufe ∙ Mediengestaltung, Marburg

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2023

Alle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

VORWORT

KAPITEL 1Grundlagen der Entstehung einer deutschen Arbeiterbewegung

KAPITEL 2Gründungsepoche 1863–1875: »Lassalleaner« und »Eisenacher«

KAPITEL 3Konfliktzeit 1876–1891: Sozialistengesetz und Erfurter Programm

KAPITEL 4Orientierungsfragen 1892–1904: Gewerkschaften, Wahlerfolge und Reformismusdebatten

KAPITEL 5Ära der Massenorganisation 1905–1913: Imperialismus und Strategiedifferenzen

KAPITEL 6Umbruchsperiode 1914–1919: Erster Weltkrieg, Parteispaltung und Revolution

KAPITEL 7Weimarer Demokratie 1920–1929: Erschütterungen und Erfolge

KAPITEL 8Katastrophenepoche 1930–1945: Weltwirtschaftskrise, NS-Regime und Krieg

KAPITEL 9Neubeginn 1945–1957: Wiederaufbau und Opposition – die SPD in den frühen Jahren der Bundesrepublik

KAPITEL 10Umorientierung 1958–1968/69: Godesberger Programm und erste Große Koalition

KAPITEL 11Das sozialliberale Jahrzehnt 1969/70–1980: Entspannungspolitik und Reformära

KAPITEL 12Jahre des Umbruchs 1981–1989: Machtverlust und Milieu-Erosion

KAPITEL 13Die ersten Jahre nach Mauerfall und Wiedervereinigung 1990–1998: Vom Wahldebakel zum Wahlsieg

KAPITEL 14Rot-grüne Regierung 1999–2005: Liberalisierung und »neoliberale« Tendenzen

KAPITEL 15Koalition und Opposition 2006–2013: Finanzmarktkrise und erste Korrekturen der »Agenda 2010«

KAPITEL 16Von zwei Großen Koalitionen zur »Ampel« 2014–2021

SCHLUSSBETRACHTUNG

Über die Autoren

Personenregister

Vorwort

Auch diese »Kurze Geschichte« der deutschen Sozialdemokratie (das Kürzel SPD ist erst seit 1890 historisch korrekt verwendbar) hat ihre längere Vorgeschichte. Die beiden Autoren legten schon in viel jüngeren Tätigkeitsjahren jeweils themenbezogene Überblickstexte vor: Detlef Lehnert, Sozialdemokratie zwischen Protestbewegung und Regierungspartei 1848 bis 1983, Frankfurt a. M. 1983; Dieter Groh/Peter Brandt, »Vaterlandslose Gesellen«. Sozialdemokratie und Nation 1860–1990, München 1992. Aber eine gemeinsame Vorläuferschrift wurde erst Peter Brandt/Detlef Lehnert, »Mehr Demokratie wagen«. Geschichte der Sozialdemokratie 1830–2010, Berlin 2013. Keine dieser Publikationen wird von den Verlagen noch vertrieben. Es liegt in der Natur der Sache, insbesondere bei historisch orientierten Überblickstexten, dass sich weder Zitate und Daten/Fakten noch erwähnenswerte Personen oder dargelegte Zusammenhänge ändern. Dennoch ist dies nun, auf der seither noch ergänzten Materialgrundlage, ein ganz anderes Buch geworden: ohne Fuß- und Endnoten oder ein Verzeichnis der insgesamt kaum noch überschaubaren Literatur; sprachlich noch um einiges vereinfacht für ein breiteres Lesepublikum – und bis Ende 2021 fortgeschrieben, somit ganz nah an der unmittelbaren Gegenwart. Solches fällt Historikern nicht ganz leicht, die vor einer Darstellung stets wissen möchten, wie das Ende der jeweiligen realen kleinen Geschichte ausgefallen ist.

Die »Kleine Geschichte der SPD 1848–2002« von Susanne Miller und Heinrich Potthoff, die 2008 beziehungsweise 2021 verstorben sind, erreichte in der 8. aktualisierten und erweiterten Auflage (Bonn 2002) zuletzt 589 Seiten. Seither sind zwei ereignisreiche Jahrzehnte einer zunehmend schnelllebigen Zeit vergangen, und auch die Lesegewohnheiten insbesondere der jüngeren Generation haben sich geändert. Deshalb legen wir diese knappe und aktuelle Darstellung vor und verweisen alle, die sich zum Beispiel in das Umfeld der zitierten zeitgenössischen Stimmen vertiefen wollen, auf die oben genannten Schriften mit einem mehr oder minder ausführlichen wissenschaftlichen »Apparat« hin; dieser liegt aber im Hintergrund natürlich auch dieser neuen Veröffentlichung. Zum Schluss möchten wir erwähnen, dass die Rechtschreibung in Zitaten modernisiert, aber nicht schematisch angepasst wurde, sodass im Ergebnis eine die Lesbarkeit fördernde Nähe von Quellen- und Autorenschreibweise entstehen sollte.

Das Personenregister führt nur die Namen aus der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung insgesamt auf, während für die Zeit nach 1945 auch die »prominentesten« Namen in Koalitionen verbundener beziehungsweise konkurrierender politischer Kräfte mit verzeichnet sind.

Die Autoren, im Juni 2023

KAPITEL 1Grundlagen der Entstehung einer deutschen Arbeiterbewegung

Im deutschsprachigen Mitteleuropa bildete sich im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts eine moderne Industriearbeiterschaft heraus. Zu dieser Zeit existierte in England bereits eine Gesellschaft, die vorrangig von der Fabrikindustrie geprägt war. Dies galt für Deutschland noch nicht. Hier lag um das Jahr 1835 die Zahl der Handwerksgesellen und Heimarbeiter zehnmal höher als die der Manufaktur-, Industrie- und Bergarbeiter. Bis 1873 näherte sich dieses Verhältnis etwa auf zwei zu eins an. Noch immer verzeichnete die Landwirtschaft zu diesem Zeitpunkt die größte Gruppe von Arbeitern, wenn man eine weit gefasste Definition von »Arbeiter« als lohnabhängig Beschäftigte zugrunde legen will.

Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war für die besitzlosen Unterschichten, also die Mehrheit der deutschen Bevölkerung, eine Zeit bitterster Armut und häufiger Hungerkrisen. In vielen Handwerksberufen nahm die Konkurrenz zwischen Meistern wie auch zwischen Gesellen zu, was oft dazu führte, dass ihre bisherigen Erwerbsgrundlagen zerstört wurden. Die Nöte des »Pauperismus«, wie die Massenarmut im Übergang zum Industriekapitalismus genannt wurde, trafen ganz besonders Frauen. Weibliche Lohnarbeit war vor allem in solchen Bereichen anzutreffen, in denen niedrige Löhne gezahlt wurden, wie beispielsweise in der Landwirtschaft, in den häuslichen Diensten sowie im Textil- und Nahrungsmittelgewerbe.

In den dreieinhalb Jahrzehnten nach 1840 fand in Deutschland eine »industrielle Revolution« statt, die zunächst bedeutete: Die kapitalistische Industrialisierung wurde in diesem Zeitraum unumkehrbar und gewissermaßen zu einem selbsttragenden Prozess. Die wirtschaftliche Entwicklung begünstigte die Gründung des Deutschen Zollvereins im Jahr 1834 unter der Führung Preußens. Dem schlossen sich schrittweise die übrigen deutschen Einzelstaaten an – vor allem, um sich von der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie abzugrenzen. Der Eisenbahnbau, der 1835 begann und in den 1840er-Jahren weiter Fahrt aufnahm, entwickelte sich zum Leitsektor der frühen Industrialisierung. Vor dem Hintergrund des deutschen Staatenpartikularismus ist die Tatsache von großer Bedeutung, dass bis 1847 die Gewerbemetropolen der nördlichen Hälfte, also Breslau, Berlin, Leipzig, Hamburg und Köln, durch Eisenbahnlinien verbunden waren. Neben den ökonomischen Impulsen für die Herausbildung eines gesamtdeutschen Binnenmarktes ist die bewusstseinsformende Kraft eines solchen Verkehrsnetzes hervorzuheben, das infolge der verbesserten Kommunikationswege entstand.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten sich in den industriellen Ballungszentren und großen Städten allmählich typisch proletarische Milieus heraus, da sich die Arbeits- und Lebenssituation sowie die Wohnverhältnisse allmählich anglichen. Dennoch unterschieden sich Facharbeiter sowie Un- und Angelernte in ihren Arbeitsbedingungen und -verhältnissen weiterhin beträchtlich voneinander. Die berufsstolzen Handwerksgesellen und kleinen Meister bildeten aufgrund des ökonomischen Drucks, der ihren Status beeinträchtigte und ihnen immer weniger die Chance zur Selbstständigkeit eröffnete, die wichtigsten Gruppen der frühen deutschen Arbeiterbewegung. Das hatte auch mit ihrer berufsbezogenen Organisierbarkeit zu tun, was an zwei hervorstechenden Beispielen deutlich wird: dem »Gutenbergbund« der Buchdrucker und der »Assoziation der Zigarrenarbeiter«.

Die Buchdrucker, zumeist auch als Schriftsetzer ausgebildet, waren eine Gruppe von Arbeitern, die aufgrund ihrer berufsbezogenen Solidarität und ihres Statusbewusstseins als Verkörperung von »Arbeiteraristokraten« gelten durften und sich von anderen Arbeitergruppen abkapselten. Sie hatten das höchste Lohnniveau und die kürzesten Arbeitszeiten. Aufgrund ihrer Bedeutung bei der Flugblattherstellung und der Abhängigkeit ihrer Berufstätigkeit von der Pressefreiheit waren sie überdurchschnittlich politisiert. So blieben sie noch viele Jahrzehnte lang in den Führungspositionen der Arbeiterbewegung weit überproportional vertreten.

Die Zigarrenarbeiter waren im Gegensatz zu den Buchdruckern von Anfang an in einem zunftfreien Berufszweig organisiert. Für ihre Arbeit war neben einer gewissen Fingerfertigkeit keine besondere Qualifikation erforderlich, was ihnen kein hohes soziales Ansehen einbrachte. Dennoch fanden sie an ihrem Arbeitsplatz günstige Bedingungen, um miteinander zu kommunizieren. Die Idee einer Assoziation war für die Zigarrenarbeiter ohne große Hindernisse umsetzbar und half dabei, ein gemeinsames Berufsbewusstsein zu entwickeln, das auch nach außen hin Anerkennung fand. Ähnlich wie bei den Buchdruckern war die politische Sensibilität der Zigarrenarbeiter aufgrund der Abhängigkeit ihrer Branche von der Steuergesetzgebung und der Kaufkraft der Massen sehr hoch. Besonders in den krisenhaften Jahren seit 1846, als aufgrund von Missernten die Lebensmittelteuerung extrem zu spüren war, erlitten sie große Einbußen. Die Zigarrenarbeiter waren daher empfänglich für Fragen zur sozialen Lage ihrer Klassengenossen in anderen Berufszweigen. Deshalb integrierten sie sich viel bereitwilliger als die Buchdrucker in die »allgemeine« Arbeiterbewegung.

Während der Revolution von 1848 artikulierten sich Vertreter der frühen deutschen Arbeiterbewegung, die bislang ins Exil verbannt waren, erstmals frei an der Seite des demokratisch-republikanischen Lagers. Auf Initiative einer Berliner Arbeiterversammlung hin gründete sich Ende August/Anfang September 1848 auf einer gesamtdeutschen Konferenz in Berlin ein Dachverband namens »Allgemeine Deutsche Arbeiterverbrüderung«. Er wurde von dem gerade erst 24 Jahre alten Schriftsetzer Stephan Born geleitet. Born repräsentierte die Gesamtbewegung, in der die Altersgruppe der bis 30-Jährigen am stärksten war. In einem Aufruf an die »arbeitenden Klassen Deutschlands« in der von Born herausgegebenen Zeitschrift »Das Volk« war Ende Juni 1848 von »sozialer Demokratie« die Rede. Auch Wenzel Kohlweck, ein junger Zigarrenarbeiterführer, zählte damals gerade erst 26 Jahre. Da die überwiegende Zahl von Arbeitern schon mit 14 Jahren ins Berufsleben eintrat und die Lebenserwartung der Unterschichten gering war, lag das Alter der meisten Arbeitskräfte in vielen Gewerben Mitte des 19. Jahrhunderts unter 30 Jahre. So wird das Bild einer Revolution der Jungen deutlich.

Das Konzept der »Verbrüderung« aller Arbeiter hatte seine historischen Wurzeln in den Gesellenbruderschaften und in dem christlichen Grundwert der »Brüderlichkeit« sowie der »Fraternité« der Französischen Revolution. Zu Beginn schlossen sich 32 Arbeitervereine, auch lokale »Komitees« genannt, der »Arbeiterverbrüderung« an. Je nach angewandtem Kriterium stieg ihre Zahl auf 75 bis 120, was etwa 15.000 bis 20.000 Mitgliedern entsprochen haben dürfte. Sitz der Gesamtorganisation war Leipzig. Die Westdeutschen um den Kölner Verein sowie die Süd- und Südwestdeutschen schlossen sich mit einiger Verzögerung an, letztere wurden von einem zweiten »Zentralkomitee« vertreten. Regionale Zentren waren Berlin, die Hansestädte, das Rheinland und das Bergische Land, der Maingau sowie Sachsen. Es war wegweisend für die weitere Zukunft, dass solch eine »Verbrüderung« nicht mehr als rein männlich verstanden wurde: »Von allen diesen Bestimmungen sind die weiblichen Arbeiter nicht ausgeschlossen und genießen unter gleicher Verpflichtung gleiche Rechte.«

Letztendlich scheiterte die Revolution von 1848/49. Das lag vor allem an der Übermacht jener Kräfte, die dem Obrigkeitsstaat dienten. Längerfristig mussten diese sich indessen den Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Industrialisierung anpassen. Die territorialen Zersplitterungen und das Konkurrenzverhältnis zwischen Preußen und dem nur teilweise deutschsprachigen Österreich bezüglich der »deutschen Fragen« (klein- oder großdeutsche Lösung) spielten diesen beiden größeren Mächten dabei in die Hände. Während sie zunehmender staatlicher Repression ausgesetzt war, trat die Sozialdemokratie fortschreitend die Erbfolge in den 1848er-Traditionen an, die von den meisten Liberalen nicht mehr fortgeführt wurden. Bei Parteiveranstaltungen wurden oft gleichrangig das Rot der internationalen Arbeitersolidarität und das Schwarz-Rot-Gold der Freiheits- und Einheitsbewegung von 1848/49 gezeigt, was als symbolischer Ausdruck einer demokratisch-gemeindeutschen Gesinnung gemeint war. Das galt auch für die Feier des 18. März, dem Tag, der mit den Barrikadenkämpfen in Berlin von 1848 verbunden wurde.

KAPITEL 2Gründungsepoche 1863–1875: »Lassalleaner« und »Eisenacher«

In der frühen deutschen Arbeiterbewegung blieb die lokale Vereinsstruktur die vorherrschende Organisationsform. Auch nach der Gründung von SPD-Vorläufer-Parteien in den 1860er-Jahren war der »integrale«, multifunktionale Arbeiterverein dominierend. Tatsächlich beschränkte sich das soziale Spektrum, aus dem die frühen Arbeitervereine ihre Mitglieder rekrutierten, auf die Städte mit etablierten politischen Öffentlichkeiten. Es handelte sich noch überwiegend um eine Bewegung der städtischen Handwerksgesellen und Kleinmeister, angereichert durch Vertreter geistiger Berufe. Obwohl eine Vielzahl von Berufsgruppen vertreten war, behaupteten die Angehörigen der Massenhandwerke wie Schneider, Schuhmacher, Tischler, Zigarrenarbeiter und Weber die Bühne. Zwischen 1849 und 1861 stieg der Anteil der eigentlichen Fabrikarbeiter unter der erwerbsfähigen männlichen Bevölkerung in Preußen – dem mit Abstand größten deutschen Einzelstaat – lediglich von 4,4 % auf 5,8 %, bei Frauen minimal von 1,3 % auf 1,5 %. Die Frage der personellen Kontinuität mit der 1848er-»Verbrüderung« stellte sich in den örtlichen Vereinen sehr unterschiedlich dar: Im Leipziger Arbeiterverein »Vorwärts« dürfte sich etwa die Hälfte der Mitglieder bewusst an die Revolutionszeit erinnert haben, aber im Berliner Handwerkerverein nur etwa ein Fünftel. Folglich waren die frühe sozialdemokratische Richtung im Leipziger Vereinsleben und die liberal-demokratische in Berlin von unterschiedlichen generationellen Erfahrungen geprägt.

Ferdinand Lassalle und der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein

Ferdinand Lassalle (1825–1864) war ein aktiver Teilnehmer der 1848er-Revolution in der Rheinprovinz gewesen, also nicht nur ein Zeitgenosse und Weggefährte von Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895), sondern in seiner politischen Biografie eine ihnen durchaus ebenbürtige Persönlichkeit. Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie, hatte Lassalle sich nach und nach von seiner sozialen Herkunft entfernt und in Berlin unter anderem Philosophie studiert. Früh zeigte er eine Neigung zum Gelehrten. Für den Lebensunterhalt war durch sein langjähriges Engagement als Anwalt der Gräfin Hatzfeldt in einem öffentlichkeitswirksamen Scheidungsprozess gesorgt, in dem es um ein beträchtliches Vermögen ging. Während der Zeit der politischen Reaktion lebte er jedoch im inneren Exil und hoffte auf den Beginn einer neuen Revolutionsära.

Auch für Lassalle bedeutete der bewaffnete Konflikt zwischen Frankreich und Österreich im Jahr 1859, der um die Gestaltung der italienischen Staatenwelt geführt wurde, eine Gelegenheit zur tagespolitischen Intervention nach einem Jahrzehnt der Zurückhaltung und Stagnation. Im Gegensatz zu Engels, der in seiner anonym veröffentlichten Schrift »Po und Rhein« betonte, es ginge in erster Linie um die Gegnerschaft zum russischen Zarenreich, sah Lassalle den Hort der Reaktion in Europa hauptsächlich im Habsburger Vielvölkerstaat beheimatet. Dieser habe seit Metternichs Zeiten die nationalen und demokratischen Freiheitsbewegungen, wo es ging, zu unterdrücken gesucht. In einem Brief an Marx bekannte Lassalle sich allerdings ausdrücklich dazu, dass die Haltung gegenüber einem militärischen Eingreifen Preußens ausschließlich an der Frage der jeweiligen revolutionären Möglichkeiten zu bemessen sei, was ihn mit Marx verband.

Lassalle argumentierte gegen die Liberalen in ihrem Konflikt mit der Krone um die preußischen Heeresreformen 1862, letztlich um die Verfassung, und dabei ähnlich wie Marx nicht erst in »Das Kapital« (Bd. 1: 1867): Die Machtfrage sei entscheidend, nicht Rechtsfragen, da die herrschende Klasse ihre Interessen über das formale Recht setzen würde. Er entwickelte die Idee der »revolutionären Rechtsschöpfung«, die außer in der französischen auch in deutscher Geistestradition verhaftet war. Danach sollte das Recht durch den Willen des Volkes und durch revolutionäre Aktionen geschaffen werden, anstatt durch formale juristische Argumente, für die Lassalle ohnehin eine Geringschätzung hegte. Deshalb wollte er die Fraktion der liberalen Fortschrittspartei bewegen, ihre Parlamentsarbeit »auf unbestimmte Zeit, und zwar auf so lange auszusetzen, bis die Regierung den Nachweis antritt, dass die verweigerten Ausgaben nicht länger fortgesetzt werden«. Die Abgeordneten sollten, so seine Überlegung, durch diesen Boykott die Volksmassen über das obrigkeitsstaatliche Regime aufklären und zur außerparlamentarischen Aktion mobilisieren.

Allerdings stieß Lassalle mit diesem Versuch, die Hauptstadt Berlin durch Vorträge in Arbeiterversammlungen in ein revolutionäres Zentrum – ein »deutsches Paris« – zu verwandeln, bei den Handwerksberufen, die er ja eigentlich erreichen wollte, nur auf geringe Resonanz. Der Erfolg blieb anderenorts nicht ganz aus, denn die von den Erfahrungen der 1848er-Revolution ausgehende Gruppe des Leipziger »Vorwärts« war von seinen öffentlichen Auftritten doch nachhaltig beeindruckt. Daraufhin kontaktierte sie ihn im Dezember 1862, auch wenn sie so dem Bewusstseinsstand der meisten Arbeitervereine ihrer Zeit vorauseilte. In einem Schreiben, das der promovierte Akademiker Dammer und die Politiker Fritzsche und Vahlteich, die aus der Handwerker- beziehungsweise Arbeiterschaft kamen, unterzeichnet hatten, wurde Lassalle angeboten, eine Führungsrolle in der jungen Bewegung zu übernehmen. Dies war mit dem Hinweis verbunden, die Arbeiterbewegung bedürfe »der höchsten Intelligenz und eines durchaus mächtigen Geistes, in dem sich alles konzentriert und von dem alles ausgeht«.

»Revolution« hieß das Wort, mit dem Lassalle seinen Zuhörern beizubringen gedachte, dass »ein ganz neues Prinzip an die Stelle des bestehenden Zustandes gesetzt wird«, während für ihn »Reform« meint, dass »das Prinzip des bestehenden Zustandes beibehalten und nur zu milderen oder konsequenteren und gerechteren Folgerungen entwickelt wird«. Dabei vertrat Lassalle einen Revolutionsbegriff, auf dem einst der Entwicklungsgedanke des sozialdemokratischen Verständnisses Marx’scher Theorie aufbauen sollte: »Man kann nie eine Revolution machen; man kann immer nur einer Revolution, die schon in den tatsächlichen Verhältnissen einer Gesellschaft eingetreten ist, auch äußere rechtliche Anerkennung und konsequente Durchführung geben.« Dieser geschichtstheoretische Ansatz neigte reformerischem Tagespragmatismus ebenso wenig zu wie radikalem Aktionismus.

Das berühmte »Offene Antwortschreiben«, welches Lassalle an das Leipziger Komitee richtete und Anfang März 1863 in Form einer Broschüre verbreitete, enthielt eine richtungsweisende programmatische Parole und einen Vorschlag zu praktischem Handeln: »Der Arbeiterstand muss sich als selbständige politische Partei konstituieren und das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht zu dem prinzipiellen Losungswort und Banner dieser Partei machen.« Die kapitalistische Gesellschaft ging laut Lassalle von jenem »ehernen Lohngesetz« aus, das die Einkommen der Arbeiter immerfort auf das Existenzminimum reduziere. In einem demokratisierten Staat müsse folglich die Aufgabe gelöst werden, »die große Sache der freien individuellen Assoziation des Arbeiterstandes fördernd und entwickelnd in seine Hand zu nehmen«. Die Idee von Produktionsgenossenschaften mit Staatskrediten entstammte dabei mehr den Wünschen seiner Adressaten als seiner eigenen Gedankenwelt. Dass die Resonanz auf das »Offene Antwortschreiben« eher dürftig ausfiel, ist zweifellos den noch stark auf Eigeninitiative setzenden Vorstellungen der Handwerksgesellen geschuldet. Sie zielten meist noch auf Selbstbildung und weitere Liberalisierung des eigenen ökonomischen und sozialen Status, nicht auf die Durchsetzung einer wie auch immer gearteten Assoziation.

Anders war die Resonanz in Hamburg, Leipzig und mehreren Städten der Rheinprovinz: Von dort kamen zustimmende Beschlüsse örtlicher Gremien. Diese Regionen waren Hochburgen der frühen Sozialdemokratie seit 1848. Am 23. Mai 1863 erfolgte die Gründung des »Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins« (ADAV). Die in seinen Statuten genannten politischen Ziele, mit Rücksicht auf die restriktive Vereinsgesetzgebung formuliert, sahen vor, »auf friedlichem und legalem Wege, insbesondere durch das Gewinnen der öffentlichen Überzeugung für die Herstellung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts zu wirken«. Lassalle, auf fünf Jahre als Präsident eingesetzt, besaß diverse Vollmachten, so unter anderem die, frei über die Finanzmittel zu verfügen und Funktionsträger nach eigenem Ermessen zu ernennen. Dass diese Befugnisse auf eine einzelne Person übertragen werden konnten, war den vereinsgesetzlichen Bestimmungen mit ihrem Verbindungsverbot zwischen Ortsgruppen geschuldet.

Lassalles Konzeption eines Agitationsvereins bot der eigenständigen Arbeiterbewegung eine Grundlage, sich in der Abgrenzung von bürgerlich-liberalen Kräften selbst zu konstituieren. Deren Wirtschaftsideologie und dem im Verhältnis zum Obrigkeitsstaat konfliktunfähigen »Vereinsliberalismus« sollte auf politischem Terrain eine Praxis der »Versammlungsdemokratie« entgegengesetzt werden. Diese knüpfte an den Modellen der Französischen Revolution und der deutschen 1848er-Bewegung an. Dabei beanspruchte der ADAV für sich auch eine Führungsrolle als »geistige Avantgarde« gegenüber den als unaufgeklärt erlebten Volksmassen.

Nachdem aus den städtischen Hochburgen der 1848er-Tradition positive Signale zu vernehmen waren, gelang es Lassalle auch, Arbeiterschichten der ländlichen Gewerbe in Schlesien, Sachsen und dem Bergischen Land von seinen Zielen zu überzeugen. Sie waren angewiesen auf wohlfahrtsstaatliche Strategien und eine organisatorische Führung, die sich, von außen kommend, ihrer Problemlagen annahm. Dabei vernachlässigte Lassalle in den Gewerbemetropolen wie Berlin jene ökonomischen Fragen, die Angehörige von Handwerksberufen, welche abhängig beschäftigt waren, nach und nach in Konflikt mit dem Linksliberalismus führten. Gewerkschaftliche Streiks, so räumte Lassalle unumwunden ein, glichen »vergeblichen Anstrengungen« der Ware Arbeitskraft, »sich als Mensch gebärden zu wollen«. Diese Form der Geringschätzung, die dem Dogma des »ehernen Lohngesetzes« entsprang, stand dem ADAV bei der Ausweitung seiner sozialen Basis zunächst im Wege. Als Lassalle – an die Grenzen seiner weit gesteckten Ziele stoßend – Ende August 1864 bei einem Duell 39-jährig getötet wurde, hatte er dem Agitationsverein, der erst rund 3.000 Mitglieder stark war, ein schwieriges Erbe hinterlassen: Die ganze Organisation war auf seine Person zugeschnitten.

Nach einigen internen Konflikten und Wirren trat der Rechtsanwalt Johann Baptist von Schweitzer (1833–1875) Lassalles Nachfolge an. Mit dem neuen ADAV-Organ »Social-Demokrat«, zur Jahreswende 1864/65 gegründet, erhielt von Schweitzer, der auch Herausgeber war, ein wichtiges publizistisches Instrument an die Hand. Bei aller tief sitzenden Abneigung gegen die »Sekte« Lassalles erklärten sich sogar Marx und Engels bereit, an dem von Intellektuellen konzipierten Arbeiterblatt mitzuwirken. Der politische Bruch indes war programmiert und kam schon bald. Schweitzer argumentierte weiterhin auf einer Linie, die Lassalle vorgezeichnet hatte: »Parlamentarismus heißt Regiment der Mittelmäßigkeit, heißt machtloses Gerede, während Cäsarismus doch wenigstens kühne Initiative, doch wenigstens bewältigende Tat heißt.« Die Alternative »Preußische Bajonette oder deutsche Proletarierfäuste – wir sehen kein Drittes«, war eine Zuspitzung, die auf eine demokratische Revolution zielte und hoffte, dass der dynastische Partikularismus in Deutschland zu Fall gebracht werden und im preußischen Staat aufgehen würde.

Die »Eisenacher« Sozialdemokraten und die Zeit der Fraktionskämpfe

Lassalle selbst hatte dazu beigetragen, dass der im Juni 1863 gegründete »Vereinstag Deutscher Arbeitervereine« (VDAV), der von bürgerlich-demokratischen Politikern wie Leopold Sonnemann und seiner »Frankfurter Zeitung« getragen und als Konkurrenzorganisation zum ADAV gesehen wurde, starke Förderung erfuhr. Damit sich jedoch eine außerpreußische Sozialdemokratie herausbilden konnte, bedurfte es zweier sich ergänzender Persönlichkeiten, die im Anschluss an die Niederschlagung der Veränderungsversuche von 1848 für die wieder unruhigeren deutschen Verhältnisse von zentralerer Bedeutung waren: Nach dem Ende seiner Wanderjahre, die er auch jenseits deutscher Grenzen verbracht hatte, ließ sich August Bebel (1840–1913) erst als Drechslergeselle, später als Meister in Leipzig nieder. Dort traf er mit Wilhelm Liebknecht (1826–1900) zusammen, der aus seinem Londoner Exil zurückgekehrt war und bis zu seiner Ausweisung 1865, die politische Gründe hatte, in Preußen aktiv war. Als Sohn eines preußischen Unteroffiziers, der mit vier Jahren seinen Vater und mit dreizehn seine Mutter verlor, war Bebel in bitterer Armut aufgewachsen. Im Jahr 1865, jetzt Vorsitzender des Leipziger Arbeiterbildungsvereins, suchte er Liebknechts Nähe, der als Spross einer Akademikerfamilie zu den »Studierten« gehörte. So wurde Liebknecht für Bebel, der viele Jahre vertrauensvoll mit ihm zusammenarbeiten sollte, eine Art früher Lehrmeister.

Während Preußen und Österreich in einem Hegemonialkrieg um die Führungsrolle in der deutschen Nationalstaatsbildung rangen, wurde 1866 die »Sächsische Volkspartei« gegründet, unter dem maßgeblichen Einfluss Bebels und Liebknechts. Gemeinsam auf dem Fundament ihrer antipreußischen Stimmung stehend, erlangte Bebel auch innerhalb des VDAV eine führende Position. Der Vereinstag, aus dem Handwerksmilieu entwickelt, war nicht grundsätzlich und von Anfang an gegen einen bestimmten sozialen Gegner gerichtet gewesen. Deshalb waren Kooperationen mit bürgerlichen Demokraten durchaus im Bereich des Möglichen. Auch die 1864 gegründete – und erst rückblickend sogenannte – »Erste Internationale« war eine ideologisch heterogene Assoziation meist europäischer Arbeiterorganisationen. Diese verständigten sich, von Marx inspiriert und angeführt, auf den Minimalkonsens, »dass die Emanzipation der Arbeiterklasse das Werk der Arbeiterklasse selbst sein muss« und »die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der große Endzweck ist, dem jede politische Bewegung als Mittel unterzuordnen ist«.

Zu wirklichem Leben erweckt wurde diese Konzeption erst mit der Entstehung der gewerkschaftlichen Berufsverbände von Zigarrenarbeitern (1865), Buchdruckern (1866) und Schneidern (1867). Sie waren es, die – zunächst ohne parteipolitische Orientierung – das Erbe der Initiativen von 1848/49 antraten. Dieser Umstand zeigt auch, dass die Ansicht, die deutschen Gewerkschaften seien quasi von oben durch die sozialdemokratischen Fraktionen gegründet worden, unzutreffend ist. Die übernommenen Organisations- und Aktionsformen aus der Handwerkstradition machten eine weitgehend eigenständige Konstituierung der Berufsverbände überhaupt erst möglich.

Heftige richtungspolitische Rivalitäten und Kämpfe traten, unmittelbar nach den gewerkschaftlichen Neuansätzen, in der Hochkonjunktur der späten 1860er-Jahre hervor: Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine, am liberal umgedeuteten englischen Vorbild orientiert, lehnten das Klassenkampfprinzip rundweg ab. Die »Gewerksgenossenschaften«, die innerhalb des VDAV-Spektrums angesiedelt waren, hatten sich einer zur Klassensolidarität umgedeuteten Selbsthilfe-Konzeption verschrieben. Am stärksten der politischen Richtlinienkompetenz des ADAV unterworfen blieben die »Arbeiterschaften« der Lassalleaner. Als sich von Schweitzer dem Gewerkschaftsgedanken öffnete, wurde der Grundsatz des »ehernen Lohngesetzes« faktisch aufgegeben, was zur Folge hatte, dass sich die orthodoxen Lassalle-Anhänger um die Gräfin Hatzfeldt abspalteten, die sein Werk wie eine Heilslehre zu konservieren versuchten.

Die Beteiligung des ADAV am politischen Tageskampf war ein Tribut an die allgemeine Lage, wie sie durch den preußischen Sieg über Österreich und die Konsolidierung des Norddeutschen Bundes 1866/67 als Vorform des Kaiserreichs sichtbar wurde. Im »Social-Demokrat« war zu lesen, nunmehr sei »die politische Revolution tot, die soziale noch nicht reif«. So sollte, anders als in England, die Schaffung von Interessenvertretungen auf betrieblicher Ebene auch das Ziel haben, dem Verein ein neues Rekrutierungsfeld auf seinem Weg zu einer Partei zu erschließen: »Bei uns werden die Gewerkschaften von Anfang an sozialistisch sein und gerade dadurch den sozialistischen Geist in der Gesamtarbeiterschaft mächtig fördern.« Die Zurückdrängung der ursprünglichen Genossenschaftsidee zugunsten der Gewerkschaften hieß faktisch auch, die kapitalistische Industrialisierung als Grundlage des eigenen Handelns anzuerkennen.

In den konstituierenden Norddeutschen Reichstag von 1867 wurden neben Bebel und Liebknecht, als Vertreter der Sächsischen Volkspartei, auch fünf Lassalleaner gewählt, unter ihnen von Schweitzer. Obwohl das allgemeine und gleiche Wahlrecht für Männer ab 25 Jahre auf Bundes- und Reichsebene der Paulskirchen-Verfassung entlehnt worden war – Bismarck hatte es als Waffe gegen den Liberalismus gedacht – , bot sich dem ADAV keinerlei Kooperations- oder Koalitionsmöglichkeit innerhalb des bestehenden Systems: »Denn wir unterscheiden uns zu tief von jeder anderen Partei, als dass wir uns über gemeinsame Grundsätze und gemeinsame Programme verständigen könnten.« Aus der Sicht der sächsischen Radikaldemokraten war die von Bismarck ersonnene Form des Nationalstaates ohnehin »nicht als eine deutsche, sondern als eine großpreußische Politik« zu sehen. Deshalb akzeptierten Bebel und Liebknecht diese parlamentarischen Gremien nicht – jedenfalls nicht im Sinne einer bestandsfähigen Volksvertretung. Im Laufe erbitterter Fraktionskämpfe versuchte Liebknecht mehrmals vergeblich, von Marx im Namen der Internationale eine öffentliche Verurteilung des ADAV zu erwirken.

Inzwischen hatte Schweitzer im »Social-Demokrat« den 1867 publizierten ersten Band von Marxens »Das Kapital« vorgestellt. So deutete sich, als am Erfolg der preußisch-kleindeutschen Lösung der nationalen Frage kein echter Zweifel mehr bestand, die Möglichkeit an, dass der ADAV die Nase vorn haben würde. Aufgrund der Lage wagten Bebel und Liebknecht einen spektakulären Schritt: das demonstrative Bekenntnis zur Internationale, die bis dahin im deutschen Richtungsstreit eher zweitrangig gewesen war. Sie setzten es als politisches Instrument ein, um gegenüber den liberal-demokratischen Kreisen innerhalb des VDAV ihre Eigenständigkeit unter Beweis zu stellen. Der fünfte Vereinstag im September 1868 in Nürnberg, der ihnen hierzu als Forum diente, ist mit dieser Initiative in die Geschichte eingegangen.

In seiner berühmten Vereinstagsrede begründete Liebknecht, warum es notwendig sei, dass die Arbeiterbewegung sich von den bürgerlichen Demokraten abgrenzt: »Weil die soziale und politische Frage untrennbar sind, erheischt das Interesse der Arbeiter, dass sie sich von ihren sozialen Gegnern auch politisch trennen.« Die Erklärung wurde mit 61 zu 32 Stimmen von den Delegierten angenommen und bekannte sich in »Übereinstimmung mit dem Programm der Internationalen Arbeiterassoziation« zu deren weithin beachteten Leitprinzipien: »Die Emanzipation … der arbeitenden Klassen muss durch die arbeitenden Klassen selbst erkämpft werden.« Des Weiteren markierte dieses wichtige Dokument die klare Frontstellung der Arbeiterbewegung gegenüber dem Obrigkeitsstaat: »Die politische Freiheit ist die unentbehrliche Vorbedingung zur ökonomischen Befreiung der arbeitenden Klassen. Die soziale Frage ist mithin untrennbar von der politischen, ihre Lösung durch diese bedingt und nur möglich im demokratischen Staat.«

Die liberale Fraktion unterlag; unter Protest verließ sie die Veranstaltung, mit dem Erfolg, dass im VDAV nunmehr die sozialdemokratische Strömung vollständig dominierte. Das »Demokratische Wochenblatt«, von Liebknecht politisch geleitet, diente dem VDAV und der Sächsischen Volkspartei eine Zeitlang als gemeinsames Sprachrohr. Bebels sicherem Instinkt für die Mentalität der Beteiligten war zu verdanken, dass er die Gelegenheit erkannte und ergriff, beim nächsten Vereinstag, am 8. August 1869 in Eisenach, den Verband erfolgreich und bruchlos in die »Sozialdemokratische Arbeiterpartei« (SDAP) zu überführen. Die Mandate der Delegierten kamen aus unterschiedlichen Versammlungen mit insgesamt mehr als 150.000 Köpfen. Mit einer formellen Parteimitgliedschaft darf man sie daher (noch) nicht gleichsetzen.

Gleichwohl enthielt das Organisationsstatut der Eisenacher SDAP bereits Elemente eines modernen Parteiwesens. Das Statut war ein Kompromiss auf der Mittellinie zwischen dem Zentralismus des ADAV und dem Föderalismus des bisherigen VDAV. Seine zukunftsweisenden Elemente werden die weitere Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie prägen. Jene Oppositionellen, die sich nun vom ADAV trennten, gaben der jungen Bewegung einen zusätzlichen Impuls. An der SDAP-Gründung war eine größere Zahl von gewerkschaftlichen Organisationen beteiligt. Darf sie als offizielle Geburtsstunde der klassischen Sozialdemokratie gelten? Für diese Ansicht sprechen gute organisatorische Argumente, denn die Grundzüge der SDAP sind tatsächlich über Jahrzehnte erhalten geblieben. Doch darf man deshalb nicht die Pionierleistungen der früheren »Arbeiterverbrüderung« und vor allem des ADAV ausblenden, ohne die auch die SDAP nicht denkbar gewesen wäre.

Das Ziel des Eisenacher Parteiprogramms hieß »Errichtung des freien Volksstaates«. Nach der »Abschaffung aller Klassenherrschaft« strebte die SDAP mittels Überwindung der »jetzigen Produktionsweise (Lohnsystem) durch genossenschaftliche Arbeit«. Zudem konstituierte sie sich als »Zweig der Internationalen Arbeiter-Assoziation« in der Überzeugung, »dass die Befreiung der Arbeiter weder eine lokale noch eine nationale Aufgabe sei«. Unter den »nächsten Forderungen« der Partei fand sich das Wahlrecht für Männer ab 20 Jahren. Bebels Vorschlag, auch ein Frauenstimmrecht einzuführen, fand damals noch nicht genug Befürworter. Überhaupt war – neben den gesetzlichen Schranken – die frühe Sozialdemokratie von Hand werksgesellen geprägt; männerbündisch sozialisiert, standen sie der Einbeziehung von Frauen oft im Wege. Die wichtigsten politischen Programmpunkte waren: die »Einführung der direkten Gesetzgebung« durch Volksentscheide neben den Parlamenten sowie die »Errichtung der Volkswehr an Stelle des stehenden Heeres«. Die sozialen Programmelemente hießen »Einführung eines Normalarbeitstages« und die »Abschaffung aller indirekten Steuern« zugunsten »einer einzigen direkten progressiven Einkommensteuer und Erbschaftssteuer«. Die angestrebte »Förderung des Genossenschaftswesens« und das Verlangen nach »Staatskredit für freie Produktivgenossenschaften unter demokratischen Garantien« sollte die beabsichtigten Staats- und Selbsthilfekonzepte stützen.

Bebel war es, der die politische Strategie der SDAP Ende 1869 ausformulierte – während einer Haftstrafe wegen »staatsgefährdender« Propaganda. In der bis zu seinem Tode dreizehnmal wiederaufgelegten Programmschrift »Unsere Ziele« zählte er zur »Arbeiterklasse« als sozialer Basis der gesellschaftlichen Umgestaltung »nicht allein die Lohnarbeiter im engsten Sinne«, sondern »auch die Handwerker und Kleinbauern, die geistigen Arbeiter, Schriftsteller, Volksschullehrer, niederen Beamten«. Das entsprach weitgehend »dem Volk« der älteren radikal-demokratischen Tradition.

Ein Volksstaat musste das Ziel sein, erreicht auf »sogenannte ›gesetzliche‹ Weise« oder erkämpft durch eine »Revolution«. Hier konnte Bebel seine Erfahrungen nicht verleugnen: »Über den letzteren Weg sich weiter auszulassen, ist äußerst gefährlich, da der Wächter für die am heutigen Staat Interessierten, der Staatsanwalt, gar zu sehr geneigt ist, hineinzureden«. Spekulative Entwürfe einer neuen Gesellschaftsordnung sah er als wenig hilfreich an, »weil sich aus der Kritik des Bestehenden die Forderung des Zukünftigen in großen Zügen ganz von selbst ergibt«. Auch könnten durch gedankliche Systeme solcher Art »Meinungsdifferenzen hervorgerufen werden, die in dem Augenblick, wo es gilt, praktisch einzugreifen, ganz von selbst beigelegt werden, weil eben dann die momentanen Verhältnisse den naturgemäßen Weg vorschreiben«. Die Hauptmotive seines prozesshaften Revolutionsverständnisses hatte Bebel somit frühzeitig ausgesprochen: Furcht vor staatlicher Repression, die mehr als berechtigt war, und seine Sorge um die Einheit der Partei.

Im »Volksstaat«, neu geschaffenes Organ der SDAP, wurde die Verbindung zwischen Protesthaltung und Hoffnung auf die Katastrophenpolitik des herrschenden Systems offen ausgesprochen: »Eine Partei aber, deren Ziel in unbestimmter Zukunft liegt, deren einziges Bestreben darauf gerichtet ist, zunächst bestehende Verhältnisse gänzlich zu beseitigen, darf sich nicht darauf einlassen, auf ihnen zu bauen, sie zu bessern und erträglicher zu machen, weil sie die Erreichung ihrer Wünsche hinausschiebt«. Zwar hielt Liebknecht aus Einsicht in die soziale Realität zum einen am Konzept der breiten Volksbewegung fest: »Die Industriearbeiter allein können in Deutschland keine Revolution machen. … Wie die Dinge jetzt liegen, würde das städtische Proletariat von den Bauern mit Dreschflegeln totgeschlagen werden«. Zum anderen aber hieß es 1870: »Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei beteiligt sich an den Reichs- und Zollparlamentswahlen lediglich aus agitatorischen Gründen. … Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei geht mit keiner anderen Partei Allianzen oder Kompromisse ein.« Dieser mit Beharrlichkeit formulierte Standpunkt, die Rolle einer Fundamental-Opposition nicht aufgeben zu wollen, hatte mit der Bismarckschen Reichsgründungspolitik zu tun. Die SDAP war unversöhnlich, denn sowohl ihre antikapitalistische Grundhaltung als auch die demokratischen und national-deutschen Ziele machten es unmöglich, diesen neuen Staat zu bejahen. Erst später akzeptierten die Vertreter der Sozialdemokratie das preußisch akzentuierte Kaiserreich als ihren Handlungsrahmen.

Reichsgründungszeit und Einigung der beiden Arbeiterparteien 1875

Der Beginn des Deutsch-Französischen Krieges, im Juli 1870, stellte die sozialdemokratischen Organisationen vor eine Reihe schwieriger politischer Entscheidungen. Vielen Zeitgenossen blieb verborgen, dass Bismarck seinerseits einen Waffengang ansteuerte und dabei die provozierende Haltung des Kontrahenten im Westen nutzte. In der deutschen öffentlichen Meinung war Frankreich der Aggressor, passend zur international verbreiteten negativen Wahrnehmung der bonapartistischen Politik. Selbst Marx und andere führende Repräsentanten der Internationale vertraten in der ersten Phase des Krieges die Auffassung, es gehe um einen deutschen Verteidigungskrieg, und erklärten den Sturz Napoleons III. zum wichtigsten Kriegsziel. Dies war ein weit verbreiteter Standpunkt, wenn auch mit regional unterschiedlichen Graden von patriotischer Färbung, sowohl unter Lassalleanern wie unter Eisenachern.

Allein Bebel und Liebknecht waren darin einig – im Gegensatz zu den übrigen Reichstagsmitgliedern und der Stimmung im Lande – , bei der Entscheidung über die von Regierungsseite beantragten Kriegskredite sich der Stimme zu enthalten und eine Protesterklärung zu formulieren: »Die zur Führung des Krieges dem Reichstag abverlangten Geldmittel können wir nicht bewilligen, weil dies ein Vertrauensvotum für die preußische Regierung wäre, die durch ihr Vorgehen im Jahr 1866 den gegenwärtigen Krieg vorbereitet hat. Ebenso wenig können wir die geforderten Geldmittel verweigern; denn es könnte dies als Billigung der frevelhaften und verbrecherischen Politik Bonapartes aufgefasst werden.«

Erst die Erfolge deutscher Truppen, die Gefangennahme Napoleons III. und die Ausrufung der Republik in Paris änderten die Haltung der beiden sozialistischen Parteien, jetzt aber schlagartig. Eine zweite Kriegsanleihe im November 1870 wurde von allen Abgeordneten der SDAP und des ADAV abgelehnt. Nach dem inneren Sturz des bonapartistischen Kaisertums und allemal nach der Annexion Elsass-Lothringens war der expansive Charakter der Bismarckschen Kriegführung entlarvt. Unter dem Vorwand landesverräterischer Bestrebungen wurden SDAP-Führer gezielt inhaftiert, um die Partei ihres Kopfes zu berauben. Auch der als weniger preußenfeindlich geltende ADAV zahlte den Preis für die unpopuläre Kurskorrektur nach der offiziellen Proklamation des Deutschen Kaiserreichs am 18. Januar 1871. Im Frühjahr fand die erste Reichstagswahl statt, mit lediglich 3,2 % sozialdemokratischen Stimmen. Dabei wurden nur Bebel und ein zweiter Abgeordneter aus Sachsen gewählt – dem Land, wo die Industrialisierung am weitesten fortgeschritten war und dessen Schwerpunkt in der krisenanfälligen Textilbranche lag.

Seit er sich zum proletarisch-kleinbürgerlichen Aufstand der Pariser Kommune vom Frühjahr 1871 bekannte – mit dem Einverständnis Bismarcks wurde dieser von französischen Truppen äußerst blutig niedergeschlagen – , haftete sich Bebel in den Augen der Staatstreuen endgültig das Stigma des »Hochverräters« an. Im Frühjahr 1872 wurden er und Liebknecht zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt. Der Vorwurf beschränkte sich auf reine Gesinnungsdelikte. Die staatliche Verfolgung brachte der Sozialdemokratie jedoch zusätzliche Sympathien ein. Aus Protest gegen die Verurteilung Bebels und Liebknechts trat der bürgerliche Demokrat Johann Jacoby zur SDAP über. Als man Bebel unter Hinweis auf die Haftstrafe das Reichstagsmandat aberkannte, schlug die Stimmung bei der erforderlichen Neuwahl in eine Solidaritätsbekundung breiter Bevölkerungsschichten um: Der erneut nominierte Bebel wurde mit mehr als 70 % der Stimmen wiedergewählt.

Eine gute Wirtschaftskonjunktur, angeheizt durch das berühmte »Gründungsfieber« und französische Reparationszahlungen, begünstigte die gewerkschaftlichen Aktivitäten der Arbeiterschaft. Nachdem dieser bereits 1869 ein begrenztes Koalitionsrecht zugestanden worden war, konnte die Obrigkeit sie mit Verbotsmaßnahmen nicht mehr bändigen. In den Jahren 1872/73 verzeichnen die Statistiken nunmehr Streiks in einem Umfang, wie man sie erst wieder 1889/90 erleben sollte. Trotz wachsender Bedeutung des Fabriksektors waren die Arbeitskämpfe damals noch sehr von Handwerkerstreiks geprägt. Traditionelle Sozialmilieus zeigten immer noch eine Distanz zum modernen Konfliktverhalten des Streikkampfes. Ein Indiz dafür war der nicht selten anzutreffende Hinweis, das Ehrgefühl der Arbeitskräfte sei verletzt worden, wenn sie sich gegen Vorgesetzte oder die Betriebsleitung zur Wehr setzten. Die Festlichkeit und Berufssymbole, mit denen manche Protestaktionen und Straßenumzüge inszeniert wurden, legten nahe, dass die Beteiligten neben materiellen Forderungen auch die Stärkung ihrer Solidargemeinschaft im Blick hatten.

Das wichtigste Motiv für die Streikwelle in den frühen 1870er-Jahren lag wohl in der drastischen Lebensmittelteuerung, die durch den Gründerboom ausgelöst wurde. Obgleich die Vorstellung vom »ehernen Lohngesetz«, die lange nachwirkte, eine gezielte Gewerkschaftspolitik des ADAV erschwert hatte, erleichterte sie ein frühzeitiges Engagement für kürzere Arbeitszeiten. Schon Marx hatte diese einst als Errungenschaft für eine »politische Ökonomie der Arbeiterklasse« propagiert, weil eine Arbeitszeitverkürzung den Warencharakter menschlicher Arbeitskraft mindere. Ein Bergarbeiterstreik im Spätherbst 1869, der große Beteiligung fand, trug sehr zum frühzeitigen Niedergang der liberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine bei. Ihre »versöhnlerische« Haltung wurde durch das rücksichtslose Verhalten der Unternehmer kompromittiert. Auch der Arbeitskampf der Berliner Maschinenbauer im Jahr 1872 erlaubte es dem ADAV, in eine bisherige Domäne der liberalen Fortschrittspartei einzubrechen.

Das Beispiel des Baugewerbes unterstreicht zudem: Die Wachstumsmomente der Gründerjahre erhöhten den Einfluss von Gewerkschaften und SPD-Vorläufern in traditionsreichen Handwerksberufen. Bei den Reichstagswahlen im Januar 1874 verbesserten sich ADAV und SDAP auf insgesamt 6,8 %. In Berlin lag der Stimmenanteil für den dort kandidierenden ADAV sogar bei 20,9 % gegenüber 5,2 % in der letzten Wahl. Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil die Wahlbeteiligung im bürgerlichen Lager sprunghaft zugenommen hatte, nachdem Bismarck und die preußischen Liberalen einen »Kulturkampf« gegen die Katholische Kirche angezettelt hatten.

Lassalleaner und jene Eisenacher, die ihre Schwerpunkte in Preußen hatten, waren nach der Reichsgründung gleichermaßen von unnachsichtiger Verfolgung durch die Staatsanwaltschaften betroffen, die seit 1872 mit immer intensiveren Strafaktionen gegen Politiker der Arbeiterbewegung vorgingen. Die Folge war, dass sich beide Organisationen im Vorfeld der Wahlen von 1874 vielerorts einander annäherten. Auf dem Gothaer Vereinigungskongress, im Februar 1875, konnten die stimmberechtigten Delegierten der Lassalleaner für über 15.000 und die der Eisenacher für mehr als 9.000 organisierte Anhänger sprechen. Fast jeder zehnte ihrer Wähler war demnach auch Mitglied in einer ihrer Organisationen. Eine Berufszählung für das Jahr 1875 zeigte: Die Zahl der Industriebeschäftigten aller Schattierungen (2,5 Millionen) war deutlich gewachsen – gegenüber Handwerk, Heimarbeit und Hauspersonal (1,4 bzw. 1,2 und 0,5 Millionen). Allerdings war für die aus ADAV und SDAP zusammengefügte neue Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) immer noch die größte potenzielle Wählergruppe kaum erreichbar: die Landarbeiterschaft (mit 3,5 Millionen).

Bedenkt man die Heftigkeit früherer Richtungskämpfe, wundert es fast, wie relativ harmonisch die Verschmelzung beider Gruppierungen sich nunmehr vollzog. Entsprechend der Delegiertenzahl wurde ein gemeinsamer Vorstand aus drei ehemaligen Lassalleanern und zwei Eisenachern gewählt. Das Gothaer Programm, in seinen wesentlichen Passagen von einer überwältigenden Mehrheit der Anwesenden getragen, erweckte den Eindruck, zwischen beiden Strömungen bestünden keine grundsätzlichen Meinungsunterschiede mehr: »Verwandlung der Arbeitsmittel in Gemeingut der Gesellschaft« und »Errichtung von sozialistischen Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe unter der demokratischen Kontrolle des arbeitenden Volkes« – so lautete die Synthese der gemeinsamen Vorstellungen über die neue Wirtschaftsordnung. Die Formulierung, »mit allen gesetzlichen Mitteln den freien Staat und die sozialistische Gesellschaft« zu erstreben, stand zwar in einem Spannungsverhältnis zu den realen Möglichkeiten, die die Reichsverfassung von 1871 bot; sie erfüllte aber das Gebot der Vorsicht, um dem preußischen Staat keine Handhabe für angedrohte, massive Zwangsmaßnahmen zu bieten.

Die demokratischen und sozialpolitischen Nahziele im zweiten Teil des Programms waren vielfach dem Eisenacher Text von 1869 entlehnt. Die Abqualifizierung aller Gegner der Arbeiterklasse als »eine reaktionäre Masse« und das Verlangen nach »Zerbrechung des ehernen Lohngesetzes durch Abschaffung des Systems der Lohnarbeit« spiegelt hingegen das spezifische Gedankengut des ADAV wider. Marxens Schlussfolgerung, »dass die Lassallesche Sekte gesiegt hat«, war angesichts all dessen als Gesamturteil über das Einigungsprogramm doch etwas überspitzt. Das Schlagwort von der »reaktionären Masse« war zwar wenig hilfreich, um spätere Bündnispartner zu gewinnen, deutet aber immerhin an, welche konkreten (schlechten) Erfahrungen mit der engen Kooperation von nationalliberalem Bürgertum und konservativem Großgrundbesitz verbunden waren. Für Gewerbezweige, die wirtschaftlich unter Druck standen, unterstrichen die Genossenschaftsidee und das Postulat des »vollen Arbeitsertrags«, das gegen die Marktökonomie gerichtet war, den Anspruch des Arbeitskollektivs, über die Verwendung seiner Produktion selbst zu entscheiden. Bedenken gegen die Unklarheiten, die Marx kritisiert hatte, stellte Bebel zurück, denn »schließlich war doch die Tatsache der Einigung die Hauptsache«.

KAPITEL 3Konfliktzeit 1876–1891: Sozialistengesetz und Erfurter Programm